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Friedemann Spicker

Beziehungsweisen

Elazar Benyoetz: Ein Porträt aus Briefen

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

Inhalt

Briefe müssen nicht im Zusammenhang stehen, aber eine Beziehung glaubwürdig widerspiegeln und für den Schreibenden sprechen.

EB an Monika Fey, MonikaFey, 24. Januar 2006

Der Aphorismus ist das Stiefkind der Literaturwissenschaft und der Literaturgeschichte, ungeachtet seiner großen Autoren von Karl Kraus, KarlKraus bis Elias Canetti, EliasCanetti, um nur vom letzten Jahrhundert zu sprechen. Wer allein die neueren Bände des „de Boor/Newald“, der repräsentativen, in zehn Bänden vorliegenden deutschen Literaturgeschichte, den von Wilfried Barner, WilfriedBarner herausgegebenen Band für die Zeit von 1945 bis zur Gegenwart (1994) und den von Helmuth Kiesel, HelmuthKiesel verfassten zur deutschsprachigen Literatur 1918–1933 (2017), daraufhin durchsieht, wird dieser Aussage unmittelbar zustimmen müssen. Der Aphorismus kommt dort (so gut wie) nicht vor.

Stiefkind: Das gilt umso mehr für die mystisch-religiöse Aphoristik, für die im 20. Jahrhundert (in einer breit gefächerten Palette von Möglichkeiten) immerhin Autoren wie Peter Hille, PeterHille, Christian Morgenstern, ChristianMorgenstern, Franz Kafka, FranzKafka, Ferdinand Ebner, FerdinandEbner, Rudolf Schröder, Rudolf AlexanderAlexander Schröder, Theodor Haecker, TheodorHaecker, Franz Werfel, FranzWerfel, Ernst Meister, ErnstMeister, Franz BaermannSteiner, Franz Baermann Steiner und Ludwig Strauß, LudwigStrauß stehen. Gleichzeitig, und das mag ein Grund für die Skepsis der Literaturwissenschaft sein, ist der Aphorismus auf der Ebene der Gebrauchsliteratur, in Lebenshilfe und Kalenderweisheit, bis auf den heutigen Tag von ungebrochener Attraktivität.

Da nimmt es nicht wunder, dass man den Briefband eines Autors wie Elazar Benyoëtz, der sich sein ganzes Leben lang ausschließlich dem Aphorismus und seinen lyrisch-meditativen Nachbarformen gewidmet hat, nicht ohne eine kurze Einführung zu Leben und Werk lassen kann. Dabei ist der Autor mehrfach mit Preisen ausgezeichnet worden; bedeutende Literaturwissenschaftler von Harald Weinrich, HaraldWeinrich bis HaraldFricke, Harald Fricke, die sich ihm zuwandten, haben ihn unisono in einer Reihe mit Lichtenberg, Georg ChristophLichtenberg, Kraus, KarlKraus und Canetti, EliasCanetti gesehen. Das hat an seiner Randstellung, nicht nur in geographischer Hinsicht, bisher wenig bis nichts geändert, wenn er auch in jüngster Zeit vermehrt zum Gegenstand literarisch-theologischer Erörterungen geworden ist.

 

Elazar Benyoëtz, 1937 in Wiener Neustadt geboren und bald darauf mit den Eltern nach Israel emigriert, war schon in jungen Jahren ein erfolgreicher israelischer Lyriker, ehe er 1963 für einige Jahre nach Deutschland ging, um dort

Benyoëtz entwickelt sein (deutsch-)jüdisches Thema – Assimilation erscheint ihm als „Identitäuschung“ – von den Geschichten des Alten Testaments mit den Zentralgestalten KainKain, HiobHiob, AbrahamAbraham her. Er verfolgt damit das Konzept der Verbindung hebräischer Weisheitslehre und deutscher Aphoristik. Den Spruch bringt er mit Glauben, aber auch mit Widerspruch in Verbindung, mit beidem knüpft er an älteste Traditionen an. Das Buch KoheletKohelet, der Prediger Salomo, ist ihm Vorbild, das einzige, das er so unumschränkt gelten lässt. An diese hebräische Spruchdichtung sucht er mit seinen „Sprüchen“ und ihrer Autorität anzuschließen. Für sein Gesamtwerk ist es charakteristisch, dass er es in Teilen oft aufnimmt, variiert und neu komponiert; es ist von der Suche nach einer aphoristisch-lyrischen Mischgattung gekennzeichnet. Der Ausgangspunkt seiner Poetologie ist eine höchst komplexe Kürze, durch Mehrsinnigkeit mit Spannung aufgeladen, die etwa dem Wortspiel in aller Regel eine neue Kraft verleiht. Auch die Definition ist in das Spannungsreich-Ambivalente hinein weiterentwickelt, in dem Gleichsetzung, Gegensatz, Folge, ironische Durchleuchtung, entgegensetzende Antwort in wechselnden Anteilen enthalten sind.

Thematisch steht Benyoëtz gleichfalls mit zentralen Komplexen seines Werkes in der Tradition der Gattung, und er führt sie nicht nur fort, er entwickelt sie fort. Aus einer zentralen Uneindeutigkeit, einer bewussten Ambivalenz zwischen kotextueller Isolation sowie Zusammenhang und Einbindung als Teil

Benyoëtz, der unter allen zeitgenössischen Aphoristikern das meiste interpretatorische Interesse geweckt hat, gilt als der bedeutendste deutschsprachige Gattungsautor der Gegenwart. In einer Gattung, die zu seiner Zeit in Deutschland, von ein paar frommen Erbauungsaphoristikern abgesehen, fast ausschließlich von sozialpolitisch orientierten, im Übrigen agnostisch-atheistischen Autoren geprägt ist, sich in ihrer Breite der Variation vorgegebener Muster widmet und in Gesinnungs- und Lebenshilfeaphoristik ergeht, stellt Benyoëtz’ Aphoristik mit seinen Konzepten von Kürze und Wörtlichkeit, seinem Erproben von Autorität und Weisheit als aphoristische Grundlagen, insbesondere aber mit seiner Metaphorik in der Nähe des Schweigens in Verbindung mit der Mittelachse einen durch das Miteinander von hochintellektueller Literatur und Religiosität beispiellosen Gipfelpunkt dar.

 

Hier ist wohl auch ein persönliches Wort zu der Beziehung des Herausgebers zum Autor angebracht, weil es dem Leser erlauben wird, den vorliegenden Band auch in dieser Hinsicht einzuschätzen. Kennengelernt als Autor habe ich Elazar Benyoëtz im Zuge meiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit dem Aphorismus, sei es literaturhistorisch, sei es zeitgenössisch, zu Ende des Jahres 1976; mein Besitzeintrag in den „Einsätzen“ (1975) 16.11.1976 bezeugt es. Die Hoffnung, die der Klappentext ausdrückt, es sei ein „bemerkenswertes Bändchen“, hat sich in meinem Fall erfüllt: Der schmale Band aus dem kleinen Verlag hat mich erreicht. Und in mehr als einem Sinne, denn die Hanser-Bände „Worthaltung“, „Eingeholt“ und „Vielleicht – vielschwer“ habe ich sogleich erworben, die früheren „Einsprüche“ nachgeholt. Benyoëtz fordert ein ‚anwesendliches Lesen‘, wenn er schrebt: „Die landläufige Vorstellung vom Aphorismus […] fordert ein abwesendliches Lesen, das nur noch auf Nebenreize reagiert. Ich suche die Kunst, die Kunst findet meine Hand: aus dieser erblüht eine Handvoll Gedanken“ („Filigranit“, S. 8f.). Es materialisiert sich für den späten Nach-Leser wohl in den An- und Unterstreichungen, den Ausrufe- und auch den Fragezeichen, dem Verweis auf frühere Bände („wie vor“), den Kringeln, die Korrespondenzen

Eine neue Stufe der Zusammenarbeit bedeutete es, als er im Jahr 2000 den Band „Der Mensch besteht von Fall zu Fall“ komponierte und ich ein Nachwort beisteuerte. Ich konnte ihn für eine Lesung in meiner Kölner Buchhandlung gewinnen, zu der ich die Einführung gab. Bis 2004 kommt es zu mehreren Begegnungen, in Köln, in Bonn, bei der Verleihung des Joseph-Breitbach-Preises der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz; die Briefe wachsen zu einem Briefwechsel an. Als mein Buch über den Aphorismus im 20. Jahrhundert, in den Siebzigern geplant, erschienen war (das ihm ein angemessen großes Kapitel widmet), löste es eine Flut von Briefen bei ihm aus, wie sie auch hier auszugsweise dokumentiert ist. Meine Beschäftigung mit dem Aphorismus, stellte er fest, decke sich genau mit der Entstehungszeit seiner Aphoristik. Er las intensiv: „Das bedeutet, dass ich bald zwölf Stunden mit Ihrem Buch und mit Ihnen spreche.“ Und er schrieb: „Ihre Gattungsgeschichte wird immer mehr zur Geschichte meiner Jugend.“ Dass Elazar Benyoëtz die Gattungsgeschichte wie kaum ein Aphoristiker sonst kennt, wusste ich aus seinen Publikationen; wie genau er sie kennt und wie dicht das Netz persönlicher Bekannntschaft ist, das lernte ich jetzt erst in Fragmenten kennen. In der Folge habe ich dann mehrfach von meiner fortlaufenden Beschäftigung mit dem Autor Rechenschaft gegeben: so in einem größeren Lexikonartikel, in kleineren Festbeiträgen und Rezensionen, in Anthologien und literaturhistorischen Überblickswerken sowie in begleitenden Texten im Lichtenberg-Jahrbuch (Bibliographie im Anhang). Ich konnte ihn zu Tagungen einladen: 2005 zur Lichtenberg-Tagung in Ober-Ramstadt, 2008 zum dritten Aphoristikertreffen in Hattingen, 2015 im Rahmen der Jüdischen Kulturtage im Rheinland in Hilden. Und im Jahr 2007 konnte ich ihn dafür gewinnen, meiner Reihe dapha-drucke im Deutschen Aphorismus-Archiv mit dem ersten Band, einer Auswahl von Aphorismen und Briefen, das Maß vorzugeben.

 

Hier nun erwartet den Leser keine weitere Briefsammlung. Aus einem Teil dieses umfangreichen Briefwerkes wird in diesem Band der Versuch eines Autorenporträts unternommen, wie es in den Bemerkungen „Zur Edition“ im Anhang im Einzelnen vorgestellt wird.

 

F. S.

„Unleugbar spielten die Briefe in meinem Leben und Werk eine entscheidende Rolle.“ – Der Brief als „gerichtetes Wort”

An Albrecht Goes, AlbrechtGoes, 30. Mai 1986    Nr. 1

Lange habe ich noch an dem Briefwechsel* gearbeitet und solange auch gezögert, Ihnen zu schreiben und Sie erneut um Ihr Wort zu bitten, um Ihr Wort als Dichter, Leser, Freund, Zeuge und Dichter. Es wäre sehr wichtig, dass Sie sich vor diesen Briefwechsel stellen; zu Bodman, Clara vonClärle, das Sie genau erkannten, zu Manuel auch, dessen Novellen Sie herausgaben** und dessen Bild nicht ganz deutlich wird. Und auch zu mir, ja. Betrachten Sie es bitte nicht als Aufgabe – ein Blatt, ein sonniges, schattenspendendes, ein einziges Blatt von Ihrem Baum wäre Leben genug. Die erweiterte Auswahl, die neue Zusammenstellung ist fast makellos, entspricht dem Gelebten und bleibt anfechtbar. Mehr kann ich nicht sagen, könnten Sie aber – auf einer Seite, in einem Vorwort, Nachwort oder Begleitbrief. *** Für Ihre lange, getreue Begleitung, für Ihre ermutigende Rede sage ich Ihnen Dank.

* Solange wie das eingehaltene Licht. Briefwechsel mit Clara von Bodman, Clara vonBodman; Vielzeitig, S. 287 et. pass.; vgl. Olivenbäume, S. 167ff. et pass. (Die Titel der Bücher von EB hier in Kurzform; vgl. dazu die Bibliographie der Werke und Briefeditionen im Anhang.)

** Emanuel von Bodman, Emanuel vonBodman: Das hohe Seil und andere Novellen. Nachwort Albrecht Goes, AlbrechtGoes. Stuttgart: Reclam 1991

*** Der mit beiden befreundete Dramatiker Max Zweig, MaxZweig schrieb das Geleitwort zum Briefwechsel. Vgl. Solange wie das eingehaltene Licht, S. 5–9; vgl. Allerwegsdahin, S. 121f., 127f.; vgl. Aberwenndig, S. 124f., 126f., 321

An Daphne Hertz, DaphneHertz, 8. September 1986    Nr. 2

Ihre erneute Stellungnahme zum Briefwechsel* freut mich, sie ist gut und klar, erlaubt einen neuen Denkansatz und ermöglicht ihn – vom Bart bis zum Honig. Aber wie, wenn beide, Honig wie Bart, echt sind? Und das sind sie doch: der Bart des jungen Juden und Dichters, der Honig der alten Dame. Der Honig zumal ist ein natürlicher, und auch der naturreinste ist immer klebrig. Das ist nicht durchwegs angenehm, doch vermindert nicht den Nahrungswert und zieht von der Süße nichts ab. Oder doch? Ich weiß nun, was Ihnen unangenehm war und

* Mit Clara von Bodman, Clara vonBodman. Vgl. Brief an Daphne Hertz, DaphneHertz, Vielzeitig, S. 118f.

An Ludwig Brinckmann, LudwigBrinckmann, 18. Mai 1994    Nr. 3

Briefwechsel ist Austausch, Mitteilung – nicht gleich, nicht durchwegs, nicht unbedingt Dialog. Auch muss nicht immer von Dialog gesprochen, geschweige denn geschwärmt werden. Dialog ist im Sprechen selbst angesetzt, doch lässt sich über diesen Ansatz ebenso gut hinwegsetzen. Manchmal ist dies gerade, was das Imposante eines Briefes ausmacht. Der groß angelegte Brief ist immer zunächst ein großartig ausgestellter Wechsel. Mit dem konkreten Briefpartner wird das Ganze auf eine Neugier beschränkt, man kann dann scheinbar „besser folgen“, bleibt an der Sache aber nur über die Neugier beteiligt, ohne sich darum stärker angesprochen zu glauben. „Das an dich gerichtete Wort verliert mit dir seine Richtung“. Die Richtung ist das von mir Verlorengegebene, damit bist du schon gemeint, dadurch noch nicht getroffen.

Ich habe mich sehr gern in die Briefe* eingelesen. Es sind ja durchweg Personen, die interessieren und die auch etwas zu sagen haben, was in Deinen Briefen genauestens aufgenommen (und stimuliert) wird. Schön, ein bezügliches Denken in diese Form zu überführen, die ja zum Glück nie aus der Literatur verschwunden ist. So liest man gern weiter, es ist eine ganz eigentümliche Spannung in diesem Buch (das eines werden soll). Vielleicht hängt das auch mit der eigenen (jüdischen?) Dialektik zusammen, die Versöhnung nicht als „Aufhebung“ (Verschmelzung der Standpunkte) denkt, sondern strikt als Gespräch meint (das gelegentlich auch schon mal lauter werden darf), als Dialog, der aufgegeben ist, wenn die Stimme des Anderen zum Verstummen gebracht wird. Nein, es ist ein sehr schöner Band, auf dessen Erscheinen ich mich freue.

* Das gerichtete Wort. Auswahl aus dem Briefwechsel 1973–1993; zurückgezogen

An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 28. November 2004    Nr. 5

Man sieht einem Aphoristiker an, ob er Tagebuch schreibt oder nicht, ob seine Aphorismen von ihm kommen oder seinem Tagebuch entstammen. Man sieht es vor allem an der Fähigkeit eines Aphoristikers, von sich und mit sich selbst zu sprechen. Wer das kann, der schreibt nicht nur Tagebücher, er ist mit seinen Tagebüchern auch intim. Aus dieser Intimität, die ich bezeugen kann, beanspruche ich aber auch den „Brief“ für die Gattung. Das habe ich theoretisch noch nicht laut genug ausgesprochen, aber unübersehbar angedeutet: mit der Aufnahme von Briefen oder Brieffragmenten in meine Bücher. Der Brief gehört zur aphoristischen Praxis, zumal es das Wort zu einem gerichteten macht. (Meine geplante Briefedition heißt „Das gerichtete Wort“. Die drei Wörter mögen auch meine Auffassung vom Aphorismus bedeuten). Damit hätten Sie wieder einen Begriff für meine Aphoristik, einen Schlüssel, der aufschließt.

Meinem deutschen Aphorismus ging der Brief voraus und der Brief liegt meiner ganzen Aphoristik zugrunde. Ich betone: die deutsche Aphoristik, weil meine hebräische in Schrifttum und Habitus ihren Grund und Quelle hat. Sie ist keine Worthaltung, und von der Bibel her ist jedes Wort ein gerichtetes. Im Deutschen musste ich mich erst zum Denken erziehen, meine Gedanken ausbilden und „bebildern“, damit sie nicht zu Meinungen herabsinken. Das hätte ich durch mein Tagebuch allein nicht erreicht. Tagebücher sind keine gute Schule, weil man an sich ja kein Wort richten kann, auch wenn man sich ständig zu etwas ermahnen muss.

Das Briefeschreiben als Passion und Schule habe ich vor wenigen Jahren aufgegeben, ich brauch das nicht mehr, und auch meine Aphoristik hat es nicht

An Monika Fey, MonikaFey, 24. Januar 2006    Nr. 6

Weil Du Dich so lange um das Hebräische bemühst und Dich so ernsthaft hineinsingst, fällt es mir leichter, Dir Hebräisches, deutsch Gedachtes, zu schreiben. Die Fragen, die Du mir stellst, kommen aus einer hebräischen Neugier. Wenn ich sie auf Deutsch beantworte, gehe ich dem Hebräischen entgegen. Eine Zweitsprache schafft Distanz und erleichtert das sich selbst Umarmen, wozu sonst nur Erinnerungen fähig sind. Erinnerungen sind Selbstumarmungen, über das Gedächtnis hinweg. Es gibt Gesprächspartner und Briefpartner, die keine Gesprächspartner sind, aber gute Adressen, wie Ohren, die sich spitzen lassen, weil sie nicht allem offenstehen mögen. Es sind zuhörende Erzähler, die alles aus dem Gegenüber herausspinnen. Sie sind nur scheinbar passiv, die Aufmerksamkeit ist die beste Hebamme des Erzählens. Es ist – nun auch der Briefwechsel – voller Panik, wie wenn alles auf ein Ende drängen, ich in eine Enge getrieben würde, in der ich verzweifelt aus einer Situation, aus einem Menschen Funken Poesie schlagen möchte.

Briefe müssen nicht im Zusammenhang stehen, aber eine Beziehung glaubwürdig widerspiegeln und für den Schreibenden sprechen. Briefe sind Einsichtungen; wenn man im Briefwechsel steht, wie im Leben, wie in der Versuchung, wie auf Kriegsfuß. Ich sehe viele Gesichter, Regungen, Leidenschaften, Hemmungen, erkenne Taktik und Verspieltheit. Sie sind mir alle willkommen. Ich sehe ein Ganzes, das Ganze kommt zur Auswahl, wird beschnitten, hört damit auch auf, „ganz gut“ und „ganz schön“ zu sein. Es wird sich ergänzen lassen und könnte immer wieder zur Geltung kommen. Verloren ist der „Blick aufs Ganze“. Das Ganze wird gepuzzelt. Fremde Menschen, die nicht von Leidenschaft sind, die nur die Falten sehen, nicht das Eingefaltete, treffen die Auswahlen, besorgen die Editionen und führen sie, kommentierend, auf ein Ganzes zurück, das sich nie wieder finden ließe. Das fremde Auge bindet das Ende an den unverbindlichen Anfang und stellt den Zusammenhang her, als wär’s ein Verhängnis. So entstehen die Bilder, die „genauen“, die nach und nach „authentischen“, mit denen wir konfrontiert werden. Daran lässt sich studieren, was alles genau ist, heißt oder sein soll. Wirklich im gelebten Leben ist das Nichtgenaue, das Annähernde. Das Treffliche belebt das Daneben.

„Allzu 70–jährig.“ Das Jahr, das uns so sehr zu schaffen macht. Mit Deiner Kritik hast Du mir schon geholfen, sie hat mich, wie es sein soll, verunsichert. Es ist ein Moment der Schwäche, ich mache mir mehr Skrupel als Gedanken. Mit „allzu 70–jährig“ hast Du, Dich selbst dagegen auflehnend, den Kern getroffen. Ich müsste von vorn beginnen, und dazu fehlt mir die Aussicht. Die Aussichtslosigkeit sollte den sinkenden Mut heben. Das Ich zu beherrschen ist schwer, das gespaltene zu überwältigen hoffnungslos. Mein Weg als Israeli und Jude ins Deutsche ist nicht nur mein Lebensweg, ist auch der Schrei meines Lebens. Ich musste mich fügen, ohne mich beugen zu können. Was ich annehmen musste, habe ich nie akzeptiert. Den Deutschen, für die ich schreibe, bin ich nicht „einzusehen“, aber auch den Israelis nicht, weil ich für sie gerade nicht schreibe. Das Pathos liegt im Schreiben, die Distanzlosigkeit im „für“. Das liegt auch dem zugrunde, was Du „einen alten Streitpunkt unter uns beiden“ nennst. Es ist kein Streitpunkt, es ist eine Hemmung. Wann immer Du meine Prosa lobtest, war es mir eine Auszeichnung. Ich habe mir Prosa nie zugetraut und fühle mich auch jetzt von der Vorstellung verfolgt, kein Schriftsteller zu sein. Das liegt tief und geht mir nicht leicht über die Lippen. Diese Not ist zugleich aber meine Schaffenskraft: aus dem Bewusstsein, Dichter zu sein, und nichts als Dichter. Im Sinne des lyrischen Ursprungs, meines traurigen Frühlingserwachens. Sprichst Du mir das – in bester Prosa-Absicht – ab, muss ich mich zur Wehr setzen.

Es war wohl nicht anders möglich, als all diese Konflikte auch in den Briefwechsel hineinzutragen. Ich bin der einzige, der das tun kann, nicht darum auch der geeignetste. Der Verleger* wünscht sich Briefe zum Werk, er sieht es neutral, objektiv vor sich, die Briefe sollen dessen Erschließung dienen, zugleich aber eine andere von mir gepflegte „Gattung“ zum Bewusstsein bringen. So würde er denken, meine ich, er hat sich nicht näher darüber geäußert, er verlässt sich auf mich. Briefe zum Werk, Werk für Werk, lassen sich leicht finden und aneinanderreihen. Aber lässt sich das wirklich von „meinem Weg“ trennen? Und könnte daraus ein Buch werden, das man mit Anteilnahme liest?

Die Gefahr liegt nahe, es bliebe schematisch und steif. Der mythologische „Leser“ will dem Werk nicht auf den Grund, sondern auf den Hintergrund kommen. Auch ich wüsste gern, was hinter diesem Werk gestanden haben mag. Die Wahrheit kann ich freilich nicht liefern, aber ein Bild, das nach und nach korrigiert werden könnte, am Ende korrigiert werden müsste. Ein Bild, aber auch viele verschiedene Selbstbildnisse, die dazu gehörten, nicht Stimmen allein. Unter den Briefen Deiner Sammlung befinden sich nicht wenige davon, Du bekommst den Schreibenden zu sehen, und diese Briefe an mich sind mir die liebsten. Namen sind mir teuer, mit vielen verbindet mich Dankbarkeit; die Freunde machen die

Zur Frage: „Muss das jetzt schon publiziert werden? Wir leben doch noch“ –

Die Antwort: Wir leben doch noch, und es muss nicht schon publiziert werden; es ist aber auch die Ausnahme, dass wir es publizieren dürften. Die Publikation wird unsere Freundschaft nicht zerstören, und die Briefe sind alle längst geschrieben. Sie können im Schatten bleiben oder ins Licht gehoben werden. Meine Ansicht: Was zum Leben gehört, bleibe in der Pflege der Lebenden. Was zur Diskretion des Gelebten gehört, bleibe diskret. Darüber hinaus schreiben wir einander nicht anders, als wir miteinander sprechen, und das tun wir immer so und nicht anders, auch wenn man uns zuhört. Wer an unserem Gespräch teilnehmen mag, soll daran teilnehmen können, andere werden es nicht lesen, weil es sie nicht interessiert. Wir sprechen miteinander, wie ehrliche Freunde miteinander sprechen, das ist nicht Literatur, aber denkwürdig genug. Als Freund gehörst Du auch zu meinem Werk, nicht nur zu meinem Leben.

* Olivenbäume. Braumüller

An Harald Weinrich, HaraldWeinrich, 11. März 2011    Nr. 8

Ich habe mich an Deinen Rat gehalten, habe nicht alles weggegeben*, und doch unendlich mehr als vorgesehen und von mir verlangt: übereifernd mich auf die Probe stellend. Denn dazu wäre ich – als Sammler und nicht Wegwerfer – vor weniger Zeit gar nicht fähig gewesen. Dein „Gebot“ war: Trennung für immer, ohne Wehmut. Ohne Sehnsucht. Mein gestriges Gefühl und heutiger Gedanke sagen mir, dass ich mich nach den „Materialien zu meinem Leben und Werk“ nicht sehnen werde. Ich sehe auch den Wert des Hinterbleibens – nicht des Bleibens, das einzig einem Werk einverleibt werden könnte – und habe, um mir das sagen zu können, unseren Briefwechsel vor Augen, der mir als Gewissen galt und nun Gewissheit geworden ist. Das ist das Herz meines literarischen Nachlasses, nicht nur, weil Du mein Begleiter warst, sondern, weil ich ohne Deine Begleitung nicht gewissenhaft am Werk hätte bleiben können. Das war mir die Bedeutung unseres Briefwechsels und ist mir „im Voraus“ eine Genugtuung, dass unsere Nachkommen davon wüssten. Es fiel mir nicht leicht, den Briefwechsel aus der Hand zu geben, aber nun sind wir beide alt genug, und wir bleiben bei- und füreinander, solange wir leben. Es fügte sich, dass ich eben jetzt (mit der 30. Fassung) mein Buch abgeschlossen habe.** Jetzt könnte es Dir gefallen.

* Briefwechsel an das Brenner-Archiv

** Olivenbäume

Hältst Du Dein Wort, machst Du Halt; haltbar wird, was sich entziehen will. Hältst Du mein Wort, habe ich Deine Gesichtszüge in Händen. „So fremd bist Du mir, wie nah. Die Nähe erträgst Du nicht, die Fremde ist mir schwer. An der Entstehung Deiner Bücher mithelfen zu dürfen ist meine Erfüllung.“* Das sind abfahrende Gesichtszüge, die ihre Stationen haben. Das gerichtete Wort ist das geeignete Mittel der Physiognomisierung. Ich spreche zu Dir, damit Du dich zeigst. Das magst Du nicht, Du weigerst Dich. Man zeigt sich nicht, lässt sich ja auch nicht gehen, bleibt lange auf der Hut, länger auf der Lauer. Sich zeigen, das käme einer Anzeige gleich. Ehe man sein Gesicht zeigt, spricht man sich aus, man ist ausgesprochen da – und ist nicht in Sicht getreten. Ich wende mich an Dich, werde Dir eine Wand: Du lehnst dich an ihr, kannst durch sie auch gehen. Der korrespondierende Augenblick tritt ein, in dem dies möglich wird. Dann hast Du Dich gezeigt, und ich verhalf Dir dazu. Deine Gesichtszüge, einige von ihnen, bleiben in meinen Briefen unverwischbar für immer. Du tratest in Sicht und bist zu lesen.

* Brief von Riccarda Tourou, RiccardaTourou, 3. Januar 2013

An Ingeborg Kaiser, IngeborgKaiser, 7. Januar 2013    Nr. 10

Ungefähr dürfen wir zehn Jahre feiern, weil es aber fraglich ist, bekommst Du ein fragwürdiges Geschenk: unseren Briefwechsel, so weit von mir übertragen und gehütet und im PC gespeichert. Es könnte Gewinn bringen, je nach dem. Ich habe nichts redigiert, einiges – rein technisch – korrigiert, von meinen (oft erschreckenden) Textflächen einiges weggeschnitten, das Übrige kannst Du selbst tilgen, für das erste Bild ist doch wichtig zu sehen, wie viel an Flächen ich Dir zugemutet habe, dafür sind fast alle Deine Gedichte der Reihenfolge nach erhalten. Es ist nicht uninteressant zu sehen, was alles in dieser Zeit – also auch mit und zwischen uns – an Literatur entstanden war. Manche Briefe ließ ich in der Originalform (und Farbe), die Gedichte habe ich in keinem Fall angetastet, der Rechtschreibung aber angepasst. Es ist ja keine Edition, und bei mir suche man auch keine Konsequenz. Ich lese gern in verschiedenen Ausgaben und zitiere ebenso gern aus verschiedenen, mir ist alles Schreiben recht, solange man nicht vergisst, „dass Tonfälle Gesten, dass Begriffsinhalte Blicke sind, die nachgelebt und nachgebärdet, nicht nur abgelesen und abgeschrieben werden können“ (Friedrich Gundolf, FriedrichGundolf).

Es ist das Dokument unserer Freundschaft, mit allen Steigerungen.

Mit den Briefen hat es noch seine Berechtigung, denn unleugbar spielten die Briefe in meinem Leben und Werk eine entscheidende Rolle: Sie ist meinem Werk abzulesen, und mit den zwei Briefbänden* habe ich für eine spätere Aufmerksamkeit ja auch gesorgt. Zwingend wäre ein weiterer Band nicht, doch eher als Bände anderen Genres gerechtfertigt. Für die Erschließung meines Werks wäre damit etwas getan, was sonst nicht mehr getan wird. Selbst wenn ichs vom Wiener Literatur-Archiv erwartete. Archive bewahren, geben nicht weiter, wenn nicht „einer“ initiativ wird. In meinem Nachlass ruhen umfangreiche Manuskripte, die nicht zur Geltung kamen, die ich mir „brennend“ herausgebracht wünschte und von denen ich nie bereut habe, dass sie liegen geblieben sind. Es muss auch mit dem Ehrgeiz aufhören, damit das „In-sich-gehen“ nicht allerwegs Phrase bleibe. Mein Werk kann auch „ungebilligt“ überleben. Die Briefe sind kein technisch zu bewältigendes Problem, auch das Vorhandene muss seine Konzeption entwickeln.

Erfahrungen sind gut im Umlauf, nicht gut im Umsatz. Ein Autor eignet sich am wenigsten dafür, ich bin dazu untauglich, denn ich kann nichts in Ruhe lassen, auch längst geschriebene Briefe nicht.

Einmal geschrieben, muss es um- und fortgeschrieben werden. Es müsste ein anderer her, doch auch der andere ist immer anders ein Anderer. Neugier allein kann da nicht befriedigen, auch rein Fachmännisches nicht. Den Germanisten interessierte das Germanistische, den Psychologen das Psychologische, den Österreicher das Österreichische. Es müssten mehrere daran arbeiten, das geht aber nicht; schon das Auswählen ist schwer genug. Ferner müsste gekürzt und angemerkt werden, und Du hast schon einmal erfahren, wie lästig es ist, wie schwer zu bewältigen.

* Vielzeitig. Olivenbäume

An Riccarda Tourou, RiccardaTourou, 22. Januar 2013    Nr. 12

Meine Wirkung, die immer eine stille, unauffällige, nie offizielle, auch kaum erwartete war – kein Schrei, kein Reiz, kein Protest. Und doch in die Tiefe gehend? Das lässt sich behaupten, schwerlich belegen. Der Briefwechsel könnte kleine Belege, hauchdünne, beisteuern. Das wäre ohne Bedeutung, und doch von Wert. Der Fromme neigt zum Unscheinbaren, die Religion ist kein Holz auf Lager – Woodstock –, sie begehrt die Tiefenwirkung und ist dem Unsichtbaren ergeben.

Ich lege dazu, weil ich gerade dabei bin, Briefe aus dem Jahr 2000. Du wirst sehen, was mich alles „schon immer“ beschäftigte und wie schon immer ich wohlwollende, meistens wenig taugliche Menschen hatte: bei größter

An Riccarda Tourou, RiccardaTourou, 24. Januar 2013    Nr. 13

Der große Brocken ist das Briefprojekt*, unverdrossen mache ich meine Register, stelle dabei fest, dass mir halbe Jahrgänge fehlen und dass so manches unwiederbringlich verloren ist, aber auch dass mein Problem – in allem und immer – die Fülle ist. Ich schaffe es nicht, kann schwer sieben und sichten, ich habe den Eindruck, es müsste auf zwei Bände hinauslaufen, und zwar: Band. 1) Begleiter; Band. 2) Jünger.

Es wird dann biographisch und literarhistorisch weniger interessant oder aufregend (keine großen Namen), aber es hätte Hand und Fuß und Sinn und ließe sich auch mehr als Briefwechsel (wiewohl redigiert, mitunter streng) gestalten.

Band 1 – die Wissenschaftler: Fricke, HaraldFricke, Helmich, WernerHelmich, Holzner, JohannHolzner, Mieder, WolfgangMieder**, Sonnemann, UlrichSonnemann, Spicker, FriedemannSpicker, Stenzel, JürgenStenzel, Weinrich, HaraldWeinrich, Wiedemann, ConradWiedemann, Wohlmuth, JosefWohlmuth – es können auch Laien hinzukommen, wie Dorothee von Chamisso, Dorothee vonChamisso***, Hilde Schultz-Baltensperger, HildegardSchultz und Riccarda Tourou, RiccardaTourou.

Bd. 2 – Bongardt, MichaelBongardt, Dausner, RenéDausner, Grubitz, ChristophGrubitz, Heyden, KatharinaHeyden, Talebitari, BurkhardTalebitari, Welz, ClaudiaWelz.

Dies wäre schon einmal ein engerer Kreis, den man konzentriert verfolgen kann, es ginge um mein Werk, aber auch um das Thema Beziehung, die Bände ließen sich mit halbwegs gutem Sinn trennen, viele der Briefe liegen mir im PC vor, ich könnte die Auswahl vornehmen, ohne auf das ÖLA**** ausweichen zu müssen, wo natürlich viel mehr vorliegt, auch müsste ab und zu eine Abschrift verglichen werden, aber ich will nicht „historisch-kritisch“ streng vorgehen, es bliebe die Frage: kommentiert oder nicht, und wenn – wie weit? Das nämlich wäre noch einmal so viel Arbeit.

Nun, leuchtet Dir das Programm ein? – Jetzt bin ich mich aber satt.

* Unabgeschlossen

** Prof. Dr. Wolfgang Mieder, WolfgangMieder (geb. 1944), Literaturwissenschaftler. Professor an der University of Vermont. Spezialgebiete Sprichwort und Märchen; vgl. Olivenbäume, S. 15. Zu den übrigen Personen vgl. das Verzeichnis der Briefpartner(innen)

*** Dorothea von Chamisso, Dorothee vonChamisso (1912–2010), Altphilologin, Witwe des Urenkels von Adelbert von Chamisso, Adelbert vonChamisso, seit 1988 mit dem Chamisso-Preisträger EB freundschaftlich

**** Literatur-Archiv der Österreichischen National-Bibliothek, Wien

An Ingeborg Kaiser, IngeborgKaiser, 9. April 2013    Nr. 14

Nur drei Stationen – Wittlich, Weinsberg, Schwäbisch Gmünd – , überall willkommen geheißener Gast, in feinen Hotels untergebracht, mit wenigen Reisen dazwischen – und vielen Gesichtern. Und doch: Ich bin noch gar nicht zu mir gekommen, nichts geschrieben, und dabei gefällt mir die eine, eigentlich entscheidende Lesung – geschrieben vor zwei Monaten – nicht mehr.

In dieser Not (erlaube mir, sie so zu nennen: Es ist mitunter erbaulich, sich lächerlich zu empfinden und – es bleibe unter uns – „so herum“ zu genießen) „flüchtete“ ich mich in unseren Briefwechsel und – arbeitslos seit Wochen – „arbeite ich daran“, als wären es meine Tagebücher. Nicht viel, nicht lang, aber es freute mich – darüber nachzudenken, was mich dazu bringt, was ich mir dabei denke, was dazu zu sagen wäre.

Was ich in meinem Tagebuch dazu schrieb, kann ich jetzt nicht sagen, das ist immer „für später“. Im Moment sage ich mir: dass es nicht anders gehen kann, schon gar, wenn ichs einmal rückwärts gelesen habe, quasi geschichtlich, unsere Beziehung zurückverfolgend und mich – angenehm – erinnernd. Das war ein lesendes Sich-Erinnern, ein noch fühlbares, ehe die Briefe, wie gestern geschrieben, wieder in die „Truhe“ (um beim Romantischen zu bleiben) gelegt werden – auf nimmer Wiederlesen, weil das Alter sich nicht zweimal seine Jugend als Hintergrund zurückrufen kann. Aus dem Gedächtnis wird Erinnerung, aus der Erinnerung das Nachlassen und der Nachlass.

Nach der zweiten Begegnung büßte der Briefwechsel sein Leben für die Gegenwart ein, und da geschah es: Die Gegenwart selbst suchte sich die Briefe aus, an die sie anknüpfen, sich also aussprechen konnte. Mit der bloßen Vorstellung „veröffentlicht“ eröffnete sich eine neue Perspektive. Was Dir und mir galt, hatten wir zweimal für uns, wie es in der Regel ja ist. Mit dem eingeschobenen Fremdenblick werden die Briefe zu „Texten“, die niemandem gelten, aber an sich zu gelten hoffen: weil geltungsbedürftig oder – weil lesenswert. Sie sollten lesenswert werden. Nun gibt es kein Ausweichen: Auch das hier ist „für später“, wie alles, was ich schreibe, und es kommt der Tag, an dem Du dies in einer anderen Fassung zu lesen bekommst, und wenn Du oder ich Glück haben, wird es in zwei Sätzen geschehen, denn es verdiente, in einen Satz gebannt zu werden.

Bestünde der Brief nur aus dem einen Satz: „Wie kannst du aushalten, was du wissend schreibst?“, wäre er vollständig und einwandfrei, weil es eine echte Frage ist, die auf etwas hinweist, das zu fragen ist: aus dem Inhalt oder aus der Beziehung. Es ist gleichsam etwas, das mit Dir zu tun hat.

Und das andere nicht? Ja, weil Du keine Schmeichlerin bist; nein, weil es in keinem Punkt Dich enthält oder aufdeckt. Das kann, das würde jeder sagen können. Und wenn es mich beim ersten Lesen auch freute, weil du mir lieb bist und ich Dir glaube, es ist nicht der Ausdruck, mit dem ich Dich nach außen zeigen möchte. Du bist Dichterin und stehst für die Dichtung ein. Ob Du willst oder nicht. Und das ist eben das Komplizierte des Briefwechsels, ich muss jene sehen, deren Blick ich Dich „ausliefere“. Es geht nicht um „gewichtig“, unser Briefwechsel ist vor allem privat, nicht aus Gefallsucht geschrieben, nicht für eine Veröffentlichung gedacht. Und doch denke ich, dass wir alles, was auch nur aus unserer Feder fließt, zu verantworten haben. Selbst die Schmeichelei müsste zur Würde kommen. Mit einer neuen Wendung. Schaffen wir’s nicht, haben wir versagt.

An Winfried Schindler, WinfriedSchindler, 13. Mai 2013    Nr. 16

„Briefe sind Mitteilungen an sich selbst, die man zufällig frankiert hat.“*

Es geht darum, dass es frankierte Mitteilungen sind, die wir deshalb Briefe nennen, obwohl es doch Briefe gab, die nicht frankiert werden mussten und dennoch Mitteilungen an sich selber waren: den Übermittler einbeziehend, den Boten hinzudenkend. Die Frankierung, nicht ihre Zufälligkeit, macht die Mitteilungen an sich selbst zum Brief. Tagebücher sind gewiss Mitteilungen an sich selbst, sie werden nicht frankiert und nicht Briefe genannt, obschon sie den nämlichen Adressaten im Sinn haben. Das Tagebuch ist eine Botschaft ohne Boten. Da mich „Brief“ und „Tagebuch“ gerade beschäftigen, darum kommt mir Ihr Aphorismus gelegen.

* Winfried Schindler, WinfriedSchindler: Die Wirklichkeit der Illusion. Aphorismen. Annweiler: Sonnenberg 2009, Nr. 101

An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 23. Mai 2013    Nr. 17

Die Probleme des autobiographischen Schreibens häufen sich bedrohlich. Ich wage sie nicht auszusprechen; die einer erneuten Brief-Edition sind geringer. Briefe plaudern die Tage selbst heraus. Dann suchen sie einander.

Es handelt sich – fast ausschließlich – um die PC-Jahre, ich möchte auf Handschriftliches nicht zurückgreifen, mich möglichst von Wien* freihalten – ohne „Recherchen“, gerade wie es mir vorliegt, mit allen Fehlern, die gereinigt werden müssten, und Kürzungen, die notwendig sind.

Nur in seltenen Fällen käme ein ganzer Briefwechsel in Betracht, in jedem Fall muss eine Aussage bleiben, ich meine die Beziehung – Lebensweg oder Gedankengang – und der Brief, der alles enthält und doch auch für sich spricht. Ich habe unseren Briefwechsel nun zusammengetragen. Manches werde ich verloren, anderes übersehen haben, es ist dennoch unser Briefwechsel in all seinen Phasen und das Bild unserer Beziehung, die ich getreu erhalten möchte.

Ich bitte Sie, das Ganze auf das Erhaltenswerte hin zu prüfen; korrigieren Sie, was sich korrigieren lässt, kürzen Sie oder schlagen Sie Kürzungen vor. Erst die mir vermittelten Vorstellungen sagten mir, was zu machen ist, was sich zu machen lohnt.

Ich bleibe nur noch der Briefe wegen im Deutschen, und dies nicht über das Jahr 2014 hinaus.

* Literatur-Archiv der Österreichischen National-Bibliothek, Wien

An Martina Kraut, MartinaKraut, 2. Juli 2013    Nr. 18

Das Schreiben macht Ihnen Freude, das Resultat ist ein Brief, ein Brief ist ein gerichtetes Wort, das sein Gesicht nicht verhüllt. Sie sprechen von sich und sprechen zu mir, nichts Schöneres als dies.

Täten Sie es nicht, zu wem habe ich dann mit meinen Büchern gesprochen? Sie blieben jüdische Selbstgespräche. Auf diesen Punkt kommen wir noch – im Verlauf der Blätter – zurück. Ihren Berg müssen Sie sowieso besteigen oder versetzen, Sie tun es besser mit mir, da die Bereitschaft dazu in Ihnen entsteht.

Von Martina Kraut, MartinaKraut, 31. Juli 2013    Nr. 19

Der Briefwechsel um Lec, Stanislaw JerzyEntwicklung