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Alex Baur

Der Fluch
des Guten

Wenn der fromme Wunsch regiert –
eine Schadensbilanz

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Impressum

3. Auflage, 2019

© 2019 Münster Verlag GmbH, Basel

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden, insbesondere nicht als Nachdruck in Zeitschriften oder Zeitungen, im öffentlichen Vortrag, für Verfilmungen oder Dramatisierungen, als Übertragung durch Rundfunk oder Fernsehen oder in anderen elektronischen Formaten. Dies gilt auch für einzelne Bilder oder Textteile.

Umschlagsgestaltung:

Daniel Eggspühler

Umschlagsillustration:

Jan Feindt

Satz:

Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld

Druck und Einband:

CPI books GmbH, Ulm

Verwendete Schriften:

Adobe Garamond Pro, Artegra Sans Condensed

Papier:

Umschlag, 135 g/m2, Bilderdruck glänzend, holzfrei; Inhalt, 90 g/m2, Werkdruck bläulichweiss, 1,75-fach, holzfrei

ISBN 978-3-907146-54-5

eISBN 978-3-907146-85-9

Printed in Germany

www.muensterverlag.ch

Inhaltsverzeichnis

Was ist und was sein sollte

Der Fluch des Guten

Das atomare Paradox

Professor Hundertmillisievert

Flugjahr der Wendehälse

Der Hafen des Irrtums

Eine Kugel Eis pro Monat

Friedensnobelpreis für Adolf Hitler

Schwerter zu Pflugscharen

Sehnsucht nach dem Mittelalter

Lawfare

Die Genfer Konfusion

Virtueller Kopfschuss

Sippenhaft und Rassentheorien

Die drei von der Feuerwehr

Die Inquisition meldet sich zurück

Jedes Urteil eine neue Version

Die Jäger werden zu Gejagten

Justiz auf den Hund gekommen

Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln

Der General im Labyrinth

Die kollektive Rigoberta Menchú

Stalin II am Ping-Pong-Tisch

Im Namen der Menschenrechte

Chinochet

Stunde Null

Marktwirtschaft von unten

Rasputin

Hungerflüchtlinge aus dem Schlaraffenland

Pachamama

Die Hebamme und die kalbernde Kuh

Pilar im Monstertruck

Die Sache mit dem Lagerfeuer

Milliardär im Armenhaus

Vorweihnächtliche Wiederauferstehung

Gute Nachrichten aus Afrika

Fromme und Frömmler

Danksagung

Was ist und was sein sollte

»Ich mag keinem Club angehören,
der mich als Mitglied aufnimmt.«

(Groucho Marx)

Der 19. Dezember 2018 dürfte als schwarzer Tage in die Geschichte des deutschen Journalismus eingehen. Zuerst über seine Online-Plattform und später auch in der gedruckten Ausgabe enthüllte das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel einen Skandal in eigener Sache: Eine ganze Reihe von Berichten des gefeierten Reporters Claas Relotius waren schlicht erfunden; Menschen und Orte, die Relotius über die Jahre in dramatischen Details portraitiert hatte, existierten in Wirklichkeit nicht, Gespräche, die er zitierte, wurden nie geführt; die Geschichten waren entweder seiner Phantasie entsprungen oder aus irgendwelchen Online-Quellen zusammengeklaut.

Die Fallhöhe hätte grösser nicht sein können. Mit 33 Jahren hatte Claas Relotius so ziemlich alle Preise und Würden eingeheimst, welche die Branche zu vergeben hat. Heute wissen wir: Alles Lug und Trug, reichlich garniert mit billigem Sozialkitsch. Doch wie bei jedem tolldreisten Betrug stellte sich unweigerlich die Frage: War das wirklich bloss das Werk eines diabolisch-genialen Hochstaplers, der da ein Heer von gutgläubigen Menschen – Chefredakteure, Kollegen, Dokumentalisten, Juroren und vor allem auch Millionen von Lesern – schamlos genarrt hatte? Oder waren seine Opfer am Ende nicht willige Mitläufer? Oder gar seine treusten Komplizen?

Der Relotius-Skandal erinnert mich an eine meiner Gerichtsreportagen aus den späten 1980er Jahren. Es ging um einen Zürcher Grosshändler, der über die Jahre rund 150 Tonnen billiges Springbock- und Antilopenfleisch aus Südafrika für teures Schweizer Rehoder Hirschfleisch verkauft hatte. Der einträgliche Schwindel flog zufällig auf, wegen Unstimmigkeiten in der Buchhaltung – und nicht etwa, weil sich ein Abnehmer je beschwert hätte. Im Gegenteil, die Metzger und Wirte reklamierten erst, als sie wieder echtes Reh- und Hirschfleisch geliefert bekamen.

Wie der Fleischhändler vor Gericht erklärte, seien es die Abnehmer gewesen, die ihn auf die schiefe Bahn gebracht hätten. Nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 sei es infolge eines Importstopps aus Osteuropa beim Wildfleisch zu Lieferengpässen gekommen. Um seine Kunden nicht zu verlieren, habe er in der Not mal eine Lieferung Springbock als Reh etikettiert. Niemand habe je reklamiert, keiner habe sich gefragt, warum er stets liefern konnte, wenn bei der Konkurrenz die Lager an heimischem Wild längst leergefegt waren. Das Fleisch aus Südafrika sei zart und bekömmlich gewesen, so dass niemand mehr etwas anderes haben wollte. Also habe er einfach geliefert, was die Kunden von ihm verlangt hätten.

Mag sein, dass hier ein Betrüger seine Machenschaften beschönigte. Aber es ist doch bemerkenswert, wie alle Alarmsignale ignoriert wurden, wie keiner sehen wollte, was nicht sein durfte. Immerhin verdienten seine Abnehmer am Betrug kräftig mit. Waren sie tatsächlich Opfer – oder nicht eher Mittäter?

Dieselbe Frage stellt sich auch im Relotius-Skandal, allerdings in einer ungleich grösseren Tragweite. Hat wirklich keiner gemerkt, dass die Märchen des Wunderjungen Relotius zu gut waren, um wahr zu sein? Hat man auf der Redaktion den Betrug nicht zumindest billigend in Kauf genommen, zumal man selber davon profitierte? Und vor allem: War Relotius wirklich ein Einzelfall? Wenn bei ihm alle Kontrollen versagten, warum sollten sie bei anderen funktionieren? Hat Claas Relotius vielleicht bloss etwas übertrieben bei dem, was alle andern auch, bloss etwas diskreter tun?

Anders als der Springbock-Skandal ist der Fall Relotius einiges mehr als ein Etikettenschwindel um das zartere Fleisch. Medienberichte haben einen grossen Einfluss im öffentlichen Leben, sie können Regierungen stürzen, politische Entscheide beeinflussen und Trends setzen. Der Fall scheint all jenen Recht zu geben, die schon lange »Lügenpresse« und »fake news« rufen.

Der Relotius-Skandal traf eine ganze Branche, die seit Jahren dramatisch an Reichweite und Glaubwürdigkeit verliert, im denkbar schlechtesten Moment. Die Fake-Reportagen drehten sich zu einem guten Teil um politisch und weltanschaulich heiss umstrittene Themen wie Migration, Asyl oder Rechtspopulismus. Und es war auch stets klar, auf wessen Seite Reporter Relotius stand. Mit dem heutigen Wissen lesen sich seine preisgekrönten, vor Mitgefühl und Empörung nur so triefenden Geschichten wie Persiflagen auf die linksliberalen Klischees.

Dass die Medien-Branche überwiegend auf links gepolt ist, haben Umfragen immer wieder und in aller Deutlichkeit gezeigt. Wenn nur Journalisten wählen könnten, wären die Grünen in Deutschland die weitaus stärkste politische Kraft, gefolgt von den Sozialdemokraten; konservative Parteien würden ein Schattendasein fristen, rechte Bewegungen wie die AfD gäbe es gar nicht erst. Die Realität sieht bekanntlich etwas anders aus. Das ist nicht nur in Deutschland so. Der Linksdrall im Journalismus ist ein globales Phänomen. Ein Vergleich von Umfragen aus 17 Ländern hat ergeben, dass grüne und feministische Ideologien in Redaktionsstuben etwa dreimal stärker vertreten sind als in der Bevölkerung; die nationalkonservative Haltung ist um das sechsfache weniger präsent.1

Vermutlich liegt der Hauptgrund bei der urbanen Bildungsschicht, in der sich die meisten Journalisten bewegen. In diesen Kreisen ist ihre Haltung durchaus mehrheitsfähig. Nur repräsentiert diese Intelligenzija, wie eh und je, bloss einen Teil des Volkes. Und es ist auch nicht so, dass die selbsternannten Eliten unbedingt klüger wären als das Fussvolk und alles klarer sehen. Doch, und hier liegt das Hauptproblem, viele Journalisten haben sich selbst eine höhere Mission zugeteilt. Sie begnügen sich nicht damit, die Dinge abzubilden, wie sie sind; sie orientieren sich vielmehr an dem, wie die Welt sein sollte – ihrer Meinung nach sein sollte. Und wenn sie der Wahrheit etwas nachhelfen, dann können sie es stets mit dem guten Zweck rechtfertigen. Lüge ist ein hässliches Wort, lieber verklärt man die kleinen Schummeleien, die in der Summe aber doch zu gewaltigen Zerrbildern führen können, als soziales Engagement oder publizistische Verantwortung.

Rudolf Augstein, der legendäre Gründer des Spiegels, bezeichnete das deutsche Nachrichtenmagazin einst als »Sturmgeschütz der Demokratie«. Aus historischer Sicht mag die vielzitierte Metapher verständlich erscheinen. Der Spiegel entstand 1947 aus den Aschen der Nazi-Tyrannei. Man muss sich trotzdem fragen: Wer wird hier eigentlich publizistisch unter Beschuss genommen? Ist es am Ende nicht das Publikum? Ist das Sturmgeschütz eine mildere Variante des Stürmers, einfach in die Gegenrichtung? Ist es wirklich die Aufgabe der Medien, die Menschen zu besseren Menschen zu erziehen? Wer gibt ihnen dieses Recht?

Eines steht fest: Wo gestürmt wird, wird nicht mehr verhandelt und um das bessere Argument gerungen, da geht es nur noch um Herrschaft und Übermacht.

In seinen Anfängen verstand sich Der Spiegel, die wohl mächtigste publizistische Stimme der deutschen Nachkriegszeit, als Gegengewicht zum herrschenden Establishment. Da war wenigstens noch eine Portion Dialektik drin. Doch diese Zeiten sind vorbei. Das einstige Demokratiegeschütz erinnert heute eher an eine Lichtorgel des grünliberalen Mainstreams, die, weitgehend im Gleichklang mit den amtierenden Machthabern, ihre Laserkanonen auf alles richtet, was rechts der Mitte steht. Wehe dem, den der Bannstrahl trifft. Er ist nicht einfach anderer Meinung, sondern eine Gefahr für die Gesellschaft. Der muss bekämpft, bekehrt oder zum Schweigen gebracht werden.

Der Spiegel steht damit nicht allein. Die ökologische Welle setzte in den 1970er Jahren ein und sie erreichte gegen Ende des letzten Jahrhunderts mit dem Ozonloch, Tschernobyl und dem Waldsterben erste Höhepunkte. Dahinter steckt ein tiefes und durchaus begründetes Misstrauen gegenüber dem grenzenlosen Wachstum und den technologischen Revolutionen. Voller Bange fragen sich viele Menschen, wo das alles hinführt, ob man diese rasenden Entwicklungen irgendwie bändigen und unter Kontrolle bringen könnte.

Jede Entwicklung darf, ja muss hinterfragt werden. Zweifellos hat das rasante Wachstum der Nachkriegszeit seine Schattenseiten. Zweifellos wurden Fehler gemacht, die korrigiert werden müssen. Das Problem der grünen Welle ist, dass sie längst kryptoreligiöse Züge angenommen hat, die eine rationale Auseinandersetzung schwierig machen. Ihr Ziel ist nicht die Optimierung eines Systems, sondern ein fundamentaler Wandel. So ziemlich alle traditionellen Werte und Autoritäten – die Familie, die Nation, der Respekt gegenüber den Ahnen, Eltern und den Älteren, der Wettbewerb, das Leistungsprinzip, das Streben nach Gewinn – werden zurückgewiesen. Woran sich die Gemeinschaft stattdessen orientieren soll, ist weniger klar. Irgendwie hat es mit Solidarität zu tun.

Die 16-jährige Greta Thunberg, die seit ihrem Auftritt an der Weltklimakonferenz im Dezember 2018 im polnischen Katowice über alle Kanäle den CO2-Weltuntergang predigt, ist eine leuchtende Ikone dieser Bewegung. Der medial inszenierte und orchestrierte Greta-Hype erinnert an den kleinen Nikolaus, in dessen Gefolgschaft anno 1212 tausende von Kindern und Frauen von Köln gegen Süden zogen, um das Morgenland von den Ungläubigen zu befreien. Der Kinderkreuzzug endete vorzeitig in Genua. Viele starben auf dem Weg zur Weltrettung, einige endeten in der Sklaverei oder als Bettler, das Heilige Land erreichte keiner. So betrachtet mag der Wirbel um den schulschwänzenden Teenager aus Schweden als harmloses Spektakel daherkommen. Erschütternd ist hingegen die einfältige Ergriffenheit, mit der praktisch alle Massenmedien vor Greta in die Knie fielen um ihr jedes Wort von der Lippe zu lesen, als handelte es sich um biblische Prophezeiungen.

Es liegt mir fern, die Zukunftsängste von Teenagern zu verspotten. An sich ist es erfreulich, wenn sich die Jugend mit den Fragen der Zeit auseinandersetzt und die Erwachsenen herausfordert. Ungesund wird die Sache erst, wenn die Rollen vertauscht werden, wenn die Eltern, Lehrer und Politiker der Herausforderung aus dem Weg gehen und den siebenmalklugen Grünschnäbeln nach der Pfeife tanzen. Statt die Klimastreiks an den Schulen für eine echte – sprich kontradiktorische – Debatte über die Möglichkeiten und Grenzen der Wissenschaft und der Politik zu nutzen, werden die Weissagungen des Weltklimarates (IPCC) und die geforderten Massnahmen im gemischten Chor als unverrückbare Dogmen gepriesen, so als handelte es sich um einen Katechismus des Vatikans.

Tatsächlich sind die auf die Strassen getragenen Ängste der Schüler keine spontane Reaktion auf eine reale Bedrohung, sondern vielmehr die Frucht eines seit Jahren auch und gerade an den Schulen gebetsmühlenartig verbreiteten Klima-Dogmas. Dabei sind die Modelle des IPCC nicht mehr als mit zahllosen Unbekannten, Ungewissheiten und Widersprüchen behaftete Hypothesen, die ständig revidiert werden müssen. Mehr kann man von der Wissenschaft – zumal in einem hoch komplexen Thema wie dem Klima – nicht erwarten. Was heute als Stand des Wissens gilt, kann morgen schon überholt und widerlegt sein. Und das wäre auch nicht weiter tragisch, wenn man der Wissenschaft nicht etwas zumuten würde, was sie gar nicht erfüllen kann.

Es gibt viele Gründe, uns um unsere Atmosphäre zu sorgen. Viel alarmierender als das prophezeite menschgemachte klimatische Armageddon ist jedoch die messianische Penetranz, mit der es an den Schulen, in den Medien und in der Politik als einzige denkbare Wahrheit verkündet wird. Das dialektische Prinzip der freien Rede und Widerrede, die wohl grösste Errungenschaft der Aufklärung, gilt beim Klimawandel nicht mehr. Wer Zweifel anmeldet, ist nicht einfach anderer Meinung, sondern ein »Leugner«, ein bösartiger Mensch also, der mit Hohn, Ausgrenzung und Verachtung bestraft wird. Eine Wissenschaft aber, die sich nicht ständig selber in Frage stellt und sich nicht hinterfragen lässt, hat ihre wichtigste Tugend verloren, und damit auch jede Glaubwürdigkeit.

Ideologie, Politik, wirtschaftliche Interessen und Wissenschaft sind in der Klimafrage zu einem amalgamartigen Komplex verschmolzen, der sich nicht mehr auseinanderdividieren lässt. Wenn der UNO-Rat der Klimaweisen an seinen Modellen herumschräubelt, den Meeresspiegel um ein paar Millimeter steigen oder die Temperatur um ein Zehntelgrad sinken lassen, werden sofort Forderungen laut, auch wenn kein Mensch voraussagen kann, was es wirklich bedeutet und wieviel wir effektiv dagegen unternehmen können. Statt zu informieren, betreiben die Medien Kampagnen, rufen zum Halali gegen Sündenböcke wie etwa das Flugzeug. Dass die Fliegerei gemäss der internationalen Energieagentur IEA gerade mal für 2,69 Prozent der menschgemachten CO2-Emissionen verantwortlich ist (Tendenz leicht sinkend)2 und damit wohl keinen grossartigen Einfluss auf das Klima hat, wird dabei grosszügig übersehen.

Klima-Alarmisten werden einwenden, dass es eine absolute Sicherheit nie geben kann und dass man etwas tun muss, bevor es zu spät ist. Was ist denn schlecht daran, wenn wir unsere Umwelt weniger belasten? Diese Argumentation ist nicht falsch, aber sie greift zu kurz. Denn jede einschneidende Massnahme bringt fast immer auch unerwünschte Konsequenzen mit sich. Man kann den Treibstoff schon so verteuern, dass nur noch die Reichen sich einen Flug oder ein Auto leisten können. Doch würden wir nicht genau dadurch ein soziales Ungleichgewicht schaffen, das sich niemand ernsthaft wünscht? Auch eine Rationierung der Mobilität und der Energie ist denkbar. Doch solche Regulierung führen, wie uns die Geschichte lehrt, zu planwirtschaftlichen Monstern, bürokratischen Leerläufen und ökonomischen Einbussen. In den Industrieländern wäre eine Rezession vielleicht noch zu verkraften, aber sicher nicht in den Entwicklungsländern, wo die Mehrheit der Menschheit lebt. Jedes Prozent Wachstum rettet in diesen Breitengraden tausende von Menschenleben.

Der grüne Totalumbau der Wirtschaft ist nach meiner Meinung ein verantwortungsloses Experiment, das ungleich höhere Risiken in sich birgt als der menschgemachte Klimawandel. Wir wissen herzlich wenig über die komplizierten Mechanismen des Klimas, aber mit planwirtschaftlichen Modellen, die mit sturer Regelmässigkeit grandios scheiterten, haben wir doch einige Erfahrungen gemacht. Man kann auch anderer Meinung sein. Doch von solchen Einwänden ist selten die Rede.

Statt echte Debatten zu befeuern, heizen die Medien bei der klimatischen Götterdämmerung ein was das Zeug hält. Seit Der Spiegel auf einem legendären Cover 1986 den Kölner Dom (36 Meter über dem Meeresspiegel) in den durch schmelzende Pole verursachten Fluten versenkte, hat der Fluss an alarmierenden Meldungen kaum nachgelassen. Das Szenario ist schon deshalb absurd, weil das Schmelzen des schwimmenden Eises am Nordpol ein Nullsummenspiel wäre, da sich das Volumen des Wassers nur minimal ändert; und um das Eis am Südpol zum Verschwinden zu bringen, müsste es derart viel heisser werden, dass ein steigender Meeresspiegel das kleinste Problem wäre. Realistischer wäre das Wegschmelzen der Gletscher in Grönland; das hätte wohl spürbare Auswirkungen, doch die Stadt Köln wäre davon sicher nicht betroffen.

Doch solche Differenzierungen sind Gift für die süffige Schlagzeile. Dass eine Tierart vielleicht an zwei bis drei Grad mehr Wärme leidet und sich die Lebensräume über die Jahrzehnte verschieben, ist keine Geschichte. Nein, Wahlrösser begehen kollektiven Selbstmord, wie etwa in der Netflix-Produktion »Our Planet« berichtet wurde, die Eisbären sterben gleich ganz aus (tatsächlich ist die Eisbären-Population am Wachsen). Glaubt man den alarmistischen Meldungen, ist die Welt am verdorren (tatsächlich haben die Grünflächen gemäss Satelliten-Messungen der NASA in den letzten Jahrzehnten weltweit markant zugenommen, mutmasslich dank der erhöhten CO2-Konzentration in der Atmosphäre3). Jedes Unwetter, jede Hitzewelle, jeder Hurrikan und jede Überschwemmung wird als Vorbote der Klimakatastrophe gedeutet; fegt jedoch eine Kältewelle übers Land, mahnen die Experten, dass man das Wetter nicht mit dem Klima verwechseln sollte.

Ich bin seit über drei Jahrzehnten mit Leidenschaft Journalist. Die meisten Kollegen, mit denen ich oft sehr eng zusammengearbeitet habe, sind anständige Menschen. Sie unterscheiden sich kaum vom Rest der Bevölkerung. Es ist auch nicht so, dass der zynische Umgang mit der Wahrheit eines Claas Relotius in der Branche akzeptiert wäre. Fast alle meine Kollegen, gleichgültig welchem politischen Lager zugetan, reagierten mit Konsternation auf den Betrug. Im trauten Kreis hört man durchaus selbstkritische Töne. Im Prinzip ist man sich einig, dass Agitation und Propaganda Feinde des Journalismus sind. Die Einsicht ins Unrecht wäre durchaus vorhanden, es mangelt wohl eher am Vermögen, die Konsequenzen daraus zu ziehen.

Das Elend beginnt bei der Redaktionskonferenz am runden Tisch. Ein Blatt oder eine Sendung wird entworfen, Themen werden selektioniert, Schwerpunkte gesetzt, Stossrichtungen definiert, Aufträge verteilt. Bei den einen ist es ein Chef, der die Linie vorgibt, andere entscheiden im Kollektiv, was nicht unbedingt heisst, dass es demokratischer zu und her ginge. Leithammel gibt es in fast jeder Gruppe. Das Hauptproblem liegt anderswo: Wüsste man im vornherein, was Sache ist und was bei einer Recherche herauskommt, könnte man getrost darauf verzichten. Man könnte die in der Konferenz entworfene Geschichte vom Büro aus machen. Und das tun leider viele auch.

Es gibt wohl Geschichten, bei denen von Anfang an klar ist, wo und wie sie enden. Doch spannend und erkenntnisreich wird es erst, wenn die Dinge im Zuge der Recherche eine Wendung nehmen, die man nicht erwartet hätte. Nur ist es dann nicht mehr die Geschichte, die man an der Konferenz beschlossen hatte. Vielleicht ist alles etwas komplizierter, als man es sich vorgestellt hatte, vielleicht ist es aber auch das Gegenteil davon. Was nun? Ja dann.

Über all die Jahre hat mich dieses Dilemma auf Schritt und Tritt begleitet. Theoretisch: Der Wahrheit sind wir verpflichtet, nichts als der Wahrheit! Realistisch: Je lauter die hehren Prinzipien beschworen werden, desto mehr Anlass zu Misstrauen. Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass dort, wo es wirklich unangenehm wird – wenn Gewissheiten plötzlich wackeln, wenn sich die Realität der im Kopf bereits entworfenen Geschichte in den Weg stellt – nur wenige Journalisten die Kraft aufbringen, weiter zu recherchieren und ihre ungehörigen Erkenntnisse dann auch noch ungefiltert zu veröffentlichen. Und wenn sie es tun, ist es der Karriere selten förderlich.

Ein bisschen Widerrede ist wohl erlaubt, ja erwünscht. Schliesslich steigert das die Glaubwürdigkeit. Man signalisiert Unabhängigkeit. Aber wehe einer rüttelt an den Fundamenten des Vertrauten. Dann runzeln nicht nur die Chefs die Stirn, sondern auch die Kollegen. Dann gibt es tausend Einwände und Bedenken – Zweifel, die so oft fehlen, wenn vermeintlich Bekanntes bestätig wird. Wer sich auf den gewohnten Trampelpfaden bewegt, steht immer auf der sicheren Seite. Es gibt viele Wege, subtile oder auch rabiatere, um unpässliche Ein- und Ansichten zu entschärfen, zu vernebeln, zu verstecken, zu eliminieren oder gar in ihr Gegenteil zu verkehren. »Das nächste Mal wirst du mutiger sein«, so redet man sich dann vielleicht ein, wenn man nach Redaktionsschluss das schlechte Gewissen mit einem Bier wegspült. Wie ein Alkoholiker, der sich bei jedem Glas schwört, dass es das letzte war.

Dass man die Schlussfolgerung vorwegnimmt und hernach selektiv die passenden Grundlagen zusammenschustert, die zum gewünschten Schluss führen (statt umgekehrt), ist ein nur allzu menschliches Laster. Es ist keineswegs uns Journalisten vorbehalten. Zirkelschlüsse gibt es überall – in Liebesbeziehungen, Gerichtsurteilen, politischen Debatten, in der Kunst und leider auch in den Wissenschaften. Im Journalismus wirkt sich die selektive Wahrnehmung besonders fatal aus. Was wir von den Medien an Allgemeinwissen vermittelt bekommen, prägt unser aller Weltbild massgeblich und damit indirekt auch unser Handeln – im grossen Ganzen wie im kleinen Detail.

Nur Dummköpfe erfinden Fakten, um die Wahrheit zu verdrehen. Sie fliegen früher oder später auf. Viel heimtückischer sind die kleinen Unterschlagungen, die suggestiven Adjektive und die tendenziösen Nebensätze, welche für die gewünschte Stimmung sorgen und einen falschen Eindruck erwecken. Nebensächlichkeiten werden aufgebauscht, was nicht ins Bild passt, geht einfach vergessen. So entstehen die wirklich perfiden und schwer zu widerlegenden fake news.

In einer freien Gesellschaft werden Vorurteile und Fehlschlüsse in einem nie endenden Wettbewerb um das bessere Argument korrigiert. Die Wahrheit triumphiert nie, sagte einst Max Planck, ihre Gegner sterben nur aus. In der Regel funktioniert das ganz gut. Doch es gibt Chimären, die sich hartnäckig halten, auch wenn die Widersprüche längst offenkundig sind. Es ist wie in einer verfahrenen Liebesbeziehung: Wir wollen das Offenkundige nicht wahrhaben, wohlwissend, dass die Ernüchterung umso härter sein wird, je länger wir uns an der Illusion festklammern.

Irgendwann zerschellt aber jede Illusion an der Realität. Stehen wir dann vor den Trümmern unserer Ideale und fragen uns augenreibend, wie wir alle Alarmsignale so lange ignorieren konnten, ist die Antwort stets dieselbe: Der Wunsch war Vater des Gedankens. Statt uns zu orientieren an dem, was ist, liessen wir uns leiten von dem, was sein sollte. Es ist so banal, dass wir es kaum zu sagen wagen. Und trotzdem – oder gerade deshalb? – tappen wir immer wieder und wieder in dieselbe Falle.

Davon handelt dieses Buch: Vom übermächtigen Verlangen, scheinbar Gutes zu tun, unbesehen der Wirkung, die effektiv erzielt wird; vom verführerischen Rauschgift des Gefälligen, das mächtiger ist als jede Vernunft, selbst wenn uns längst klar sein sollte, dass wir das Gegenteil von dem erreichen, was wir wollten und sollten; vom selbstverliehenen Gefühl der moralischen Überlegenheit, das uns scheinbar immun macht gegen alle Zweifel und Zweifler und uns einen Freipass gibt, selber gegen die hohen Ansprüche zu verstossen, die wir an andere stellen; und nicht zuletzt von all den Wichtigtuern, den Ablasshändlern und Schlangenölverkäufern, die sich auf dem Markt des Seelenheils tummeln.

Ich nenne es den Fluch des Guten.

Jede Epoche hat ihren Fluch. Es gab Zeiten fürchterlicher Kriege; Zeiten, in denen Seuchen, Dürren oder andere Plagen ganze Landstriche entvölkerten; Zeiten, in denen im Namen irgendeiner Religion Völker ausgerottet wurden. All das gibt es auch heute noch, doch in geringerem Ausmass. An sich leben wir sogar in einer recht freundlichen Zeit. Den Menschen geht es so gut wie noch nie zuvor.

Auch und gerade in den meisten Entwicklungsländern ist die Lebenserwartung markant gestiegen. Bildung und medizinische Grundversorgung sind für viele Menschen selbstverständlich geworden. Dank Internet haben wir selbst in den entlegensten Winkeln der Erde Zugang zum kostbarsten Gut, das es überhaupt gibt: Wissen und Information. Noch nie zuvor standen die Chancen besser, die schlimmsten Geisseln der Menschheit – Hunger, Krankheiten, Gewalt und Unrecht – zu besiegen. Doch statt die Chance beim Schopf zu packen, stehen wir Menschen uns selber im Weg.

1992 verkündete der amerikanische Politologe Francis Fukuyama in seinem epochalen Bestseller Das Ende der Geschichte die Überwindung der Ideologien. Der Kalte Krieg war soeben relativ glimpflich zu Ende gegangen. Die Supermächte einigten sich auf die atomare Abrüstung, die Stellvertreterkriege rund um den Erdball wurden eingestellt. In der real existierenden Welt hatte sich der Sozialismus selbst überwunden. Der freie Markt, so schien es, hatte seine Überlegenheit auf allen Ebenen bewiesen. Der Weg schien frei für eine erspriessliche Zukunft ohne links und rechts.

Doch Fukuyama hat sich geirrt. Mit dem Ende des kommunistischen Blocks fing der Kampf der Ideologien erst recht an. Und er tobt heftiger denn je. Die Positionen sind im Kern dieselben wie eh und je: Progressiv gegen Konservativ, Regulierung gegen Freiheit, Planwirtschaft gegen Markt, Globalismus gegen Nationalismus, Globalisierung gegen Protektionismus, Umverteilung gegen Wettbewerb. Es ist das altbekannte Schema von links gegen rechts. Und es hat durchaus seine Berechtigung. Denn jedes Prinzip hat seine Kehrseite.

Das ewige Ringen um Prinzipien ist mühsam, aber unverzichtbar. Man kann die Verschärfung der Tonlage auch als gesunde Reaktion auf die postmoderne Beliebigkeit und Alternativlosigkeit deuten. Es gibt immer zwei Sichtweisen. So ist es, um einen aktuellen Brennpunkt zu nennen, unsinnig, die Migration als grundsätzlich gut oder als grundsätzlich schlecht zu qualifizieren. Die Zuwanderung kann Menschen verschiedener Herkunft zusammenbringen und befruchtend wirken; eine unkontrollierte Massenzuwanderung führt dagegen längerfristig fast zwangsläufig zu Segregation, Hass und Terror, wie uns die Geschichte lehrt. Nationalismus ist schlecht, wenn er zur Rechtfertigung von Aggression und Unterdrückung dient; Nationalismus ist gut, wenn er den Menschen eine Heimat, Sicherheit und Ordnung gewährt. Das Asylrecht schützt Opfer politischer Willkür vor Verfolgung, aber leider auch Schlaumeier und Kriminelle. Die Sozialhilfe ist ein Segen in der Not, sie kann aber zum Fluch werden, wenn sie Abhängigkeiten schafft. Steuern sind eine gewinnbringende Investition, soweit sie dem Gemeinwohl dienen; sie können aber auch schädlich sein, wenn sie die Fleissigen bestrafen und asoziales Verhalten belohnen. Die Liste liesse sich fortführen.

Das Leben an sich ist dialektisch. Es fängt an bei Adam und Eva. Nur Gegensätzliches kann Neues zeugen. Unter Gleichem herrscht unfruchtbare Einöde. Wo stets alle einer Meinung sind, regiert die Einfalt. Harmonie lebt von der Spannung, wo sie fehlt, macht sich Langeweile breit. Der Kompromiss ist stets die Frucht einer Kontroverse, welche den Samen zur nächsten Auseinandersetzung bereits in sich trägt. Endgültig ist allein der Tod.

Natürlich ist es sinnvoll, Probleme pragmatisch zu lösen. Konservative werden sich instinktiv eher nach dem orientieren, was ist, Progressive nach dem, was sein sollte – und irgendwann rauft man sich zusammen. Doch wer glaubt, die Lösung befinde sich stets in der goldenen Mitte, macht es sich zu einfach. Auch die politische Mitte kann totalitäre Züge entwickeln, wenn sie die absolute und alleinseligmachende Vernunft für sich beansprucht. So hat die bisweilen hysterische Ausgrenzung und Verdammung der so genannten Rechtspopulisten, wie wir sie zurzeit in der westlichen Welt erleben, etwas höchst Undemokratisches in sich. Ob uns Donald Trump, Jair Bolsonaro, Matteo Salvini, Viktor Orban oder Alice Weidel gefallen, ob wir ihre Meinungen teilen und ihren Stil goutieren oder auch nicht – sie wurden in ihrer Funktion gewählt, und so lange sie sich an die demokratischen Regeln halten, haben wir uns mit ihren Positionen auseinanderzusetzen.

An sich würde man meinen, dass in den gebildeten, urbanen und progressiven Kreisen die tolerantesten Menschen anzutreffen sind, während sich die ungehobelten und eher konservativen Hinterwäldler auf dem Land am liebsten unter ihresgleichen bewegen und alles Fremde ablehnen. Meine Erfahrung hat mich eher das Gegenteil gelehrt. Eine gross angelegte Studie des bekannten und weissgott nicht rechten amerikanischen Magazins The Atlantic4 scheint es zu bestätigen. So ist es für Eltern, welche den Republikanern nahestehen, tendenziell weniger ein Problem, wenn sich der Nachwuchs einen Partner aus dem demokratischen Lager anlacht, als umgekehrt. Wer sich als Rechter unter die fast ausschliesslich weissen, wohlhabenden und akademischen Kreise der Grossstadt Boston verirrt, wird sehr einsam leben. Ein Linker jedoch, egal welcher Hautfarbe, den es in das abgelegene Jefferson County zieht, hat gemäss der Studie gute Chancen, mit offenen Armen empfangen zu werden, obwohl das ländliche Kaff grossmehrheitlich Donald Trump wählte.

Die Verweigerung unangenehmer Debatte, die ideologische Erstarrung und die Arroganz der vermeintlichen Besserwisser haben viel mit Bequemlichkeit zu tun. Es ist mühsam und verfänglich, sich mit dem auseinanderzusetzen, was ist. Viel einfacher aber auch unverbindlicher ist es, sich an dem zu orientieren, was sein sollte. So legen wir uns eine Realität zurecht, wie sie uns gefällt. Der Wohlstand hat uns träge und egoistisch gemacht. Im Überfluss haben wir verlernt, das Notwendige vom Wünschenswerten zu unterscheiden. Man kann es Dekadenz nennen. Dass etwas gut gemeint ist, reicht uns völlig aus. Es beruhigt unser Gewissen. Wenn wir Enthaltsamkeit predigen und trotzdem in die Malediven jetten oder die Kinder mit dem SUV zur Schule karren, verschaffen wir uns mit einem CO2-Almosen an MyClimate locker Ablass für das Seelenheil. Diese Doppelmoral ist in der Soziologie unter dem Titel »self-licencing« bekannt und recht gut erforscht: Das Bekenntnis zum Guten wird als gute Tat verbucht, als Bonus quasi, der es einem erlaubt, auch mal zu sündigen und gegen jene moralischen Ansprüche zu verstossen, die man von der Allgemeinheit einfordert. Ein Zeichen der Solidarität oder ein humanitäres Label erleichtern das Gewissen. Was wirklich hinter dem Etikett steckt, ob es am Ende auch zu einem guten Resultat führt, interessiert weniger. Hauptsache wir fühlen uns gut.

Das ist der Nährboden, auf dem der Fluch des Guten gedeiht und seine Blüten treibt.

Das Motiv zieht sich wie ein roter Faden durch meine Reportagen aus aller Welt. Ob in den Reaktorruinen von Fukushima oder auf dem Ground Zero in Nagasaki, in den Kupferminen von Sambia oder bei den Hebammen in den peruanischen Hochanden, im altehrwürdigen Gerichtssaal zu Genf oder auf der Wahlkampftournee mit einem vermeintlichen Völkermörder im Dschungel von Guatemala – vor Ort bin ich immer wieder auf verstörende Geschichten gestossen, die alles auf den Kopf stellten, was mir bis dahin gewiss erschien. Nichts ist so trügerisch wie der Schein des Guten. Vermeintliche Helden entpuppten sich als selbstsüchtige Scharlatane, angebliche Bösewichte als Wohltäter. Je genauer man hinschaut, desto mehr verwischen sich die Konturen. Wer das Gute will, muss manchmal Schlechtes tun. Wer nur gut sein will, wird fast zwingend scheitern.

Dieses Buch dreht sich um drei thematische Schwerpunkte, die auf den ersten Blick wenig gemein haben mögen: Energie, Justiz und Wirtschaft. Es sind die Grundpfeiler, ohne die es keine Zivilisation gibt. Zweifelsohne könnte man noch vieles erwähnen, was ebenfalls notwendig, ja unverzichtbar ist – etwa die Kunst, die Erziehung, die Infrastruktur, Gesundheit, Forschung oder die öffentliche Sicherheit. Doch nichts von all dem ist denkbar, wenn die Basis fehlt. Wenn der Tank leer ist und kein Strom mehr fliesst, läuft überhaupt nichts mehr; wo kein vertrauenswürdiger und respektabler Richter für Ordnung und Frieden sorgt, regieren Faustrecht, Willkür und Chaos; wo kein Mehrwert produziert wird, folgen Elend und Hunger früher oder später. Alles andere kommt danach. Doch just bei den Fundamenten unserer Zivilisation sind heute Bewegungen im Gange, die an tektonische Verschiebungen gemahnen und deren Auswirkungen wir nur erahnen können.

Ich gehe in diesem Buch so ans Werk, wie ich es als Journalist immer getan habe: Ich orientiere mich zuerst einmal an ganz konkreten Geschichten, recherchierte vor Ort, spreche mit den Menschen und suche wo immer möglich nach Informationen aus erster Hand. Getreu dem Groucho Marx5 zugeschriebenen Motto »Ich mag keinem Club angehören, der mich als Mitglied aufnimmt« war ich stets um meine Eigenständigkeit und Unabhängigkeit bemüht. Natürlich ging auch ich immer mit einer Ausgangsthese an jede Recherche und jede Reportage heran. Doch meist sah die Realität anders aus, als ich sie mir vorgestellt hatte; und nicht selten führte mich das Hinterfragen meiner eigenen Vorurteile zu verrückten Geschichten, die alles auf den Kopf stellten und jede Fiktion übertrafen.

Den so genannten Entwicklungsländern galt seit jeher mein besonderes Interesse. Es kann uns nicht kalt lassen, wenn die einen um das nackte Überleben kämpfen, während den anderen der Überfluss zur Last geworden ist. Die Migrationsströme aus dem Süden haben uns vor Augen geführt, wie schnell die Probleme der anderen auch zu unseren werden können. In weiten Kreisen hat sich ein Konsens durchgesetzt, dass man die unkontrollierte Zuwanderung bei ihren Wurzeln bekämpfen müsste, also dort, wo sie entsteht. Doch der gute Vorsatz reicht nicht. Um zu wissen, was zu tun wäre, muss man vorerst wissen, was ist.

Abgesehen davon können wir in den Entwicklungsländern einiges lernen. In Weltgegenden, wo der Strom nicht so selbstverständlich aus der Steckdose kommt, die Milch aus dem Supermarkt und das Geld aus dem Bankomaten, sind die grundlegenden Dinge des Lebens, zu denen wir den Bezug weitgehend verloren haben, oft klarer zu erkennen.

Entscheidend sind am Ende nicht die Systeme, sondern die Menschen, die sie anwenden. Auf der ganzen Welt bin ich auf mehr oder minder verlogene Frömmler gestossen, die das Gute predigen, aber eigentlich sich selbst meinen, und auf Fromme, die ihnen gutgläubig oder auch eigennützig folgen. Überall und immer wieder habe ich aber auch aufrechte Menschen getroffen, die sich nicht von wohlfeilen Versprechen, sozialem Druck und moralischer Erpressung beindrucken liessen, sondern ihrem eigenen kritischen Verstand folgten und notfalls dafür auch Ungemach in Kauf nahmen. Ihnen ist dieses Buch gewidmet.

1The left-liberal skew of Western media, Emil Kirkegaard, Noah Carl et. al.

2www.klimaschutz-portal.aero/klimakiller-nr-1/

3climate.nasa.gov/news/2436/co2-is-making-earth-greenerfor-now/

4The Atlantic, 4. März 2019, The Geography of Partisan Prejudice, www.theatlantic.com/politics/archive/2019/03/us-counties-vary-their-degree-partisan-prejudice/583072/

5Es gibt zahlreiche Versionen über die Entstehung und zur exakten Formulierung dieser gemeinhin als »Groucho-Marx-Paradoxon« bekannten Sentenz, welche der amerikanische Comedian in einem Telegramm formuliert haben soll.

Der Fluch des Guten

»Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert, nicht mit schlechten. Alle Menschen haben gute Absichten.«

(George Bernard Shaw)

Theoretisch sind wir uns alle einig: Kriege sind schlecht, Umweltschutz ist gut; Armut und Willkür gehen uns alle etwas an und müssen überwunden werden; die elementaren Menschenrechte sind nicht verhandelbar; Rassismus und Fremdenhass vergiften und bedrohen das Zusammenleben. Doch wehe, wenn die guten Vorsätze in die Praxis umgesetzt werden. Was gut gemeint war, erweist sich oft als Teil des Problems und steht der Lösung im Weg. Trotzdem lassen wir uns immer wieder vom Schein des Guten verführen und verweigern uns der Realität, die sich dahinter verbirgt. Die Ursachen des Wunschdenkens mögen allzu menschlich sein, die Folgen sind oft tödlich.

Es war die erste Dienstreise des Papstes Franziskus, und sie sollte ein deutliches Zeichen setzen: Ich bin ein Vertreter der Armen und der Völkerverständigung! Am 8. Juli 2013 liess sich der vier Monate zuvor gewählte Pontifex Maximus von Rom auf die kleine Insel Lampedusa fliegen, um dort einen Kranz ins Meer zu werfen und eine Rede zu halten, die weltweit für Aufmerksamkeit sorgte. Papst Franziskus rief auf zur Solidarität mit den Immigranten und Kriegsvertriebenen, welche täglich in Fischkuttern auf Lampedusa anlegten. Die Insel liegt nur 200 Kilometer von der nordafrikanischen Küste entfernt im Mittelmeer, gehört aber politisch zu Italien, also zur EU. Immer wieder kenterten überfüllte Boote, Hunderte bezahlten die Reise übers Mittelmeer mit dem Tod.

Der Weckruf von Papst Franziskus »gegen die globalisierte Gleichgültigkeit« verfehlte seine Wirkung nicht. Es war der Auslöser der Operation Mare Nostrum, welche die italienische Küstenwache in Zusammenarbeit mit der Kriegsmarine drei Monate später, am 18. Oktober 2013, startete. Theoretisch verfolgte Mare Nostrum zwei Ziele: die Immigranten sollten noch während der gefährlichen Fahrt übers offene Meer abgefangen und in einen sicheren Hafen gebracht werden; zweitens sollten die Schlepper, die mit dem illegalen Treiben Millionen scheffeln, identifiziert und zur Rechenschaft gezogen werden.

Mare Nostrum veränderte das gefährliche Treiben auf dem Mittelmeer, allerdings ganz anders, als geplant. Die zumeist libyschen Schlepper verlegten sich schnell darauf, ihre menschliche Schmuggelfracht statt in Schiffskuttern in billigeren und noch gefährlicheren Schlauchbooten loszuschicken, welche die Überfahrt niemals schaffen würden. Aber das mussten sie auch nicht. Es reichte, wenn sie es bis zu den italienischen Schiffen schafften, die ausserhalb des libyschen Hoheitsgebietes patrouillierten. Dort übernahm Mare Nostrum die Migranten.

Die Folgen des päpstlichen Willkommens-Grusses und der Rettungseinsätze lassen sich in Zahlen messen. Schafften 2012 noch 12 897 Migranten die Überfahrt zwischen Nordafrika und Italien, waren es im folgenden Jahr mehr als dreimal so viele (42 925)6. Angestiegen war aber auch die Zahl der Ertrunken und Vermissten. Beim UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) und der internationalen Migrationsagentur IOM erkannte man das Dilemma offenbar und erfasste nun die vorher nur geschätzte Zahl der Todesopfer systematisch.

2014 vervierfachten sich die Überfahrten auf der zentralen Mittelmeerroute noch einmal auf 170 011 Migranten. Die Zahl der Todesopfer verfünffachte sich von geschätzten 600 im Vorjahr auf 3165 Opfer. Mit anderen Worten: Die Todesrate stieg überproportional, von 1,4 auf 1,9 Prozent. Wie viele Immigranten auf dem gefährlicheren Weg durch die Sahara nach Libyen ausgeraubt, vergewaltigt oder ermordet wurden, wissen wir mangels zuverlässiger Daten nicht.

Auch wenn die Statistik vor dem Jahr 2014 noch nicht sehr zuverlässig ist, zeigt sie doch eine klare Tendenz: Mare Nostrum reduzierte die Todesgefahr nicht, sie erhöhte sie. Dafür gibt es eine logische Erklärung. Viele Schlepper-Boote kenterten nun, sobald sie das offene Meer erreichten; und jenen, die es etwas weiter schafften, ging bald der Treibstoff aus. Bisweilen begleiteten die Schlepper ihre menschlichen Fuhren mit Jetskis, um die Aussenbordmotoren der sinkenden Boote einzusammeln, bevor sie diese ihrem Schicksal überliessen. Der vorsätzliche Schiffbruch war Teil eines zynischen Kalküls. Der italienischen Marine blieb nichts anderes übrig, als die glücklichen Unglücklichen zu bergen und übers Meer nach Italien zu bringen. Sie nahm den Schleppern damit den schwierigsten und teuersten Teil der Arbeit ab, gratis und franko.

Mare Nostrum bewirkte also das Gegenteil von dem, was man erreichen wollte. Die Kampagne wurde im Herbst 2014 folgerichtig eingestellt. Doch statt nach neuen Wegen zu suchen, erhöhte man die Dosis der schädlichen Medizin. Nun trat die Europäische Union mit der Operation Triton auf den Plan. In Zusammenarbeit mit der EU-Grenzschutz-Behörde Frontex wurden die Rettungsaktionen auf das ganze Mittelmeer ausgeweitet. Die ersten Rettungsschiffe von Hilfswerken wurden eingebunden. Auch hier liess der Erfolg nicht lange auf sich warten.

2015 reisten, zusätzlich angespornt durch den Willkommensruf der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, über eine Million Immigranten via Mittelmeer in den Schengen-Raum ein. Der Fokus verlagerte sich vorübergehend auf die Passage Türkei-Griechenland und die so genannte Balkanroute. Der Ansturm auf der zentralen Mittelmeerroute ging nur leicht (minus 10 Prozent) zurück. Doch im Prinzip war es dasselbe, ob vor Griechenland, Italien oder Spanien: Statt die illegale Einwanderung abzuwehren, agierten die Grenzschützer als Gehilfen der Schlepper.

Auf Druck der Transitstaaten und der Bevölkerung in den Zielländern wurde die Balkanroute Ende 2015 geschlossen. Zu hart wollte die EU dann aber doch nicht auftreten, sie entschädigte die Türkei mit Milliardenzahlungen, damit sie die Grenzen dicht machte. Man kann es auch so sehen: Europa exportierte die Drecksarbeit gegen harte Devisen. Immerhin zeigte sich nun aber doch, dass das angeblich Unmögliche durchaus möglich war, wenn man nur wollte. Es war eine Frage des politischen Willens. Die illegale Migration ist kein Naturphänomen. Sondern ein knallhartes Geschäft, das den Gesetzen der Ökonomie folgt und das man steuern kann.

2016 verlagerte sich der Fokus wieder zurück auf die gefährliche Passage zwischen Libyen und Italien. Die Operation Triton wurde in die noch umfassendere Operation Sophia überführt. Neu an Sophia war vor allem, dass nun private Hilfswerke – so genannte NGO, wie Médecins sans Frontièrs, Sea Watch oder Jugend rettet – einen grossen Teil der Seerettungen übernahmen. Namentlich die in Malta ansässige amerikanische Firma MOAS investierte Millionen in eine topmoderne Infrastruktur und ergänzte das Businessmodell der provozierten Seenot mit einem professionellen Fundraising. Je mehr Menschen auf dem Mittelmeer ertranken, desto dramatischer die zumeist völlig kritiklosen Medienberichte, desto üppiger flossen die Spenden.

Wieder liess der Erfolg nicht auf sich warten. Er war verheerend. 2016 wurden auf der Italienroute sämtliche Rekorde gebrochen. 181 373 Immigranten schafften die Überfahrt. Die Zahl der registrierten Todesopfer erreichte die erschütternde Marke von 4581 Ertrunkenen und Vermissten. Die Todesquote stieg erneut, nun um rund einen Drittel, von 1,9 auf 2,5 Prozent der Migranten. Anders als in früheren Jahren flaute das Geschäft im Herbst und im Winter nur noch mässig ab. Allein im November 2016 registrierte das Flüchtlings-Hochkommissariat UNHCR 718 Tote vor der nordafrikanischen Küste. Die selbstberufenen NGO-Retter machten es möglich, dass die Schlepper nun auch in der kalten und stürmischen Jahreszeit ihre Menschenfrachten auf die Reise ins Nichts schickten, wenn auch unter erhöhter Gefahr. Doch Kritik blieb weitgehend aus. Die Toten liessen sich im vorweihnächtlichen Spendengeschäft hervorragend vermarkten.

Im Laufe der Zeit hatten sich die Rettungsschiffe der Hilfswerke immer näher an die afrikanische Küste begeben. Bisweilen kreuzten sie sogar innerhalb des 12 Seemeilen breiten libyschen Hoheitsgebietes. Italienische Staatsanwälte fanden Hinweise, wonach die Helfer direkt mit den Menschenhändlern kooperierten, was diese allerdings dementierten. Doch eine direkte Koordination war nicht einmal unbedingt nötig. Dank Satellitenpeilung konnten die libyschen Schlepper die NGO-Schiffe, die vor der Küste auf sie warteten, mit dem öffentlich zugänglichen App Marine Traffic auf ihrem Laptop bequem orten und ihnen die Schiffbrüchigen entgegenschicken.

Im Sommer 2017 geriet die Lage ausser Kontrolle. Von Flüchtlingen konnte schon lange keine Rede mehr sein. Bereits die Kriegsvertriebenen aus Syrien, die 2015 noch 41 Prozent der Migranten ausmachten, waren kaum Asylsuchende im Sinne des Gesetzes. Die meisten von ihnen hatten zuvor in der Türkei Schutz gefunden, eine Gefahr für Leib und Leben bestand für sie nicht mehr. Die Immigranten, die ab 2016 auf der Italien-Route nach Europa drängten, stammten vorwiegend aus afrikanischen Ländern wie Nigeria, Guinea, Elfenbeinküste, Gambia, Senegal, Eritrea oder Mali, in denen keine Kriegswirren herrschten. Eine Minderheit war von Afghanistan und Bangladesch um die halbe Welt nach Libyen gereist. Ihre Aussicht, in Europa als Verfolgte anerkannt zu werden, waren gering. Sie spekulierten darauf, dass man sie mangels Papiere, wegen administrativer Überforderung, aus humanitären Gründen oder wegen ihres jugendlichen Alters nicht in ihre Heimat zurückschaffen könnte. Aus menschlicher Sicht mag das nachvollziehbar sein, doch mit Flucht und Asyl hat das rein gar nichts mehr zu tun. Da die Immigranten mehrere Tausend Dollar für die Reise aufbringen mussten, ist auch nicht anzunehmen, dass sie bitterer Armut entflohen.

Im Sommer 2017 zog Italien erstmals die Notbremse. Und plötzlich funktionierte auch hier das angeblich Unmögliche. Zusammen mit der libyschen Küstenwache dämmte die italienische Marine das Schlepperwesen auf dem Mittelmeer innerhalb weniger Wochen markant ein. Auch Libyen liess sich seine Kooperation teuer vergelten. Italien bildete libysche Grenzwächter aus und rüstete diese mit Schiffen und Treibstoff aus. Was hinter den Kulissen gekungelt wurde, lässt sich nur gerüchteweise in Erfahrung bringen. Offenbar wechselten einzelne Schlepper die Seiten und mutierten zu Grenzwächtern. Fein waren die Deals sicher nicht. Aber wirksam.

Die Guardia Costiera, welche die Rettungseinsätze auf dem zentralen Mittelmeer von Rom aus koordiniert, beschränkte nun die Einsätze der NGO-Schiffe. Sie sollten nur mehr als letzte Option zum Einsatz gelangen. Die libysche Küstenwache hatte fortan Priorität, sie brachte die Migranten nach Afrika zurück. Einzelne NGO zogen sich zurück, MOAS verlegte die Aktivitäten vor die Küste Burmas. Doch nicht alle hielten sich an die Order aus Rom. Zwischen NGO-Schiffen und der libyschen Küstenwache kam es immer wieder zu veritablen Wettläufen um Rettungseinsätze.

Im Juni 2018 verweigerte der neu gewählte italienische Innenminister Matteo Salvini dem NGO-Schiff Aquarius mit 629 afrikanischen Migranten den Zugang zu italienischen Häfen. Acht Tage lang irrte das Schiff übers Mittelmeer, bis es im Hafen von Valencia anlegen durfte. Der mediale Aufschrei war enorm, doch die Halbwertszeit gering. Als eine Woche später die holländische Lifeline mit 234 Migranten ein ähnliches Schicksal ereilte wie die Aquarius, wurde kaum noch darüber berichtet. Die Lifeline durfte schliesslich in Malta anlegen, wurde aber umgehend beschlagnahmt.