cover image

imageserleben & lernen

Band 2

Herausgegeben von

Prof. Dr. Michael Jagenlauf, Universität der Bundeswehr, Hamburg

Prof. i. R. Dr. Werner Michl, Technische Hochschule, Nürnberg

Dipl. Soz.päd. Holger Seidel, M. S. M., Geschäftsführer von GFE | erlebnistage

images

Dipl.-Päd. Bernd Heckmair, geb. 1953, Referent in der Jugend- und Erwachsenenbildung, verantwortet seit 2015 die Sendung „Bewegtes Lernen“ bei Radio LORA, München.

www.bernd-heckmair.de

Prof. Dr. Werner Michl, geb. 1950, Professur i. R. für Sozialwissenschaften an der Technischen Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm und Prof. ass. an der Universität Luxemburg.
www.wernermichl.de

Ebenfalls im Ernst Reinhardt Verlag erschienen:

Michl, W., Seidel, H. (Hg.): Handbuch Erlebnispädagogik

(2018, ISBN: 978-3-497-02773-6)

Michl, W.: Erlebnispädagogik

(UTB Profile. 3. Aufl. 2015, ISBN: 978-3-8252-4521-4)

Hinweis

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-02825-2 (Print)

ISBN 978-3-497-61012-9 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61013-6 (EPUB)

8. Auflage

© 2018 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in EU

Coverfoto: © Prof. Dr. Werner Michl

Cover unter Verwendung eines Fotos von © Prof. Dr. Werner Michl

Satz: ew print & medien service gmbh

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Vorwort zur 8. Auflage

1Rückblicke: Von Rousseau zur Risikogesellschaft

1.1Die Entdeckung der Einsamkeit und der Einfachheit – J.-J. Rousseau und D. H. Thoreau als Vordenker der Erlebnispädagogik

1.2„Aus grauer Städte Mauern …“ – Leitlinien der Erlebnispädagogik vor und neben Kurt Hahn

1.3Therapie von Gesellschaft und Individuum – Kurt Hahns Begriff der Erlebnistherapie

1.4Demokratie, Humanität und Gerechtigkeit – Minna Spechts Erziehung zur Verantwortung und John Deweys pädagogischer Pragmatismus

1.5Vom Risiko des Anfangs zur Risikogesellschaft – Erlebnispädagogik von 1945 bis heute

1.6Learning by Doing – Zur Aktualität handlungsorientierter Ansätze

2Rundblicke: Von Aberdovey bis Zimbabwe

2.1Der Weg einer Idee – Kurt Hahns Erlebnispädagogik auf allen Kontinenten

2.2Weder exotisch noch neu – Experiential Education

2.3Umstritten ist nicht das Ziel, sondern der Weg – Paradigmen des „Adventure Programming“

2.4Die alpine Gratwanderung auf den Alltag beziehen – Metaphorik und Parallelität als Strukturelemente von „Adventure Learning“

2.5Unsere Welt erfinden wir nur im Kopf – Wie der Konstruktivismus die Erlebnispädagogik verändern könnte

2.6Spuren im Gehirn – Warum die Neurowissenschaften die besten Begründungen für die Erlebnispädagogik liefern

2.7Experiential Education ist überall und nirgendwo – Ein Streifzug durch die Kontinente

3Einblicke: Grundlegung der Erlebnispädagogik

3.1Das Wort in den Büchern: Ein Blick in Lexika, Handbücher, Nachschlagewerke und Einführungen

3.2Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt – Zur Psychologie und Soziologie des Erlebens

3.3„Where the action is“ – Zum Verhältnis von Erlebnis und Erziehung

3.4Lernt man nie aus? – Dimensionen des Lernens in der Erlebnispädagogik

3.5Abenteuer als ein Weg zur Jugend – Ist die Erlebnispädagogik eine Pädagogik der Pubertät?

3.6Erziehung zwischen Pädagogik, Prävention und Psychotherapie – Erlebnispädagogik in der Jugendhilfe

3.7See me, feel me, touch me, heal me – Erlebnis als Therapie

3.8Leben gewinnen: Erlebnispädagogik in der Behindertenhilfe

3.9Handlungsorientiertes Lernen in der betrieblichen Personalentwicklung – Outdoor-Trainings

3.10  Schule als Lernbelästigung und Erkläranlage? Erlebnispädagogische Praxis in der Schule

4Überblick: Erlebnispädagogische Aktivitäten im Vergleich

4.1Die Entdeckung der Langsamkeit – Bergwandern

4.2Sich auf die Spitze treiben – Klettern und Abseilen

4.3Abseits des Pistenrummels – Schneeschuh- und Skitouren

4.4Die Vertiefung im Dunkeln – Höhlenbegehung

4.5Der Tanz auf dem Wasser – Kajakfahren

4.6Alle in einem Boot – Schlauchbootfahren/Rafting

4.7Land und Leute erfahren – Fahrradtouren

4.8„We are sailing …“ – Kuttersegeln

4.9Die Einsamkeit erleben – Solo

4.10  Im Dickicht der Städte – City Bound

4.11  „Spinnennetz“, „Säureteich“ und andere Zumutungen – Lernprojekte

4.12  Seilgärten

4.13  Geocaching, Parkour und Co.

4.14  Zusammenfassung und Synopse

4.15  Zu guter Letzt: Noch ein Vergleich ganz anderer Art

5Seitenblicke: Vernachlässigte Themen der Erlebnispädagogik

5.1Auf dem heißen Stuhl – Erlebnispädagogik in der Kritik

5.2Lust auf Verwilderung – Gefahren und Chancen, Selbst- und Fremdbilder

5.3Vom kleinen zum großen Unterschied oder: starke Mädchen – arme Jungen?

5.4Eine „unvermeidbare Schuld“? – Ökologie und Erlebnispädagogik

5.5Der „Quality Circle“ in einer Person – Was muss der Erlebnispädagoge können?

5.6Safety First – Rechtsfragen, Sicherheitsstandards und -maßnahmen

5.7Zwischen Einstimmung und Ausklang – Ein Blick in die Praxis

6Ausblicke: Von Wiederentdeckungen, Wucherungen und Visionen

6.1Wiederbelebung: Bewegung, Körper und Geschlecht

6.2Wiederentdeckung: Erlebnispädagogik als moderne pädagogische Konzeption

6.3Visionen: Vier Szenarien und zehn Provokationen

Anhang

Internet von „A“ bis „Zet“

Anmerkungen

Literatur

Personenregister

Sachregister

Vorwort zur 8. Auflage

„Wächst die Erlebnispädagogik noch oder wuchert sie?“ Diese Frage haben wir uns bei der 6. und 7. Auflage dieses Buches gestellt. In der Tat gab es nach dem Jahr 2000 einen Stillstand. Immer die gleichen Lernprojekte wie das Spinnennetz, der Zauberstab, der blinde Mathematiker und das Kistenklettern sind in allen Ecken Deutschlands, Österreichs und der Schweiz angeboten worden, bei Teamtrainings genauso wie bei erlebnispädagogischen Klassenfahrten. Es war auch ein Rückzug aus der Natur zu beobachten, vielleicht ist daher die Naturerlebnispädagogik entstanden. Ein kritischer Outdoor-Trainer hat das als „Parkplatzpädagogik“ bezeichnet. Oft waren und sind die erlebnispädagogischen Angebote meilenweit entfernt von der Philosophie des Draußenseins, die die Skandinavier mit Friluftsliv (Lietke/Lagerstrøm 2007) am überzeugendsten leben.

Zahlreiche Träger der Erlebnispädagogik haben Jubiläen gefeiert: 10 Jahre, 20 Jahre, 30 Jahre und mehr. Aus innovativen und manchmal chaotischen Modellprojekten sind feste Arbeitgeber geworden, die sich Buchhaltung, innere und äußere Revision, Organigramm, Konzepte, Geschäftsordnung und eine Gesellschaftsform zugelegt haben. Sie sind in regem Austausch mit der Kommunalpolitik und dem Datenschutz, mit der Naturschutzbehörde und dem Brandschutz, dem Landrats- und Gesundheitsamt, dem Veterinäramt und den Landesforsten, dem Ordnungs- und Wasserwirtschaftsamt. Sie sind solide Arbeitgeber geworden, die sich um Urlaub, Arbeitszeiten, Mindestlohn und mehr kümmern. Die Professionalisierung der Erlebnispädagogik zeigt sich auch bei den Sicherheitsstandards, der Ernährung und dem Umweltschutz sowie bei der Ausbildung junger Erlebnispädagogen.

Denn die Erlebnispädagogik ist auch an Hochschulen und Universitäten eine Selbstverständlichkeit geworden. Von Kiel bis Benediktbeuern werden erlebnispädagogische Fort-und Weiterbildungen mit Hochschulzertifikat angeboten. Eine wachsende Zahl von Hochschullehrern ist in Praxis und Theorie der Erlebnispädagogik zu Hause und bildet ein dichtes Netzwerk im deutschsprachigen Raum. Dementsprechend wächst auch die Zahl der Lehrveranstaltungen, der Bachelor- und Masterarbeiten, der Dissertationen und der qualitativen und quantitativen Forschungsbemühungen. 2017 wurde bei erlebnistage Vogelsberg die „Fachbibliothek Erlebnispädagogik“ (www.erlebnistage.de/hochschulen/fachbibliothek.html) eröffnet. Sie ist mit Buchpublikationen, Abschlussarbeiten, Fachzeitschriften, Filmen, grauer Literatur und Materialsammlungen die größte Bibliothek zu diesem Thema im deutschsprachigen Raum. 2018 wurde das erste „Handbuch Erlebnispädagogik“ veröffentlicht (Michl, Seidel 2018).

Viele dieser positiven Entwicklungen lassen hoffen, dennoch müssen wir die Bedenkenträger spielen. Die wachsende Bürokratie, die ISO-Normen und ihre Gralswächter könnten die Innovationskraft des erlebnisorientierten Lernens einschränken. Berechtigterweise war z. B. Sicherheit ein zentrales Anliegen von Erlebnispädagogik und Outdoor-Training. Einige Verbände und Träger haben komplexe und bis ins Detail geregelte Sicherheitsstandards geschaffen, die fast den Umfang dieses Buches haben. Wer das endlich beherrscht und sich daran hält, ist so erschöpft, dass Mut und Kraft fehlen könnten für Entdeckungen, Experimente und Entwicklungen.

Lohnt es sich denn, diese 8. Auflage zu kaufen? Ja, denn wir haben in den 25 Jahren seit dem Erscheinen der 1. Auflage noch nie so viele Textstellen gestrichen, ergänzt und aktualisiert. Zwei Kapitel haben wir ganz entfernt: Kapitel 2.8 Die internationale Entwicklung – Standards, Thesen, Trends und Kapitel 6.3 Wucherungen: Die Erlebnispädagogik boomt nicht mehr, sie wuchert. Wir haben unsere Definition überdacht, die aktuelle Literatur gesichtet, nicht nur die der Erlebnispädagogik, sondern auch der Lernforschung und der Sozialwissenschaften. Wir schätzen, dass sich mindestens 25 Prozent des Inhalts verändert hat. Aus der 7. Auflage darf man nur mehr aus historischen Gründen zitieren.

Kritische Leserinnen und Leser werden anmerken, dass wir immer die männliche Schreibweise verwenden. Das ist richtig. Wir haben auf das große „I“ verzichtet, den „/in“ nicht verwendet und das aktuelle „*“ ignoriert. Wir glauben erstens, dass diese Schreibformen leseunfreundlich sind und betonen zweitens, dass wir dabei immer die weibliche Seite mitgedacht und einbezogen haben.

Ein großes Dankeschön geht an Dr. Ulrich Dettweiler, Michael Herrmann, Dr. Jule Hildmann, Matthias Mokros, Holger Seidel und Gábor Timur Szabó. Sie haben uns beraten und waren immer offene und anregende Ansprechpartner.

Bernd Heckmair und Werner Michl

München und Berg, im Mai 2018

1Rückblicke:
Von Rousseau zur Risikogesellschaft

„Die Illusion kann man nicht essen“, sagte seine Frau. „Aber sie ernährt“, erwiderte der Oberst.

Gabriel Garcia Marquez,

Der Oberst hat niemand, der ihm schreibt.

 

Geschichtsschreibung ist immer ein Konstrukt. Eine Geschichte der Philosophie, der Psychologie oder der Pädagogik ist schon eine fragwürdige Sache, eine Geschichte der Erlebnispädagogik umso mehr. Unser Unterfangen gleicht also eher einer Spurensuche als einer systematischen Analyse, sowohl bei den Ideen als auch bei den Idolen. Wegbereiter, Wissenschaftler und Wandervögel stehen am Treppengeländer der erlebnispädagogischen Geschichte: Platon, Johann H. Pestalozzi und Karl Popper werden in der Fachliteratur ins Feld geführt, zwischen Rousseau und Thoreau haben wir den Bogen gespannt, William James und John Dewey werden in der deutschsprachigen Pädagogik wieder entdeckt, und mit Minna Specht rückt endlich eine bedeutende, lang vergessene Frau ins Blickfeld. Wir versuchen diesen Entwicklungen gerecht zu werden, ohne die Liste der Vordenker ins Unverbindliche zu erweitern. So konzentrieren wir uns also auf vier Männer und eine Frau:

  Jean-Jacques Rousseau, der fulminante Theoretiker, der sich seines eigenen pädagogischen Auftrags so jämmerlich entzog.

  David Henry Thoreau, der Unabhängigkeit, Freiheit, Einfachheit und Einsamkeit in einer Blockhütte am Walden-See suchte.

  John Dewey, der von William James inspirierte Pragmatiker und Pädagoge, beeinflusste nachhaltig die deutsche Pädagogik (Georg Kerschensteiner: „Schule der Tüchtigkeit“ und Hugo Gaudig: „Was der Tag mir brachte“) und wird zu Recht derzeit wieder entdeckt.

  Minna Specht, bekennende Sozialistin, Leiterin der Odenwaldschule, die zusammen mit Kurt Hahn die Leitlinien von Outward Bound Deutschland schuf

  und schließlich Kurt Hahn, der den Begriff der Erlebnistherapie prägte und damit als Urvater der Erlebnispädagogik gilt, dessen Ideen um die ganze Welt gingen und nachhaltig auch die Praxis der deutschen Pädagogik beeinflussten.

1.1  Die Entdeckung der Einsamkeit und der Einfachheit – J.-J. Rousseau und D. H. Thoreau als Vordenker der Erlebnispädagogik

Ist es ein Zufall, dass Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), der Bewunderer der Natur und der Prediger der Einfachheit, ein heimatloser Gesellschafts- und Lebemensch war, sich in Kabaretts, Kneipen und Kasinos herumtrieb, während er sich nach Vaterland, Freiheit, Geborgenheit und dem natürlichen Leben sehnte? Ein Tiefenpsychologe könnte hinter dieser Sehnsucht den frühen Verlust elterlicher Bindungen vermuten. Rousseaus Mutter stirbt bald nach seiner Geburt, sein Vater kümmert sich kaum um ihn. Mit 16 Jahren verlässt er seine Vaterstadt Genf und zieht in die Welt, so, als gäbe es überall etwas Besseres als den Tod zu finden. Ein unstetes, sprunghaftes Leben beginnt, in dem gleichsam zwei Zeitalter aufeinander prallen. Die Aufklärung erfährt durch Rousseaus Ideen einen ersten Bruch, und die Romantik nimmt dieser „egozentrischste Denker in der Philosophie“ (Weischedel 1974, 192) vorweg. Turin, Venedig, Dijon, Paris und die Provinz sind die wichtigsten Stationen seines rastlosen Weges; Schreiberlehrling, Handwerker, Priesterkandidat, Musiklehrer, Erzieher nur einige seiner ausgeübten Berufe. Immer war er Egozentriker. Sich selbst zu erkennen bedeutete für ihn Erkenntnis der Welt. Daher hat er in seinen „Bekenntnissen“ wie in einer Psychoanalyse sein Innerstes schonungslos dargelegt. Hinwendung zum Individuum, horchen auf die inneren Empfindungen – tiefer als alle Vernunft ist die Sprache der Natur, die es zu verstehen gilt. Das ist der Abgesang auf die Aufklärung: Der berühmte Satz von René Descartes „ich denke, also bin ich“ wird zu „ich erlebe, also bin ich“.

Rousseaus Denken zeichnet sich, wie sein Lebensstil, durch Sprunghaftigkeit und Intuition aus. Er versinkt in Tagträumereien, lässt den Sommertag vorbeistreichen und genießt die schöpferische Pause. Dann wieder ergreifen ihn Ideen und Eingebungen mit solcher Macht, dass er wie in Trance taumelt, den Tränen und dem Wahnsinn nahe. Auch hier spüren wir das romantische Ideal des Genies. Die 1749 von der Akademie in Dijon gestellte Frage, ob „der Fortschritt der Wissenschaften und Künste zur Veredelung der Sitten beigetragen habe“, versetzt ihn in einen solchen traumwandlerischen Zustand. Es ist seine Lebens- und Schicksalsfrage. Er beantwortet sie mit Verve und Wortgewalt, gewinnt damit den Preis der Akademie und wird über Nacht berühmt. Indem er unerwarteterweise diese Frage verneint, wirft er den Philosophen, Denkern, Intellektuellen und Wissenschaftlern seiner Zeit – Voltaire, Diderot, d’Alembert – den Fehdehandschuh hin.

Während die Kluft zu den berühmten Denkern seiner Zeit immer größer wird, fällt sein Appell des „zurück zur Natur“ – Worte, die Rousseau so nie verwendet hat, die aber wohl die Quintessenz seines Werkes sind – bei Hofe auf fruchtbaren Boden. 1762 erscheinen seine beiden Hauptwerke „Contrat social“ (Der Gesellschaftsvertrag) und „Émile“ (Emil). Sie bilden die Summe seines politischen und pädagogischen Denkens und passen zusammen wie Schlüssel und Schloss. Die Rousseausche Staats- und Gesellschaftsphilosophie setzt den neuen Menschen voraus. Dazu braucht sie die enge Liaison zwischen Pädagogik und Politik. Die Suche nach dem besten Staat, diese notwendige und doch vergebliche Utopie von Platon bis Popper, kommt immer wieder auf die Erziehung des Menschen zurück und fordert, den in dieser Utopie funktionierenden Menschen zu schaffen.

Die Erschaffung einer Welt in Freiheit kann durch den Gesellschaftsvertrag gelingen. Wer sich dem Gemeinwillen (volonté général) aus freiem Willen unterordnet, gibt zwar seine natürliche Freiheit auf, gewinnt dadurch aber die rechtliche Freiheit, den Schutz und die Geborgenheit der Gemeinschaft. Das Volk ist Souverän und gibt sich seine eigenen, von allen akzeptierten Gesetze. Herrschaft beruht bei Rousseau auf Übereinkunft.

Eine solche Verschmelzung von persönlicher und staatlicher Freiheit braucht den neuen Menschen, wie ihn Rousseau in „Émile“ beschreibt. Wer diesen Roman „… über die Erziehung“ mit den Augen des Erlebnispädagogen liest, wird einige erstaunliche und aktuelle Parallelen zutage fördern. Die Renaissance Rousseaus – 1969 stand sie durch Alexander Neill (1969) und Summerhill und die Hochkonjunktur der antiautoritären Erziehung kurz bevor – und seine Entdeckung als Vordenker der Erlebnispädagogik sind angesagt. Lesen wir diesen berühmten Roman nicht nur als Pädagogen, sondern mit den Augen der Praktiker und Theoretiker der Erlebnispädagogik!

„Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt, alles entartet unter den Händen des Menschen“ (Rousseau 1975, 9) lautet der berühmte erste Satz des „Émile“. Rousseau nimmt damit die romantische Bewertung der Natur vorweg und leitet so zu einem politisch gefährlichen Verhaltensprogramm an: Wer sich rückwärts wendet, die Einfachheit sucht, nach dem Ursprung ausschaut, die Sprache der Natur verstehen lernt, nähert sich dem Guten. Weder der Staatsbürger noch der Gesellschaftsmensch ist das Erziehungsideal Rousseaus. Sein Ziel ist die Erziehung ohne Erzieher, eine Minimalerziehung, die durch die natürliche Strafe, d. h. die negativen Folgen von unpassenden Handlungen, zum freien Menschen führt. Das Bild der Pflanze, die gepflegt und gehegt, geschützt und gedüngt werden muss, ist Metapher für Rousseaus Vorstellung von Erziehung, die in gleicher Symbolik in der deutschen Reformpädagogik wieder aufgegriffen wird.

Drei Dinge erziehen uns, und die Reihenfolge der Erwähnung zeigt ihre Bedeutung an: „Die Natur oder die Dinge oder die Menschen“ (S. 10). Nur die dritte Form der Erziehung ist durch den Erzieher beeinflussbar, aber auch diese soll nach Rousseau nur dazu dienen, die Erziehung durch die Natur und durch die Dinge zu ermöglichen. Die Erziehung durch den Menschen hat bei Rousseau als einziges Ziel, die Erziehungsgewalt der Natur und der Dinge zu stärken und negative Einflüsse darauf zu verhüten. Der Lauf der Natur und der Dinge wird sich fast gesetzesmäßig seine Bahn brechen, wenn er nicht durch Gesellschaft, Wissenschaft, Kunst und Zivilisation daran gehindert wird. Der Erzieher soll verhindern, dass etwas getan wird. Er ist somit der Anwalt der natürlichen Bedürfnisse des Kindes.

„Leben ist handeln“ oder „Learning by Doing“. „Leben ist nicht atmen, leben ist handeln“ (S. 15). Und: „Man wird gut, indem man das Gute tut. Beschäftigt euren Zögling mit allen guten Handlungen, die seinen Kräften angemessen sind“ (zit. nach: Blättner 1968, 107). Emile soll sein Wissen nur durch eigene Erfahrungen erwerben, er lernt aus der Sache selbst, nicht durch die Belehrungen seines Erziehers. Als Kind erforscht Emile seine Umwelt und die Natur, und davon lernt er, als Knabe und Jüngling durch Handwerk und Arbeit. Emile soll nichts durch die Wissenschaften erfahren, sondern sie dann erfinden, wenn er sie braucht. „Anstatt das Kind an Bücher zu fesseln, beschäftige ich es in einer Werkstatt, wo seine Hände zum Nutzen des Geistes arbeiten; es wird Philosoph und glaubt, nur ein Arbeiter zu sein“ (S. 104).

Rousseau setzt ein Bedürfnis nach Bewegung voraus, einen Tätigkeitsdrang: „Erst durch Bewegung lernen wir, daß es Dinge gibt, die nicht wir sind. Durch unsere eigene Bewegung gelangen wir zum Begriff der Ausdehnung“ (Rousseau 1975, 41). Die Geborgenheit der Mutter, Liebe, Partnerschaft, die Einbindung in die Natur sind zentripetale Kräfte, Neugier, Bewegungs- und Tätigkeitsdrang ihr zentrifugaler Widersacher. Wer zwischen beiden Polen pendelt, gewinnt eine Vorstellung von der Welt, gewinnt Identifikation, weil er die Grenzen spürt zwischen Ich und Nicht-Ich.

Reden, Belehrungen, Bücher lehnt Rousseau zunächst ab. Angeblich hasst er Bücher, um sich mitzuteilen braucht er aber doch dieses Medium. Emile soll schließlich doch ein Buch lesen, weil dieses Buch Rousseaus Wunsch erfüllt und weiterentwickelt hat: „Wenn man eine Situation erfinden könnte, wo alle natürlichen Bedürfnisse der Menschen sich in einer für den kindlichen Geist begreiflichen Weise darstellen und wo die Mittel, sie zu befriedigen, leicht erkennbar wären, so müßte man seine Einbildungskraft lebhaft damit beschäftigen.“ Ein Buch hat diese Situation vorweggenommen, und Emil wird sich längere Zeit damit beschäftigen: Robinson Crusoe.

Handlung, Erfahrung und Erlebnis empfiehlt Rousseau auch als Unterrichtsprinzip: „Und denkt daran (die Lehrer; die Verf.), daß ihr in allen Fächern mehr durch Handlungen als durch Worte belehren müßt. Denn Kinder vergessen leicht was sie gesagt haben und was man ihnen gesagt hat, aber nicht, was sie getan haben und was man ihnen tat“ (S. 80). Der Knabe soll die natürlichen Folgen seiner Handlungen am eigenen Leib erfahren. Wenn er die Fensterscheibe zerbricht, so mag der kalte Wind Tag und Nacht hereinblasen und das Kind sich eine Erkältung holen, „denn es ist besser, daß es verschnupft, als närrisch wird“ (S. 80).

Leben heißt Erleben. Die Erziehung der Aufklärung bestand aus Förderung der Vernunft, Lernen im Unterricht, Erwerb des Wissens, Training der Denkfunktionen. Rousseau erkennt, dass zur menschlichen Existenz mehr gehört: Erfahrung durch die Sinne und den Körper, Sensibilität für inneres Empfinden, Gewahrwerden der Gefühle. Nicht der Wissenschaftler ist sein Erziehungsziel, sondern jener Mensch, „der die Freuden und Leiden dieses Lebens am besten zu ertragen vermag“ (S. 15). Rousseau geht es darum, die Freude am Leben zu lehren: „Nicht wer am ältesten wird, hat am längsten gelebt, sondern wer am stärksten erlebt hat. Mancher wird mit hundert Jahren begraben, der bei seiner Geburt gestorben war. Es wäre ein Gewinn gewesen, wenn er als Kind gestorben wäre, wenn er wenigstens bis dahin gelebt hätte“ (S. 16). Eine noch heute verblüffende und radikale Aussage, doch wer bestimmt, wer was am stärksten erlebt hat?

Der Gentechniker Erwin Chargaff (1988, 40) hatte diese Worte Rousseaus wohl nicht gekannt, als er äußerte: „Sie müssen ja bedenken, was allein die Menschheit dadurch verliert, daß im Durchschnitt jeder Mensch des Westens drei Stunden am Tag durch das Fernsehen amputiert bekommt. Was das bedeutet: im Monat, im Jahr, in der Lebenszeit. Insofern kann man ungefähr sagen: Die Menschen werden gar nicht so alt, sie vegetieren so alt und diese Zeit muß man abziehen von ihrer Lebensdauer, um ihre wirkliche Lebensdauer zu kriegen.“

Es ist ein in diesem Zeitalter der Aufklärung unbekanntes Lebensgefühl, das in den Worten Rousseaus mitschwingt. Das Gefühl ist das Ursprüngliche im Menschen und nicht der Verstand, so philosophiert Rousseau gegen den Zeitgeist. Wer wie Rousseau von der Selbstliebe als angeborenem Trieb ausgeht, der will es sich gut gehen lassen, will die Welt genießen, will alles erleben, was im Diesseits möglich ist: „Leid, stirb oder werde gesund. Vor allem aber leb bis zu Deiner letzten Stunde“ (Rousseau 1975, 59).

Unmittelbares Erleben durch die Sinne. Die Welt wird nicht durch Sprache und Vernunft erlebt und erfahren, sondern durch die Sinne. Wir werden mit Empfindungen geboren und erforschen die Welt mit unseren Sinnesorganen, mit Händen, Augen, Ohren, Nase und Zunge. Erstrebenswerte Gegenstände werden aufgesucht, andere werden vermieden. Erst daraus werden Urteile, Maßstäbe, Vorstellungen, Ideen und letztlich Moral und Sittlichkeit entwickelt.

Durch das unmittelbare sinnliche Erlebnis folgt das Kind seinen wahren Bedürfnissen, die von der Natur vorgezeichnet sind. Der Erzieher soll vermeiden, dass Lernprozess und Lernfeld gestört werden, er soll Emile dazu bringen, die Sinne in rechter Weise zu gebrauchen, denn die „Empfindungen sind die ersten Bausteine seiner Erkenntnisse. … Das Kind will alles berühren, alles anfassen. Verhindert diese Unruhe nicht. … Es lernt Wärme, Kälte, Härte, Weichheit, Schwere, Leichtigkeit der Körper kennen und Größe, Gestalt und alle anderen Eigenschaften beurteilen, indem es sie betrachtet, befühlt, belauscht“ (S. 41).

Handeln in freier Natur, statt Wissen aus Büchern zu erwerben, eigene Erfahrungen sammeln, statt Erfahrungen anderer übernehmen, den Augenblick packen – Erlebnis und Unmittelbarkeit tragen als die zwei wichtigsten Säulen die Erziehungsutopie Rousseaus: „Man muß sich mit der Gefahr selbst vertraut machen, um zu lernen, sie nicht mehr zu fürchten“ (S. 119).

Leitlinien Rousseauscher Pädagogik. Die Rousseausche Philosophie hat den Boden für die Französische Revolution bereitet, seine pädagogischen Ideen haben uns einige Entdeckungen beschert, mit denen Rousseau seiner Zeit weit voraus war.

Der Egozentriker Rousseau sah sich und jeden Menschen als Prinzip des Lebens. Er strebte für sich und alle Menschen Glück, Zufriedenheit und Selbstverwirklichung an und forderte ein Recht des Kindes auf sein Eigenleben. „Da spielen Lausbuben im Schnee, blau, verfroren und mit klammen Fingern. Sie könnten sich wärmen gehen, aber sie tun es nicht.Zwingt man sie dazu, so empfinden sie den Zwang hundertmal mehr als die Kälte“ (S. 65). Das Kind braucht Zeit und Zurückgezogenheit um reifen zu können, Erziehung gelingt nicht ohne Muße. Die Kindheit, so Rousseau an anderer Stelle (S. 89), „ist der Schlaf der Vernunft“, aus dem das Kind nicht zu früh geweckt werden darf. Wenn Nichtstun mit Glücklichsein einhergeht, so ist das Grund genug für den Erzieher, nicht einzugreifen und seine „negative“ Erziehung als Erfolg zu betrachten.

Rousseau entdeckt die Lebensphase der Kindheit, aber die kindliche Seele zu verstehen ist nahezu unmöglich. Jeder Mensch ist ein eigener Kosmos: „Keiner von uns ist Philosoph genug, um sich ganz in ein Kind hineinzuversetzen“ (S. 99). Alle Phasen der Entwicklung müssen durchlebt, erlebt, vollendet werden, damit das Kind zum Menschen reifen kann. Das Kind vergleicht Rousseau mit einem jungen Wilden (S. 117), der sich ausleben muss. Klettern, springen, kriechen, laufen soll Emile lernen.

Der Verhaltensforscher Leyhausen (1968, 66) vertritt die Ansicht, „daß sehr viele Kinder zu guten und brauchbaren Menschen heranwachsen, nicht wegen, sondern trotz der Erziehung, die sie genießen“. Da spricht die Stimme des Volkes! Wir hoffen, dass Leyhausen weiß, was gute und brauchbare Menschen sind. Seine Definition von Erziehung scheint ebenfalls sehr begrenzt zu sein. An diesen Grundfesten der Pädagogik hat Rousseau im „Émile“ auch gerüttelt. Der Anwalt des Kindes tut zwar wenig, aber sein Bestes, wenn er das Umfeld des Kindes von Störungen freihält. Die Erziehung ergibt sich nach dem teleologischen Prinzip der Natur und der Dinge: Die Ziele der Erziehung werden nicht durch den Menschen gesetzt, sondern sind von der Natur vorgegeben. Das Kind erzieht sich scheinbar selbst. Auch ist es unter Altersgenossen viel besser aufgehoben und lernt mehr in der wilden Horde der Kinderspielgruppe als im stillen Klassenzimmer.

Rousseau hat auch den Tiefenpsychologen den Weg geöffnet, als er sich auf die Suche nach den echten Bedürfnissen und nach den Gefühlen begab. Als Rousseau die Bedürfnisse der Geborgenheit, der Nahrung und der Sexualität entdeckte und formulierte, kommentierte dies Voltaire mit dem Satz, dass er wenig Lust hätte, auf allen vieren zu kriechen. Diese natürlichen Bedürfnisse aber müssen nach Rousseau in den Phasen der Kindheit erlebt werden, um dann zu den echten Bedürfnissen vordringen zu können, die im sittlich-religiösen Bereich liegen.

Fassen wir zusammen! Rousseau postuliert ein Eigenrecht auf die Lebensphase Kindheit. Erlebnis, Erfahrung und Abenteuer sind notwendige Lernprinzipien. Das unmittelbare Lernen über die Sinne und nicht belehren und unterrichten entspricht der Lebenswelt des Kindes. Wer handelt, lernt besser und mehr, und wer gut handelt, wird ein guter Mensch, so die einfache Logik Rousseaus. Die eigene Befindlichkeit, Zufriedenheit und Glück und die Fähigkeit, die Freuden und Leiden des Lebens zu ertragen, sind Rousseaus Maßstab von guter Erziehung. Damit hat er die Grundmauern zum Gedankengebäude der Erlebnispädagogik errichtet, 100 Jahre später hat dann David Henry Thoreau diese Arbeit weitergeführt.

David Henry Thoreau: Nicht reden über Handeln, sondern reden und handeln

Wie bei Rousseau ist auch Thoreaus Denken zutiefst moralisch begründet, stellt doch die Erziehungslehre Rousseaus bzw. die Lebenskunst Thoreaus nur die Kehrseite einer Medaille dar. Auf ihrer anderen Seite befindet sich der Ungehorsam und das Leiden am ungerechten Staat und die entsprechende Lehre vom gerechten Staat. Im Falle Thoreaus ist der gerechte Staat der nicht vorhandene.

Die Natur ist die große Erzieherin und Lehrmeisterin. Während Rousseau im „Émile“ die Erziehung durch die Natur, die Dinge und den Menschen sozusagen am Reißbrett entwirft, liefert Thoreau ein praktisches Beispiel der Lebenskunst. Am 4. Juli 1845, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, zieht er in eine selbst gebaute Hütte am Walden-See in der Nähe seiner Heimatstadt Concord. Das Evangelium der Einfachheit und Einsamkeit ist aber kein romantischer Rückzug in die Natur, sondern baut auf einem durchaus komplexen Gedankengebäude auf, das zu einem nicht geringen Teil durch die besondere historische und persönliche Situation von Thoreau zu erklären ist. Zweieinhalb Jahre später beendet Thoreau sein Walden-Experiment und verdingt sich als Hilfskraft im Hause des Philosophen Ralph Waldo Emerson. Wer hinter Walden einen romantischen Rückzug vermutet, wird von Thoreau und seinen Biographen eines Besseren belehrt. Das „Leben in den Wäldern“ stellt ein psychologisches Experiment dar, eine durchaus komplexe Reduktion, eine radikale Auseinandersetzung mit dem „American Dream“. Es ist der philosophische und praktische Gegenentwurf dazu. Nichts ist dem Zufall überlassen. Dass dieses Experiment zufällig am 4. Juli beginnt, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, wie Thoreau dem unbedarften Leser suggeriert, kann bei dem Autor des Pamphlets „Über den zivilen Ungehorsam …“ ausgeschlossen werden. Den Leser in Widersprüche zu verwickeln und in Fallen zu locken, ist vielmehr als Methode Thoreaus zu verstehen.

Die Grundmotive, Grundfragen und Hypothesen für das „Walden“-Experiment lauten: Wie erlangt man wirkliche Freiheit? Ist der Sieg des Menschen über die Natur nicht ein Pyrrhussieg? Was sind die eigentlichen Lebensbedürfnisse? Das Wunder des Kosmos ist in der kleinsten Naturerscheinung gegenwärtig und erfahrbar. Die Natur vermittelt eine spirituelle Botschaft, die hinter den materiellen Erscheinungen verborgen ist. Erforsche die Natur, erkenne dich selbst, und du erkennst Gott – das sind drei Variationen des gleichen Themas.

Schließlich ist Walden auch ein ökonomisches Experiment. Thoreau will beweisen, dass durch Reduktion von unnötigen Bedürfnissen mit wenig Geld eine einfache und solide Lebensgrundlage aufgebaut und erhalten werden kann.

Das Walden-Experiment spiegelt die äußere Distanz von Thoreau gegenüber dem „American way of life“ wider und korreliert mit der inneren Distanz seines Denkens. Der Geist des Amerika der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war geprägt von Aufbruchstimmung und Naturbeherrschung, von Technik und Industrialisierung, von Naturwissenschaft und Fortschritt, von Expansion und Eroberung. Thoreau bleibt der große Skeptiker.

Thoreau gilt als der Vater der Ökologiebewegung, als Mentor des zivilen Ungehorsams, als Lehrer der Einfachheit und Einsamkeit, als genauer Beobachter der Natur, als Naturphilosoph, Poet und Prophet. Seine Entdeckung als Urvater der Erlebnispädagogik steht noch aus.

Es war ein kurzes Leben, gebunden an seine Heimatstadt Concord. Nur wenige Reisen führen Thoreau aus Massachusetts hinaus. Aber er bereut sie. Die Erinnerung an die Erkrankung bleibt stärker haften als die Erinnerung an die Erlebnisse der Reisen: „Alles was ich auf meiner Reise nach Kanada bekam, war eine Erkältung“ (Klumpjahn/Klumpjahn 1986, 26). Reisen mag bilden, aber es ist nicht die Voraussetzung für Bildung. Immanuel Kant, der wohl bedeutendste deutsche Philosoph, hat seine Heimatstadt Königsberg nie verlassen. Obwohl Thoreau Tausende von Seiten mit Tagebuchnotizen vollgeschrieben hat, sind es nur die Erlebnisse einer Nacht im Gefängnis, die er wegen Steuerhinterziehung verbüßen musste, und die zweieinhalb Jahre Einsamkeit am Walden-See, die immer wieder durch lange Spaziergänge nach Concord unterbrochen wurden, die unser Bild von Thoreau prägen und die den Inhalt seiner zwei bedeutendsten Bücher bilden. Aber verfolgen wir den Lebensweg Thoreaus!

In Concord geboren, in Concord gestorben. 1817 wird Thoreau in Concord/Mass. geboren. Nach dem Studium an der Harvard University gründet er 1838 eine Privatschule. Nur selten verlässt er seine Heimatstadt; von seinen Reisen kehrt er gerne zurück. Mit seinem Bruder John, der auch an der Schule unterrichtet, unternimmt er eine zweiwöchige Flussfahrt an den Flüssen Concord und Merrimack. Eine weitere Reise nach Kanada im Jahr 1850 und ein Ausflug in die Wildnis von Maine, 1857, führen ihn aus seiner Heimatstadt Concord heraus. 1841 wird die Thoreausche Privatschule wegen der Erkrankung von John geschlossen. Ein Jahr später stirbt sein Bruder John Thoreau, was David Henry in eine schwere Depression führt. Seine Stelle als Tutor auf Staten Island bei New York verliert er, weil er sich weigert, die Prügelstrafe an sechs Schülern zu vollziehen, und ihnen stattdessen einen symbolischen Klaps gibt. Im Juli 1845 zieht er in seine selbst gebaute Blockhütte am Walden-See, der einige Fußstunden entfernt von seiner Heimatstadt liegt. Dieser Rückzug in die Natur ist ein Experiment im mehrfachen Sinn: eine Selbstheilung, eine ars moriendi, ein Gegenentwurf zur herrschenden Gesellschaftsphilosophie, der dann später, neben dem Marxismus, zur zweiten klassischen Protestform des 19. Jahrhunderts wurde.

Zweieinhalb Jahre später beendet er das „Walden“-Experiment und verdingt sich als Hilfskraft im Hause des Freundes und Philosophen Ralph Waldo Emerson. Wegen Steuerverweigerung muss er 1846 eine Nacht im Gefängnis verbringen. Dieses Erlebnis ist Grundlage zu einer zweiten berühmten Schrift neben „Walden“. Erstmals veröffentlichte er diese Gedanken 1848 in dem Essay „Widerstand gegen die Staatsregierung“. Ab 1850 ist er als Landvermesser tätig. Er hält Vorträge über seine Lebensthemen und entwickelt sich allmählich zum entschiedenen und später fast militanten Gegner der Sklaverei. 1858 trifft er John Brown, den Führer der Anti-Sklaverei-Bewegung, der vor Gewalt nicht zurückschreckt. Ein Jahr später wird John Brown hingerichtet. Thoreau verteidigt Browns Überfall, der einen Sklavenaufstand auslösen sollte, schreibt John Brown eine charismatische Persönlichkeit zu und vergleicht ihn mit Jesus Christus. Wenig später stellt Thoreau seine Aktivitäten ein, hält keine Vorträge mehr und beendet 1861 seine Tagebucheintragungen. Am 6. Mai 1862 stirbt David Henry Thoreau im Alter von 44 Jahren an einem Lungenleiden.

Unmittelbarkeit als Prinzip. Das immer wieder aufgesuchte Ziel Thoreaus war die ursprüngliche und unmittelbare Hinwendung zum Leben ohne Mittler. Er beklagte den Verlust der Unmittelbarkeit durch den herrschenden Zeitgeist, durch Luxus, Bequemlichkeit, Mode, Zivilisation und Technik. Er suchte nach den ursprünglichen Bedürfnissen des Menschen und versuchte in seiner Blockhütte am Walden-See ein bedürfnisloses Leben zu führen, um zum eigentlich Wichtigen vorzustoßen. Alles andere, wie Mode, ist überflüssige Einbildung: „Der Oberaffe in Paris setzt eine Reisemütze auf, und alle Affen in Amerika tun das gleiche“ (Thoreau 1971, 36). Luxus ist ein Hindernis auf dem Weg zur Erkenntnis: „Das meiste von dem, was man unter den Namen Luxus zusammenfaßt, und viele der sogenannten Bequemlichkeiten des Lebens sind nicht nur zu entbehren, sondern geradezu Hindernisse für den Aufstieg des Menschengeschlechts“ (S. 26).

Dieser Meinung war übrigens auch J.-J. Rousseau, als er sich bei der Preisfrage der Akademie von Dijon, ob der Fortschritt der Künste und Wissenschaften dazu beigetragen hat, die Sitten zu verderben oder zu reinigen, geist- und wortreich für die erstgenannte Möglichkeit entschied. Auch der technische Fortschritt ist allemal dahingehend zu hinterfragen, ob er ein Fortschritt für die Menschheit bedeutet: „Wir beeilen uns stark, einen magnetischen Telegraphen zwischen Maine und Texas zu konstruieren, aber Maine und Texas haben möglicherweise gar nichts Wichtiges zu besprechen“ (S. 61).

Thoreau wählt also für zweieinhalb Jahre die freiwillige Armut und die Einsamkeit der Wälder des Waldensees, lebt das Leben eines Philosophen, Heiligen und Einsiedlers, um der Wirklichkeit näher zu kommen. „Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen wirklichen Leben näherzutreten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hatte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müßte, daß ich nicht gelebt hatte“ (S. 184). Er suchte, nebenbei gesagt, neben diesem eigentlichen Leben am Walden-See regelmäßig einmal pro Woche das nahe gelegene Städtchen Lincoln auf, um dort Vorträge zu halten. Auch das gellende Pfeifen der Eisenbahn stellte für Thoreau keine Störung dar, sondern eine durchaus angenehme Erinnerung an die Zivilisation. Eine summende Telegrafenleitung, die er Windharfe nannte, versetzte ihn in Trance. Trotzdem, vom wirklichen Leben hat Thoreau durchaus eine Ahnung und eine Vorstellung, ebenso wie der von ihm bewunderte Pfarrer und Philosoph Ralph Waldo Emerson, die er erfahrbar machen will durch sein Experiment. Was R. W. Emerson in seinem Aufsatz „Nature“ durchdacht hatte und womit er den Neuengland-Transzendentalismus begründete, wollte Thoreau an sich erleben und erfahren. Thoreaus Philosophie brauchte nicht bis zur Weltrevolution getrieben werden, sie war heute oder morgen oder übermorgen, jedenfalls so bald wie möglich, in den Wäldern, in der Natur, verwirklichbar.

Der Neuengland-Transzendentalismus. Emerson war der Hauptvertreter des amerikanischen Transzendentalismus, dessen Grundgedanken auf die deutsche Philosophie des Idealismus zurückgehen. Thoreau setzt dieses Denkgebäude in die Praxis um und baut dadurch sein Fundament. Entgegen der herrschenden Naturwissenschaft gibt es, so Emerson und Thoreau, keine Trennung in Subjekt Mensch und Objekt Natur. Wer die Natur erforscht, erkennt sich selbst und letztlich den göttlichen Urgrund. Die Natur ist mehr als materielle Erscheinung, in ihr offenbart sich der immaterielle Seinsgrund. Die Natur besitzt heilende Kraft, ist für die Transzendentalisten ein erlösendes Sakrament. Auch Thoreau verklärt zunächst die Natur, sieht z. B. die Indianer als ideale Naturmenschen. Aber bald korrigiert er sich, sein Pragmatismus, sein logischer Verstand, seine Skepsis, sein Realitätssinn lassen Verklärungen nicht zu: Er ist Transzendentalist und Naturforscher, Philosoph und Pragmatiker, Aufklärer mit Achtung vor der Natur. Sein Innenleben und die Einflüsse der Naturerlebnisse darauf beobachtet er genauso akribisch wie den Flug des Nachtfalken oder das Verhalten der gestreiften Eule im Winter.

Der Walden-See fordert Thoreau als Poeten: „Die Ufer sind die Lippen des Sees, auf welchen kein Bart wächst. Er leckt sie von Zeit zu Zeit ab“ (S.184) und Pragmatiker heraus: „Es ist merkwürdig, wie lange die Menschen an die bodenlose Tiefe eines Sees zu glauben pflegen, ohne sich die Mühe zu machen, ihn zu messen … Ich nahm die Tiefenmessung mühelos mit Bindfaden und einem ungefähr anderthalb Pfund schweren Stein vor, dabei konnte ich genau sagen, wann der Stein den Grund verließ, weil ich dann um so fester anziehen mußte, ehe das Wasser darunterfloß, mir zu helfen.“ (S. 280) Er entzauberte die Natur als Aufklärer und verzauberte sie wieder als Poet. Die äußere Distanz Thoreaus von der Zivilisation korrespondiert mit seiner Ergriffenheit und oft auch inneren Distanz bei der Betrachtung der Dinge.

In den Augen der Transzendentalisten ist die amerikanische Gesellschaft moralisch krank. Der unnötige Luxus weniger auf Kosten vieler, die Zerstörung der Natur, die Vernichtung der indianischen Kultur, die Sklaverei und die Schnelllebigkeit sind nichts anderes als das Spiegelbild einer zerrütteten Volksseele. Wer Natur zerstört, hat eine gestörte Psyche, so die sehr aktuelle und gefährliche These dieser Philosophen. Der Aufbruchsstimmung Amerikas in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts, dem Glauben an Technik, Naturwissenschaft und Naturbeherrschung, der fortschreitenden Industrialisierung, der Expansion nach dem Westen, der „manifest destiny“, dem Traum von der neuen Zivilisation, dem „American Dream“ setzt Thoreau seine Skepsis entgegen:

  „Während die Zivilisation unsere Häuser verbessert hat, hat sie nicht in gleicher Weise auch die Menschen verbessert, die darin wohnen sollen“ (Klumpjahn/Klumpjahn 1986, 39).

  „Es genügt nicht, fleißig zu sein, das sind ja auch die Ameisen, wozu seid ihr fleißig?“ (S. 61)

  „… daß nur einige wenige mit ihr fahren, der große Rest aber überfahren wird“ (die Eisenbahn; die Verf.) (S. 57).

Das Streben nach Reichtum, auf dem die kapitalistisch-industrielle Wirtschaft baut, setzt nach Thoreau einen psychisch kranken Charakter voraus. Die vermehrten Bedürfnisse, die von der Industrie suggeriert werden, haben zusätzliche Arbeit zur Folge, neuer Wohlstand schafft dann neue Bedürfnisse, neue Bedürfnisse bedeuten noch mehr Arbeit, noch mehr Verschuldung und noch mehr Abhängigkeit. Und schließlich: materielle Güter befriedigen materielle Bedürfnisse, aber wer oder was stillt die geistig-seelischen Bedürfnisse?

Nur solange sich Menschen in solche Abhängigkeiten begeben, sind Staat und Politik notwendig. Der weise Mensch braucht den Staat nicht und lehnt ihn ab.

Die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat. Wenn die Menschen dazu reif sind, und dazu braucht es eine vernünftige, neue Erziehung, dann ist „die beste Regierung … die, welche gar nicht regiert“ (Thoreau 1968, 7). Handeln, hier und heute, fordert Thoreau in seiner Kampfschrift. Thoreau geht es wie allen Staatsphilosophen von Plato bis Popper, von Morus bis Marcuse um den gerechten Staat bzw. um das Leben in Gerechtigkeit: „Ich mache mir das Vergnügen, mir einen Staat vorzustellen, der es sich leisten kann, zu allen Menschen gerecht zu sein, und der das Individuum achtungsvoll als Nachbarn behandelt; einen Staat, der es nicht für unvereinbar mit seiner Stellung hielte, wenn einige ihm fernblieben, sich nicht mit ihm einließen und nicht von ihm einbezogen würden, solange sie nur alle nachbarlichen mitmenschlichen Pflichten erfüllten“ (S. 97).

Thoreau war zeit seines Lebens ein nüchterner Eremit und Einzelgänger. In seinen Schriften spiegelt sich die Entdeckung des Individuums und des Individualismus wider. Soziale Experimente, wie z. B. die nahe von Concord gegründete „Brook-Farm“, die sich gegen Sklaverei, für Vegetarismus und Frauenemanzipation einsetzte und eine urchristliche bzw. urkommunistische Gemeinschaft bildete, lehnte er ab. Gleich eine neue Gemeinschaft schaffen zu wollen, schien ihm als Hybris, denn zuerst musste jeder Einzelne an sich selbst arbeiten. Sowohl die „Brook-Farm“ als kollektivistisches Experiment, als auch Walden als individualistisches sind ökonomisch gescheitert.

Thoreau wollte zunächst Walden als ökonomisches Experiment verstehen: „Es lohnt sich nicht, Eigentum zu erwerben, es würde sehr bald wieder verloren sein. Man muß irgendwo taglöhnen oder pachten, muß eine möglichst kleine Ernte ziehen und sie bald aufessen“ (S. 57). Geld verdirbt den Charakter, aber „die Lebensbedürfnisse der Seele kosten kein Geld“ (Thoreau 1971, 319). Sie kosten doch etwas, wenn auch wenig, das zeigte Thoreaus Experiment. Wie Rousseau, die Frühsozialisten und auch Marx und Engels, sah Thoreau den Ursprung des Verbrechens in der Tatsache des Eigentums: „Ich bin überzeugt, daß Diebstahl und Räuberei unbekannt wären, wenn alle Menschen so einfach lebten wie ich. Diebstähle und Raub kommen nur im Gemeinwesen vor, wo die einen mehr als genügend, die anderen aber nicht genug haben.“ Da mag ein Körnchen Wahrheit dabei sein, aber die Realität hat diese These längst entkräftet. Auch lässt sich das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen. Als Staatsphilosoph, politischer Denker und Ökonom bleibt Thoreau ein Romantiker, den die Wirklichkeit überholt hat, als Pädagoge, Psychologe und Poet ist er immer wieder neu zu entdecken.

Thoreau, der Pädagoge: Von der Erziehung zur Selbsterkenntnis. Thoreau will als Leiter einer Privatschule nicht das große Geld verdienen, sondern seine pädagogischen Ideen und Ideale verwirklichen. Er will Partner der Schüler sein, von ihnen lernen und sie unterstützen. Das Jahrhundert des Kindes, das Ellen Key 1900 ausrief, nimmt er ebenso vorweg wie viele Ideen der Reformpädagogik, die vor ihm freilich schon Jean-Jacques Rousseau gedacht hatte. Vom alltäglichen Geschäft der Erziehung wendet er sich allerdings bald ab und prüft die idealen Voraussetzungen der Erziehung an sich selbst, als er sich darum bemüht, wie ein Kind zu handeln, zu fühlen und zu denken: „Jedes Kind fängt im gewissen Sinn die Welt von vorne an und ist am liebsten im Freien, selbst bei Nässe und Kälte“ (S. 119). Dies ist das Experiment des Lebens, das Thoreau für 21/2 Jahre wagt und das er als Erziehungsmethode fordert: „Ich meine, sie (die Studenten; die Verf.) sollen nicht nur Leben spielen oder dieses bloß studieren, während der Staat sie bei diesem kostspieligen Spiel unterstützt, sondern es in Ernst leben vom Anfang bis zum Ende. Wie sollen junge Leute besser das Leben erlernen können, als indem sie sich sofort am Experiment des Lebens versuchen“ (S. 60).

Immer geht es um Unmittelbarkeit und Augenblick, um eigene Erfahrung, um Lernen durch Versuch und Irrtum, um möglichst reale Situationen. Kindheit ist Wiederholung der Phylogenese, Kinder sollen Jäger und Sammler sein dürfen, sollen ihre eigenen Interessen und Fähigkeiten entdecken können: „Man kann nur den Jungen bemitleiden, der nie eine Flinte losschießen durfte; er ist darum nicht humaner, nein, seine Erziehung wurde schwer vernachlässigt“ (S. 212). Dem Einsiedler, Einzelgänger und Erzieher Thoreau geht es selbstverständlich letztlich darum, dass jeder seinen eigenen Weg findet. Dazu ist der Erzieher da. Seine Zöglinge hat er vor dem Verlust der Kindlichkeit zu bewahren, denn „die Kinder, die das Leben spielen, erfassen seine Gesetze und Beziehungen richtiger als die Erwachsenen, die nicht fertig bringen, es würdig zu leben, sich aber durch Erfahrung, d. h.: das Fehlschlagen ihrer Pläne, für weise halten“ (S. 103). Neben der Natur, an der Erwachsene und Kinder jederzeit und kostenlos lernen können, ist es die städtische Kultur, die ihr Geld und damit ihre Zukunft in die Erziehung investieren sollte. Thoreaus Plädoyer gilt letztlich einer Volkshochschule. Warum sollten nicht die Ideen Abälards oder Platos in Concord gelehrt werden? Bildung ist immer Weltsicht, nicht der Klatsch von Boston oder von Neuengland. Natur und Kultur sind also die großen Erzieher, so Thoreau, der Naturbeobachter. Die großen Geister des 19.Jahrhunderts sollen nach Concord geholt werden, koste es, was es wolle. Die Bildung des Menschen ist wertvoller als alle Gebäude und alle Brücken und Denkmäler von Concord.

Thoreau will den neuen Menschen schaffen: aufrichtig soll er sein, einfach, wahrheitsliebend, vertrauenswürdig und weise. Ein künstlicher Mensch also, genauso wie ihn Rousseau in seinem „Émile“ schaffen wollte. Hehre Ziele, die Thoreau fordert, Ziele, die dazu dienen, über sich selbst hinauszuwachsen. Allein das Bemühen darum erhöht den Menschen, auch wenn das Ziel nicht erreicht wird. Trotzdem: Nach Thoreau bleibt der Mensch, der nicht über sich hinauswachsen will, ein armseliges Wesen.

Thoreau, der Psychologe: „Im Stillen Ozean der Einsamkeit“.Knoll 1986, 84