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Barbara Corsten

Du bist ja plemplem

 

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2020

http://www.deadsoft.de

 

© the author

 

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© Pexels – pixabay.com

© maradon 333-shutterstock.com

 

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-372-1

ISBN 978-3-96089-373-8 (epub)

Inhalt:

Als ihre Mutter stirbt, übernimmt Tom die Vormundschaft für seinen geistig behinderten Bruder Maxi. Dafür opfert er eine Menge – seine Karriere als IT Fachmann und ein Leben in einer Beziehung. Zum Glück steht er nicht allein da: Pia, seine Nachbarin, Janina, ein junges Mädchen, das sein eigenes Päckchen zu tragen hat, und Matthias, der Chef einer Security Firma, sind an seiner Seite. Doch Matthias ist ungeoutet und als klar wird, dass zwischen Matthias und Tom  mehr entsteht, gerät plötzlich alles ins Wanken.

Doch das Leben ist nicht planbar – es passiert einfach.

 

Widmung

 

Für Vera,

keep on fighting, little sister

hdl

Ich stehe am Wohnzimmerfenster und starre hinaus. Das Wetter verleugnet heute Abend den Sommer. Dicke Regenwolken verstecken den Himmel und hinterlassen eine Kälte, die der Jahreszeit nicht angemessen ist. Ich lehne meine Stirn gegen das Glas und beobachte, wie mein Atem es beschlägt, bis die gegenüberliegende Häuserzeile wie in Nebel gehüllt aussieht. Seltsam, welche dummen Gänge Gedanken einschlagen können, wenn man sich nicht mit ihnen auseinandersetzen will.

Ich wünsche mir mehr Licht, sehne die Sonne zurück und wünsche, ich hätte Matthias nie kennengelernt. Ich wünsche, ich müsste diese Liebe nicht fühlen, die mir nicht guttut. Doch wann sind meine Wünsche jemals erhört worden?

 

Schon meine Kindheit war gespickt mit unerfüllten Wünschen. Ich rede nicht von profanen Dingen wie einem Hund oder einem Pony. Selbst mir war mit meinen sechs Jahren klar, dass man kein Pony in der Stadt halten kann, schon gar nicht auf dem Balkon einer kasernenartigen Miethauswohnung.

Nein, meine Wünsche waren anderer Natur.

Ich wünschte mir, mein jüngerer Bruder wäre nicht krank und meine Mutter hätte mehr Zeit für mich. Ich betete, dass mein Vater nicht mehr trank und ich meine Mutter nicht mehr weinen höre. Sie weinte wegen des Geldes, das sie anschaffen musste, um meinen Bruder zu fördern, aber auch über Papas Zeiteinteilung. Er schob Überstunden vor, sodass alle Termine bei den Ärzten an ihr hängen blieben. Ich glaube, ich kannte die Wartezimmer in den Ergotherapiepraxen, Sprachförderschulen und Krankengymnasten besser als mein Kinderzimmer.

Tatsache war, ich liebte meinen Bruder Maximilian, genannt Maxi, heiß und innig. Es war nicht seine Schuld, dass sein Gehirn bei seiner Geburt mit Sauerstoff unterversorgt worden war. Es war nicht seine Schuld, dass Mutter alles tat, damit er ein relativ unabhängiges Leben haben würde, wenn sie, wie sie sagte, nicht mehr wäre. Es war nicht seine Schuld, dass mein Vater beschloss, mit einer Kollegin durchzubrennen, und ganz bestimmt war es nicht seine Schuld, dass Mutter mit knappen fünfundfünfzig Jahren starb, ich meine Karriere den Bach runtergehen ließ und mich fortan um ihn kümmerte.

Ihre letzten Worte im Krankenhaus galten Maxi.

„Pass auf ihn auf“, flüsterte sie, atemlos, weil immer weniger Luft ihre kranken Lungen füllte. „Lass ihn nicht im Stich, Tom. Versprich es mir!“ Mühsam hob und senkte sich ihr ausgemergelter Brustkorb. Ich konnte den Moment sehen, als sie erleichtert losließ und ging.

Es war der Augenblick, in dem ich leise sagte: „Niemals, Mama. Ich verspreche es.“

Und es war bestimmt nicht Maxis Schuld, dass ich Matthias kennenlernte. Na ja, wenn man es genau nimmt – schon.

Meine Gedanken gleiten zum letzten Weihnachtsfest. Nein, zur Adventszeit. Dem Donnerstag vor dem zweiten Advent. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, obwohl es erst ein paar Monate her ist.

 

„Tom, guck. Da ist ein Teddybär, der Seifenblasen machen kann. Und da! Batmans Höhle und eine … eine Eisenbahn. Kann ich auch so eine haben?“ Maxis Augen leuchteten vor Begeisterung, während er das Schaufenster des Spielwarengeschäftes betrachtete.

Ab und an trafen ihn Blicke.

Ein hübscher Vierundzwanzigjähriger, der selbst ein wenig wie ein Weihnachtsengel aussieht, ist bestimmt nicht alltäglich für die Schaufensterbummler. Besonders, wenn er eine Batman-Kindergartentasche umhängen hat und enthusiastisch die Auslage eines Spielzeuggeschäftes kommentiert.

Maxi nahm die Blicke nicht wahr. Das war nicht immer so. Oft machten sie ihn wütend. Doch heute war er zu abgelenkt.

Ein kleiner Junge, der sich ebenfalls die Nase am Schaufenster plattdrückte, bekräftigte die Kommentare meines Bruders mit einem Nicken. „Siehst du hinten die Schranken? Die gehen richtig rauf und runter, da könnte ich meine Matchboxautos vorstellen. Und da ist ’ne Feuerwehr in dem Spielzeugdorf, die Wagen haben sogar Blaulicht. Wie in echt!“

„Pfff, das ist nicht echt“, sagte Maxi. „Was man im Fernseher sieht, ist doch auch nicht echt. Das hat mir mein Bruder erzählt. Weißt du, dass es Batman in Wirklichkeit gar nicht gibt?“ Den letzten Satz fügte er mit trauriger Stimme hinzu.

Ich schluckte schwer.

Die Mutter des Jungen warf Maxi einen dieser Blicke zu, die er so hasste, und zerrte ihren Sohn fort, als befürchte sie eine ansteckende Krankheit. „Unterhalt dich nicht mit dem. Der ist doch plemplem.“

„Nö, der war nett. Und er mag Batman auch …“ Die weiteren Worte gingen im Lärm des Einkaufszentrums und dem weihnachtlichen Musikgedudel unter.

Ich wusste, warum Maxi traurig war, dass es seinen geliebten Helden nicht wirklich gab. Den Beschützer, der alles wieder ins rechte Lot rückte. Mein Blick folgte der Mutter und ihrem Sohn. Ich sah, wie sie auf ihn einredete, und wünschte mir plötzlich ein Wunder. Wenn Weihnachtswünsche wahr werden, dann würde ich mir wünschen, dass alle Menschen Maxi so sähen wie dieser Junge.

Er war anders als die anderen Erwachsenen? Richtig. Na und? Bei ihm gab es keine Heucheleien. Er war echt in allem, was er sagte, fühlte und tat.

Er lachte und weinte unter dem kompletten Einsatz seines kindlichen Gemüts. Er liebte und hasste mit ganzem Herzen. In seiner Heiterkeit war er ebenso ansteckend wie gefürchtet in seinen seltenen Wutanfällen.

Seine Spielzeugautos schob er mit der gleichen Begeisterung über den Fußboden, wie er seine Malbücher bearbeitete. Er liebte es, wenn wir das zusammen taten. Seine Zunge klebte dann konzentriert im rechten Mundwinkel, während er sich bemühte, innerhalb der Linien zu bleiben. Wir diskutierten über die Farben. Da wurde ein Blumenstiel auch mal leuchtend violett, während er die Blüte in Grüntönen ausmalte. Seine Begründungen waren stets nachvollziehbar, wenn man seine Art verstand. Die Realität kannte er sehr wohl, doch er tat sie mit einem Schulterzucken ab.

„Tom, das weiß ich doch. Du musst mir das nicht immer sagen. Aber warum soll ich es malen, wenn es sowieso alle wissen? Daran ist nichts schön und neu.“

Für ihn war alles bunt, voller Wunder und Farben. Es gab es keine Grauzonen, keine Berechnung. Abgesehen von den Schmeicheleien kurz vor dem Mittagessen, um noch einen Schokoriegel zu ergaunern.

Kinder kamen damit klar. Warum nicht auch die Erwachsenen?

Ich sah Maxi an. Eine Träne hing an seinen Wimpern. Natürlich hatte er den Kommentar der Mutter gehört. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, ob es eine besondere Art von Fluch war, nicht so klug wie andere zu sein, aber klug genug, um den Sinn von Worten wie „plemplem“ oder „Behindi“ zu begreifen.

Ich wollte ihn tröstend in die Arme ziehen. Aber wie ich meinen Bruder kannte, würde er es nicht zulassen. Gut – eventuell in einem Batman-Kostüm. Ich bemerkte die Bitterkeit meines Gedankens selbst. Angesichts seines Leids fühlte ich mich jedoch überfordert.

Ich sah auf die Uhr und erschrak. In einer Stunde musste ich die Spätschicht im Restaurant antreten. Doch ich beschloss, Maxi nicht zu drängen und ihm noch einige Minuten vor dem Schaufenster zu lassen. Ich hoffte, es würde ihn ablenken, trösten oder – was weiß ich. Dann musste ich zwar hetzen, damit ich pünktlich war, aber das machte nichts. Hauptsache, ich konnte ihm noch ein paar Minuten Glück zuschustern.

Ich sah auf. „Maxi, noch zwei Minuten. Dann müssen wir … “ Meine Worte erstarben. Er war weit und breit nicht zu sehen. „Oh, nein, Maxi! Nicht jetzt.“

Ich stöhnte leise. Sicher war er in das Spielzeuggeschäft verschwunden.

Eine erste rasche Durchsuchung des Ladens half mir nicht weiter. Auch der zweite Durchgang mit einem gestressten Verkäufer, der sich auf mein inständiges Bitten beteiligte, förderte Maxi nicht zutage.

Ich dankte Gott, dass er seine Batman-Tasche umhängen hatte. Sie enthielt einen eingeschweißten Zettel mit all seinen wichtigen Daten, wie seinen und meinen Namen, Anschrift, meine Telefonnummer, den Namen unseres Hausarztes, welche Medikamente er wegen seiner Epilepsie nehmen musste, nebst Notfallmedikament, wenn Maxi es nicht zu Hause vergessen hatte.

Mist – das Handy. Rasch zog ich es aus der Tasche. Es war noch keine Benachrichtigung eingegangen. Ich trat wieder auf die Galerie vor dem Geschäft und rief Maxis Namen. Gleichzeitig bezweifelte ich, dass es etwas nützte. In dieser Geräuschkulisse hörte man mich keine drei Meter weit.

Plötzlich brach die Weihnachtsmusik ab. Ein Gong ertönte.

Ich hörte Maxis aufgeregte Stimme. „Tom, ich darf durch das Miko... Mirko... durch das Ding hier sprechen. Kannst du mich hören? Du sollst zum Büro des … Wie heißt das hier noch mal?“

Eine angenehme, tiefe Stimme unterbrach ihn. „Thomas van Hoeve, bitte kommen Sie zum Büro des Sicherheitsdienstes. Ich wiederhole: Thomas van Hoeve bitte zum Büro des Sicherheitsdienstes!“

Ich war schon unterwegs, als ich Maxis Lachen hörte. „Er heißt doch Tom!“

Der Besitzer der tiefen Stimme lachte leise mit und sagte: „Du kannst den Knopf jetzt loslassen, Maximilian. Dein Bruder kommt dich holen. Da bin ich mir sicher.“

Die weihnachtliche Hintergrundberieselung setzte wieder ein. Ich hetzte durch das Einkaufszentrum, verfluchte die Aufzüge, die viel zu langsam fuhren, und suchte mir das Treppenhaus, nachdem ich mehrmals vergeblich auf die Ruftaste gedrückt hatte. Scheinbar weigerten sich alle Fahrstühle, auf diesem Stockwerk zu halten. Ich raste hinauf in die vierte Etage.

Keuchend wischte ich mir Schweißtropfen von der Stirn und sah mich mit einer abgeschlossenen Sicherheitstür konfrontiert. Zugang nur für Personal verkündete ein gelbes Schild mit schwarzer Schrift. Ein Zahlenterminal verhöhnte mich mit der Forderung nach einem vierstelligen Code. Schließlich entdeckte ich auf der anderen Seite der Tür eine unauffällige Klingel. Ich drückte auf den Knopf.

Gott – mein Herz klopfte wie verrückt. Hoffentlich war Maxi nichts passiert.

„Jetzt beruhige dich, Tom. So hat er nicht geklungen.“

Ich schrak zusammen, als die Tür plötzlich aufgerissen wurde. Ein circa dreißig Jahre alter Mann musterte mich aus braunen Augen. Sein Bartschatten bewies die Echtheit seines beinahe schwarzen Haares. Er reichte mir die Hand.

„Du musst Tom sein.“ Ich erkannte seine Stimme als die des Mannes von der Rufanlage. „Die Ähnlichkeit zu deinem Bruder ist unverkennbar. Ihr habt das gleiche blonde Haar und dieselben blauen Augen. Das lässt auf ein dominantes Gen schließen.“ Er zwinkerte, ließ nach einem festen Händedruck los und wies mit einer einladenden Geste den Flur entlang. „Mein Name ist Matthias Sünder. Komm rein, du wirst sehnsüchtig erwartet. Wenn wir uns nicht beeilen, singt Maxi gleich dem Einkaufszentrum sein komplettes Weihnachtsrepertoire vor. Er kann die Finger nur schlecht von der Sprechanlage lassen.“

Mir fiel ein riesiger Stein vom Herzen. Wenn es Maxi nicht gut ginge, wäre die Reaktion meines Gegenübers sicher anders ausgefallen. Freundlich öffnete er mir die Tür zu einem der vielen Büros.

Maxi, der auf einem Drehstuhl Karussell gespielt hatte, sprang auf. „Tom, da bist du ja.“ Jäh wurde er kleinlaut. „Bist du sauer auf mich, weil ich abgehauen bin?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, Maxi. Aber ich habe mir schreckliche Sorgen gemacht. Du weißt doch, dass du nicht einfach weglaufen darfst? Wo wolltest du überhaupt hin?“

„Zum Weihnachtsmann!“, verkündete er strahlend. Dann verdunkelte sich sein Blick wieder. „Aber ich wollte kein dummes Geschenk. Nur ...“

Ich sah wieder Tränen in seinen Augen. Ohne ein Wort zu sagen, trat ich auf ihn zu. Diesmal schloss ich ihn fest in die Arme. Maxi umschlang meinen Hals und legte seinen Kopf an meine Schulter. Seine Tränen durchnässten meine Jacke.

„Maxi, was ist denn mit dir los? Du bist heute ja von himmelhoch jauchzend zu Tode betrübt, innerhalb eines Atemzugs.“

Ratlos sah ich Matthias Sünder an.

Der räusperte sich. „Wir konnten Maxi gerade noch davon abhalten, oben vom Parkdeck aus auf den Schlitten zu klettern.“

Mir wurde übel. In der Weihnachtszeit wurde an der Außenfassade immer ein riesiger Weihnachtsschlitten samt Rentieren präsentiert. Von Weitem sah es aus, als mache er sich auf den Weg zum Nordpol, um Santa abzuholen. Er war jedoch nur aus Plastik. Das dünne Holzgerüst, auf dem er stand, wurde lediglich mit einer Halterung an der Brüstung des Parkdecks eingehängt und mit Seilen gesichert.

„Mein Gott, Maxi!“, sagte ich.

„Aber du hast gesagt, wenn ich mir etwas fest genug wünsche, dann bringt der Weihnachtsmann es mir. Ich wollte es ihm selbst erzählen. Damit er weiß, wie wichtig es ist.“ Ein Schluchzen schüttelte seinen Körper. „Wenn ich es mir ganz fest wünsche, dann macht er mich vielleicht so schlau wie dich. Dann sagen die Leute nicht mehr plemplem zu mir und ich kann mich mit den anderen über die Eisenbahn unterhalten, ohne, dass ihre Eltern sie wegziehen.“

Meine Augen flossen über. Auch Matthias wischte sich kurz übers Gesicht. Ich fühlte mich furchtbar. Selten wurde mir meine Hilflosigkeit bewusster als in den Momenten, in denen ich Maxi keine gnädige Erklärung bieten konnte. Ich konnte nichts anderes tun, als ihn in meinen Armen zu wiegen. Dabei wisperte ich tröstende Silben in sein Ohr, die keinen Sinn ergaben. Sie konnten sein Problem nicht lösen.

„Das würde er nicht tun, weil du dann nicht mehr mein Maxi wärst, mein Lieblingsbruder. Um wen soll ich mich kümmern, wenn du mich nicht mehr brauchst?“

„Ich bin dein Lieblingsbruder?“

Vehement nickte ich. Es spielte keine Rolle, dass er mein einziger Bruder war.

„Nicht nur mein Lieblingsbruder, sondern auch mein Lieblingsmensch.“ Ich meinte jedes Wort, wie ich es sagte.

Plötzlich lag das Bild eines alleinstehenden Mannes vor mir. Haltlos, familienlos … einsam. Nicht ich war der mildtätige Bruder, der sich aufopferte. Maxi war mein Anker in einem Leben, das schon früh ohne Stütze gewesen war, weil meine Mutter sich fast ausschließlich um ihn gekümmert hatte. Ich hatte es ihr einfach nachgemacht. Dadurch hatte ich den Halt im Leben gefunden, den jeder Mensch auf die eine oder andere Art braucht.

Maxi hob den Kopf. Aufmerksam sah er mich mit seinen verweinten blauen Augen an. Ihre Farbe leuchtete durch die vergossenen Tränen stärker denn je. „Und wenn ich mir wünsche, dass es Batman doch gib? Dann kann er alle Leute ins Gefängnis stecken, die mich ärgern. So, wie er den Joker eingesperrt hat.“

Für einen kurzen Moment musste ich die Augen schließen. Ich wollte nicht, dass er das Mitleid in ihnen erkannte. Mama hatte versucht, ihn so selbstständig wie möglich zu erziehen, doch er würde immer auf meine Hilfe angewiesen sein. Wie es aussah, hatte ich meinen Job nicht gut genug erledigt. Mama hatte ihre Zeit nie mit Mitleid verschwendet.

„Mitleid macht schwach, Tom.“ Das hatte sie mir gesagt, als ich bittere Tränen weinte, weil Maxi sich durch eine Sprachtherapie quälte. „Es hilft weder dir noch ihm. Fördere, fordere und liebe ihn bedingungslos. Nur damit hilfst du deinem Bruder.“

Ein Räuspern holte mich abrupt in die Gegenwart zurück. „Maxi, wer ärgert dich denn?“, fragte Matthias. „Kann ich dir helfen?“

„Die in der Küche von der Werkstatt. Sie stellen mir immer ein Bein und lachen, wenn mir die Teller runterfallen. Und wenn ich es dem Werkstattleiter erzähle, sagen sie, ich lüge. Niemand glaubt mir.“

Maxi – mein armer Maxi.

„Warum hast du es mir nicht gesagt? Ich hätte dir doch geholfen.“

Die Werkstatt tat nicht nur ihre eigentliche Arbeit. Mit dem angegliederten Behindertenheim gab sie auch Schulabbrechern und Kindern aus schlechten Sozialverhältnissen die Chance, in verschiedene Berufe hineinzuschnuppern. Auf diese Weise versuchte man ihnen durch feste Zeiten Strukturen zu vermitteln, die manche von ihnen nie kennengelernt hatten. Maxi arbeitete nur in der Werkstatt, wohnen tat er bei mir. Erst jetzt fiel mir auf, dass er in letzter Zeit nicht mehr viel darüber erzählt hatte.

„Sie haben gesagt, wer würde einem bekloppten Behindi wie mir schon glauben. Tom, ich will kein bekloppter Behindi mehr sein.“

Erneut wollten seine Tränen fließen.

„Weißt du was, Maxi?“, fragte Matthias. „Morgen bringe ich dich in die Werkstatt und werde ein ernstes Wort mit denen in der Küche sprechen. Was hältst du davon?“

Maxi sah ihn hoffnungsvoll an und wies mit der Hand auf ihn. „In deiner Uniform?“

Selbst ich musste zugeben, dass Matthias in der schwarzen Uniform der Sicherheitsfirma eindrucksvoll aussah. Oh, ja – dieser Mann war eine Sünde wert. Ich musste ob des Wortspiels mit seinem Nachnamen grinsen und er lächelte zurück.

Plötzlich klingelte mein Handy. Als ich auf dem Display den Anrufer erkannte, spürte ich, wie mir das Blut aus den Wangen wich. Scheiße – mein Chef. Ich war zu spät dran.

Zwei Verwarnung hatte ich schon bekommen. Eine letzte Woche, als Maxi sich weigerte, unsere Nachbarin Pia als Aufpasserin zu akzeptieren. Sie hatte am Vortag mit ihm geschimpft, weswegen er beleidigt war. Es hatte meine ganze Überredungskunst gebraucht und eine kleine Bestechung, bis er mich gehen ließ, ohne Pia anschließend das Leben schwer zu machen. Die andere Abmahnung war schon ein paar Wochen her. Maxi hatte mir helfen wollen und mir, während ich duschte, ein Spiegelei gebraten. Normalerweise durfte er nur in meiner Gegenwart an den Herd. Aber Kochen machte ihm Spaß, von daher ließ ich ihn oft helfen. Leider ging sein Versuch schief. Er zog sich eine üble Brandwunde zu, die anschließend hatte behandelt werden müssen.

Nun galt es, die nächste Katastrophe abzuwenden. Zögernd nahm ich das Gespräch an. Noch bevor ich etwas sagen konnte, hörte ich Herrn Schmidt, meinen Teamleiter, schreien. „Thomas, wo bleiben Sie? Hier tobt der Bär, wir haben heute drei Weihnachtsfeiern. Kommen Sie in die Hufe, Mann.“

Dreimal verfluchter Mist. Das Restaurant war nur fünf Minuten entfernt, aber ich musste erst Maxi nach Hause bringen. Den Weg von uns zur Werkstatt schaffte er durch viel Übung mittlerweile allein und war furchtbar stolz darauf. Doch hier, vom Einkaufszentrum aus? In seiner derzeitigen Stimmung und dem Weihnachtstohuwabohu? Niemals!

Ich räusperte mich. „Ähm, es tut mir leid, Herr Schmidt. Es gab einen kleinen Zwischenfall. Ich muss erst meinen Bruder nach Hause bringen. So in einer Stunde würde ich da sein?“

Bei seiner Antwort riss ich mir den kleinen Apparat vom Ohr, weil ich Gefahr lief, einen Hörschaden zu erleiden. „Haben sie den Arsch auf? Ein Kollege fährt gerade Doppelschicht, um Ihr Fehlen auszugleichen. Sie erscheinen hier innerhalb einer viertel Stunde oder Sie haben die längste Zeit einen Job gehabt. Haben wir uns verstanden?“

Ohne mir die Chance auf eine Erwiderung zu geben, beendete er das Gespräch. Ich stand da, mit offenem Mund, Wut im Bauch und mit dem Gefühl absoluter Überforderung. Maxi blieb still an meiner Seite. Er spürte wohl meine Stimmung und ahnte, dass die Misere mit ihm zu tun hatte. Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter.

„Kann ich irgendwie helfen?“, fragte Matthias.

Ich blieb bei dem Du, das er als Erster benutzt hatte. „Nur, wenn du beamen kannst. Hab’ meinen Kommunikator vergessen und kann Scotty nicht Bescheid sagen.“ Ich versuchte zwar, mich in einen Scherz zu retten, doch meine Stimme kippte. An manchen Tagen schienen mir die Dinge zu schwer, um sie allein zu tragen.

„Wo liegt denn dein Hauptproblem?“

„Hast du ja gehört. Mein Chef war laut genug. Ich muss in einer viertel Stunde auf der Arbeit sein, was von hier aus kein Problem wäre. Doch erst muss ich mit Maxi durch die halbe Stadt, um ihn nach Hause zu bringen. Dort wird Pia auf ihn aufpassen. Aber das schaffe ich niemals in einer viertel Stunde.“

Resigniert ließ ich meine Schultern herabsacken. Das war es also mit dem Job gewesen. Willkommen, Arbeitsamt und Hartz 4 … wieder einmal. Dabei hatte ich früher einen guten Job als ITler in einer großen Firma gehabt. Er war abwechslungsreich, anspruchsvoll und mit vielen Reisen verbunden. Aber nach Mamas Tod war es unmöglich gewesen, dort weiter zu arbeiten.

„Stimmt die Adresse in Maxis Tasche noch? Dann hau ab. Ich bringe ihn nach Hause und übergebe ihn deiner Frau.“

Meine Gedanken versanken in einem ungeordneten Chaos. Ich sollte Maxi einem vollkommen Fremden anvertrauen? Konnte das gut gehen?

„Pia ist nicht meine Frau“, sagte ich geistesabwesend. „Sie ist unsere Nachbarin und passt auf Maxi auf, wenn ich Dienst habe. Da würdest du bei mir eher einen Ehemann antreffen.“

Verdammte seelische Müdigkeit. Das war zu viel Information für eine Person, die ich überhaupt nicht kannte.

Matthias grinst mich an. „Gut zu wissen.“

Ich sah in seinen Augen Interesse aufglimmen. Oha, tatsächlich gut zu wissen.

Während ich das Für und Wider von seinem Angebot abwägte, hüpfte Maxi von einem Bein auf das andere. „Au ja, hast du ein Polizeiauto? Darf ich die Sirene einschalten?“

„Tut mir leid, Maxi, kein Polizeiauto. Aber fährst du in einem alten Ford Mustang mit?“

„Egal was für ein Auto. Ich fahr’ überall mit, weil wir sonst immer nur mit dem Bus unterwegs sind. Und ich fahre so gerne Auto. Darf ich vorne sitzen?“

Damit war die Sache für Maxi geklärt. Ich beschloss, mich auf die Intuition meines Bruders zu verlassen. Er mochte Matthias eindeutig, und der arbeitete bei einem Sicherheitsdienst. Das konnte doch nur Gutes bedeuten?

Ich schloss Maxi noch einmal in die Arme. „Sei lieb, ja? Kein Ausreißen mehr. Und sag Pia, sie soll mir eine SMS schicken, sobald ihr zu Hause seid. Okay?“

Ich warf Matthias einen entschuldigenden Blick zu. So weit reichte mein Vertrauen dann doch nicht. Eine Rückmeldung, dass Maxi gut zu Hause angekommen war, wollte ich schon haben. Matthias grinste nur und schien keinesfalls böse zu sein.

 

Mein schlechtes Gewissen verflüchtigte sich erst, als die Rückmeldung von Pia kam. Ich trug das Handy in der Vordertasche meiner Hose mit mir herum, gut verdeckt von der langen Schürze, die hier zur Ausstattung der Kellner gehörte.

Es wurde nicht gerne gesehen, doch wegen meiner familiären Situation drückte man ein Auge zu. Normalerweise war Egon Schmidt auch nicht so ein Arschloch wie eben am Telefon. Doch die Weihnachtszeit war auch im Restaurant hektisch und … er hatte ja recht. Er musste sich auf seine Kellner verlassen, sonst wären seine sorgfältig ausgearbeiteten Dienstpläne für die Katz.

Es folgte kein neuer Anschiss. Ich erhielt lediglich die Information, dass die Überstunden des Kollegen von meinem Gehalt abgezogen wurden. Damit konnte ich leben.

Herr Schmidt hatte nicht gelogen, es steppte der Bär im Kettenhemd. Wir Kellner rannten uns fast die Füße ab. Absolut fertig kam ich um Mitternacht nach Hause und sehnte mich nur noch nach meinem Bett.

Aus dem Augenwinkel sah ich das bläuliche Flackern des Fernsehbildschirms im Wohnzimmer. In der Küche brannte die kleine Leuchte über dem Herd. Pia hatte eine Kleinigkeit für mich vorbereitet. Mit einem erleichterten Stöhnen zog ich mir die Schuhe von den malträtierten Füßen. Ich ging in die Küche, schnappte mir einen Teller und füllte ihn mit den vorbereiteten Köstlichkeiten. Mmh, lecker Frikadellen, Kartoffeln und frischer Blattsalat.

„Danke, Pia“, rief ich über die Schulter. „Ich verhungere fast. Wenn man den ganzen Tag den Essensduft in der Nase hat, aber noch nicht mal dazu kommt, einen Schluck Wasser zu trinken, ist das ganz schön heftig. Ging mit Maxi alles glatt? Der arme Kerl hatte heute einen echt miesen Tag.“

Ich ließ beinahe den Teller fallen, als mir nicht Pias Sopran antwortete, sondern eine Stimme, deren Tiefe in meinem Bauch vibrierte.

„Nicht erschrecken“, sagte Matthias und kam zu mir in die Küche. „Ich bin’s nur.“

„Zu spät“, grummelte ich. Mit dem Zellstoffpapier der Küchenrolle wischte ich einzelne Tropfen der Salatsoße von der Arbeitsplatte.

„Pia hatte Kopfschmerzen und Maxi wollte vor dem Schlafengehen noch König der Löwen gucken. Da habe ich sie nach nebenan geschickt. Sie ist echt nett und geht großartig mit deinem Bruder um. Gut, dass du sie hast.“

„Mehr, als du ahnst. Ich bin über das Arrangement mit ihr unsagbar glücklich. Ohne sie hätte ich den Job letztes Jahr nicht annehmen können.“ Ich ging zum Mülleimer, warf das verschmutzte Tuch fort. „Sie war Erzieherin in einer Wohngruppe für geistig Behinderte. Mittlerweile langweilt sie sich im Ruhestand. Sie trat in unser Leben, als die chaotische Selbstfindungsphase nach Mamas Tod abgeschlossen war und ich Maxis und meinen Alltag wieder in geregeltere Bahnen lenken wollte. Jetzt nimmt sie Maxi und mich als privates Projekt unter ihre Fittiche.“

Er nickte. In seinem Blick lag ein Verständnis, das mich erstaunte. „Ach, ich wollte dich noch fragen, wann und wo ich Maxi morgen hinfahren muss?“

„Du willst das echt für ihn machen?“, fragte ich erstaunt.

Wir bekamen des Öfteren mitleidige Hilfsangebote. Doch wenn es ans Eingemachte ging, zogen viele Leute sich zurück, aus der Befürchtung heraus, mit Maxi etwas falsch zu machen. „Weißt du, wie viele Berührungsängste die Menschen Behinderten gegenüber haben? Das ist echt erschreckend. Daher stehe ich auch den Wohnheimen skeptisch gegenüber. Man bleibt unter sich – hier die Behinderten, dort die Nichtbehinderten. Sicher, oft sind Wohnheime die beste Möglichkeit, Leute wie Maxi gut zu versorgen. Sie bieten ihnen Anschluss und Beschäftigung, erleichterten ihnen den Alltag. Viele Familien haben nicht die Möglichkeit der Förderung, wie sie in einem Heim mit geschultem Personal geboten werden kann. Auch die Abnabelung geht dort schonender vonstatten, als es später durch den Tod der sich kümmernden Eltern passieren würde. Dennoch … So baut man keine Schranken ab.“

 Bevor Matthias antworten konnte, seufzte ich leise, bei diesem Thema ereiferte ich mich immer zu sehr. Ich schnappte mir meinen Teller und ging ins Wohnzimmer. Matthias folgte mir. „Die Werkstatt ist auf der Bernaustraße. Kennst du sie?“

„Ich nicht, aber sicher mein Navi. Um welche Uhrzeit soll ich hier aufschlagen?“

„Mit dem Auto seid ihr schneller als mit dem Bus. So gegen halb acht? Maxi muss um acht Uhr da sein. Klappt das denn mit deiner Arbeit?“

„Ich fange morgen erst um neun Uhr an. Und die Früchtchen, die deinen Bruder so fertig machen, will ich mir mal zur Brust nehmen.“

„Du hast keine Berührungsängste wie viele andere. Und wie es scheint, bist du prima mit Maxi klargekommen?“ Ich ließ meine Feststellung bewusst als Frage enden. Matthias reagierte, wie von mir erhofft.

„Mein Onkel hatte Trisomie 21. Damals eher bekannt als Down Syndrom. Als meine Großeltern bei einem Busunglück starben, zog er zu uns. Da war ich gerade acht Jahre alt.“

„Hatte?“

„Er hatte einen Herzfehler. Kommt bei Down Syndrom öfters vor. Er ist vor einigen Jahren gestorben.“

„Das tut mir leid.“

Er zuckte mit den Schultern und sagte nichts weiter dazu. Stattdessen schaltete er den Fernseher lauter und sah die unterbrochene Dokumentation über den Walfang weiter, bis ich fertig gegessen hatte. Sein Verhalten verwunderte mich. Es fühlte sich keinesfalls schlecht an, neben ihm im gemeinschaftlichen Schweigen zu sitzen, doch … warum blieb er, obwohl seine Frage beantwortet war?

Eine dumme Hoffnung schlich sich in mein Herz. Vielleicht blieb er wegen mir?

Er hatte mir von Anfang an gefallen. Das aufblitzende Interesse in seinen Augen hatte ich nicht vergessen, als ich mich heute Nachmittag versehentlich vor ihm geoutet hatte. Ich machte aus meiner Sexualität kein Geheimnis, band sie sonst aber auch nicht jedem auf die Nase. Was ging es die Leute an? Nichts!

Während meine Gedanken von einem Thema zum anderen sprangen, aß ich meinen Teller leer, ohne viel von dem Essen zu schmecken. Was ausgesprochen schade war. Ich wusste, wie gut Pia kochte.

Kaum, dass ich die Gabel zur Seite legte, wandte Matthias sich mir zu. Er schien nur darauf gewartet zu haben, dass ich mein Essen beendete. In dem flackernden Licht der Fernsehbeleuchtung ließ es sich nicht genau sagen, doch ich hatte den Eindruck, dass er errötete.

„Also – ähm, um ehrlich zu sein“, stammelte er.

Ich fand es herrlich, wie dieser selbstbewusste Mann plötzlich eine vollkommen andere Seite zeigte. Als er mein Grinsen sah, räusperte er sich und fing noch einmal von vorn an.

„Würdest du am Wochenende mit mir ein Bier trinken gehen?“

Ich spürte, wie Wärme meine Wangen flutete und mir bis in die Ohren stieg. Doch fast sofort wurde meine Euphorie von einem gewissen Fatalismus abgelöst. „Ich kann nicht. Es sei denn, wir gehen irgendwohin, wo ich Maxi mitnehmen kann.“ Ich fasste mir ein Herz. „Pass auf, Matthias. Ich weiß, wir reden hier nur über ein Glas Bier, aber du musst wissen – ach, verdammt. Ich suche nichts nur für eine Nacht. Du scheinst ein toller Kerl zu sein und ich würde dich gerne kennenlernen. Aber meine letzte Beziehung ist an der Verantwortung für Maxi gescheitert.“

 Kurz stoppte ich meinen Redefluss. Ich wusste, welche Worte gesagt werden mussten, und ich wusste, ich würde Matthias wohl damit vertreiben. Dennoch sprudelten sie aus mir hervor.

„Mit Maxi kann ich nicht mal irgendwohin gehen oder eine Nacht wegbleiben. Das geht einfach nicht. Meine Spontanität muss immer gut geplant sein. Genau damit ist Peter – mein Ex – nicht klargekommen. Ich habe die Beziehung umgehend beendet, als er mir die Internetseite eines Heimes für geistig Behinderte zeigte und verkündete, dass er sich schon erkundigt hätte. Für Maxi stünde ein Zimmer bereit. Über die Kosten solle ich mir keine Sorgen machen, er würde sich daran beteiligen. Dann wäre – ich zitiere – der Klotz am Bein gut versorgt und ich bräuchte mir keine Gedanken mehr zu machen.“

Ich holte tief Luft.

„Unter beidseitigem Geschrei habe ich ihn zur Tür hinausgeschoben und vor Wut erst mal ’ne Runde gekotzt. Wie konnte ich auch nur im Ansatz geglaubt haben, ein solches Arschloch zu lieben? Maxi hatte viel zu viel mitbekommen. Er war tagelang verstört. Ich musste viel Aufbauarbeit leisten. Damals habe ich mir geschworen, mich erst wieder auf einen Mann einzulassen, wenn ihm klar ist, welche Verpflichtung ich trage und wie wichtig Maxi mir ist. Nie im Leben werde ich meinen kleinen Bruder im Stich lassen.“

Von meinem Seelenstriptease ausgelaugt, lehnte ich mich gegen die Sofalehne und schloss die Augen. Meine Würfel waren gespielt. Nun lag es an Matthias, sie aufzunehmen oder einfach liegen zu lassen.

Plötzlich spürte ich seine Hand. Mitfühlend strich er mir eine Haarsträhne aus der Stirn. „Jedem, der euch beide heute beobachtet hat, wäre klar, wie wichtig ihr einander seid. Niemals würde ich so etwas von dir oder Maxi verlangen.“

Ich öffnete meine Augen und sah mich seinem intensiven Blick ausgesetzt.

„Es geht erst mal nur um ein Bier, doch auch bei mir mit der Prämisse, dich besser kennenzulernen. Ich kann keine Versprechungen für die Zukunft machen. Aber wenn das mit uns beiden nichts wird, liegt es nicht an Maxi. Okay?“

Ich nickte erleichtert und ließ zu, dass die Müdigkeit meine Muskeln aufweichte.

„Auf mit dir“, sagte er und zog an meinem Arm. „Du gehörst ins Bett. Ich werde jetzt verschwinden.“

Ich quälte mich auf die Füße. Irgendwie war es schön gewesen, nach dem Dienst eine andere Gesellschaft zu haben als den Fernseher. Maxi hatte seine festen Zeiten, zu denen er aß und ins Bett ging. Ab und an, wenn er schlief, schwappte die Einsamkeit in immer höheren Wellen über mich. Dann reichte die Berieselung des Fernsehers oder meines PCs nicht mehr aus, um mich von der Leere in meinem Herzen abzulenken.

Ich wischte mir über die Augen. Diese verdammte Müdigkeit machte melancholisch.

Der Zug an meinem Arm wurde von Matthias’ Hand abgelöst, die mich in Richtung Schlafzimmer schob. Mit fast geschlossenen Augen ließ ich mich führen und genoss es, auch einmal umsorgt zu werden. Ich liebte Maxi und konnte mir keine Situation vorstellen, die mir diese Liebe stehlen konnte. Aber ich sehnte mich danach, die Verantwortung für all die kleineren und größeren Alltagskatastrophen kurz loslassen zu dürfen.

Bevor er die Tür öffnete, legte Matthias seine Arme um meine Taille, drückte mich auf unglaublich fürsorgliche Art an sich und gab mir einen keuschen Kuss. Spürte er, wie es in mir aussah?

„Ich würde dich zu gerne in diesen Raum begleiten und dich heute Nacht einfach nur festhalten. Aber ich weiß nicht, ob ich im Endeffekt meine Finger von dir lassen könnte, und du brauchst deine Ruhe. Schlaf dich aus, Tom.“

Ich war ihm dankbar, auch wenn ich ein kleines Quäntchen Enttäuschung spürte. In den Armen eines anderen Mannes hatte ich schon lange nicht mehr gelegen. Seine Worte weckten eine unglaubliche Sehnsucht nach diesem Asyl. Irritiert wandte ich den Kopf, als die Schlafzimmertür hinter mir ins Schloss fiel. Ich hatte mich noch nicht einmal von ihm verabschiedet.

Kurz schüttelte ich die bleierne Schwere aus meinem Körper. Ich schaffte es gerade noch, mich zu entkleiden und unter die Bettdecke zu kriechen. Kaum, dass mein Kopf das Kissen berührte, schlief ich auch schon ein. Immerhin mit dem Vorsatz, Matthias morgen früh mit einer guten Tasse Kaffee zu begrüßen.

 

Ohne Maxi hätte ich verschlafen. Gott sei Dank war er dermaßen auf seine Zeiten geeicht, dass er pünktlich aufwachte und mich kurzentschlossen besuchte, als ich nicht in sein Zimmer kam.

„Tom!“ Er kniete auf meinem Bett und schüttelte mich energisch. „Gleich darf ich wieder mit Matthias’ Auto fahren. Machen wir heute kein Frühstück?“

Erschrocken fuhr ich hoch. Ich hatte doch gerade erst die Augen geschlossen?

„Ich Idiot“, schimpfte ich vor mich hin. „Zu blöde, den Wecker zu stellen.“

Mein Besuch im Badezimmer diente ausschließlich einer Katzenwäsche, für mehr reichte die Zeit nicht. Gerade hatte ich ein paar Kleidungstücke übergeworfen, da klingelte es bereits. Während Maxi ungeduldig zappelnd die Tür öffnete, hechtete ich zur Kaffeemaschine. Wenigstens den heißen Muntermacher wollte ich Matthias noch anbieten.

Sein Grinsen, als er in die Küche kam, war … grenzwertig. Eine Mischung aus verrucht bis offen belustigt. Verdammt, sah er in dieser schwarzen Uniform beeindruckend aus. „Ich hoffe, du wolltest so nicht zur Arbeit?“

Verwirrt sah ich an mir herunter. Ich trug eine alte Jogginghose, die – zugegeben – ziemlich tief auf den Hüften hing. Sie war dem Stil Schlabberlook zuzuordnen, wie auch mein weit ausgeschnittenes Achselshirt. Natürlich würde ich so nicht im Restaurant auftauchen. Dort gab es feste Kleidervorschriften. Das konnte er sich sicher denken. Warum also dieser Blick, von dem ich nicht wusste, ob er mich anmachte oder auslachte?

Matthias trat auf mich zu, nahm mir den gefüllten Kaffeebecher aus der Hand und stellte ihn zur Seite. Er zog mich in seine Arme. Ich spürte seine Unsicherheit, ob diese Berührung erwünscht war.

Seufzend ließ ich mich gegen ihn sinken. Er beugte seinen Kopf und küsste mich. Erst zärtlich wie am Abend zuvor, dann mit zunehmender Leidenschaft.

„Du siehst verboten scharf aus mit diesen Klamotten“, murmelte er an meinen Lippen. „Aber dieser niedliche Zahnpastarand reißt das Ganze irgendwie raus. Und der Geschmack, mmmmh … Immerhin, minzfrisch.“ Lachend hielt er mich fest, als ich mich von ihm freimachen und erwähnte Zahnpasta entfernen wollte. „Bleib, es stört mich nicht. Ich würde dich gerne die paar Minuten im Arm halten, ehe ich los muss.“

Ich befreite mich, drückte ihm den Kaffeebecher in die Hand und antwortete: „Aber mich stört es. Trink deinen Kaffee. Ich bin sofort wieder da.“

Ich flüchtete beinahe ins Bad, lehnte mich gegen die geschlossene Tür und schöpfte Atem. Oh Mann, dieser Kuss hatte es in sich gehabt. Noch ein bisschen länger und … Blödsinn. Ich rief mich selbst zur Ordnung. In Matthias’ Armen hatte ich nicht nur mich selbst vergessen, sondern auch Maxi.

Ich ging zum Waschbecken. Dort schöpfte ich Wasser in meinen zur Schale geformten Händen. Ich vergrub mein glühendes Gesicht in der Kühle – immer und immer wieder, bis ich das Gefühl hatte, wieder richtig zu funktionieren.

Zurück in der Küche konnte ich mich gerade noch von Maxi und Matthias verabschieden. Wieder küsste er mich, diesmal zurückhaltender.

„Kann Maxi ja schlecht mit ’ner Erektion in der Werkstatt abgeben“, raunte mir der verdammte Schelm ins Ohr. „Die Standpauke für das Mobbing in der Küche wirkt dadurch auch nicht glaubhaft.“

Dann strichen seine Lippen wieder über meine. Diesmal legte ich es darauf an, ihm den Abschied so schwer wie möglich zu machen. Gleiches Recht für alle, oder nicht?

Es war Maxi, der uns aus der Seifenblasenwelt riss, indem er an Matthias’ Jackenärmel zupfte. „Komm, sonst sind wir zu spät.“

Matthias löste sich endlich von mir. Seine Lippen waren wund und seine Wangen gerötet. Ehe er die Wohnungstür erreichte, wandte er sich noch einmal um.

„Fast hätte ich es vergessen. Das Wochenende – wir wollten zusammen ein Bier trinken. Jetzt sag nicht, dass du nicht kannst.“ Er unterband sofort meinen Einwand: „Pia wird bei Maxi bleiben. Er hat schon zugestimmt. Sie wird mit ihm Cars gucken.“

„Wir haben Cars nicht, ich …“

„Doch, oder besser gesagt, ihr werdet es haben. Der Film liegt noch bei mir zu Hause. Bist du mit dem irischen Pub in der Nachbarstadt einverstanden? Die haben Samstagabend immer Livemusik.“

Ich nickte überrumpelt. Ehe ich weitere Einwände erheben konnte, schlug er die Wohnungstür zu.

 

Am späten Nachmittag kam ein überaus gut gelaunter Maxi nach Hause.

„Sie haben sich alle bei mir entschuldigt. Der Werkstattleiter hat mit ihnen geschimpft und die ganze Zeit hat Matthias bei mir gestanden. So!“ Er kreuzte die Arme vor der Brust und guckte übertrieben grimmig. „Und Matthias’ Auto fährt ganz schnell, hat er gesagt. Man kann das Dach davon abnehmen. Und Janina kommt mich gleich besuchen und …“

Überfordert hob ich die Hände.

„Maxi! Mach mal langsam. Die Geschichte in der Werkstatt ist also geklärt?“

Vehement nickte er. Bevor er weiter abspulen konnte, stellte ich meine nächste Frage.

„Wer ist Janina?“

„Na, eine aus der Küche.“

„Jemand von denen, die dich geärgert haben?“

Wieder das Nicken.

„Warum kommt sie dann hierher?“

Maxi zuckte mit den Achseln.

„Du weißt es nicht? Willst du denn, dass sie kommt, oder bist du noch böse auf sie?“

Wieder zog er unsicher die Schultern nach oben, dann fragte er: „Darf sie nicht? Sie hat sich doch entschuldigt. Und du hast gesagt, wenn man sich entschuldigt, ist alles wieder gut?“

Mein süßer, kleiner Bruder. Ich liebte ihn für seine Gutmütigkeit gleich ein wenig mehr. Aber diese Janina … die würde ich gut im Auge behalten. Nicht, dass dieser Verein neue Untaten mit Maxi plante.

„Wenn du willst, dass sie herkommt, ist es mir recht, Maxi.“ Ich fragte möglichst beiläufig: „Hat Matthias noch was gesagt? Über mich?“

Ich hätte wissen müssen, dass diese vorgegebene Gleichgültigkeit bei Maxi nicht fruchtete. „Er hat ganz viel gesagt. Das Auto fährt, glaube ich, 100 Stundenkilometer. Was heißt das, Tom? Und das Dach kann bei Wind nicht fliegen gehen. Er hat es mir erklärt, aber ich habe es schon wieder vergessen.“ Er sah mich geknickt an. „Ist das schlimm? Ich kann ihn ja noch mal fragen. Hier auf dem Zettel steht seine Telefonnummer. Er hat gesagt, ich darf ihn immer anrufen, wenn was ist.“ Er wühlte in seiner Batman-Tasche herum, bis er mir triumphierend einen etwas lädierten Zettel zeigte. „Darf ich ihn jetzt anrufen? Dann frag ich ihn direkt.“

„Maxi, ich weiß doch gar nicht, ob er jetzt Zeit hat. Und er hat bestimmt gesagt, nur wenn es dringend ist.“

„Hat er nicht! Immer, hat er gesagt.“

Es war meine eigene Sehnsucht, Matthias’ Stimme zu hören, die den Ausschlag gab. Ich nickte, da rannte Maxi schon zum Telefon. Die Zahlen bis zehn hatte er drauf, und das Telefonieren übten wir des Öfteren, damit er nicht hilflos war, sollte mir einmal etwas geschehen. Laut sprach er die Ziffern mit, während er sie sich auf dem Nummernblog zusammensuchte. Ich schmuggelte noch die Lauthörtaste dazu. Dann erklang auch schon das Rufzeichen, als der Anruf sich auf den Weg durch die Kommunikationsnetze der Stadt machte.

„Sünder?“

Matthias’ Stimme verpasste mir ein kribbelndes Gefühl im Magen. Ich spürte unerwartet heftig die Sehnsucht nach der Wärme und Sicherheit einer Umarmung. Nein – nicht einer, sondern seiner Umarmung.

Maxi redete direkt drauflos. „Ich soll dich fragen, wie schnell dein Auto fährt und warum das Dach nicht fliegen geht und ob du was über Tom gesagt hast?“

Ich erstarrte. Verdammte Axt, wieso hatte ich Maxi nicht vorher gebrieft? Jetzt war das Kind in den Brunnen gefallen.

Kurz war nur Stille am anderen Ende der Leitung zu vernehmen. „Hallo?“ Dann verstand Matthias. „Maxi! Du bist es. Mein Auto fährt nur hundertsechzig bis hundertachtzig km/h, weil es ein ganz, ganz altes Auto ist. Das Dach kann nicht fliegen gehen, weil es extra gesichert ist. So ein Auto nennt man Cabrio. Für den Rest gibst du mir mal deinen Bruder selbst an den Apparat. Okay?“

„Okay!“ Maxi streckte mir den Hörer entgegen und verschwand in sein Zimmer.

Für einen Moment fehlten mir die Worte. Meine Ohren glühten. Ich hatte keine Ahnung, wie ich das Gespräch beginnen sollte.

Matthias nahm mir die Gesprächseröffnung ab. „Ich habe dich deinem Bruder gegenüber mit keinem Wort erwähnt. Doch ich glaube, es verging nicht eine Minute, in der ich nicht an dich gedacht habe. Keine Minute, in der du mir nicht Hitze in die Wangen geschickt hast. Und wo wir gerade davon reden – nicht nur dahin. Es gab keinen verflixten Augenblick, in dem ich mir nicht wünschte, ich wäre gestern Abend geblieben.“

Er unterbrach sich kurz. „Ich wollte wissen: Wie ist dieser Mann, Thomas van Hoeve, wenn er sich nicht sorgt? Was mag er, worüber kann er lachen und was stößt ihn ab? Was liebt er und … habe ich überhaupt eine Chance bei einem so gut aussehenden Mann, der noch nicht einmal zu wissen scheint, welche Möglichkeiten er hätte?“

Ich schwieg überwältigt.

„Tom? Habe ich zu viel gesagt?“

Ich räusperte den Kloß aus meiner Kehle, fassungslos darüber, wie er mich sah. „Ob du es glaubst oder nicht: Eine ähnlich Frage habe ich mir auch gestellt. Was will ein Mann wie du mit jemandem, der nie so frei wird agieren können wie andere Männer in meinem Alter? Hat er wirklich verstanden, dass er nicht nur mich bekommt, sondern auch Maxi? Werde ich ihm mit all meinen Einschränkungen reichen?“

Statt einer Antwort bekam ich eine Gegenfrage. „Musst du gleich weg zur Arbeit?“ Ich verneinte unsicher. „Rühr dich nicht von der Stelle.“

Ich hörte nur noch das Rauschen einer einseitig unterbrochenen Verbindung. Mit zittrigen Händen legte ich auf. Wie es schien, ging unsere Beziehung nicht zögerlich voran, sondern galoppierte in großen Sprüngen.

 

Es dauerte tatsächlich nicht lange, bis es an meiner Tür klingelte. Atemlos stand Matthias vor mir und murmelte etwas von: „Scheiß Treppe!“ Dann zog er mich in seine Arme. Wir küssten uns noch im Hausflur um Sinn und Verstand.

Maxi, der neugierig aus seinem Zimmer geschlendert kam, sagte lapidar: „Ich küss’ lieber ein Mädchen.“ Dann verschwand er wieder in sein Zimmer.

In mir fing eine Alarmglocke an zu läuten.

„Maxi bekommt gleich Besuch“, nuschelte ich an Matthias’ Lippen. „Ich glaube, ich sollte vorsichtshalber dieses von Mann zu Mann-Gespräch mit ihm führen.“

„Soll ich mitkommen oder machst du das lieber allein?“

„Geh ruhig schon mal ins Wohnzimmer. Nimm dir was zu trinken, ich komme gleich.“

Es war nicht das erste Mal, dass ich dieses Gespräch mit Maxi führte, und es würde auch nicht das letzte Mal sein. Immerhin saß da der Geist eines kleinen Jungen im Körper eines Vierundzwanzigjährigen, und dieser Körper war mehr als deutlich erwachsen.

 

Maxi reagierte auf meinen Gesprächsversuch ungehalten, da er gerade eine seiner geliebten Zeichentrickserien guckte. Also ließ ich es gut sein. Ich nahm mir allerdings vor, das Thema noch mal bei anderer Gelegenheit anzuschneiden.

Jetzt wartete Matthias auf mich. Er hatte den Fernseher eingeschaltet. Gemütlich saß er auf der Couch, ein Glas Wasser in der Hand, und verfolgte die Nachrichten.

Einen Moment lang beobachtete ich ihn von der Tür aus. Ich konnte mein Glück nicht glauben. Er war wirklich zu mir gekommen? Nur, weil ich meine Zweifel laut ausgesprochen hatte?

Egal. Was auch immer ihn im Endeffekt hergeführt hatte, ich würde dieses Geschenk nicht zurückweisen.

Matthias bemerkte meine Gegenwart. Er sah hoch, ein freudiges Lächeln glitt über seine markanten Züge. Ich erwiderte es und ging auf ihn zu.

Er streckte mir seine Hand entgegen und zog mich zu sich herunter.

„Nanu? Gespräch schon beendet? Das ging aber schnell.“

„Na ja, ich habe es verschoben. Im Grunde weiß er, wie er sich zu benehmen hat und dass Sexualität Privatsache ist, die er besser in der Abgeschiedenheit seines Zimmers auslebt. Von Zeit zu Zeit muss ich dieses Gespräch allerdings wiederholen, damit er es nicht vergisst.“

Matthias nickte verstehend. „War bei meinem Onkel genauso. Wer kommt denn heute zu Besuch, dass du glaubst, dieses Gespräch führen zu müssen? Hat Maxi eine Freundin?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, es ist eines der Mädchen aus der Küchencrew. Ich habe mich schon gewundert, dass ausgerechnet einer der Mobber ihn besucht. Maxi ist so wenig nachtragend, dass es mir manchmal Sorge macht. Obwohl es eine seiner liebenswertesten Eigenschaften ist, frage ich mich …“

Ich stoppte. Wagte es nicht, den Satz zu beenden, der so oft in meinem Kopf präsent war.

Leise vervollständigte Matthias ihn. „… wie es wäre, wenn er gesund ist?“

Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen, weil ich mich schämte. „Bitte verstehe mich nicht falsch. Er ist ja nicht krank in dem Sinne. Gott sei Dank. Aber was für ein Leben würde er heute führen, wenn es bei seiner Geburt nicht zu dem Zwischenfall gekommen wäre, der sein Hirn mit Sauerstoff unterversorgte? Wie weit würde sich der Maxi, den ich heute kenne, von dem Maximilian unterscheiden, der er hätte sein können? Es ist einfach nicht fair.“ Ich spürte Bitterkeit, die ich normalerweise nicht zuließ. Sie brachte nichts.

Matthias zog mich an sich. Ich bettete meinen Kopf auf seine Schulter.

„Maxi ist glücklich. Er hat eine unglaublich positive Ausstrahlung. Und er hat dich, der ihn so akzeptiert, wie er ist. Das ist weit mehr, als viele andere in seiner Situation behaupten können. Das Erste, was ich bemerkte, war eure gegenseitige Zuneigung. Du hättest erleben müssen, wie er von dir sprach, als wir ihn daran gehindert haben, in den Schlitten zu klettern. Du bist sein Ein und Alles. Er liebt dich.“ Matthias lachte leise. „Okay – dich und Batman.“

Ich grinste, sagte dann aber sachlich: „Dir ist klar, warum er Batman so liebt? Er fühlte sich von mir nicht mehr beschützt. Ich hätte aufmerksamer sein müssen. Er hat nichts mehr von der Werkstatt erzählt. Das hätte mich warnen müssen. Wo war ich nur mit meinem Kopf? Und jetzt kommt dieses Mädchen plötzlich und will ihn besuchen. Da frage ich mich doch: Was soll das? Was will sie von Maxi?“

Matthias legte seine Hand unter mein Kinn und hob es an. Ernst sah er mir in die Augen.

„Tom, du bist auch nur ein Mensch. Du kannst weder hellsehen noch Gedanken lesen. Setz dich nicht selbst so unter Druck. Wenn es die Kleine aus der Werkstatt ist, die ich meine, brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich hatte den Eindruck, sie war nur eine stille Beobachterin. Man konnte sehen, wie leid ihr alles tat. Wie hieß sie noch? Jenny? Jessica?“

„Janina“, antwortete ich.

„Genau, die war’s. Versuche mal, dir nicht zu viele Gedanken zu machen, und warte ab. Nicht alle Menschen haben Böses im Sinn.“

„Das hat nichts mit Bosheit zu tun, nur mit Gedankenlosigkeit. Das weiß ich aus Erfahrung. Ich will einfach nicht, dass man Maxi noch mehr wehtut.“

Matthias verstand wortlos und seine Arme schlangen sich fester um mich. Ich genoss einen Moment diesen Hafen des Friedens. Nach einiger Zeit entzog ich mich ihm. Es gab einen Grund, warum er nach seinem Feierabend vorbeigekommen war, anstatt nach Hause zu fahren. Nun war der Zeitpunkt, darüber zu reden.

„Matthias, warum bist du hergekommen? Nicht, dass ich mich darüber beschweren möchte, aber …“