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1. Auflage 2020
© der deutschen Ausgabe:
Aquamarin Verlag GmbH
Voglherd 1
85567 Grafing
www.aquamarin-verlag.de

Das höchste Ziel des Reisenden besteht darin,
nicht mehr zu wissen, was er betrachtet.
Jedes Lebewesen, jedes Ding
gibt Gelegenheit zu einer Reise,
zu einer Betrachtung.
LAOTSE

Für Geneviève

Inhalt

Teil I

Einleitung

1 Hedonistische oder spirituelle Suche

2 Ein dritter Weg

3 Die Sehnsucht nach Einheit

Teil II

1 Die Stärke der Frau

2 Wir sind, was wir suchen

3 Die Atmung, das Tor zur Sinneswahrnehmung

4 Die Erfahrung der Gesamtheit – Urerfahrung?

5 Die Welt berühren

6 Das Herz der Wirklichkeit

7 Die Quelle des Bewusstseins

8 Der Geschmack der Welt

9 Das Begehren und sein Objekt

10 Die höchste Wirklichkeit

11 Die reine Aufmerksamkeit

12 Die Klänge des Lebens

13 Die Essenz der Zufriedenheit

14 Sinneswahrnehmung und Bewusstsein

15 Die Wechselwirkung der acht Bewusstseinsbereiche

16 Die Macht der Sinne

17 Eine Frage: Befreiung von der Vergangenheit?

18 Die Düfte der Welt

19 Das Instrument Körper auf die absolute Liebe einstimmen

20 Liebe, Sexualität, Treue

21 Die Gesänge der Dakini – das Große Geheimnis

22 Die Welt betrachten

23 Die Leidenschaft

24 Leidenschaft, Ego und Freiheit

25 Der Eintritt in das Reich der Wirklichkeit – eine kosmische Sinnlichkeit

26 Das sexuelle Ritual – Maithuna und der Pfad zur linken Hand

27 Das sexuelle Gruppenritual

28 Ein tantrischer Weg für den westlichen Menschen?

Teil III

Fragen

Quellennachweise

Teil I

Einleitung

1

Hedonistische oder spirituelle Suche

Seit einigen Jahrzehnten haben wir mit allen Mitteln versucht, uns zugleich vom wild gewordenen Materialismus und von ermatteten religiösen Traditionen zu befreien. Die Welle der sexuellen Befreiung hat uns ergriffen, die heftige Rückkehr des Spirituellen mit seinen verschiedensten Ausrichtungen brandet über uns hinweg. Die Angebote zur „persönlichen Weiterentwicklung“ vermehren sich wie verrückt. So, wie man früher seinen Hausarzt oder manch einer seinen Psychoanalytiker besuchte, geht man heute zu seinem Schamanen, seinem spirituellen Meister, seinem Therapeuten mit Kristallkugeln und Tarot, zu seiner Hellseherin oder seinem chinesischen oder tibetischen Arzt. Das New-Age hat „Collagen“ aus den verschiedensten Traditionen gebastelt und es so geschafft, aus authentischen mystischen Bewegungen die fadeste und trügerischste Mixtur herzustellen. Zum Glück sind die Tibeter aufgekreuzt, mit ihrem Lächeln, ihrem Sinn für Humor, ihrer Strenge und ihrer tiefen Weisheit, aber auch Sufi- und Zen-Meister, buddhistische Lehrer unterschiedlicher Prägungen, hinduistische und indianische Meister. Sie bemühen sich, ihre wunderbaren Traditionen in ihrer Authentizität bekannt zu machen. Die geheimsten Schulen haben sich einen Weg bis hin zu uns gebahnt. Die Praktizierenden des Dzogchen, des Advaita und des Bön sowie die Naths und die Aghori weilen unter uns. Die authentischen Meister und die Scharlatane befinden sich in fröhlicher Nachbarschaft. Workshops und Retreats folgen in ganz Europa in dichter Reihenfolge aufeinander. Man lernt, auf glühenden Kohlen zu laufen oder mit den Geistern Kontakt aufzunehmen, reglos zwölf Stunden am Tag zu meditieren, in Trance zu kommen, wie Yogis zu atmen, bestimmte Haltungen einzunehmen, seinen Körper und seine Sinne zu entdecken, einen „tantrischen“ Orgasmus zu haben oder Mantras zu rezitieren. Immer mehr Menschen geraten aber in die unsichtbarer werdenden Fänge von Sekten. Diese sind allgegenwärtig, um unsere Träume vom Absoluten in eine traurige Veräußerung unserer fundamentalen Freiheit zu lenken. Wir erhalten Einweihungen, lassen uns die Chakras „öffnen“, kitzeln die Kundalini, sprechen kabbalistische Formeln nach, verehren sämtliche Gottheiten der Erde, unterhalten uns mit den Engeln und erfinden das Wenige, das wir über Traditionen wissen, wieder neu als eine Art leicht gängige Konfektionskleidung. Aber im Grunde suchen wir immer das Gleiche: Wie lässt sich die Erfahrung des westlichen Lebens in der Gesellschaft mit einem tieferen Bewusstsein vereinbaren, das uns Glückseligkeit bringt und uns mit unseren Emotionen und unserer Sinnlichkeit aussöhnt?

Wir sehnen uns nach einem Weg, der sich nicht dem Leben entgegensetzt, einem Leben, das sich nicht dem Weg entgegensetzt. Mit einem Wort: Wir wollen den harmonischen Ausgleich zwischen dem Spirituellen und dem Materiellen, auf einem gangbaren, in kultureller Hinsicht nicht zu „fremden“ Weg. Wir wollen Zugang zur Fülle, ohne das herrliche Brodeln des Lebens zu verleugnen. Wir wollen eine leichte und bewegliche Freude, die uns zu einer umfassenden Erfahrung der Wirklichkeit bringt.

Wenn wir um uns blicken, sehen wir Menschen, die sich auf eine hedonistische Vergnügungssuche begeben. Sie versuchen, ihre Leidenschaften auszuleben – und manchmal schaffen sie es auch. Sie hängen sich verzweifelt an die materielle Welt und enden schließlich in einer chronischen Unzufriedenheit, die sie zu einer immer neurotischeren Suche treibt. Diese Menschen sind oft egoistisch. Sie schaden ihrer Umgebung. Doch insgeheim beneiden wir sie manchmal, denn wir stellen uns vor, sie seien frei. Sie lassen in uns einen natürlichen und tiefen Vergnügungsdrang anklingen. Ihre überschäumende Vitalität berührt uns, selbst wenn wir vorgeben, sie zu verurteilen. Manche werden von der Gnade berührt und finden im hedonistischen Genuss eine subtile vitale Lebenskraft. Einige sind tiefgründige Philosophen.

Am anderen Ende entdecken wir von der spirituellen Suche faszinierte Menschen, die danach trachten, sich von Begierden und Leidenschaften zu befreien, und versuchen, deren Einfluss auf ihr Alltagsleben zu reduzieren. Man nennt sie weise oder auf dem „Weg zur Weisheit“. Mit Stolz berufen sie sich auf eine spirituelle Schule. Beobachtet man sie, stellt man zuweilen fest, dass mit der Sittenstrenge Anzeichen von Dürre des Herzens und des Körpers einhergehen, ein gewisser Mangel an Spontaneität. Ein Heiligenschein der Angst vor der Frau umhüllt ihr Wesen. Es scheint, sie sind zu starken Spannungen unterworfen, denn ihre Tugend wirkt ein bisschen künstlich. Ihre Toleranz kennt Grenzen, oft sind sie eine Spur fanatisch, und alles deutet darauf hin, dass sie leicht aus dem Gleichgewicht geraten können. Eine hübsche Versuchung würde reichen, um sie auf die neurotische Suche nach dem Vergnügen umschwenken zu lassen, die sie bei den anderen verurteilen. Einigen gelingt es, die Leidenschaften abzuspalten, auch sie finden eine Art Gnade und kommen mit dem in Berührung, was ihnen die Unterweisungen verheißen haben.

Unser kulturelles und religiöses Erbe scheint uns zu sagen, dass wir wählen müssen: Das Spirituelle gegen den Körper oder den Körper gegen das Spirituelle. Der herausragende Zen-Gelehrte D.T. Suzuki gab vor seinen Freunden, dem amerikanischen Mythologen Joseph Campbell und dem Psychoanalytiker C.G. Jung, folgenden sarkastischen Kommentar zur christlichen Überlieferung ab:

„Die Natur gegen den Menschen, der Mensch gegen die Natur; Gott gegen den Menschen, der Mensch gegen Gott; Gott gegen die Natur, die Natur gegen Gott. Komische Religion.“ (1)

Nur selten bringt allein die hedonistische Suche oder die den Körper vernachlässigende spirituelle Suche Glück, Harmonie und Freude. Die Sprache der Mystiker tendiert fast immer dazu, das Vokabular von Liebe und Leidenschaft im spirituellen Bereich zu verwenden, das wiederum schockiert die Puritaner. In unseren westlichen Traditionen haben wir viele leidenschaftliche Menschen verurteilt, seien es Gottessucher, Wissenschaftler, Philosophen oder Künstler.

Die widernatürliche Trennung zwischen Sinnlichem und Spirituellem verursacht tiefe Verwirrung bei den Vertretern beider Richtungen. Traditionellerweise teilen wir jedem Lebensabschnitt eine Erprobungsphase zu. Den Jüngeren wird mit desillusioniertem Lächeln zugestanden, es mit der Leidenschaft, dem Begehren und der Sinnlichkeit zu versuchen, denn wir wissen, dass sie eines Tages genauso sein werden wie wir: Ermattet und notgedrungen weise.

Einige verbeißen sich in dieser Suche, dann werden sie erbarmungslos von denjenigen verurteilt, die nur darauf warten, dass man sich zu ihren Herden gesellt. Sind die ersten vierzig Jahre vorbei, lodert die Leidenschaft noch einmal kurz in ihnen auf. Sie fallen in sich zusammen, erschöpft und Opfer der allgemeinen Missbilligung. Manchmal lässt sie diese Leidenschaft auch wieder auferstehen und führt sie zum Glück.

Über die sexuelle Revolution der Sechzigerjahre ist viel geredet worden. Sie hat in unserer Gesellschaft tiefe Spuren hinterlassen, sie hat der Frauenbewegung gedient, und sie hat uns erlaubt, unserem Körper gegenüber aufgeschlossener zu sein, ihn aus dem Verborgenen treten zu lassen. Heute spricht man offen über Themen, die vor einigen Jahrzehnten keine Zeitschrift anzuschneiden gewagt hätte.

In einer Zeit, wo Kommunikation zum Wort der Stunde geworden ist, wo man binnen Sekunden Zugang zu einer Menge an unbegrenzten Informationen hat, beklagen wir uns darüber, dass wir den Zugang zu unserem Körper und unseren Mitmenschen verloren haben. Wir leiden unter extremer Einsamkeit, wir leiden darunter, uns nicht mehr zu berühren und unseren Empfindungen, unseren Emotionen und unserer Sinnlichkeit nur virtuell Ausdruck zu verleihen. Aids hat uns dermaßen zur sexuellen Vorsicht genötigt, dass viele Beziehungen den Kern von Angst in sich tragen. Sie zwingen uns zu einem oberflächlichen Kontakt, wo die Körper kaum mehr Gelegenheit finden, sich auf das große kosmische Spiel einzulassen, selbstvergessen und erfinderisch.

Eines Tages wird dieses Phantom sicher gebannt sein. Dann werden wir eine neue Phase sexueller Euphorie, eine Zeit von Entfesselung, Freude und Lust empfinden. Doch auch diese hohe Welle wird unter dem Schock irgendwelcher Ereignisse oder unter der Last ihrer eigenen Erschöpfung im Sande verlaufen.

Sind wir dazu verurteilt, ohne Unterlass zwischen den beiden Wegen hin und her zu pendeln? Nahezu alle Menschen, denen ich begegne, haben die tiefe Einsicht, dass es einen dritten Weg gibt. Wir haben zu sehr unter Fanatismus, Gewalttätigkeit und Ausschluss gelitten. Wir haben uns allmählich für die Welt und ihre Vielfalt geöffnet. Die Frauen und Männer von heute suchen nämlich einen Weg, wo die Gegensätze in einer wahrhaften Liebe und der Annahme allen Reichtums, den ein jeder in sich trägt, wieder vereint werden.

2

Ein dritter Weg

Ab den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung hat ein mystischer Weg, dessen Wurzeln bis ins dritte Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung zurückreichen, den Hinduismus und einige buddhistische Schulen revolutioniert. Diese Schulen waren von einem mehr oder weniger ausgeprägten Puritanismus und auf höchsten Ebenen von einem auffallenden Ausschluss der Frauen geprägt worden.

Jener dritte Weg nennt sich der shivaitische kaschmirische Tantrismus. Vor etwa fünf oder sechs Jahrtausenden im Indus-Tal entstanden, erfuhr der Weg seine spektakulärste Entwicklung in Kaschmir und Oddhiyana (einem angrenzenden Königreich), um zwischen dem 7. und 13. Jahrhundert u. Zt. seinen Höhepunkt zu erreichen. Die Meister des tibetischen und chinesischen Buddhismus sowie Inder aus unterschiedlichsten Traditionen kamen, um ihren Wissensdurst zu stillen. Sie lernten sowohl bei wissenden Yoginis, Frauen, die den Weg des ungeteilten Wesens lehrten, als auch bei den Siddhas, den vollendeten Menschen.

Dieser Weg von unvergleichlicher Tiefe und Feinheit hat nichts mit dem Produkt zu tun, das der Westen unter dem Namen „Tantra“ vermarktet. Es handelt sich um einen Weg, auf dem der Mensch sich Dank der Sinneswahrnehmung und des Bewusstseins entwickelt. Er läuft der hedonistischen Suche also zuwider, da er die Gesamtheit des Seins in sich vereint. Ich schlage Ihnen vor, mit diesen tiefgehenden Unterweisungen Bekanntschaft zu machen, um zu entdecken, wie die Menschen von heute sie in die Praxis umsetzen können, um Freude, Ekstase und Autonomie mit Hilfe des Gewahrseins der Realität zu finden – und zwar im Rahmen des alltäglichen Lebens in der Gesellschaft.

„Wenn du nicht dadurch befreit bist, dass du die Welt der Sinne in vollsten Zügen genossen hast, kann man dann dein Wissen als vollkommen bezeichnen?“, sang Saraha, einer der großen Meister des Buddhismus, der irgendwann zwischen dem 2. und 7. Jahrhundert u. Zt. gelebt hat. Saraha wurde Schüler einer Yogini, deren Kunst darin bestand, ihre Pfeile auf das Herz der Menschen abzuschießen. Sie gehörte der Sahajiya-Schule an, „den erwachten Anhängern des Spontanen“. Dem spirituellen Menschen seine Sinne, sein Begehren, seine Leidenschaften, seine Emotionen und seine Sexualität zurückzugeben – das ist das größte und kühnste innere Abenteuer, das sich diese tantrischen Meister buddhistischer, hinduistischer und kaschmirischer Herkunft haben ausdenken können.

Die tantrische Richtung hat sich anfangs klar gegen die puritanischen, orthodoxen Traditionen des Buddhismus und des Hinduismus abgegrenzt. Sie hat so viele bedeutende Meister, Philosophen, Dichter und Künstler hervorgebracht, dass die tantrische Kreativität auf diverse buddhistische Schulen des Mahayana und des Hinduismus tiefen Einfluss ausgeübt hat. Zahlreiche historisch verbürgte Meister schlossen sich auf diskrete Weise der tantrischen Vision an. Shankara, der große Philosoph des Vedanta, war ein tantrischer Meister. Berühmte Gestalten des modernen Indiens, wie Ramakrishna, Sri Aurobindo, Vivekananda oder Ramana Maharshi, waren ebenfalls Tantriker. Der gesamte tibetische Buddhismus ist zutiefst tantrisch, das chinesische Chan ist in einem Maße von dieser Richtung durchdrungen, dass eine Zeitgenossin, Meisterin Yuan Tschao, erklärt hat: „Tantra war die Krönung des Chan.“ (2) Das Dzogchen und der kaschmirische Tantrismus haben sich wechselseitig beeinflusst.

Das Christentum, das Judentum, der Islam oder der Buddhismus des Hinayana lehren, dass man Begehren und Leidenschaften entsagen oder sie sublimieren müsse, um eine spirituelle Suche zu vollenden. Mit dieser puritanischen Haltung geht der partielle oder totale Ausschluss der Frauen auf höchster Ebene, nämlich jene der Übertragung und der Unterweisung, einher.

Die verschiedenen tantrischen Schulen machen tabula rasa mit Formalismus, Dogmatismus, Puritanismus, der Ausschaltung der Frauen sowie der Existenz der Kasten und bringen den spirituellen und mystischen Weg wieder in Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Kontext, indem sie jeglichen Unterschied zwischen den Menschen abschaffen. Diese tiefgreifende Revolution bringt eine nie dagewesene Kreativität hervor, sowohl im mystischen Bereich als auch in Wissenschaft und Kunst. In dieser Kreativität, durch die allumfassende Akzeptanz seiner Natur, findet der Mensch seine Einheit wieder.

Weit davon entfernt, einen Weg zu propagieren, der die egoistische Suche nach Vergnügungen predigt, ermutigen diese Meister und Schulen uns mit Hilfe einer subtilen und spielerischen Disziplin dazu, nichts Menschliches abzuspalten, dafür finden wir eine tiefere Art, Begehren und Leidenschaften zu leben, nämlich indem wir sie bis zu ihrem höchsten Punkt des Glühens bringen, denn „am räumlichen Ende des Sinnesorgans stiebt das Ego auseinander“, singt Saraha. Bindung und Leiden heben sich auf.

Diesen Weg, der weder Verleugnung noch Transzendenz kennt, erforsche ich nun seit mehr als vierzig Jahren, zuerst mit meinem tibetischen Meister Kalu Rinpoche, dann mit meiner shivaitisch kaschmirischen Meisterin, der Yogini Lalita Devi. Von ihr wurde ich autorisiert, meinerseits diesen direkten Weg weiterzugeben, den Weg der Erkenntnis des Selbst (Pratyabijna).

Vom Begehren, von den Sinnen, von der Leidenschaft und ihren tiefen Verbindungen zur Spiritualität zu sprechen, ist das einzige ernsthafte Gegengift zu jeglichem religiösen und Sektenwahn oder zum landläufigen Materialismus. Denn nichts erschreckt deren Angst vor der Ausgeburt der Hölle mehr als diese Worte und die Glut, die sie vermitteln. Alles, was sich ihrer Kontrolle entzieht, was sich nicht wieder eingliedern oder unterwerfen lässt, flößt ihnen einen heiligen Schrecken ein. Heute bestehen unser Begehren und unsere Leidenschaft darin, die absolute Freiheit zu finden, die Liebe und Fülle, ohne uns Füße und Hände zu fesseln. Wir wollen aus unserem überlieferten Schuldgefühl herauskommen und unseren Körper als Ganzes akzeptieren, denn er ist unser einziger Zugang zur unendlichen Wirklichkeit. Ohne ihn wären wir nichts. Mit ihm können wir alles sein.

Der amerikanische Ethnologe Gregory Bateson hat sich auf diesen schwankenden Boden hinaus gewagt, der heute viele Wissenschaftler fasziniert, nämlich „nachzuforschen, ob es für den religiösen Menschen zwischen dem materialistischen und dem übernatürlichen Standpunkt, diesen beiden Albtraum-Bunkern des Widersinns, nicht noch einen erträglichen und vernünftigen Platz gibt. Für mich sind die herkömmlichen Vorstellungen von Geist, Materie, Denken und Materialismus vollkommen unannehmbar. Ich verweigere den zeitgenössischen Materialismus ebenso entschlossen, wie ich die heute so modische Neigung zum Übernatürlichen ablehne.“ (3)

3

Die Sehnsucht nach Einheit

Eine der Ursachen für unser Leiden kommt daher, dass in unserem Innersten eine Art Sehnsucht nach Einheit vorhanden ist. Manchmal tritt sie mit Macht in der Kinder- und Jugendzeit zutage, manchmal auch erst im Erwachsenenalter. Die starke Empfindung der Einheit mit der Welt wird im Allgemeinen negativ interpretiert. Die Erwachsenen sprechen von Träumereien, von Zerstreutheit, von nicht ganz geheuren Verschmelzungszuständen, die mit der Zeit verschwinden würden, und leider ist das normalerweise auch so.

Wir alle müssen einmal das durchmachen, was man üblicherweise als „Krisen“ bezeichnet. In ihrem Verlauf begegnen wir dieser starken Sehnsucht wieder. Alles, was uns außerordentlich überwältigt, uns an unserem geregelten Leben zweifeln lässt, uns mitreißt, zutiefst berührt und uns unserer Grenzen bewusst werden lässt, kann diesen Einheitszustand wieder zum Leben erwecken oder im Gegenteil sein Fehlen auf bestürzende Weise noch unterstreichen. Während dieser Krisen fühlen wir uns zerbrechlich, aber außerordentlich lebendig, und es ist genau dieses Gefühl, wieder aus der sprudelnden Quelle zu trinken, das uns zu Handlungen bewegt, die sich einmal segensreich, einmal belanglos und manchmal katastrophal auswirken.

Dieses Gefühl, diesen Freiheitsdrang, diese Trunkenheit, gerade das nennen wir „die Leidenschaften“. Obgleich wir wissen, dass sie uns wieder zum Leben erwecken, lösen sie normalerweise ein gewisses Schuldgefühl aus, was mit der Missbilligung der Gesellschaft einhergeht, als ob zu leben bedeuten würde, sich ans allmähliche Ersticken und an den langsamen Tod zu gewöhnen. Niemand, nicht einmal ein Ausbund an Tugend, entgeht diesen Ausbrüchen, diesen Katastrophen. Wenn sie oft fehlgedeutet werden, dann einfach nur deshalb, weil jedermann weiß, wie grundlegend wunderbar es ist, durch Leidenschaften aus seiner Erstarrung erweckt zu werden. Diejenigen, die den Zustand der Gnade verloren haben, verurteilen als Erste die Opfer dieser inneren Erdbeben. Und das Missverständnis geht weiter, von Generation zu Generation.

Die Moralisten reden davon, Begehren und Leidenschaften zu kontrollieren, zu beschränken und zu zerstören. Die Fanatiker setzen die Zerstörung der leidenschaftlichen Menschen in die Tat um, aber niemand kann durch das Leben gehen, ohne die verzehrende Substanz von Begehren und Leidenschaften zu verspüren. Warum bereiten uns diese Ausbrüche so viel Leid? Warum verkriechen wir uns so oft wieder in den Winterschlaf, nachdem wir sie erlebt haben? Warum zahlen wir freiwillig diesen horrenden Preis, den die Gesellschaft von leidenschaftlichen Menschen verlangt? Haben wir uns bei der Ausrichtung unseres Lebens möglicherweise fundamental geirrt? Warum stimmt unser Ideal nicht mit unserer tiefsten Einsicht überein? Warum akzeptieren wir, dass das Staunen nicht mehr zu unseren fundamentalen Lebensqualitäten gehört?

Die Aufgabe unseres eigentlichen Potenzials geht nicht allein auf unsere Erziehung, auf Schwierigkeiten im Leben oder auf die Notwendigkeit, sich dort einen Platz zu schaffen, zurück. Sie geht vor allem auf unser Gedankenuniversum zurück, auf unsere Mythologie, unsere Religionen, unsere auf biblischen Texten und der Genesis beruhenden Vorstellungen. Todsünde, Sündenfall oder Erlösung sind mächtige Ursachen für Hemmungen und Schuldgefühle. Sie bedingen unsere Vorstellung vom Getrenntsein.

Seit jeher haben in sämtlichen Religionen diejenigen, die das Sagen haben, versucht, ihre Autorität zu behalten, indem sie sich unersetzlich machten und dem Menschen seinen freien Willen und jede Möglichkeit auf Rettung absprachen, falls er nicht seine Unfähigkeit eingestehen würde, sich ohne Umwege an Gott zu wenden oder sogar das Göttliche in sich selbst zu sehen. Diese Fürsprecher haben die Macht übernommen und wollen sie behalten. Sie folgen den Wechseln der gesellschaftlichen Entwicklung, passen sich an, führen Reformen durch und wechseln ihr Image. Aber grundsätzlich ändert sich nichts, weil der Kern der Frage nie berührt wird. Sie sind da, um unsere Einheit mit dem Göttlichen zu leugnen und damit ihr eigenes Revier zu sichern. Nach ein paar Jahrtausenden mannigfaltiger Versuche hat es den Anschein, dass weder Strafe noch himmlische Belohnung dem Menschen die innere Freiheit und Fülle haben geben können, nach der er sich weiterhin sehnt.

Wenn man aufhört, die Macht an andere abzugeben, befreit man sich gleichzeitig von der absurden Erwartung, von anderen befreit zu werden. Das führt zu einer unmittelbaren Empfindung von Raum und Ruhe. Dank ihrer können wir die Lage überprüfen und unser Freiheitspotenzial wieder selber in die Hand nehmen, so wie Männer und Frauen des 20. Jahrhunderts es bereits gelernt haben.

Auf dieser Reise durch die Einheit des Seins konnte ich zeigen, in welchem Maß die großen Wege des tibetischen Buddhismus –Mahamudra und Dzogchen – aber auch der ursprüngliche chinesische Zen-Buddhismus, das Chan, die ihre Quellen bei den Siddhas aus Kaschmir und Oddhiyana fanden, darin übereinstimmen, dass das menschliche Sein absoluter Natur ist und sich auf einem dritten, vom Tantra vorgegebenen Weg erforschen lässt.

Ich schlage Ihnen vor, Sie bei einer Entdeckung zu begleiten. Das geschieht mit tiefgründigen Texten aus der tantrischen Tradition, Gesprächen mit Menschen, die diesem Weg folgen, mit Fragestunden, die während meiner Seminare stattgefunden haben, sowie mit Übungen und Praktiken von Tantrikern unterschiedlicher Schulen. Vielleicht wird diese Entdeckung es Ihnen ermöglichen, die Einsicht oder Hoffnung zu bestätigen, die die Mehrzahl der Menschen in sich trägt: Nämlich die Hoffnung auf einen Weg, der es erlaubt, die Gesamtheit der menschlichen Erfahrung mit einzubeziehen, ohne Furcht und Tabus, in Freude, Vergnügen, Liebe und Fülle.

Teil II

1

Die Stärke der Frau

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