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Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe

© 2020 arsEdition GmbH, Friedrichstraße 9, 80801 München

Alle Rechte vorbehalten

Text: Joël Tan

Covergestaltung: Kathrin Schüler und Grafisches Atelier arsEdition unter Verwendung von Bildmaterial von Alla-Berlezova / Shutterstock.com

ISBN eBook 978-3-8458-4040-6

ISBN Printausgabe 978-3-8458-3300-2

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Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Für Luano

Du kannst ihnen deine Liebe geben, aber nicht deine Gedanken. Sie haben ihre eigenen.

Khalil Gibran

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Kapitel eins

Kapitel zwei

Kapitel drei

Kapitel vier

Kapitel fünf

Kapitel sechs

Kapitel sieben

Kapitel acht

Kapitel neun

Kapitel zehn

Kapitel elf

Kapitel zwölf

Kapitel dreizehn

Kapitel vierzehn

Kapitel fünfzehn

Kapitel sechzehn

Kapitel siebzehn

Kapitel achtzehn

Über die Autorin

Kapitel eins

Lisi gab Monsoon einen leichten Schenkeldruck. Geschmeidig erhöhte der Wallach die Geschwindigkeit. Seine Hufe setzten im gleichmäßigen Takt auf dem trockenen Waldboden auf und erzeugten so die für Lisann schönste Melodie. Die Senke mit dem Flüsschen lag direkt vor ihnen. Hier war das Wasser flach genug zum Hindurchreiten. An seinen fordernden Bewegungen spürte Lisann, dass der Wallach sein Tempo nicht verringern wollte. Sie ließ ihn laufen. Kraftvoll galoppierte er ins Wasser. Es klatschte und spritzte. Die Tropfen in der Luft leuchteten hell im Sonnenlicht, als Monsoon die Anhöhe wieder hinaufstob.

»Lisann!«, schallte es plötzlich durch den Wald wie ein Donnerhall. »Bleib gefälligst stehen!«

Der Schreck fuhr ihr durch alle Glieder. Sie kannte diese Stimme: Victoria Monroy, Lisis Erzfeindin! Auf einem Schimmel kam sie angaloppiert. Ihr Gesicht war wutverzerrt.

»Monsoon gehört mir. Du hast ihn mir weggenommen«, brüllte Victoria und preschte jetzt ebenso aufs Wasser zu. »Wenn ich dich kriege, hole ich ihn mir zurück!«

Lisann schloss die Beine enger um Monsoon. »Lauf, lauf! Sie will uns trennen. Victoria darf uns nicht kriegen.«

Schon jagte der Wallach tief in den Wald. Rechts und links verschwammen die Bäume zu grau-grünen Streifen. Lisann spürte den immer stärkeren Gegenwind in ihrem Gesicht und die peitschenden Enden von Monsoons langer Mähne auf ihren Armen. Sie ritt, so schnell sie nur konnte, dennoch tauchte Victoria mühelos neben ihr auf. Ihr Schimmel schien sich nicht mal anstrengen zu müssen.

»Jetzt haben wir euch«, grollte sie boshaft und streckte ihre Hand nach Monsoons Zaumzeug aus. Dabei lachte sie auf geradezu teuflische Weise …

Ein Ruck ging durch Lisanns Körper. Sie schreckte hoch aus ihrem Traum, als das Auto ihres Vaters durch ein tiefes Schlagloch fuhr.

»Bernd, Vorsicht!«, rief ihre Mutter und hielt die Thermobecher in ihren Halterungen fest. Dunkelbrauner Kaffee schwappte heraus.

Monsoon angstvolles Wiehern drang aus dem Pferdeanhänger. Er machte hörbar ein paar Ausgleichsschritte, während die Reifen wieder sicheren Halt auf der Straße fanden.

Lisann sah nach hinten durch die Heckscheibe. Im Fenster des Hängers sah sie Monsoons Ohren. Sie ruckten erschrocken hin und her, doch er stand offensichtlich noch auf seinen vier Beinen. »Alles in Ordnung mit ihm, Papa.«

»Zum Glück. Die Straßen hier bräuchten dringend eine Erneuerung. Ich werde besser aufpassen.«

Lisi lehnte sich wieder an das lederne Sitzpolster. Ein Blick auf die Armbanduhr bestätigte, dass sie bloß kurz eingenickt war. Für einen schlechten Traum hatte es dennoch gereicht. Mal wieder! Mittlerweile schlief sie kaum mehr eine Nacht durch und war deshalb dauerhaft müde. Und jedes Mal versuchte im Traum irgendwer, ihr Monsoon zu stehlen. Lisi hatte noch nie mit jemandem darüber gesprochen. Das heißt, sie hatte es einmal versucht. Aber schon nach ihren ersten Sätzen hatte ihre beste Freundin Mira sie lachend in den Arm genommen. Ihre Worte klangen Lisann noch immer im Ohr:

Du spinnst doch, Lisi! Monsoon und dich wird nichts im Leben mehr trennen. Ihr gehört zusammen. Du kannst es nur nicht glauben, das ist alles.

Lisann war sich total blöd vorgekommen und hatte das Thema nie mehr angesprochen. Mira hatte ja recht. Es war einfach nicht zu fassen, dass Monsoon jetzt ihr gehörte! Noch vor wenigen Wochen hatte sie befürchtet, sich auf einer Auktion für immer von ihrem Traumpferd trennen zu müssen. Umso größer war ihre Freude gewesen, als ihre Eltern Monsoon völlig überraschend für sie ersteigert hatten. Ihr allergrößter Wunsch war damals in Erfüllung gegangen, einer der Sorte, die auch in hundert Jahren unerreichbar scheinen. Lisi war seitdem eigentlich überglücklich. Wenn nur diese nervigen Träume nicht wären.

Der Ton einer eingehenden Nachricht auf ihrem Handy lenkte sie ab.

Lisi, ich kann es nicht glauben. Der dämliche Bulli macht Zicken. Mein Vater sagt, wir kommen erst morgen hier weg. Bin voll genervt.

Lisann riss die Augen auf, als sie Miras Worte las. Flink tippte sie ihre Antwort.

Was? Wie doof ist das denn??? Ohne dich ist es doch nur der halbe Spaß!

Ich kann’s leider nicht ändern. Könnte heulen! Grüß Frosti von mir (und vielleicht noch jemanden anderen – hihi).

Klar, mach ich. Beides! Miss you. Dicke Umarmung.

Lisi sah auf. »Lenny, Alice und Mira kommen erst morgen zum Falbenhof.«

»Wie bitte? Warum das denn?«, fragte ihre Mutter enttäuscht.

In diesem Moment klingelte es in ihrer Handtasche. Alice. Natürlich! Genau wie Mira Lisis beste Freundin war, waren auch ihre Mütter unzertrennlich.

»… das ist ja so ärgerlich. Meinst du, Lenny bekommt das bis morgen hin?«

Lisi hörte dem Gespräch nicht weiter zu. Nur wenig später erschienen die vier Ferienhäuser in der Ferne. Ihr Herz klopfte schneller, als sie daran dachte, dass sie ganze zehn Nächte und elf Tage lang bleiben würden. Verrückterweise kam es Lisann vor, als wären die letzten Ferien gar nicht lange her. Dabei hatten die weitläufigen Felder um den Falbenhof damals noch voller Ähren gestanden. Mittlerweile hatte man sie abgemäht. Stoppeln ragten aus der dunklen Erde. Es war eindeutig Herbst geworden.

»Wie sehr sich die Landschaft in nur drei Monaten verändert hat«, bemerkte ihr Vater.

»Ja, allerdings …«, murmelte Lisann glücklich. Sie konnte es nicht erwarten, in den bunten Herbstwald zu reiten.

Wenig später rollte ihr Auto die Allee des Falbenhofs entlang. Das Laub der großen Eichenbäume rieselte sanft und in warmen Oktoberfarben zu Boden, wo es einen farbenfrohen Flickenteppich hinterließ. Der Audi kam auf dem knirschenden Kies vor dem Haupthaus zum Stehen, an dem die feuerroten Weinranken leuchteten.

Lisann entdeckte Herrn Brandt, den Reitstallbesitzer, und seinen Sohn Elias. Sie liefen zwischen den Reitschülern und Eltern umher, um sie zu begrüßen und zu verabschieden. Es war Samstagmittag. An- und Abreisetag. Der Hof war proppenvoll.

»Ah! Familie Maiwald. Willkommen zurück«, rief Herr Brandt. »Ich hoffe, Sie hatten eine entspannte Fahrt.«

Die Erwachsenen gaben sich die Hände und begannen sogleich ein angeregtes Gespräch über die Tücken des Fahrens mit einem Pferdeanhänger.

»Lisann! Hi«, rief Elias und drehte sein Cap nach hinten. Seine stahlblauen Augen strahlten ihr hell entgegen.

»Elias!«

Die Freunde schlossen sich in die Arme.

»Kaum zu glauben, dass du schon wieder Ferien hast«, neckte er sie. »Manchmal wünsche ich mich auch in die Schule zurück.«

»Wenn das so ist, dann darfst du gerne meine Buchbesprechung für den Deutschunterricht machen, die ich nach den Ferien abgeben muss.«

Elias verzog das Gesicht und lachte. »Ich nehme alles zurück.« Jetzt sah er suchend zur Allee, wo bereits das nächste Auto heranrollte. »Wo ist denn Mira? Sie und ihre Familie wollten doch schon heute Morgen ankommen.«

»Ach, deren Uralt-Bulli ist schon wieder kaputt. Sie kommen leider einen Tag später. Ich hab’s gerade erst erfahren.«

»Oh, da wird Frosti aber traurig sein«, gab Elias zurück und presste die Lippen aufeinander.

Von wegen Frosti, schoss es Lisi belustigt durch den Kopf. Sie sah genau, dass er versuchte, seine Enttäuschung zu überspielen. Mira würde es freuen. Schließlich war Elias im Sommer ihr großer Schwarm gewesen und die vergangenen drei Monate war sein Name häufig gefallen.

»Ich soll dich von Mira grüßen.«

»Danke«, sagte Elias strahlend. »Komm, lass uns Monsoon befreien. Ich habe seine Box schon bereitgemacht – falls die Nächte kälter werden.«

Als der Wallach hörte, wie die Klappe geöffnet wurde, begann er erwartungsvoll zu tänzeln.

»Schon gut. Ich hole dich ja schon raus.« Lisi strich ihm beruhigend über die Kruppe.

Elias schmunzelte. »Immer noch der alte Wildfang, was?«

»Allerdings. Hat sich nichts dran verändert.«

»Ich habe auch gerade jemanden sehr temperamentvolles in Beritt. Gismo, ein riesiger Trakehner.« Er hielt seine Hand über seinen Kopf. »Stockmaß eins fünfundachtzig.«

»Wow! So ein großes Pferd habe ich noch nie mit eigenen Augen gesehen. Zeigst du ihn mir später?«, fragte Lisann, während sie durch die kleine Vordertür in den Hänger schlüpfte, um Monsoons Strick zu lösen.

Elias hakte die Heckstange aus. »Von mir aus auch sofort. Er muss sowieso bewegt werden. Ich bin gleich mit ihm in der Halle.«

Lisann führte Monsoon rückwärts hinaus in die Sonne, wo sein kastanienfarbenes Fell wie immer einen Goldschimmer bekam. Seine überlange Mähne wallte bis zu seiner Brust. Seine großen braunen Augen blickten neugierig umher, als würde er den Hof wiedererkennen.

Diesen Moment liebte Lisann besonders. Überall, wo sie mit ihm auftauchte, erregte er Aufmerksamkeit – auch hier. Die Ferienschüler des Falbenhofs begannen, mit dem Finger auf ihn zu zeigen und bewundernd miteinander zu tuscheln.

»Sieh dir dieses Pferd an!«

»Wow, der ist ja wunderschön.«

»Ich wünschte, ich hätte auch so ein tolles Pferd.«

Lisi spürte eine Gänsehaut auf den Armen. Sie konnte die Mädchen so gut verstehen. Noch vor wenigen Wochen war sie eine von ihnen gewesen. Nie hätte sie für möglich gehalten, dass ihr mal ein solches Pferd wie Monsoon gehören würde. Stolz strich sie über seine aufgeblähten Nüstern. Er prustete nervös und tänzelte um sie herum. »Ho, steh schon still.«

Mit einem lauten Ratschen entfernte Elias die dicken Transportgamaschen von Monsoons Beinen.

Lisi kam eine Idee. »Weißt du was, Elias? Vergiss die langweilige Halle. Lass uns zusammen ausreiten. Nach der langen Fahrt braucht Monsoon auch Bewegung.«

»Ja, warum nicht?«, sagte er begeistert.

»Ich muss nur meine Eltern fragen.« Lisann hielt auf die Erwachsenen zu – Monsoon trabte am Führstrick in winzigen schwingenden Schritten hinter ihr her.

»Ah, da ist ja dein Prachtjunge!« Herr Brandt besah den Wallach nickend. »Sieht noch genauso beeindruckend aus wie vorher. Allerdings …« Er hob seinen Zeigefinger. »Erkenne ich da etwa einen kleinen Bauchansatz? Zu viele Leckerlis, was?«

Lisi fühlte sich ertappt. »Ich gebe es zu, er guckt immer so lieb und dann werde ich einfach schwach.«

»Da hilft nur eines. Du musst ihn diese Ferien viel reiten und die überflüssigen Kilos abtrainieren.«

Sie lächelte. »Nichts leichter als das. Und am besten fange ich gleich damit an.« Sie wandte sich an ihre Eltern. »Elias und ich wollen gern ausreiten. Darf ich?«

»Hmm, jetzt schon?«, wunderte sich ihre Mutter. »Willst du nicht erst einmal deinen Koffer auspacken?«

»Das kann ich doch später noch tun. Bitte!«, flehte sie.

»Wohin reitet ihr denn?«

Elias gab die Antwort. »Wir bleiben auf der Flüsschen-Route. Mein Vater kennt diese Strecke. Seien Sie unbesorgt, Frau Maiwald. Ich passe gut auf Lisann auf.«

Ihre Mutter nickte. »Na schön. Aber vergiss dein Handy nicht und sei vor fünf Uhr zurück.«

Es dauerte nicht lang, da hatten sie beide ihre Pferde gesattelt.

Gismo war tatsächlich ein beeindruckendes Pferd. Bis auf eine weiße Schnippe war er rabenschwarz und zudem so riesig, dass Elias gerade so über seinen Rücken sehen konnte.

Lisann schüttelte ungläubig den Kopf und setzte ihre Reitkappe auf. »Monsoon sieht neben ihm aus wie ein Pony.«

»Jedes Pferd sieht neben Gismo winzig aus. Von oben erst recht.«

»Und wie kommst du da hoch?«

»Pass gut auf.« Elias verlängerte den linken Steigbügelriemen bis zum letzten Loch. Dann erklomm er Gismos Rücken und kürzte den Riemen wieder. »Et voilà!« Er breitete die Arme aus.

»Sehr clever«, lobte sie, doch ihre Worte gingen in einem plötzlichen Gähnen unter. Sie hielt sich die Hand vor den Mund und murmelte: »’tschuldigung …«

»Komm schon. Oder willst du da festwachsen?«, rief Elias über seine Schulter und trieb seinen Trakehner in Richtung Hof.

»Jaja. Schon unterwegs.«

Lisis linker Fuß suchte den Hornbügel. Mit einem Schwung saß sie im Sattel und trabte Elias hinterher. Bereits nach den ersten Schritten verschmolz sie mit Monsoon, als wären sie beide eins. Nur hier oben, auf seinem Rücken, fühlte sie sich vollständig. Sie und Monsoon gehörten einfach zusammen wie Popcorn und Kino oder eine Badewanne und duftender Schaum.

Nebeneinander schlugen sie auf ihren Pferden den Feldweg zwischen den Weiden des Falbenhofs ein. Wenig später waren die ersten Baumreihen des Waldes zu sehen – ein Meer aus Rot-, Gelb-, und Grüntönen. Dahinter begann ein endloses Netz aus sandigen Reitwegen, wie Lisann noch aus den letzten Ferien wusste. Trotz ihrer Müdigkeit stieg ihre Vorfreude. Ein ausgiebiger Galopp würde sie schon wieder aufwecken. Sie gähnte erneut.

»Schicker neuer Westernsattel«, bemerkte Elias anerkennend und sah zu ihr herab. »Ein Diamond C. Gute Wahl!«

»Ja, er ist mein ganzer Stolz«, gestand Lisann begeistert und dachte mit Gänsehaut an den Augenblick, als der Sattler mit sechs wunderschönen Sätteln im Transporter auf den Rapshof gerollt war. Die Auswahl hatte sie regelrecht überfordert, sodass Lisi glücklich gewesen war, dass nur dieser Sattel wie angegossen auf Monsoons Rücken gepasst hatte. »Ein Geschenk meiner Eltern. Wahrscheinlich werde ich für den Rest meines Lebens kein Taschengeld mehr bekommen – so teuer, wie der war. Ein Pferd zu haben, kostet wirklich eine Menge Geld. Das Zubehör, der Stall, die Reitstunden … Habe ich echt unterschätzt, und meine Eltern auch, wenn ich sie manchmal so höre.«

Elias grinste. »Verständlich. Mit meinem Ausbildungsgehalt müsste ich auch lange sparen, um mir so einen Sattel leisten zu können.«

»Wie gut, dass du schon einen hast. Der Westernsattel deines Großvaters ist ja noch top in Schuss, wie ich mich erinnere.«

»Da hast du zwar recht, aber leider liegt er nur rum.« Elias’ Gesicht wurde finster.

»Was soll das heißen?« Lisann war verwundert. »Hast du ihn etwa seit dem Sommer noch gar nicht benutzt?«

»An mir liegt es nicht. Mein Dad …« Er machte eine kurze Pause, in der er tief ein- und ausatmete. »Wie du weißt, ist er nicht nur mein Dad, sondern auch mein Ausbilder. Als ich ihm sagte, dass ich das Westernreiten ausprobieren will und deshalb gern ein entsprechendes Pferd auf dem Hof hätte, machte er komplett dicht. Zwei Reitweisen seien eine zu viel. Gerade im letzten Lehrjahr würde mich das nur verwirren, sagte er. Danach … vielleicht …« Elias zuckte die Schultern. »Tja, das war’s erst einmal mit dem Cowboy-Spielen für mich, wie er es nennt. Bleibt mir weiterhin nur der Beritt von englisch gerittenen Pferden.« Er klopfte Gismo den Hals.

»Puh, dein Vater ist aber auch ganz schön streng.«

»Das kannst du laut sagen. War er schon immer. Ich kann nur hoffen, dass sich irgendwann eine Gelegenheit für mich ergibt. Aber wenn ich ehrlich bin, sehe ich da fürs nächste Jahr schwarz.« Er lächelte schief zu ihr runter. »Du bist echt zu beneiden, Lisann. Weißt du das?«

»Ich?« Sie gähnte erneut.

»Klar«, stieß er aus. »Obwohl ich auf einem Reiterhof wohne und täglich reite, hast du etwas, das ich nicht habe.« Mit seinem Kinn deutete er zu Monsoon.

Lisann spürte einen Stich in der Magengegend, der ihr Gähnen frühzeitig unterbrach. Es war ein letzter Rest schlechten Gewissens. »Tut mir leid, Elias. Eigentlich hast du deinen Vater damals zum Kauf von Monsoon überredet, weil du ihn für dich haben wolltest. Und dann habe ich mich in ihn verliebt. Es fühlt sich so an, als hätte ich ihn dir vor der Nase weggeschnappt. Dabei wünschst du dir schon lange ein eigenes Pferd.«

»Ach was, so war das doch gar nicht«, wehrte Elias ab. »Monsoon wäre sowieso verkauft worden, wir waren kein gutes Team. Aber du und Monsoon, ihr zwei gehörtet von der ersten Minute an zusammen. Und irgendwann wird mein Traum sicher auch wahr … Hey, langweile ich dich?«

»Was? Wie kommst du denn darauf?«

»Na, du gähnst doch die ganze Zeit.«

»Sorry! Das hat echt nichts mit dir zu tun. Ich habe diese Nacht einfach richtig mies geschlafen.«

»Diese Nacht?« Er zog die Augenbrauen hoch. »Von einmal schlecht schlafen bekommst du gleich so rote Augen?« Sein Finger zeigte auf ihr Gesicht.

»Na, gut, ich schlafe schon länger nicht so super.«

»Zu viel bei Monsoon im Stall, was?«

»Kann schon sein. Wenn du meine Eltern fragst, bestimmt sogar«, sagte Lisann halbherzig.

Für einen Moment waren bloß das Plätschern des Flusses und der leise Hufschlag der Pferde auf dem weichen Waldboden zu hören. Es dauerte, bis Lisi merkte, dass Elias sie von der Seite anstarrte. »Was ist?«

»Das wüsste ich gern von dir.«

»Hä?«

»Ich weiß nicht. Irgendwas ist anders. Wo ist die alte Lisann mit dem Feuer in ihren Augen, wenn sie über ihren Monsoon spricht? Noch vor drei Monaten hast du dich für dieses Pferd, ohne zu zögern, gegen mich, meinen Vater, deine Eltern und den Rest der Welt gestellt.«

Verdammt noch mal, dachte Lisann und spürte, wie ein Schauer ihr über den Rücken jagte. Konnte der Kerl Gedanken lesen?

»Du kannst mir ruhig sagen, was mit dir los ist«, sagte Elias. »Ich sehe doch, dass was nicht stimmt. Hat es mit Monsoon zu tun?«

»Nein! Monsoon ist einfach toll …« Wie zum Beweis strich sie ihrem Pferd liebevoll über den Hals.

»Dann hau raus. Wir sind hier ganz allein. Niemand außer mir kann dich hören.«

Sie sah in sein Gesicht. Wie hatte er das nur angestellt? All die Wochen trug sie ihr Geheimnis nun schon mit sich rum und plötzlich wollte sie es tatsächlich loswerden. Nur wie? »Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll. Das Ganze kommt mir so dämlich vor. Du darfst nicht lachen.«

Elias legte seine Hand auf sein Herz. »Großes Reiter-Ehrenwort.«

Lisann atmete tief ein und gab sich einen Ruck. »Ich habe seit Wochen ganz fiese Albträume. Ich traue mich schon gar nicht mehr einzuschlafen. Selbst vorhin im Auto habe ich wieder schlecht geträumt. Dieser Mist macht mich fertig.«

»Albträume? Krass. Was für welche?«

»Ach, alles Mögliche …«, wich Lisi ihm aus.

»Hast du deinen Eltern davon erzählt?«

»Bist du verrückt? Du weißt doch, wie sie sind. Sie würden durchdrehen vor Sorge. Nein …«

»Und Mira?«

»Nicht wirklich … Ich habe gehofft, die Träume gehen von selber weg. Ist aber nicht so. Keinen Plan, was ich machen soll.« Sie rieb sich die Augen und fühlte sich plötzlich noch müder als vorher.

»Hmm.« Elias sah nachdenklich in den tiefen Wald hinein. Dabei begann er, auf seiner Unterlippe zu kauen. »Weißt du, mit wem ich immer spreche, wenn ich einen Rat brauche?« Er sah sie an. »Mit Oma Alrun.«

Lisann verzog fragend das Gesicht. »Deine Großmutter?«

»Nein. Ich nenne sie nur so. Seit ich denken kann, lebt sie in einer abgelegenen Hütte im Wald. Die Leute sagen, sie ist verrückt. Sie nennen sie Kräuterhexe oder Wahrsagerin. Aber für mich ist sie nur Oma Alrun. Sie weiß alles und hat mir schon oft geholfen.«

»Und du meinst, sie kann auch mir helfen?«

»Finden wir es raus.«

Lisann schöpfte Hoffnung. »Wie weit ist der Weg?«

»Noch ein gutes Stück in den Wald hinein. Wenn wir um fünf Uhr zurück beim Falbenhof sein wollen, müssen wir galoppieren.«

»Dann los«, sagte Lisi entschlossen und nahm die Zügel auf. Allein der Gedanke, sie könnte die lästigen Albträume tatsächlich loswerden, war zu schön, um wahr zu sein. Nach einem Schnalzen stieß sich Monsoon mit den Hinterläufen vom Boden ab und stob hinter Gismo her.

Kapitel zwei

Dumpf klangen die acht Hufe auf dem Waldboden. Der Hohlweg stieg leicht an und verlangte Monsoon einiges an Kraft ab. Immer wieder blitzte der strahlend blaue Himmel durch das Blätterdach. Lisi blieb nicht verborgen, dass die Baumkronen dichter wurden, je länger sie ritten. Sie fühlte schon schmerzhafte Seitenstiche, da parierte Elias Gismo durch.

Er wies mit dem Finger auf ein paar Buchen, von denen seltsame Gebilde aus Stöcken, Steinen, Stroh und Gläsern an Seilen herabhingen. Leise Töne gingen davon aus und zogen durch den Wald.

Lisi war sich nicht sicher, ob sie es schön fand oder doch eher gruselig. Vielleicht beides.

»Hier müssen wir abbiegen. Duck dich.«

Sie ritt hinter Elias unter tiefen Ästen hindurch. Nach einer Weile tauchte vor ihnen eine verwunschene Hütte auf, die ebenso gut aus dem Märchen von Schneewittchen und den sieben Zwergen hätte sein können.

»Wow, wohnt hier Oma Alrun?«, wisperte sie leise.

»Ja.« Elias lachte über ihr erstauntes Gesicht. »Warum flüsterst du?«

»Keine Ahnung«, gab Lisi genauso leise wie vorher zurück.

»Oma Alrun! Bist du da? Ich bin es, Elias!« Er sprang von Gismo und lief auf die Hütte zu.

Knarrend öffnete sich die Tür.

Monsoon ging ein paar Schritte rückwärts – auch ihm schien das alles etwas unheimlich zu sein.

»Ho, ganz ruhig.« Lisann sprang mit einem Satz von seinem Rücken und hielt seine Zügel ganz fest.

Eine alte Frau erschien im Türrahmen. Sie war winzig klein und trug ihr graues Haar zu einem Knoten gebunden. Ihre Finger strichen über die geblümte Schürze. »Elias, mein Junge. Du besuchst mich mal wieder. Was für eine Freude!«

Lisann lächelte erleichtert. Oma Alrun war überhaupt nicht gruselig. Ihre Stimme klang weich wie warme Butter.

Elias nahm Oma Alrun in die Arme. »Ich hoffe, es ist okay, dass ich jemanden mitgebracht habe. Das ist Lisann.«

Die alte Frau faltete die Hände vor der Brust. »Ach, natürlich, ihr lieben Kinder. Stellt eure Pferde zu Hannelore und kommt doch rein.«

»… wie immer«, sagte Elias zufrieden.

»Wer ist Hannelore?«, fragte Lisi.

Elias sah zu einer dicken Kuh, die auf einer kleinen Weide am Rande der grasbewachsenen Lichtung stand. Widerkäuend betrachtete sie die Besucher.

Kurze Zeit später fand sich Lisi an einem gemütlichen Holztisch im Inneren der Hütte wieder. Es roch herrlich nach Gebackenem und süßem Tee.

»Apfelkuchen?«, fragte Alrun und lüftete ein Geschirrtuch, unter dem sich ein Holzbrett und dampfendes Backwerk verbargen.

Der Anblick sorgte bei Lisi für ein Ziehen im Bauch. »Oh, sehr gerne! Aber woher wussten Sie, dass wir …«

»Ich sagte doch: Oma Alrun weiß alles, Lisi«, unterbrach Elias sie.

Lisann schob sich den ersten Bissen in den Mund, da fragte die alte Frau freundlich: »Was möchtet ihr wissen? Ich sehe es euch an, ihr habt etwas auf dem Herzen.«

Lisi schluckte schwer. Wäre Oma Alrun nicht so nett, hätte sie sich jetzt doch gegruselt.

»Du hast wie immer recht«, gab Elias zu. »Lisann hat ein Problem und ich hoffe, dass du ihr helfen kannst.«

»Willst du es mir erzählen?«, fragte Alrun einladend.

»Ich … ich habe Albträume«, begann Lisann zögernd. »Elias hat gesagt, Sie wissen vielleicht, wie ich diese Träume loswerden kann.«

Die alte Frau lächelte und zeigte dabei viele Fältchen um ihre kleinen blauen Augen. »Meistens wird man schlechte Träume los, wenn man ihre Bedeutung versteht. Was träumst du denn? Hat es mit deinem Pferd zu tun?«

»Ja«, sagte Lisann erstaunt.

Elias grinste belustigt. »Nicht wundern, Lisann. Erzähl’s ihr.«

»Ich habe Monsoon vor drei Monaten bekommen«, begann Lisann. »Und eigentlich bin ich unendlich glücklich mit ihm. Wenn nur diese Träume nicht wären. Immer will jemand ihn mir wegnehmen. Oder ich kann nicht zu ihm kommen und renne auf der Stelle. Oder ich verliere ihn in letzter Minute auf der Auktion, bei der meine Eltern ihn mir im Sommer gekauft haben.«

»Aha.« Oma Alrun nickte aufmerksam. »Und wie fühlst du dich beim Aufwachen?«

Lisi atmete tief ein und dachte einen Moment nach. »So als würde Monsoon in Wahrheit gar nicht ganz mir gehören.«

»Nun, Lisann«, sagte Alrun bedächtig. »Dann ist das vielleicht auch so.«

»Wie bitte?« Lisi wurde heiß und kalt. Das Kuchenstück in ihrem Mund fühlte sich plötzlich wie ein Stein an. Nur mit Mühe würgte sie alles herunter. »Was soll das heißen?«

»Das heißt, dass Kinder meiner Meinung nach eine Gabe haben, die sie mit dem Älterwerden verlieren. Höre auf sie. Offensichtlich gibt es etwas, das zwischen dir und deinem Monsoon steht. Ein Problem …«

»Aber wir zwei sind unzertrennlich«, protestierte Lisann.

Oma Alrun legte ihr beruhigend eine Hand auf den Arm. »Das glaube ich dir ja.«

Nachdenklich stützte Elias einen Ellenbogen auf den Tisch und legte sein Kinn in die Handfläche. »Was für ein Problem könnte das sein?«

Die alte Frau kicherte. Nun klang sie wirklich ein bisschen wie eine Hexe. »Ich bin doch keine Hellseherin, mein Junge. Nur eine alte Frau mit viel Lebenserfahrung.« Noch einmal wandte sie sich an Lisann. »Meistens steckt die Antwort schon in einem selbst!«

Lisi schüttelte den Kopf. »In mir nicht. Ich zerbreche mir schon seit Wochen den Kopf darüber.«

»Du sagtest eben etwas von einer Auktion. Erzähl mir davon.«

»Elias’ Vater war damals überzeugt, Monsoon taugt nicht als Schulpferd für den Falbenhof, weil er so ein Wildfang ist. Darum wurde er zur Auktion gebracht. Drei Interessenten haben auf ihn geboten. Unter anderem der Händler, der Monsoon ursprünglich an Elias und seinen Vater verkauft hatte, und meine Eltern. Zum Glück haben sie gewonnen und Monsoon so gleichzeitig gerettet.«

»Gerettet, sagst du?« Oma Alrun goss die Becher noch einmal mit dampfendem Tee voll. »Wie meinst du das?«

Lisann atmete einmal tief durch. »Ich habe es nie jemandem erzählt, aber ich konnte den Händler mehrfach belauschen. Er sprach am Telefon darüber, Monsoon zuerst zurückkaufen und dann zu einem Abdecker bringen zu wollen.«

»Was?« Elias riss die Augen weit auf. »Lisann! Du hättest mit jemandem darüber reden sollen.«

Sie zog eine Augenbraue hoch. »Und dann? Mir hätte doch keiner geglaubt. Nach meinen heimlichen Ritten auf Monsoon war ich nicht gerade das Lieblingskind auf dem Hof.«

»Da hast du wahrscheinlich recht, aber …« Er schüttelte langsam den Kopf. »Trotzdem ergibt das doch gar keinen Sinn. Warum wollte der Typ Monsoon dringend zurückhaben, nur um ihn danach zu schlachten?«

»Tausendmal hab ich mich das schon gefragt«, gestand Lisi und wärmte sich ihre Finger an dem warmen Becher. »Ich kapier’s bis heute nicht. Und noch etwas ist seltsam.«

»Was?«, fragte Elias.

»Nachdem wir Monsoon in meine Heimat zum Rapshof mitgenommen hatten, wollten wir einen neuen Equidenpass für ihn beantragen. Der Händler hatte damals ja gesagt, sein alter Pass sei verloren gegangen. Meine Eltern versuchten, ihn aus diesem Grund anrufen, aber die Nummer war tot. Eine Suche nach dem Namen des Händlers im Internet hat auch nichts ergeben. Er ist wie vom Erdboden verschluckt. Als hätte es ihn nie gegeben.«

»Das ist ja höchst mysteriös.«

Oma Alrun lehnte sich jetzt zurück und nickte. Sie wirkte auffallend zufrieden.