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Bernd Späth

Bloß kein Coaching
… oder doch?

Wie Sie endlich Ihren gestörten Chef und Ihre seltsamen Kollegen verstehen

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Für Dr. med. Nahid Hayne, Ärztin, Analytikerin, Freundin und erfahrene Lehrerin, der ich meine psychoanalytische Ausbildung verdanke.

Alle Rechte vorbehalten.

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Überarbeitete Ausgabe des Buches: “Um Himmels willen, bloß kein Coaching!”
erschienen 2018 bei Belle Époque Verlag, Inh. G. Pahlberg, Tübingen.
Copyright © 2019 Verlag »Die Silberschnur« GmbH

ISBN: 978-3-89845-631-9

eISBN: 978-3-89845-715-6

1. Auflage 2020

Umschlaggestaltung: XPresentation, Güllesheim;

unter Verwendung eines Motivs von © snyGGG, www.stock.adobe.com

Autorenfoto: Marc Gildsdorf

Verlag »Die Silberschnur« GmbH · Steinstr. 1 · 56593 Güllesheim

www.silberschnur.de · E-Mail: info@silberschnur.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Menschen auf der Couch

Bloß kein Coaching!

Über die Männlichkeit

Über die Fehlerkorrektur

Agency & Communion

Über die Aggressionsverschiebung

Überlegenheit und Schwäche

Über die illusionäre Verkennung

Über das Alleinsein

Am Geheimnis fast erstickt

Der Coach und die zwei Seelen

Über Instabilität im Job

Coach und Suizid

Depersonalisation

Über die Depression

Über den Schmerz der Frauen

Über die Handlungsstörung

Herr Jung

Hypnose

Über ein Kindergefängnis

Hauptsache was zu managen!

Über die Konfliktumleitung

Über Coaching und Manipulation

Mama managt mit

Über Manager und Kuscheln

Der Verlust

Narziss und Niedergang

Ein Vater frisst sein Kind

Über das Problem an sich

Über die Pseudologen

Über die Realitätsprüfung

Über den vergessenen Schmerz

Über Job und Selbstwerdung

Über den Stress

Tourette lässt grüßen

Die Hilflosigkeit eines Coaches

Über die Präsenz

Willys erste Reaktion

Über eine Zicke

Zwanghaft

Über Essays

Auf dem Eis

Der kurze Film vorm Ende

Über die letzte Freiheit

Nur ein paar Halluzinationen

Liebe Leser, …

Klientenstimmen

Über den Autor

Vorwort

Ich war gerade mal vier, als mein Vater versuchte, mich umzubringen. Einzelheiten erspare ich mir und dem Leser, sie sind nicht sehr erfreulich. Jedenfalls, mit der Verzweiflung eines Kleinkindes, entkam ich ihm zweimal im letzten Moment – beim zweiten Mal mit bereits kollabierendem Kreislauf. Seinen dritten Versuch – ich war inzwischen so erschöpft und in Luftnot, dass der wohl gelungen wäre – musste er unerwartet abbrechen, da sich dem Tatort ein Elternpaar mit einem kleinen Mädchen näherte. An manchen Tagen habe ich noch seinen wütenden Fluch im Ohr, mit dem er nur äußerst unwillig von mir abließ. Doch auch das Bild der Familie mit dem Mädchen sehe ich immer noch.

Als ich zutiefst verstört, brüllend und vor Angst vollgepisst mit ihm wieder zu Hause ankam, machte meine Stiefmutter ihm eine Riesenszene, weil ich zu ihrer großen Enttäuschung immer noch lebend herumlief. Nun also wurde der Täter hysterisch zusammengeschrien: Jedoch nicht für das, was er getan hatte, sondern weil er es unübersehbar vermurkst hatte. Ich bettelte verzweifelt um eine trockene Hose, wurde aber kalt ignoriert, bis meine Stiefmutter sie mir später genervt vor die Füße warf.

Am nächsten Vormittag, zutiefst verwirrt und elend, strich ich über den Hof unserer Bäckerei, und es bewahrheitete sich eine Erkenntnis des Verhaltensforschers Irenäus Eibl-Eibesfeldt, eines Konrad-Lorenz-Schülers: »In Zeiten der Gefahr suchen Entenjunge die Nähe der Mutter, selbst wenn sie von dieser misshandelt werden.« Auch ich, ein Kind damals und völlig überfordert mit dem Erlebten, suchte makabererweise die elterliche Nähe und geriet, als ich deprimiert in unser Wohnzimmer schlich, in eine heftige Auseinandersetzung zwischen den beiden Tätern.

Offenbar hatten sie beratschlagt, wie mit der entstandenen Situation und damit auch mit mir nun umzugehen sei, und es war nicht zu überhören, dass meine Stiefmutter ohne Erbarmen auf einem weiteren Anlauf bestand, mich aus dem Weg zu räumen. Dabei störte es die beiden nicht, dass ich auf dem Fußboden kauerte und ihr Gespräch mitverfolgte. Vermutlich hielten sie es für ungefährlich, da meine Lebensspanne sich ja ohnehin dem Ende zuneigte. Mein Vater, dem das Risiko des geforderten neuen Tatversuchs allerdings immer mehr zusetzte, wirkte unter dem giftsprühenden Gezische meiner Stiefmutter arg in die Enge getrieben, und schließlich kippte er ganz: »Des nützt jetz’ alles nix, mir müssen den jetz’ aufziehen!« – Auch bei späteren Anlässen war zu beobachten, dass er unter dem Druck seiner Gattin grundsätzlich das Gegenteil ihrer Meinung vertrat.

Meine Stiefmutter jedenfalls war empört, und so musste mein armer Papa seine zerknirschte Einsicht ein ums andere Mal herunterbeten, während sie ihn nach allen Regeln der Kunst lächerlich machte: Er könne ihr ja viel erzählen, wen er im Krieg alles umgebracht habe. Hier »bei dem da« könne man ja sehen, was er tatsächlich zustande bringe. Auch später konnte man ihn mit nichts mehr zur Weißglut bringen, als wenn man seine deutsche Soldatenehre in Frage stellte, obwohl er Blut an den Händen hatte bis zum Gehtnichtmehr und immer wieder einmal aufblitzen ließ, dass er mit regelrechter Wonne getötet haben musste. Jedenfalls begann er nun zu brüllen und schaltete auf stur. Da begriff sie, dass sie überzogen hatte, und so nahm ich mit gewisser Erleichterung zur Kenntnis, dass ich unter dem Zwang der Umstände wohl eher nicht mehr beseitigt würde.

Im weiteren hitzigen Verlauf des Gesprächs fand meine Stiefmutter sich maulend mit meiner Fortexistenz ab, und nun war es an ihr, in dem für sie typischen giftigen Singsang ein ums andere Mal zu wiederholen, sie werde sich in Fragen meiner Aufzucht und Förderung in keinster Weise engagieren. – Eine Prophezeiung, die sie die nächsten zwei Jahrzehnte auf sehr eigene Art verwirklichen würde. Die zwei gifteten sich noch eine ganze Weile an, dann warfen sie mich aus dem Wohnzimmer.

Über fünfzig Jahre später, einem plötzlichen Impuls folgend, suchte ich den Tatort alleine wieder auf. Als ich aus dem Auto stieg, war es, als würde ich von einer Schnur gezogen, und bald schon stand ich an der besagten Stelle, mit dem nur schwer zu ertragenden Gefühl, dass es hier geschehen war. Nicht ganz unschräg, befand sich ausgerechnet dort nun ein kleiner, fest verankerter Picknicktisch. Ich fuhr nach Hause in einer Verfassung, in der man nicht unbedingt Auto fahren sollte. Als ich ein paar Tage danach einer langjährigen guten Freundin davon erzählte, schiss sie mich ordentlich zusammen, denn sie hätte mich lieber begleitet. Eine rührende Geste, indeed, doch gibt es Dinge im Leben, die muss man alleine tun.

Nun ja, man wird sich vorstellen können, wie heiter meine Kindheit und Jugend verliefen. Einen kleinen Teil davon habe ich in meinem Roman »Trümmerkind« (Lübbe, 2002) geschildert. Als dieser herauskam, fragte eine Journalistin der Süddeutschen Zeitung mich einmal, wie man es fertig bringe, diese Jahre zu überleben, ohne in der Psychiatrie oder im Strafvollzug zu landen. Das war in der Tat eine nicht ganz einfache Angelegenheit, und ich habe keinen Anlass zu verschweigen, dass ich an den ersten zwanzig Jahren meines Lebens ziemlich schwer zu tragen hatte. Allerdings hatte ich das große Glück, durch die Vermittlung eines befreundeten Arztes frühzeitig mit der Psychoanalyse in Berührung zu kommen und die unglaublich positive Macht kennenzulernen, die dieses Behandlungskonzept in sich birgt: wenn man bereit ist, sich mit den eigenen Schädigungen zu konfrontieren, ein trügerisches, weil kompensatorisches Selbstbild in Frage zu stellen und die aufgestauten und verdrängten Gefühle zuzulassen, die von traumatisierenden Ereignissen oder Lebensbedingungen unweigerlich verursacht werden. Das ist alles andere als eine Vergnügungsreise: Eine lange Analyse ist eine jahrelange harte Konfrontation mit sich selbst und der eigenen Vergangenheit, doch neben meinen fünf Expeditionen im Polargebiet war sie das Spannendste, Intensivste und Lehrreichste, das ich jemals in meinem Leben unternommen habe. – Ganz zu schweigen von ihren heilenden Effekten. Weit über die eigene Symptomatik hinausreichend, lehrt sie uns, menschliches Verhalten in einer Tiefe zu verstehen, wie es im Alltagsleben niemals möglich wäre, und befreiend zu intervenieren, wo »Schicksal« erst einmal als unabänderlich erscheint. Genau das mache ich heute mit meinen Coaching-Klienten: Wir arbeiten gemeinsam daran, unbewusste Muster aufzudecken, die im Arbeits- oder Privatleben zu oftmals massiven Problemen führen. Gelingt es – und meist tut es das –, diese unbewussten Muster mit den frühkindlichen Erfahrungen zu verknüpfen, die zu ihrer Einnistung im psychischen Apparat geführt haben, dann ist viel gewonnen. Ich staune oft selber, wie Klienten sich verändern und auf einmal Dinge regeln, die ihnen bisher das ganze Leben lang misslungen sind – und dies oft nach nur wenigen gemeinsamen Sitzungen.

Über vierzig Jahre nach meiner ersten Begegnung mit der Psychoanalyse hat die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihr für mich nichts von ihrer Faszination verloren. Im Gegenteil hat diese noch zugenommen, und ich betrachte den Entschluss zu meiner psychoanalytischen Ausbildung bei einer Bonner Psychiaterin heute als eine der besten Entscheidungen meines Lebens: Je mehr man das Thema studiert, desto mehr entdeckt man und desto mehr wird man bereichert.

Im Frühjahr 2016 kam ich zum ersten Mal auf die Idee, auf dem Internetportal www.xing.com einen kurzen Essay zum Thema Coaching zu veröffentlichen, durchaus unter dem Gesichtspunkt der Vermarktung meiner Coachingpraxis, aber eben nicht nur: In privaten Gesprächen hatte ich oft beobachtet, dass dem Thema Psychoanalyse aus schlichter Unkenntnis vordergründige Skepsis und Ablehnung entgegenschlugen – eine klassische Abwehr im Freud’schen Sinne –, während eine nähere Beschreibung psychischer Konstellationen, denen ich begegnet war, schnell zu fasziniertem Interesse führte, weil menschliches Verhalten damit transparenter und erklärbarer wurde. Und so hoffte ich, über Essays in Form literarischer Kurzgeschichten ein wenig Sensibilisierung zu erreichen:für das Thema an sich, aber auch dafür, dass Veränderung und damit in aller Regel auch Erlösung möglich sind. Jedenfalls in dem Bereich, dem ich mich beruflich gewidmet hatte: »managers in distress«. Also Führungskräfte und Selbstständige, die irgendwie nicht mehr weiterwussten und denen oft genug bereits die Kraft ausgegangen war. Dabei beschränke ich mich wohlweislich auf die Bearbeitung von Fehlhaltungen mittels psychoanalytischer Techniken, während ich sorgfältigst darauf achte, ob die Beiziehung eines Arztes geboten ist.

Schon nach dem ersten Essay überrollte mich eine Welle von Feedback, die ich mir niemals erwartet hätte, und mit den weiteren Essays explodierten die Besucherzahlen meines Xing-Profils innerhalb kürzester Zeit, so dass es bald zu den fünf Prozent der meistbesuchten gehörte. Unmengen an Zuschriften unbekannter Leser aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Liechtenstein, Südafrika und sogar aus China bestätigten mir, was ich mir insgeheim erhofft hatte: »Jetzt endlich habe ich es verstanden!« Bis heute ist dies der immer wiederkehrende Tenor, wenn ich eine psychische Konstellation zwar wissenschaftsbasiert, aber eben doch auch laienverständlich dargestellt habe. Ich will den Lesern etwas an die Hand geben, das ihnen im privaten oder beruflichen Alltag weiterhilft.

Als ich im Oktober 2016 vier Wochen Urlaub bei Freunden in Missouri machte, erhielt ich mehrere Mails von besorgten Lesern, ob denn mit mir wirklich alles in Ordnung sei, man warte nun ja doch schon ziemlich lange auf den neuen Essay. So was zieht einem ja fast die Füße weg, und es freut einen zutiefst.

Ich möchte also, dass die Leser meine kleinen Menschen-Geschichten in diesem Sinne verstehen: als bescheidenen Versuch, ihnen etwas an die Hand zu geben, das ihnen hilft, ihr Unbewusstes oder das eines anderen Menschen – und damit die eigentliche Steuerungseinheit – ein klein wenig besser zu durchschauen. So kann man auch ein Verhalten verstehen, das einem anfangs oft genug als völlig unverständlich erscheint. Aber ich will auch verdeutlichen, welch unglaubliche und oftmals zerstörerische Macht unbewusste psychische Prozesse im Leben eines Menschen ausüben können, wenn sie nicht bearbeitet werden. Einige kritische Kommentare unterstellten mir, ich würde mit diesen Essays »eigene Klienten bloßstellen, die ihre privatesten Details nun auf einmal in Ihren Artikeln lesen müssen!« – Das ist natürlich schlichter Unsinn, ich trage mich nicht mit beruflichen Selbstmordgedanken. Vielmehr habe ich Alltagsbeobachtungen und einige der vielen Lebensgeschichten, denen man im Laufe der Jahrzehnte begegnet, neu aufbereitet und mit größter Sorgfalt anonymisiert. Mache sich also niemand die Hoffnung, er könne in diesen Essays lebende Vorlagen wiedererkennen. Jeder dieser Essays ist in seinem Kern authentisch, während sein Setting selbstverständlich ein fiktives ist. Und mehr sage ich dazu extra nicht.

Wie auf Xing, so habe ich auch in diesem Buch ein paar Geschichten aus meinen Arktisexpeditionen eingestreut, denn auch die psychischen Grenzerfahrungen, denen ich mich auf meinen Touren nicht immer ganz freiwillig unterzog, sind ein Teil von mir und damit Teil des psychischen Geschehens, das hier beschrieben werden soll. Wie auch immer meine Leser dieses Buch für sich interpretieren und hoffentlich nutzen werden – Alexander und Margarete Mitscherlich, zwei große Vertreter der psychoanalytischen Forschung unseres Landes, haben die Psychoanalyse einmal bezeichnet als das wertvollste Instrument zur Erforschung der menschlichen Seele, das uns gegeben ist. Ich wüsste nicht, wie man es treffender formulieren könnte.

Bernd Späth

Menschen auf der Couch

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Bloß kein Coaching!

»Ich bin’s gewohnt, meine Angelegenheiten selbst zu regeln!« Das ist der beliebteste Ausspruch vor dem Zusammenbruch. Und außerdem ist er albern. Denn er formuliert einen Omnipotenzanspruch, dem kein Mensch gewachsen ist: Wenn mein Pankreas entzündet ist, geh ich zum Internisten. Wenn mein Haus brennt, ruf ich die Feuerwehr. Aber wenn meine Karriere brennt, versteige ich mich lieber in Kontemplationen oder hole mir Rat von Leuten, die ähnlich tief in der Tinte sitzen wie ich. Damit es auch ganz bestimmt funktioniert.

Irgendwann brennt die ganze Seele lichterloh, und da man bekanntlich fehlerfrei zu funktionieren hat, legt man eine Decke drüber, damit niemand den Feuerschein sieht. Man hat ja ein Image zu verlieren. Seltsamerweise brennt es unter der Decke weiter: Schlafstörungen. Überdrehtheit. Gefühle von Resignation. Körperliche Erschöpfung. Das Gefühl, nur noch zu funktionieren. Angsthaftes Reflexverhalten. Beziehungsstress. Erkrankungen. Ein Gefühl von »Ich-weiß-einfach-nicht mehr-weiter!«. Und nicht selten: spontaner Weinkrampf, überfallartig. Ob man so was dann als Burnout bezeichnet oder als Psychodynamik mit Krankheitswert, das ist belanglos. So jemand braucht Hilfe. Dringend. Und bisweilen braucht er jemanden, der ihm einen liebevollen Schubs gibt: »Nun wird’s aber Zeit, dass du was unternimmst!«

Wenn solche Menschen (um die handelt es sich nämlich!) dann bei mir sitzen, haben sie die klassische Tournee hinter sich: guter Freund/gute Freundin, weil sonst nirgendwo ein offenes Gespräch möglich ist. Daraus resultierend die Empfehlung: Atemtherapie / Autogenes Training / Marathonlaufen / Yoga / Pilates / Klangschalen oder Ähnliches, aber leider, leider, es ist trotzdem noch schlechter geworden. Na so was. Jemand empfiehlt Coaching. – »Nee, echt nicht, wieso denn? Ich hab doch nix!« Zugeben, dass man Hilfe braucht? Kommt fürs Selbstbild des/der Erfolgreichen gleich nach dem Insolvenzantrag.

Da sitzen dann oft genug Seelen vor mir, die vor Schmerz schreien und dennoch froh sind, dass sie zum ersten Mal gehört werden. Je nach Typus dauert es unterschiedlich lange, bis das verkrampft aufrechterhaltene Selbstbild hinterfragt werden darf. Meist ist es ein ziemlich herzloses: Klappe halten, funktionieren, einstecken, Leistung bringen und bitte keine Schwachheiten! Das klassische Erfolgsrezept. Nicht selten, dass Männer plötzlich zu weinen beginnen und völlig verwirrt sind, dass ein Mann ihnen liebevoll zuhört und sie versteht. Frauen tun sich da etwas leichter, sind aber genauso dankbar. – Wo sind wir hingekommen in dieser Gesellschaft, dass Verstandenwerden zum Luxusartikel geworden ist?

Und dann, irgendwann, setzt Zutrauen ein: Während man ein paar Sitzungen lang beobachtet hat, dass das hilfesuchende Gegenüber (den Ausdruck »Coachee« finde ich ekelerregend) permanent einen Schlag oder einen Vorwurf oder eine Zurechtweisung erwartet, beginnt es zu begreifen, dass Schwäche kein Versagen ist, sondern Teil eines geordneten Menschseins. Und dass man über Schwächen und Ängste reden kann, denn sie sind wertvolle Informationen, über die ein Coach sich freut: Sie verraten nämlich, was unter der Decke geschieht, im sogenannten Unbewussten. Das allerdings ist hundertmal stärker als der bewusste Mensch und steuert diesen kompromisslos – je nachdem, zum Erfolg oder gegen die Wand. Aber es steuert.

Dies sind die Gespräche, in denen der Mensch gegenüber immer wieder stutzt und schweigt: »So habe ich das noch nie gesehen. So habe ich mich selbst noch nie gesehen. Aber irgendwie … hmmm … doch doch, da ist was dran.« In der Folge setzen erste, vermeintlich unbedeutende, Veränderungen ein: »Das hab ich vorher noch nie so gemacht. Das hab ich vorher noch nie so gekonnt.« Auf einmal funktioniert’s, als wär’s nie anders gewesen. Schon komisch, irgendwie. Merke: Wenn Psyche sich verändert, kommt sie nicht mit Blasmusik, sondern auf Taubenfüßen.

Und dann, oftmals out of the blue, rumpelt’s im Karton: Der ehedem so friedliche Mensch gegenüber kommt geladen an und staucht seinen Coach nach allen Regeln der Kunst zusammen: Du mieser Typ, ich hab dich durchschaut, du willst mich ja nur kleinmachen. Du willst mich genauso kleinmachen wie mein Chef, mein Ehepartner, mein Dings, mein undankbarer Sohn, mein Vater, meine Mutter! Und der Coach sitzt da und freut sich: Der Durchbruch ist da! Nach diesem reinigenden Gewitter ist der Mensch gegenüber verändert. Irgendwie druckfreier. Gelassener. Mit viel mehr Durchblick, denn die eigenen, selbstschädigenden Projektionen sind bewusst geworden und gerade dabei, dauerhaft ihre Macht zu verlieren. Der Mensch gegenüber wirkt auf einmal viel unerschütterlicher. Man könnte auch sagen: erwachsener. Denn das geschundene und unglückliche Kind, das er viel zu lange in sich verdrängt (und damit wieder geschunden) hat, hat sich seinen Freiraum erarbeitet und steht jetzt zufrieden und vergnügt neben dem Erwachsenen. Der eine kann nicht ohne den anderen. Gemeinsam allerdings sind sie kaum zu schlagen.

Ich bin immer wieder erstaunt und glücklich zugleich zu sehen, wie solche Menschen dann auf einmal durchstarten. Die Veränderungen enden nämlich nicht an der Bürotür, meist wird umfassend aufgeräumt: in den Beziehungen zu Eltern, zum Partner, zu den eigenen Kindern. Auch mal ein Jobwechsel oder auch mal ein klärender Konflikt mit Kollegen. – Das Resultat entscheidet: Der Mensch gegenüber sitzt mir nun gar nicht mehr gegenüber, sondern ist zurück im plötzlich positiven Alltag. Und hat dort einen richtigen Lauf. Ohne mich, so wie sich’s gehört.

Interessantester und zugleich schönster Fall: Ein Klient, der mich wegen Erschöpfung im Job aufsucht, trennt sich nach der dritten Sitzung von seiner langjährigen Partnerin und nutzt die Gelegenheit, der endlich einmal zu sagen, was ihm alles gefehlt hat. Erst mauert sie, drei Monate später wird sie nachdenklich, dann reden sie erstmalig miteinander und nicht mehr gegeneinander. Anderthalb Jahre später heiraten sie. – Kein Schmäh, das Hochzeitsfoto habe ich immer noch auf der Festplatte.

Um Himmels willen, bloß kein Coaching!

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Über die Männlichkeit

»Ich fühl mich mit Birgit sehr wohl. Die hat alles, was ich brauch’. Trotzdem werd’ ich natürlich auch in Zukunft nix anbrennen lassen«, raunt Eric mir in vertrauter Selbstgefälligkeit zu und hebt das Glas.

Fein, denke ich mir, immerhin sitzen wir hier auf seiner Hochzeitsfeier, und auch die ist schon für seine dritte Ehe. Vorsichtshalber schweige ich. Auch als ich später den deutlich angetrunkenen Eric mit Birgit und seinem halbwüchsigen Sohn aus erster Ehe nach Hause fahre.

»Sag … deina … Mutta, die Ehe … hält länga …«, lallt er gereizt. »Aber hallo«, sagt Birgit empört. »Fängt ja echt gut an!«

»Soll ich ihr das wirklich sagen?«, wendet der Junge sich verwirrt an die weiß gekleidete Birgit, und die drückt ihn an sich. Als wir ankommen, hat jemand den gesamten Vorgarten mit Klopapier dekoriert. Unerwartet passend, denke ich mir.

Und die Ehe hält, und Eric lässt, wie er immer wieder betont, nichts anbrennen. Auch als Birgit mit der gemeinsamen Tochter schwanger ist – und auch während sie sich liebevoll um die Kleine kümmert. Bei unseren gelegentlichen Treffen schwärmt Eric mir von seinen Affären vor, als seien sie die Trophäen seines Selbstwertgefühls, und erweist sich als völlig resistent gegen kritische Einwände. Seine Angst, auf seine »Freiheit« zu verzichten, ist genauso groß wie seine Angst, dass er auffliegen und Birgit verlieren könnte. So sammelt und rammelt er weiter, was das Zeug hält. Bisweilen frage ich mich, ob und warum Birgit, – eine feine und sensible Frau – nichts mitbekommt. Irgendwann legt Eric mir ein Exemplar eines Romans von mir vor und bittet um eine Widmung: »Für Margot« soll ich schreiben, und das geht mir dann doch zu weit.

»Ich muss höllisch aufpassen«, seufzt Eric verschwörerisch. »Birgit kennt alle meine Tricks. Schließlich weiß sie, wie ich mit ihr damals meine zweite Frau hinters Licht geführt habe, damit ich mit ihr zusammen sein konnte.«

»Wird dir das nicht zu anstrengend?«

»Nö«, kommt es wie von einem trotzigen Kind. »Ich brauch das eben.«

Und in Margot, einer Koblenzer Juristin, findet er dann seine Meisterin. Erst betreiben die beiden eine lebhafte und wilde Affäre, und Eric schwärmt mir von Margots außerjuristischen Qualitäten vor. Dann leiht Margot ihm ein paar tausend Euro. Kurz darauf allerdings findet sie, während Eric sich in ihrem Bad frisch macht, ein zärtliches Brieflein von Steffi in seiner Sakkotasche und holt ihn sich gleich mal aus dem Bad. Und nun ist sogar Erics Repertoire an Lügen und Ausflüchten erschöpft, sie wirft ihn hochkant hinaus.

»Macht nix«, verkündet er frei von allen Selbstzweifeln. »Findet sich immer was Neues.«

Aber schon als er das Geld nicht zurückzahlen kann, pfändet Juristin Margot ihm sein Gehalt, und das wiederum kann er Birgit nicht richtig erklären und muss die Hosen runterlassen. So wird aus dem Götterweib Margot nun also eine »miese Schlampe«, nur reicht diese Erklärung gegenüber dem Arbeitgeber nicht richtig aus. – Margot war eine gute Kundin des Möbelhauses, als dessen Niederlassungsleiter Eric fungiert. Erst ruft Birgit mich an und kotzt sich lange bei mir aus. Dann ruft Eric mich an mit der Standardeinleitung: »Du bist doch Coach.«

Da er sich bekanntlich nichts vorzuwerfen hat, soll ich Birgit coachen, »damit die langsam mal wieder vernünftig wird«. Denn Birgit will sich scheiden lassen. Eric allerdings meint, ich soll sie so hinmodellieren, dass sie seine Dauerexkursionen »versteht«.

»Wenn hier überhaupt über etwas geredet wird, dann nur mit dir und über deinen promisken Zwang«, sage ich.

»Was für’n Zwang?«, fragt er empört. »Mich zwingt doch keiner, ich brauch das eben. Oder glaubst du echt, ich lass deswegen jetzt was anbrennen?«

»Deine Frau brennt schon«, sage ich. Vier Wochen später hält er ihr amtlich zugestelltes Scheidungsbegehren in der Hand, als er unangekündigt bei mir auftaucht.

Man kann nun über Eric sein moralisches Urteil fällen und sich damit bequem aus der Affäre ziehen. Fakt aber ist: Irgendwo tickt er nicht richtig. Nicht nur sein suchthaftes Hetzen nach Affären fällt auf, auch deren Unverzichtbarkeit für die Aufrechterhaltung seines Selbstwertgefühls, die narzisstische Ausblendung all dessen, was er in der Seele seiner Partnerin anrichtet, und auch die vehemente Abwehr von Verantwortung. Am auffälligsten allerdings ist ein immer wieder aus dem Nichts durchbrechender Groll, den er in sich trägt und den er vordergründig gegen die »Jordanplantscher« richtet – zusammenhangloser Antisemitismus also, der genauso resistent ist gegen Rationalität wie dieser gesamte Persönlichkeitsbereich.

Mein Coaching pflege ich normalerweise anzubieten und die Entscheidung darüber dem Klienten zu überlassen. Eric allerdings verdonnere ich dazu. In den ersten drei Sitzungen stoße ich nur auf betonierte Abwehr: »Ich bin eben so, ich brauch das eben, ich hab das immer so gemacht, wieso soll ich damit jetzt aufhören, ich hab doch alles im Griff.« (Übrigens eine Lieblingsfloskel von Coaching-klienten.) Immer sichtbarer wird, dass es bei Erics Affärensucht um eine psychische Überlebensstrategie geht: Er braucht diese »Erfolge«, denn nur damit kann er etwas zudecken, das er nicht (mehr) ansehen und noch weniger spüren will.

»Sexsucht« ist der Titel eines hervorragenden Werks von Kornelius Roth, in dem er die psychischen Hintergründe dieses offensichtlichen Zwangsverhaltens ausleuchtet. Die unübersehbare Symptomcharakteristik von Erics Verhalten legt die Vermutung nahe, dass es sich um ein viel breiter angelegtes Problem handelt, als er auch nur ansatzweise einräumen will. Folgerichtig zeigt sein Verhalten auch und gerade eine sogenannte Appellcharakteristik: den Hilfeschrei eines kleinen Jungen. Er heißt: Ich bin unfähig, dauerhaft Vertrauen zu empfinden; weder zu mir selbst noch zu anderen, und schon gar nicht zu Frauen. Ich kann mich nicht fallen lassen, denn das macht mich verwundbar. Allgemein kann ich mit Menschen nur manipulativ umgehen, denn so kontrolliere ich sie. Und nur wenn ich zu jeder Frau auf Distanz bleibe, fühle ich mich sicher. – Bloß, der unerfüllte Wunsch geliebt und angenommen zu werden, der sich in seinem dauerhaften Groll offenbart, bleibt auf diese Weise offen und treibt ihn weiter an. Von Affäre zu Affäre zu Affäre. In die anstehende dritte Scheidung, und – wie sich kurz darauf zeigt – in den Jobverlust, weil offenbar noch andere Kundinnen ihn bei der Geschäftsleitung angeschwärzt haben.

Roth zeigt nachvollziehbar auf, dass solche Charaktere über zutiefst zerrüttete Elternbeziehungen verfügen, selbst wenn der äußere Anschein anderes suggeriert und die jährlichen Familienrituale brav eingehalten werden. So auch bei Eric: der störrische und trinkfreudige Vater, ein rigider Katholik, der dem Kind jeglichen Körperkontakt verweigerte, neigte zu Ausbrüchen, vor denen Eric sich in eine besonders intensive Beziehung zur Mutter flüchtete. – Diese sich allerdings auch zu ihm, und so wurde der Vater zu einer randständigen Figur, die von beiden abfällig behandelt wurde und als positives Identifikationsobjekt für Eric völlig ausfiel. Als Eric von seiner Mutter spricht, laufen dem alten Haudegen unerwartet zwei Tränen über die Wangen. Für den Vater, »der meine Grenzen nie geachtet hat«, empfindet er nur Verachtung.

»Deine Mutter auch nicht«, sage ich.

»Was?«

»Auch sie hat deine Grenzen verletzt. Eure Beziehung hatte und hat etwas von einer symbiotischen Notgemeinschaft. Du hast dich bis heute nicht abgelöst von ihr.«

»Ich soll meine Mutter aufgeben?! Hast du ein’ an der Waffel?!«

Ich würde Eric gerne zu einem Düsseldorfer Spezialisten für Sexualstörungen schicken, doch das verweigert er strikt. Jetzt wird die Situation brenzlig: Macht er mich unbewusst zum Vater, dem er sich rachehaft verweigert, weil der ihm die Mutter wegnehmen will, dann kommen wir in schwieriges Fahrwasser. Ich muss lange über meine eigene Rolle nachdenken und bitte mir Bedenkzeit aus.

»Du verdammter Hund, du hast Recht!«, eröffnet er die nächste Sitzung.

»???« – Man kommt ja auch nicht immer gleich mit.

Dann sprudelt es aus ihm heraus, ein eruptiver Redeschwall mit gehetzter Stimme und verzerrten Zügen, geschlagene siebzig Minuten lang, während derer es in seinem Brustkasten arbeitet wie in einem Walzwerk. Nebenher leert er die ganze Kaffeekanne.

Bilder stehen im Raum: Der Vater, Kriegsgeneration, emotional schwerst gehemmt, hat ihn kein einziges Mal in den Arm genommen, nur beim Strafen war er zuverlässig. Die Mutter, bepöbelt und häufig zusammengeschrien, fühlte sich abgewertet und benutzt, wollte längst weg, »aber sie blieb nur wegen mir«.

Und so klammerten beide sich aneinander, ohne zu merken, dass sie sich gegenseitig überforderten: Die Mutter konnte Eric den Vater nicht ersetzen und Eric ihr nicht den Partner. Aber er genoss es, wie er sich plötzlich erinnerte, wie warm und angenehm ihr Frauenkörper sich anfühlte, wenn er als Elfjähriger mit ihr im Bett kuschelte, auch wenn er sich dabei etwas schuldig fühlte. Doch Mama genoss es auch und drückte ihn eng an sich. – Bis der Vater aus der Kneipe kam und Eric zurück musste ins eigene Bett, weg von der zärtlich streichelnden Mutter. Sobald er von ihr spricht, wird die machohaft-flache Stimme weich und warm. Und es wird erkennbar, wie viel Einsamkeit und Abwertung er kompensiert durch sein unentwegtes Jagen nach Erfolg bei Frauen.

Eine gesunde psychische Entwicklung jedenfalls ist unter solchen Umständen nicht möglich. Es wird ein Gemisch aus seelischer Vernachlässigung, unterdrücktem Hass, Grenzverletzungen und nicht zuletzt unterdrückten inzestuösen Wünschen – und zwar durchaus beidseitig. Nach zwei weiteren Sitzungen willigt Eric ein, zum Spezialisten zu gehen, und bittet Birgit um Verzeihung. Entgegen meiner Erwartung nimmt sie an. – Sage mir einer noch etwas über die Geheimnisse einer Frauenseele.

Ein Jahr später haben sich die Situation und Erics Ehe tatsächlich wieder stabilisiert. Eric, so scheint es, beginnt das erste Mal, eine Frau zu lieben.

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Über die Fehlerkorrektur

Als die Kugel in den Erdwall rauscht, keine dreißig, vierzig Zentimeter rechts von mir, gucke ich erst mal interessiert hinterher. Eine 357 Magnum, die reißt einem ja doch ganz schöne Löcher in den Bauch.

»Hoppala!«, sagt der Manni freudig. »Ja, da schau her!«

Ich schenke ihm einen müden Blick. »Langsam könntest das mal lassen.«

Immerhin war’s jetzt das zweite Mal. Letzte Woche auch schon.

»Da war glatt noch eine in der Trommel!«

»Jetzt nimmer«, sage ich, »die anderen fünf sind eh raus.«

Der Manni guckt interessiert auf die rauchende Mündung. »Da is er rauskommen«, sagt er, »Gell? Aber i hab ja eh daneben ‘zielt!«

»Good for you.«

Für einen Schießtrainer ist er ja manchmal etwas zerstreut, der Manni. Auch für einen ehrenamtlichen.

Solche Dinge passieren, wenn man sehr lange zielt, dabei die Konzentration verliert und deshalb die Waffe wieder sinken lässt, während man mit einem leichten Druck des Zeigefingers den Abzug auslöst – den Daumen fest auf dem Abzugshahn – und sie so wieder entspannt. Dann geht der Hahn kontrolliert nach vorne, ohne den Schuss auszulösen. Die nicht verschossene Patrone allerdings wird durch die Bewegung des Abzugshahns in der Trommel weiterbewegt, als wäre sie jetzt leer. Hat man die Trommel durchgeschossen, rotiert die noch scharfe Patrone wieder in Abschussposition. Wenn dann jemand abdrückt, geht die Kugel raus. Es empfiehlt sich, in solchen Momenten nicht im Weg zu stehen.

»Ma’ darf halt nie auf jemand’ zielen«, sagt der Manni voller Inbrunst. »Des is schon wichtig.«

»Zielen nicht«, sage ich gereizt. »Mitzählen wär’ schon nicht schlecht.«

Manni hatte mir die Waffe aus der Hand genommen, um mir nochmals den weichen Druck der Fingerkuppe gegen den Abzugsbügel zu demonstrieren: So sanft, dass der Schuss praktisch von selber bricht. Die Mündung hatte knapp an meinem Körper vorbeigedeutet, als Mannis Theorie sich in die Praxis umsetzte. Vorige Woche auch schon. Beide Male fand ich zu Hause ein paar Schmauchspuren seitlich auf dem Hemd.

»Da hätt’st g’schaut, wenn i dich daschossen hätt’«, lacht der Manni etwas zu laut und wechselt die Papierscheibe aus. Als ich ihn hinterher bei einem Cappuccino auf seinen Fehler anspreche, lacht er nochmals jovial: »Ah was, i hab ja net auf dich ‘zielt, sondern extra daneben! No risk, no fun!« – Sein Verhalten deckt sich mit mir bekannten vereinzelten Stimmen seiner Kunden, die mit der Leistung seiner Installateursfirma unzufrieden waren: Es wird alles weggelacht, und es bleibt das Gefühl von ein bisschen zu viel Show. Wie man überhaupt bei Manni stets das Gefühl hat, dass er etwas arg viel Aufmerksamkeit braucht und sein Verhalten immer etwas aufgesetzt wirkt. Oft bekommt man das Gefühl: Da ist noch irgendwas dahinter, was er nicht zeigen will.

Was er nicht zeigen will, ist Betroffenheit, denn die wäre ein Schuldanerkenntnis – das Eingeständnis eines Fehlers also. Für die Histrioniker nämlich ist Schuld gleichbedeutend mit Untergang: Sie ertragen sie nicht, nicht einmal den Gedanken daran. – Und bisweilen, wenn man sieht, wie verzweifelt sie sich dagegen wehren, kommen einem instinktiv die Bilder eines kleinen Kindes, das sich vor Angst einnässt.

Womit wir es also zu tun haben, ist Schuldabwehr, die histrionisch präsentiert wird. Bekannt ist meist die andere Form der histrionischen Struktur: Gackernde Hysterikerinnen, die durch ihr schrilles und sexualisiertes Auftreten alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Bei ihnen gehört es unvermeidlich zum Gesamtauftritt, dass sie Schuld und Verantwortung entrüstet von sich weisen – und seien diese noch so offensichtlich. Krassestes Beispiel war eine Bekannte, die unentwegt mit den Füßen an der schweren Glasplatte meines Wohnzimmertisches herumwackelte, bis diese sich selbstständig machte und mit sechzig Kilo Gewicht krachend aufs Parkett schlug. Auf meine erschreckte Frage: »Sag mal, hast du sie noch alle?« kam ein empörtes: »Was redest du denn für Zeuch, ich war das nicht!« – Schuldabwehr durch Verleugnung.

Die Männervariante bedient sich meist der jovial-herzlichen Inszenierung: Es wird mit aufgesetzter Fröhlichkeit geleugnet, was offensichtlich ist; wobei das Lachen hölzern wirkt, die Scherze seicht und gekünstelt. Dies nicht zuletzt, weil das unterliegende Schuldgefühl durch sie hindurchscheint wie Licht durch einen dünnen Vorhang. Schuld, sozusagen, wird weggelacht, wobei dem Betroffenen das schale und unzufriedene Gefühl verbleibt, während der Täter sich emotional aus dem Staub gemacht hat.

Diese Abwehrstrategie ist oft vorzufinden in autoritär bestimmten Unternehmenskulturen. Wo »perfekte Leistung« abverlangt wird (ohnehin eine Schimäre und Ausdruck eines ins Angsthafte übersteigerten Perfektionszwangs), wachsen die schneidig überspielten Versagensängste ins Pathologische. Nicht selten manifestieren sie sich in einer hohen Krankheitsrate, auch wenn diese dann verdrängt wird, weil die Mitarbeiter vor Angst zur Arbeit erscheinen. Typischerweise ist in diesen Häusern der Leistungsdruck so immens, dass die natürliche Einsicht, einen Fehler gemacht zu haben, blockiert ist durch Strafangst. Damit entfällt die Möglichkeit jeglicher Fehlerkorrektur zugunsten pathologischer Schuldabwehr: Da »Schwäche« nicht geduldet wird, kann nicht korrigiert werden, was offiziell nicht existiert. Jemand, der wie ich berufsbedingt in vielen Unternehmen unterwegs ist, kennt diese Männerrunden, die sich vor lauter Heiterkeit gar nicht mehr einkriegen können, während sie sich dabei unentwegt gegenseitig beobachten. – Man muss nur erst dahinterkommen, dass hier die nackte Angst regiert; und nicht zuletzt der Zwang, um jeden Preis »dazuzugehören«. Ausnahmslos alle – ich betone: ausnahmslos alle – weisen in ihrer Kindheitsgeschichte schwere traumatische Erfahrungen auf, die in der Regel eingebettet sind in eine repressive Erziehungsatmosphäre und ausgeprägte Zuwendungsdefizite. Solche Menschen schaffen es oft bis weit an die Spitze. Getrieben jedoch sind sie von Kindheitsängsten und Entwertungserlebnissen, gegen die sie verbissen anarbeiten. Ihre Erfolge freuen sie nicht wirklich. Eher sind sie eine Art »Gegenbeweis« der Art: Seht ihr, Papa/Mama, ich bin DOCH etwas wert!

Bei einem Handwerker wie Manni war es nicht ganz so krass. Ich machte keine Termine mehr mit ihm und verzichtete darauf, meine Schießkünste aufzufrischen. Ein knappes Jahr später stand er unerwartet vor meiner Tür. »Wie geht ‘n des, mit deiner Dings … deiner Coacherei?« Er war grau im Gesicht. Keine Scherze mehr.

Einer seiner Mitarbeiter hatte Mist gebaut, und Manni hatte es dem Auftraggeber gegenüber verschwiegen. Der Kunde hatte sich aufgrund der fehlerhaften Leistung verletzt und Strafantrag gestellt wegen fahrlässiger Körperverletzung. Dazu hatte er Schadensersatzklage erhoben. Mannis Strategie, das Ganze mit flotten Sprüchen und ein paar Gefälligkeiten zu erledigen, war ins Leere gelaufen. Jetzt hatte er Angst um seine Existenz. Die ersten vierzig Minuten verbrachte er damit, mir dazulegen, was für ein Vollidiot der Kunde sei.

»Wenn einer sich z’wegens so was verletzt, dann g’hört der eing’sperrt wegen Dummheit! Des is jedenfalls meine Meinung. Aber bei unserne sauberne Herrn Juristen …«

»Genug jetzt, Manni.«

In Mannis Vorstellung war klar, wie das Coaching zu verlaufen hatte: Ich hatte seine Meinung über den Vollpfosten von Kunden zu teilen und ihm dann – quasi ex cathedra – zu sagen, wie er so einen erledigen konnte. »Und zwar so, dass der sich nie wieder rührt, verstehst!«