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aus dem Schwedischen von Dr. Iris Schubert

Kosmos

Umschlaggestaltung: Kathrin Steigerwald, Hamburg unter Verwendung von Fotomotiven von Christos Georghiou (Pferdesilhouette) adobe.stock.com und srckomkrit (Blattwerk) adobe.stock.com

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Som stjärnor faller bei Bonnier Carlsen Bokförlag, Schweden.

Text © Lin Hallberg 2017

Aus dem Schwedischen von Dr. Iris Schubert

© 2020, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-440-50286-0

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

TESS + LIV =
Best(e Freundinnen)

Tess und Liv. Wann haben sie sich gefunden?

„Es war von Anfang an klar, dass wir füreinander bestimmt sind“, sagt Liv.

„Gar nicht wahr“, protestiert Tess. „Alle wollten mit dir befreundet sein, als du neu in die Klasse kamst, und ich hatte keine Chance.“

„Du warst die Einzige, die nicht rumgeschleimt hat“, antwortet Liv grinsend.

„Du mochtest es doch, dass dich alle vergöttert haben!“ Tess sieht Liv direkt in die Augen. „Gib’s zu!“

„Ich hab sofort gemerkt, dass du was Besonderes bist“, sagt Liv.

„Wie, was Besonderes?‘“, fragt Tess feixend.

„Du bist anders“, behauptet Liv.

„Ach, hör schon auf“, sagt Tess und lacht.

„Aber es stimmt“, meint Liv. „Du siehst Dinge, die die meisten anderen nicht sehen.“

„Mein Gott, was du immer laberst!“

Tess dreht sich im Schnee auf den Rücken und sieht zum sternenbedeckten, dunklen Himmel hinauf.

„Ohne dich bin ich nichts“, sagt sie nach einer Weile.

„Du musst nie ohne mich sein“, antwortet Liv.

Die Kälte dringt durch ihre Kleider, treibt sie aus dem Schnee, bringt sie dazu, aus dem Park zu rennen, durch die Straßen der Stadt. Die Lichter des Einkaufszentrums blenden sie, als die automatischen Schiebetüren sich öffnen. Es ist schon Schlussverkauf in allen Geschäften, aber die Weihnachtsdekorationen hängen noch. Die Wärme lässt ihre Wangen glühen. Durch die Energie, die die beiden ausstrahlen, werden die Jungs, die unten in der großen Halle herumhängen, unruhig. Ihre lauten Kommentare hallen bis zur Decke, aber Tess und Liv zusammen sind so viel mehr, dass die Versuche, die beiden zu verunsichern, von ihnen abperlen wie nichts. Das Einkaufszentrum gehört ihnen, und alles ist ein Spiel. Liv filmt Tess, wie sie sich den rotesten Lippenstift aufmalt, den sie in den Regalen finden kann, und ihre Lippen ausfüllt, bis sie einem lachenden Clown gleicht. Ganz hinten im Sportgeschäft liegen in einem Korb die Mützen, die keiner haben will. Liv zieht sich eine davon über ihre schwarz gefärbten Haare und posiert vor Tess’ Handykamera.

„Liv Sanchez berichtet live vom Gipfel des Åreskutan. Hier herrscht katastrophale Stimmung. Meine Freundin wird sich bald hinunter in die Tiefe wagen, und keiner weiß, ob man sie jemals wieder sehen wird.“

„Hör auf!“ Tess schaltet die Kamera aus. „Ich will nicht, dass wir über den Umzug reden.“

Weil es ihr letzter gemeinsamer Tag ist, gönnen sich die beiden einen Smoothie im Café. Sie sitzen lange dort und saugen an ihren Strohhalmen, während sie sich gleichzeitig in der Aufmerksamkeit der Jungs vom Nebentisch sonnen.

„Was macht ihr am Wochenende?“, fragt einer von ihnen nach einer Weile.

„Auf alle Fälle nichts mit euch“, antwortet Liv grinsend.

„Sei nicht so fies.“

Es ist Liv, die das Gespräch führt, aber Tess, die der Junge anschaut, und sie erwidert seinen Blick mit einem entspannten Lächeln. Das macht Spaß. Ein unschuldiger Flirt, ein kleines Flattern in der Magengrube. Das funktioniert aber nur, wenn Tess mit Liv unterwegs ist. Livs Selbstbewusstsein überträgt sich auf Tess. Nie auf eine doofe, überhebliche Art oder so. Mehr wie ein Glücksgefühl, das den Körper ausfüllt und dazu führt, dass auch Tess die ganze Welt anlächeln kann. Eine Art Offenheit, die bewirkt, dass man plötzlich mit allen reden kann, neugierig ist, wie eine Verrückte durch die Straßen rennt und vom Leben berauscht ist.

„Nach dem Abi hauen wir ab“, sagt Liv.

„Es muss mehr geben als das hier“, antwortet Tess und nickt.

„Wir machen keinen Plan für die Reise“, sagt Liv. „Wir folgen einfach unserem Impuls und schauen mal, wohin er uns bringt.“

„Stell dir vor, wir kommen nie zurück.“

Tess erwidert Livs Blick über dem Rand des hohen Smoothie-Glases und atmet das Gefühl ein, dass das Leben auf sie wartet, dass da draußen ein Abenteuer ist.

TESS
(im Januar)

Tess hält den Türknauf in der Hand und sieht sich in dem Raum um, den sie gleich verlassen wird. Wer wird sie ohne all das sein? Wird Liv weiterhin alles über sie wissen? Werden sie immer noch die gleichen Träume träumen, wenn sie sich wiedersehen? Wird das Leben noch immer wie Kohlensäure in ihren Adern sprudeln? Kann man befreundet bleiben, auf Distanz? Kann FaceTime den Abstand zwischen ihnen überbrücken? Die Wände ihres Zimmers werfen auf alle Fragen ein schallendes Nein zurück, das dazu führt, dass Tess sich aufs Bett werfen und einfach weigern will. Mama und Papa verstehen das nicht! Ihr Leben ist hier und jetzt!

„Tess, wir müssen los!“

Natürlich fährt sie mit. Sie ist vierzehn, bald fünfzehn. Sie hat keine Macht über ihr Leben. Eine andere Familie wird in ihrer Wohnung wohnen. Das hier ist nicht länger Tess’ Zimmer.

Die Beleuchtung der Autobahn erhellt das Innere des Wagens in sekundenschnellen Intervallen. Tess legt ihre Wange gegen die Fensterscheibe. Sie blickt träge auf die Schneehügel am Straßenrand und denkt, dass es sich genau so anfühlen muss, wenn das Leben zu Ende ist. Bald sind sie aus der Stadt raus und jenseits jeglicher Hoffnung.

„Wie geht’s dir?“, fragt Mama und dreht sich zu Tess um.

„Was denkst du wohl?“, murmelt Tess.

„Du wirst dich besser fühlen, wenn wir erst mal da sind,“ antwortet Mama.

„Das glaubst auch nur du.“

Tess zieht sich die Kapuze so weit es geht ins Gesicht, dreht die Lautstärke in ihren Kopfhörern hoch und schließt die Augen. Sie sagt das, was sie eigentlich sagen will, nicht, denn sie weiß, das wäre zu viel, zu schlimm. Doch ihre Gedanken kann sie nicht zensieren. Die sind da und reiben sie auf.

Warum musste Oma ihnen unbedingt ihr Haus vererben? Und wieso musste sie dann auch noch dazu sagen, dass das Haus nicht unbewohnt bleiben darf, als sei es ein Mensch und nicht nur ein Haufen Bretter? Wieso musste Oma sterben?

Tess beißt sich auf die Lippen, um die Tränen zurückzuhalten, und merkt, wie der Blutgeschmack sich im Mund ausbreitet.

Schließlich schafft das monotone Geräusch der Reifen auf dem Asphalt einen einschläfernden Zwischenraum zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Omas Gesicht, das immer voll Wärme strahlte, taucht auf, ihr freches Lächeln. Sie winkt Tess zu sich heran, nimmt ihre Hand und führt sie in das Haus. Die Kerzen im Kerzenständer auf dem Wohnzimmertisch brennen, als wäre es ein Festtag. Die Türen zur Küche und zum Flur schlagen zu, Schatten von Menschen ziehen vorbei und verschwinden die Treppe hinauf. Die kleinen Lichter am Weihnachtsbaum flackern im Windzug.

Das Auto biegt von der Autobahn ab und Tess erwacht mit einem Ruck. Jetzt herrscht pechschwarze Nacht draußen. Eine Milliarde Schneeflocken bewegen sich im Licht des Scheinwerfers. Tess nimmt die Kopfhörer aus den Ohren und beugt sich nach vorne.

„Ich schaff es nicht, in diesem Haus zu wohnen, jetzt, wo Oma nicht mehr da ist.“

„Sie ist da“, murmelt Mama. „Sie verlässt Bäckafallet niemals.“

„Soll ich mich damit jetzt besser fühlen?“

„Es könnte ein Trost sein“, antwortet Mama.

„Es klingt aber ziemlich makaber.“

Papa nimmt Mamas Hand und drückt sie.

Und wer nimmt meine Hand, will Tess fragen, schweigt dann aber doch und denkt, dass das hier so falsch ist, wie nur etwas falsch sein kann. In Bäckafallet muss es warm sein und Sommer, das kleine Ruderboot muss am Steg bereit liegen, die Zweige sich in der dunklen Wasseroberfläche spiegeln, sie muss barfuß über die Wiese rennen und mit Oma in den Wald gehen, über Stock und Stein, mit einem Beerenkorb über dem Arm, Pilze suchen und die Spuren von Wildtieren deuten. An einen Stamm gelehnt dasitzen und dem Regen zuhören, wie er auf den Boden trommelt. Über das Leben und ihre Träume sprechen und einfach nur da sein. Wie soll sie jemals wieder einfach nur sein, jetzt, wo es Oma nicht mehr gibt?

Bäckafallet hatte für Tess immer Ferien bedeutet. Gemütliche Abendstimmung auf der Veranda, Nachmittage im Herbst, wenn der Tag langsam in den Abend gleitet und Tess ganze Berge von Büchern neben sich hatte, die darauf warteten, gelesen zu werden. Bücher, die sie auf endlose Abenteuer in fremde Länder mitnahmen, und in die Gedanken und Gefühle anderer Menschen. Bäckafallet sollte Tess und Oma gehören. Ein Platz, an dem sie Wälder, Seen und den murmelnden Bach in genau die Welt verwandelten, von der sie gerade träumten. Jetzt war all das Schöne zerstört! In nur einer Woche wird Tess morgens im Dunkeln an der Bushaltestelle stehen und auf den Schulbus warten, eine neue Klasse und neue Lehrer treffen. Bäckafallet wird nie wieder dasselbe sein. Es ist einfach nur lächerlich, dass sie glauben, dass sie dort ohne Oma leben könnten! Tess fühlt, wie es in ihr brodelt. Sie will herausbrüllen, dass Mama und Papa dabei sind, ihr Leben zu zerstören. Doch sie tut es nicht.

Auf dem altbekannten Hinweisschild steht „Vren, 7km“. Papa biegt ab und macht das Fernlicht an, blendet jedoch sofort wieder ab, bremst und flucht laut. Tess beugt sich zwischen den Sitzen nach vorne.

„War das ein Elch?“, fragt sie.

„Nein, das war vermutlich ein Reh“, antwortet Mama.

„Es sah aus wie ein Pferd“, meint Papa.

Tess drückt ihre Stirn gegen die Scheibe und starrt in die Dunkelheit. Ein Pferd? Bei minus 15 Grad und in meterhohem Schnee? Da würde doch nicht mal der größte Pferdenarr nach draußen gehen.

Sie fahren an einem weiteren Wegweiser Richtung Vren vorbei. Genau in dem Moment sieht Tess das Hinterteil eines Pferdes, bevor es im Wald verschwindet.

„Das war tatsächlich ein Pferd!“, ruft sie.

„Es ist ja auch noch nicht mal sieben Uhr“, meint Mama.

„Und was willst du damit sagen?“, fragt Papa.

„Wir sind jetzt auf dem Land“, antwortet Mama. „Hier haben die Leute Pferde, und Pferde brauchen Auslauf.“

„Mitten auf der Straße? Und ohne Reflektoren?“

„Beruhig dich“, antwortet Mama seufzend, „es ist ja nichts passiert.“

Die Tanne vor dem Haus ist mit Lichtern geschmückt und schimmert im Dunkeln. Jemand hat die Lampe über der Haustür angemacht und dort hängt noch immer ein Weihnachtskranz, der mit rotem Band umwickelt ist. Das Haus sieht unerwartet einladend aus und in Tess’ Magen macht sich das Bäckafallet-Gefühl breit. Das Jetzt-sind-wir-angekommen-Gefühl, das übliche Glück, das sie immer beim Anblick des alten Hauses verspürt. Doch die Fenster, die auf den See hinausgehen, sind schwarz. Im Flur ist es eiskalt und Omas Stiefel stehen dort, als würden sie auf sie warten.

„Oh nein“, sagt Mama, als sie sie sieht.

„Geh bitte Holz holen“, sagt Papa und reicht Tess den Korb.

„Und du kümmerst dich ums Auspacken“, sagt er zu Mama, die noch immer wie versteinert dasteht und auf die Stiefel starrt. „Ich mache Feuer im Herd und in den Kachelöfen.“

Der Weg zum Holzschuppen ist nicht geräumt, sodass Tess mühsam durch den hohen Schnee stapfen muss. Alles ist festgefroren, der Haken in der Öse, jeder Holzscheit am anderen. Eine kleine Waldmaus macht sich aus dem Staub, als Tess die Scheite losklopft. Mit einem vollen Korb stapft sie zurück zum Haus, das jetzt hell erleuchtet ist. Sie sieht, wie sich die Tür zum Wintergarten öffnet, und hört Omas Stimme rufen: „Mach schnell wieder zu! Es wird kalt hier drin.“

„Oma“, flüstert Tess in die Dunkelheit, aber die Antwort bleibt aus und sie zuckt zusammen, als der laute Knall einer Autotür die Winterstille zerschneidet.

„Soll ich helfen?“, ruft sie widerwillig.

„Nein, geh nur rein“, antwortet Papa.

Als Tess in die Küche kommt, liegt Mama auf dem Küchensofa und starrt an die Decke.

„Warst du eben im Wintergarten?“, fragt Tess.

„Nein, da ist es noch zu kalt.“ Mama zieht sich die Wolldecke bis zum Kinn, schließt die Augen und murmelt entschuldigend: „Es wurde so offensichtlich, dass sie nicht mehr da ist, als ich die Stiefel dort stehen sah.“

„Du hast doch gesagt, dass sie immer hier sein würde …“

„Jetzt gerade fühlt es sich nicht so an.“

Ein Junge
(der TOM heißt)

Tom stützt den Kopf in die Hände. Er sitzt auf der Bettkante und starrt auf die abgewetzten Holzdielen. Seine Füße sind vor Kälte ganz rot. Die paar Schritte zur Kommode in der Ecke sind qualvoll. Er zieht die oberste Schublade heraus, flucht jedoch, als er sieht, dass dort keine Strümpfe liegen.

„Na toll“, murmelt er sauer, als er den Heizkörper am Fenster anfasst und merkt, dass dieser eiskalt ist. Er hat keine andere Wahl, als wieder ins Bett zu kriechen und sich die Decke bis zur Nasenspitze hochzuziehen. Familiengeräusche dringen durch den Holzboden. Teas schrille Stimme schneidet in seinen Ohren.

„Ich hätte im Stall bleiben sollen.“ Tom schließt die Augen und denkt an den Ausritt, den er gerade gemacht hat. Der Galopp, der so wunderbar schaukelnd wurde im Schnee. Es war anstrengend für Stern, aber sie schien es zu mögen. Wie der Schnee um sie herumgewirbelt war, als sie Slidestops übten, machte es besonders genial. Es ist ein überwältigendes Gefühl, wenn Stern die Hinterbeine unter sich bringt und bremst – von hundert auf null in einer Millisekunde!

„Du bist genau wie ich, ich kann deinen Herzschlag hören. Wir gehören zusammen, du und ich …“, flüstert Tom, lächelt und denkt an ihr warmes Maul, wie sie ihre weichen Nüstern gegen seinen Hals gedrückt und versucht hatte, unter seinen Pulli zu kommen. An die warme Luft, als sie schnaubte, ihre Barthaare, die ihn auf der Haut kitzelten. Stern ist magisch, robust und einfühlsam zugleich.

Tom wird von dem Gefühl erfasst, dass er alles für sie tun würde.

TESS
(allein in der Dunkelheit)

Tess sitzt ganz hinten im Bus. Das ist ihr Platz geworden. Charlie aus ihrer Klasse sitzt einige Reihen weiter vorn. Zwischen ihren Häusern liegen nur zwei Haltestellen. Trotzdem haben sie sich noch nicht kennengelernt. Aber sie nicken einander zu. Ein Nicken am Morgen, wenn Charlie einsteigt, und eins, wenn sie nachmittags in Grantorp aussteigt. Charlie ist ein Pferdemädchen. Tess wusste das schon, bevor sie die Pferde auf der Weide vor dem Gut gesehen hatte. Der schwache Pferdegeruch, der in ihren Kleidern und Haaren hing, hatte Charlie verraten. Was war das bloß mit den Pferden? Tess hatte es nie verstanden. Sie war ein paarmal mit in den Stall gekommen, als Sara und Emelie, ihre besten Freundinnen in der Grundschule, mit Reiten anfangen wollten. Aber sie fand, dass es unheimlich war, in eine Box zu gehen – wenn die Pferde die Ohren anlegten und scheußliche Grimassen zogen. Es fühlte sich an, als wollten sie nicht in der Reitschule sein, nicht im Kreis in der Halle herumgehen, wo der Geruch nach Pferdemist in der Kälte dampfte.

Plötzlich waren Sara und Emelie völlig vernarrt und sprachen im Prinzip nur noch von Pferden. Sie hörten zwar nicht auf, befreundet zu sein, aber es war einfach nicht mehr dasselbe. Wird es auch mit Liv so werden? Einfach nicht mehr dasselbe?

Der Bus fährt sie durch die morgendliche Dunkelheit, Straßenlaternen erhellen die verlassenen Straßen. Und wieder ein neuer Tag, hurra!

Tess zieht sich die Ärmel ihres Pullovers über die Hände und seufzt. Es fühlt sich an, als würde sie nie richtig warm werden. Sie bewegt sich wie ein Roboter, steigt mit allen anderen aus, wenn der Bus anhält, hängt sich den Rucksack über die Schulter und stapft über den knarrenden Schnee. Rein in das schmuddelige Schulgebäude, das leicht nach Schimmel riecht. Linoleumböden und Holzmöbel voller eingekerbter Wörter. Hässliche alte Spinde, deren zuknallende Türen den Flur mit hohlem Geschepper füllen. Und überall die Blicke. Wer-bist-du-Augen. Die aus ihrer Klasse sind okay, aber sie bewegen sich dennoch wie in einem eingeübten Brettspiel, bei dem jeder seine Position hat, bei dem jeder alles über den anderen weiß. Wo nur Roboter-Tess keinen Platz hat. Noch nicht.

„Du kommst also aus Stockholm?“

„Du wohnst also jetzt in Bäckafallet?“

Die Fragen sind in Wirklichkeit Feststellungen. Wenn sich die Mädels neben sie setzen, während der Mittagspause oder auf den Bänken vor den Unterrichtsräumen, soll Tess natürlich Sachen erzählen, die sie noch nicht wissen.

„Wir ziehen wahrscheinlich im Herbst wieder zurück“, sagt Tess unbestimmt.

„Gefällt’s euch hier nicht?“

„Doch, ist schon ganz nett.“

„Aber du bist eben Stockholm gewohnt.“

Die Mädels nicken vielsagend, als ob sie es wüssten – ist man Stockholm gewohnt, bleibt man nicht hier.

„Man vermisst eben seine Freunde und alles“, murmelt Tess.

Die Mädels behaupten, dass sie auch umziehen werden, später, wenn das Leben wirklich anfängt, nach der Schule und so, auch nach Stockholm oder jedenfalls in eine größere Stadt.

Nach einer Weile, nachdem sie dieses Gespräch mehrmals geführt hat, sitzt Tess meistens allein rum. Sie beschäftigt sich mit ihrem Handy oder einem Buch oder irgendeiner Hausaufgabe. So ist es halt. Tess wird zu einer dieser Neuen, die meistens für sich selbst sind. Die, die aus Stockholm kommt. Das ist okay. Man ist, wie man ist.

TOM
(zur selben Zeit)

Tom sitzt auf Sterns Rücken, nach vorn gelehnt, die Arme um ihren Hals geschlungen, während sie von dem Heu frisst, das er ihr eben gegeben hat. Die Wärme des großen Pferdekörpers gibt ihm selbst das Gefühl, warm zu sein. Oh, wenn er einfach aufgeben könnte, einfach loslassen und davongleiten. Er würde es tun, wenn Stern nicht wäre. Tom streichelt über Sterns fein gemeißelte Ohren und flüstert: „Wir lassen einander nicht im Stich, oder?“

Stern antwortet, indem sie ungeduldig den Kopf schüttelt. Tom darf machen, was er will, aber ihre Ohren sind empfindlich. Tom lehnt sich zurück, legt sich stattdessen auf den Rücken und starrt zur Stalldecke hoch, wo die Farbe abblättert und sich die Spinnweben häufen. Der Stall ist unter aller Sau, aber das ist nicht der Grund, weshalb die Tränen hervordrängen. Es ist dieses Gefühl von Sehnsucht, das ihn fast zum Weinen bringt. Sehnsucht nach Nähe. Die Traurigkeit, nicht zu wissen, wie es ist, ganz nah neben jemandem zu liegen. Haut an Haut …

TESS
(ohne eigene Existenz)

Tess gibt es nur, wenn sie mit Liv redet. Wenn sie wieder und wieder Angelegenheiten über Jungs wälzen, die sie schon seit letztem Sommer gewälzt haben. Wenn sie über Dinge reden, die sie zusammen machen werden, sobald Tess zurück ist. Wenn Mama und Papa auch kapiert haben, dass es nicht funktioniert, in Bäckafallet zu wohnen, nicht das ganze Jahr, nicht als normales Leben. Wenn sie eingesehen haben, dass ein Haus einfach nur ein Haus ist, um das sich jeder x-Beliebige kümmern kann. Aber die Gespräche werden immer kürzer und die Abstände dazwischen immer länger. Liv hat so vieles vor, und wenn sie sich anrufen, ist da bloß ein einziges Durcheinander von Wer-hat-was-gesagt-und-zu-wem, von Orten, an denen Liv war, von Freunden, die sie getroffen hat. Wenn Tess auflegt, fühlt sie sich steif und langweilig. Wovon soll sie erzählen? Dass die Schneehaufen entlang der Wege jetzt grau und matschig sind? Dass die Tage wieder länger werden, dass das aber auch nicht wirklich hilft? Dass die Sonne dennoch nur knapp über die Baumwipfel reicht, wenn sie am höchsten steht?

Aber auch, wenn es sich nicht gut davon erzählen lässt, hat sich dennoch etwas getan. Ein scheues Tageslicht ist noch da, wenn Tess nachmittags in Bäckafallet aus dem Bus steigt, und sie hört das Wasser des Bachs unter der kleinen Brücke wieder murmeln. Tess lässt die Arme über das Brückengeländer baumeln. Sie greift nach einem Holzstöckchen, wirft es ins Wasser und geht zur anderen Seite der Brücke. Da kommt es! Sich drehend und schaukelnd. Ein kleines Holzstöckchen auf dem Weg zum Gransee. Tess wird von einem ungewohnten Glücksgefühl übermannt, als ihr klar wird, dass der Frühling tatsächlich bald da ist.

Tess seufzt, als sie merkt, dass die Haustür verschlossen ist. Der Schlüssel liegt unter der Fußmatte. Das Schloss klemmt wie immer und Tess flucht lautstark.

„Was sind das denn für Ausdrücke, Tess?“

Es ist, als ob die Zeit stehen bleibt. Tess zwingt sich zum Atmen und denkt, dass das gerade nicht wirklich passiert. Dass es ihr Hirn ist, das ihr einen Streich spielt und ihr vorgaukelt, dass sie Omas Stimme hört.

„Bist du hier?“ Tess muss fragen. Es ist völlig geisteskrank, aber trotzdem. Wie schön wäre es, Oma wieder bei sich zu haben. Sie bekommt keine Antwort, natürlich nicht. Tess seufzt, zieht die Schuhe aus und schleudert sie in den Flur. Doch bevor sie in die Küche geht, beugt sie sich runter und stellt sie ins Schuhregal. Oma wird sonst wütend …

Auf dem Küchentisch liegt ein Zettel von Mama: Bin zum Kaffeetrinken bei Maria, gegen fünf zurück.

Tess zerknüllt den Zettel zu einem kleinen Ball, den sie durch die Feuertür in den Herd wirft. Sie legt einige Holzpellets und dünne Scheite darauf und zündet alles an. Tess bleibt in der Hocke sitzen, sieht den Flammen zu und streckt die Hände aus, um sie zu wärmen. Dass man so oft Kaffeetrinken gehen kann! Es ist, als ob die Leute auf dem Land nichts anderes tun würden. Über was redeten sie die ganze Zeit, Mama und Maria?

„Das Leben“, sagte Mama, als Tess mal gefragt hatte. Wobei sie eigentlich meistens über den Tod redeten.