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Über dieses Buch:

Die schottischen Orkney-Inseln, 2353 vor Christus: Die Adlerleute leben friedlich seit Generationen im Einklang mit der Natur – doch da wird ihre Gemeinschaft von einem Mord erschüttert. Vier Tage nach dem Frühlingsfest wird Sirhus, der Sohn der alten Heilerin, mit eingeschlagenem Schädel aufgefunden. Ihre Schülerin Lasra wird von den Adlerleuten ausgesandt, den Mörder zu finden und den Frieden wiederherzustellen. Schnell stellt sich heraus, dass Sirhus ein dunkles Geheimnis von seinen Reisen in den Süden mitbrachte – und dass die Gefahr, die davon für die Stämme der Inseln ausgeht, immer noch nicht gebannt ist …

Über die Autorin:

Susanne Tschirner, 1959 in Herne geboren, war Lektorin und Übersetzerin und hat zahlreiche Reiseführer geschrieben, u.a. über Schottland und die Orkney-Inseln. Sie lebt mit ihrer Familie in Bonn.

Bei dotbooks erscheint ihre Orkney-Saga über die Heilerin Lasra mit den Einzelbänden »Der Weg der Heilerin« und »Die Prüfung der Heilerin«.

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Aktualisierte eBook-Neuausgabe Februar 2020

Dieses Buch erschien bereits 2006 unter dem Titel »Lasra und das Lied der Steine« bei Rütten & Loening, Berlin

Copyright © der Originalausgabe 2006 Rütten & Loening, Berlin

Copyright © der aktualisierten Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Transia Design, unknown 1861, domnitsky, Lukasz Szwaj

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (CG)

ISBN 978-3-96655-024-6

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Susanne Tschirner

Der Weg der Heilerin

Historischer Roman

dotbooks.

TEIL EINS
Die Adlerleute

Personen der Handlung

Madragena, die Erdfrau und Mutter von Sihrus, sorgt dafür, daß die Adlerleute dem alten Weg treu bleiben.

Sihrus, ihr Sohn, der strahlende Held des Langhüglervolks, ist mit unglaublichen Geschichten von seiner großen Reise ins Südmeer zurückgekehrt.

Adlersohn, der undurchsichtige Schamane der Adlerleute, wird von seinen Sippengeschwistern verehrt, aber nicht geliebt.

Gorg, der bärenhafte Häuptling der Adlerleute, in zweiter Ehe mit der jungen Osi verheiratet, ist ein Meister der Steinbearbeitung und des Taktierens.

Brim, sein Bruder, ein unangenehmer Zeitgenosse, hat als Holzmeister genausowenig Erfolg wie als Liebhaber.

Lasra, eine nicht mehr ganz junge Witwe, geht bei Madragena in die Lehre und fragt den Leuten Löcher in den Bauch.

Füchschen, ihr kleiner Bruder, spürt seinem wahren Namen und den Geheimnissen der Adlerleute nach.

Ulera, Lasras Großmutter, und Lin, die Mutter von Lasras verstorbenem Mann Nomak, liefern sich erbitterte Wortwechsel und Lasra manchen nützlichen Hinweis.

Regi, Lasras kinderreiche Schwester, schwelgt in Hausbauplänen, ihr Mann Ibbe in Wolle und Filz.

Twirk, der zappelige kleine Baumeister und Füchschens Lehrherr, wird wieder Vater.

Sarra, eine begnadete Köchin, lebt mit ihren Töchtern Illib, Ard und Nuki im Haus der Frauen.

Illib, die junge Kornmeisterin, genießt die Freuden des Lebens. Ard, ihre Schwester und Sihrus' Geliebte, ergibt sich dafür zu gern dem Leid und ihren Ängsten.

Nuki, die Jüngste, bringt Füchschen zum Schwärmen.

Lura und Eno stehen als Jäger bei den Menschen der Inseln traditionell in nicht eben hohem Ansehen.

Sira, eine herbe Schönheit, zieht Fische und junge Männer an Land.

Kebro, der Herr der Rinder und Schweine, hat seine Sippe, die Stierleute, für ein Leben an Siras Seite verlassen.

Bun, Siras altersverwirrter Vater, war einmal Häuptling der Adlerleute.

Wibo, Schafhirt, Hundezüchter und Leles Mann, scheint der geborene Verlierer zu sein.

Lele, Lasras Intimfeindin, hält mehr von Männern als von der Arbeit und hat mit Sihrus eine Tochter, Mondkind.

Errill, Sihrus' bester Freund und Begleiter auf der großen Reise, gehört zu den Hirschleuten, die an der Nordgrenze der Inseln siedeln.

Kapitel 1

Er gestattete sich ein Lächeln. Das Wasser der Bucht, glatt wie eine polierte Steinaxt, schimmerte silbrig im Licht des Vollmonds. Bald würden die drei Sterne in einer Reihe über dem Horizont stehen. Der Krieger und die Strahlende, beide hell und weiß, stiegen auf und der rötlich glühende Hüter der Schwelle senkte sich der Erde entgegen. Bald wäre er am Ziel seiner Wünsche. Er mußte nur die Hand ausstrecken, und die Inseln gehörten ihm. Während die Menschen der Inseln feierten, würde er den Schlußstein in sein Gewölbe einsetzen. Den Stein, der den kühnen Bau halten würde bis in alle Ewigkeit.

Er setzte sich auf seinen Umhang, nahm noch einen Schluck Honigbier und schloß die Augen. Schön sind die Inseln, und ihm würden sie gehören. So viele Frauen, dachte er fast ehrfürchtig. Sie hatten ihm den Weg geebnet, und er hatte sie geliebt und sich ihrer bedient. Er schlug die Augen erst wieder auf als die leisen Erschütterungen der Erde ihm ihre Ankunft verrieten. Die Frau blieb stehen, ließ den Umhang von ihren Schultern gleiten. Nackt stand sie vor ihm, zum Greifen nah, als hätte sie seine Gedanken gehört. Als huldige sie ihm auf diese Weise, ihm, dem Herrn der Inseln und der Frauen.

Er hielt sie ein bißchen hin, schloß wieder die Augen. So mußte es sein, wenn der Schamane seinen Geist zu den Ahnen reisen ließ, wenn er mit den Augen des Adlers sah, mit seinen Schwingen flog. Durch das weiche Leder der Stiefel hindurch fühlte sich die Erde fast unerträglich hart an. Seine Zunge schmeckte die Süße des Honigbiers, als sei es das erste Mal. Eine kühle Brise strich über seine Haut, und die Erregung breitete sich in seinem Körper aus wie eine sanfte, warme Woge. Er kostete den Augenblick bis zum letzten aus.

Als der Hieb seinen Kopf zertrümmerte, blieb keine Zeit für Verwunderung, für Wut oder Schmerz. Er stürzte, und seine Hand griff noch einmal zu.

In der Luft, kühl und würzig und klar, lag mehr als eine Ahnung von Frühling. Von den morgendlichen Nebelschwaden hatte Ahntochter Sonne nichts übriggelassen als ein unstetes Flirren in der blauen Weite, das weghuschte, wenn ich den Blick darauf richtete. Das feuchte Land, die frische Luft, das federnde Gras unter meinen Füßen, alles roch nach den Abenteuern der Kindheit.

Im Gehen strich ich die vergilbten Samen von den Gräsern ab, die den Winterstürmen getrotzt hatten, und säte sie an anderer Stelle wieder aus. Meine Stiefel aus Seehundfell hielten noch dicht, und das, obwohl der Inselweg nach den Regengüssen der letzten Monde an manchen Stellen eher einem Tümpel als einem Stück Land glich, auf das Menschen ihre Füße setzen können. Wenn ich an besonders sumpfigen Stellen auf das höher gelegene Grasland ausweichen mußte, sogen sich meine Lederhose und der Fellumhang mit Feuchtigkeit voll wie Schwämme. Selbst das konnte meine Freude nicht trüben.

Nahezu wolkenlos wölbte sich Vater Himmel über mir, als ich den tief ins Land schneidenden Meerbusen im Nordosten unserer Insel erreichte, den wir Axtbucht nennen. Wer das Wetter auf den Inseln kennt, der weiß, wie selten ein solcher Tag so früh im Jahr ist, kurz nach dem Frühlingstag, wenn Licht und Dunkelheit zu gleichen Teilen herrschen. Aber dieser Tag, der vierte nach dem großen Fest, war etwas ganz Besonderes.

Im ersten Dämmerlicht hatte ich unser Dorf verlassen, um Madragenas Auftrag zu erfüllen. Hatte auf dem Hauptweg unsere Insel, die Südliche, der Länge nach durchquert und war nun fast am Ziel. An der Axtbucht erstreckt sich ein weiter, von Dünen geschützter Sandstrand, der ideale Ort, um sich nach einem anstrengenden Marsch von einer halben Flut eine erste Rast zu gönnen. Ich rutschte durch den Dünensand, suchte mir einen Platz im Windschatten und breitete meinen Fellumhang zum Trocknen aus.

Es gab Trockenfisch und harte Brotfladen. Es gab immer Trockenfisch und harte Brotfladen. Die ehrwürdige Ahnfrau Lin, die Mutter meines verstorbenen Mannes Nomak, war der unerschütterlichen Überzeugung, alles andere würde mich verweichlichen. Ich schwor mir, für meinen nächsten Auftrag selbst zu kochen, und spülte das zähe Zeug mit reichlich frischem Wasser hinunter, bevor ich den Holzpflockstöpsel wieder in die Trinköffnung des Ziegenbalgs schob, die geflochtene Strohkordel darum schlang und das Ganze verknotete.

Mit einem wohligen Seufzer streckte ich mich aus. Eine kleine Verwehung mit einem Büschel Strandhafer, spärlich wie die Haare auf dem Schädel unseres Baumeisters Twirk, gab ein passables Kopfkissen ab.

Draußen auf der Sandbank, die noch nicht von der einlaufenden Flut überspült worden war, lärmte ein Schwarm Silbermöwen und pickte aus dem Wattboden, was das Pech hatte, hier gestrandet zu sein. Einer der Vögel flog mit einem hell glänzenden Fisch im Schnabel von einem Priel auf. Sofort stürzten sich mehrere Artgenossen auf ihn und versuchten ihm unter schrillem Kreischen die Beute wieder abzujagen.

Ich schloß die Augen und streichelte mit den Fingern über den Sand. Der ewige Wind der Inseln hatte die oberste Schicht schon getrocknet, so daß sie sich weich anfühlte wie früher Füchschens Säuglingspopo. Mittlerweile fieberte er mit der ganzen Ungeduld von dreizehn Jahren seinem Tag der Zweiten Geburt entgegen, an dem er seinen richtigen Menschennamen erhalten und feierlich in die Reihen der Männer aufgenommen werden würde. Nicht, daß er sich nicht schon für einen vollwertigen Mann gehalten hätte. Jedenfalls hatte er es am Frühlingstag geschafft, sich mit reichlich Honigbier einzudecken. Leicht schwankend und mit herausfordernd vorgerecktem Kinn hatte er vor mir gestanden. »Laß mich endlich in Ruhe, Lasra! Du hast mir nichts mehr zu sagen!« Kein Zweifel, mein kleiner Bruder wurde erwachsen. Seit unsere Mutter Kea bei seiner Geburt gestorben war, hatte ich mit meinen damals elf Jahren ihn großgezogen.

Ein trotziger Schluck aus der Tonschale, dann hatte mein Bruder sich in die Büsche geschlagen. Er war ein Meister des Versteckens, und ihn plagte die Neugier, die jeden Heranwachsenden plagt. Im Schein der prallen Mondscheibe, die die Küstenlandschaft in ein weißes, fast taghelles Licht getaucht hatte, hatte die Fischerin Sira ihren jungen Ehemann Kebro laut kichernd in Richtung Meer gejagt. Füchschen war also auf seine Kosten gekommen.

Die Erinnerung an die fetttriefenden Schweinekeulen, den würzigen Duft des Thymianbrots und den zartrosa Lammbraten ließ mir angesichts von Trockenfisch und Brotfladen das Wasser im Mund zusammenlaufen. Ausgelassen hatten wir gesungen und zum Klang von Luras Flöte und Nukis Trommel getanzt. Wie fröhlich der Frühlingstag dieses Jahr begonnen hatte, wie seltsam er zu Ende gegangen war!

Ich tat die beunruhigende Erinnerung ab und schlug die Augen wieder auf. Die Feuchtigkeit unter der trockenen Oberfläche war in meine Kleidung eingedrungen. Einzelne zerfaserte Wolken trieben über den Himmel. Ein Austernfischer pickte in meiner Nähe im Spülsaum des Meers herum. Als er seinen stichelartigen roten Schnabel aus dem Sand zog, hatte eine unglückliche Teppichmuschel den Kampf ums Dasein verloren. Der Wind hatte aufgefrischt. Ich warf meine drei Zöpfe nach hinten, sammelte rasch meine Sachen zusammen und brach auf.

Der Weg verließ nun das Meer und führte über einen gemächlichen Anstieg ins Landesinnere. Diesen Teil meiner Wanderung liebte ich besonders, denn von hier bot sich ein weiter Blick über die sanft gewellte Hügellandschaft um mich herum und nach Norden zu auf die Große Kesselbucht. Jenseits der glatten blauen Flut sah ich die Landmasse der Großen im Dunst. So mächtig wirkten ihre Klippen und Weiden, ihre Landspitzen und Hügel, daß mit ihr der Ozean endgültig zu enden und die Herrschaft des Landes zu beginnen schienen. Doch wir wußten es besser: Selbst die Große war meerumschlossen. Auch hier umfingen Bruder Wassers Arme seine Mutter Erde.

Dort hinter dem Wachtberg, der höchsten Erhebung der Großen, lag der Nabel unserer Welt, der Steinkreis zwischen den beiden Seen, wo Nap gesiedelt hatte und nun die Stierleute, seine Nachfahren, lebten. Im Westen schimmerten die hohen Kuppen und Grate der Gebirgigen in der Morgensonne, und die kleineren Eilande davor tummelten sich im Meer wie Entenküken im schutzspendenden Schatten ihrer Mutter.

Die holzigen, vom Wind gekrümmten Heidebüsche mit ihren fahlbraun verblühten Glöckchen verliehen meinen Schritten etwas Beschwingtes, als würden sie mich jedesmal ein winziges Stückchen zu Vater Himmel emporheben. Vertrocknete Gräser beugten sich vor dem Wind, wie die Sippen sich vor Nap verbeugt hatten. Von der Sonne hervorgekitzelt, lag ein würziger, leicht salziger Geruch in der Luft, ein Versprechen auf den Sommer, auf Wärme, Gedeihen und üppigen Pflanzenwuchs. Zu dieser frühen Jahreszeit wuchs noch so gut wie nichts, und obwohl die frischen grünen Spitzen der Gräser bereits hier und da hervorlugten, trugen die Inseln noch ihr erdig braunes Winterkleid.

Entschlossen, das wenige, was es bereits gab, zu nutzen, grub ich ein paar Queckenwurzeln aus, die Beschwerden beim Wasserlassen lindern: Früh im Jahr, wenn das verzweigte Wurzelgeflecht noch keine frischen Halme ausgetrieben hat, wirken sie am besten. Ich sammelte die Blüten einer Gänseblümchenwiese ab, um meiner Familie einen ersten Frühlingssalat zuzubereiten, und warf noch zwei Handvoll Scharbockskraut in meinen Binsenschultersack.

Mein bester Fund war jedoch ein kleines Moorweidengebüsch, dessen raupenartige, noch fest geschlossene Blüten die heilenden Kräfte sicher im Innern des Baums bargen. Behutsam schälte ich mit meinem Tschörtmesser die hauchzarte Rinde einiger Zweige ab: Ein Tee hieraus wirkt Wunder gegen die Gelenkbeschwerden nach einer im Freien verbrachten Frühlingsnacht.

Längst hatte ich den Hauptweg verlassen und bahnte mir meinen eigenen Weg durch das pfadlose Gelände.

Den Blick immerzu auf den Boden gerichtet, war ich, ohne es zu bemerken, bis zu dem Hügel gelangt, auf dem das Ahnenhaus der Ausgestorbenen stand. Ein Wolkenschatten glitt vor mir über das Land und schien einen Augenblick auf den bröckelnden Mauern des mächtigen Hügels liegenzubleiben. Niemand wußte mehr, wie die Sippe geheißen hatte, die vor vielen und nochmals vielen Jahren untergegangen war, von einer tückischen Krankheit dahingerafft oder einfach nur vom Unglück verfolgt. Das Land war nie wieder besiedelt worden.

Über Wiese und Moorheide stieg ich den Abhang vom Ahnenhaushügel zum Meer hinunter. Von meiner erhöhten Warte aus erinnerte mich die Form der Bucht an eine unserer Tonschalen: Der flache Schwung der Strandlinie entsprach ihrem gerundeten Boden. Kaum mannshohe Felsklippen liefen im Rücken der Bucht in einen flachen Kieselstrand aus. Dort wuchs ein Wald aus Birken und Haselnußbäumen um einen Bach, der irgendwo im Hügelland hier oben entsprang. Und links von ihm lag sie, meine Senke, mein eigentliches Ziel.

Vor dem rauhen Seewind und der Salzgischt geschützt, hielt der winzige Talkessel die Wärme so gut, daß die roten und gelben Schlüsselblumen hier wesentlich früher blühten als anderswo auf den Inseln. Gegen den Altershusten meiner Großmutter Ulera gab es nichts Besseres als einen aus ihren Blättern und Blüten gekochten und mit Honig gesüßten Sud. Und auch gegen die hartnäckigen Hustenbeschwerden, unter denen nach den nassen Wintern der Inseln selbst die Jüngeren unter uns litten, war die Schlüsselblume unsere stärkste Verbündete.

Auf der anderen Seite des Wäldchens lärmten Möwen und Krähen. Wahrscheinlich stritten sie um irgendeine Beute. Sie hielten jedoch respektvollen Abstand zu dem Seeadlerpärchen, das hoch oben kreiste. Als ich einen stummen Gruß zu unseren Sippentieren hochschickte, legte eins von ihnen die breiten Schwingen an und stürzte in fast senkrechtem Flug der Erde entgegen. Hinter den Bäumen entschwand der Adler meinem Blick. Sein Partner hoch oben stieß einen schrillen Schrei aus und zog weiter mit ausgebreiteten Flügeln seine Kreise am Himmel.

Mich erfaßte eine ungeheure Glücksstimmung. Während ich das letzte Stück der Hügelflanke hinunterlief, stieß auch ich aus purem Übermut ein paar schrille Jauchzer aus. Mein Jubel verwandelte sich in stillere Sammlerfreude, als ich beim Näherkommen zwischen den winterbleichen Grasnelkenpolstern leuchtend gelbe und rote Tupfer entdeckte.

Meine Lehrmeisterin Madragena glaubte an die Götter und den alten Weg – und daran, daß gerade die Mischung aus gelben und roten Schlüsselblumen den wirkungsvollsten Trank ergibt. Ich hüpfte in die Senke, ließ mich auf die Knie nieder, legte den Binsensack offen neben mich und pflückte, pflückte, pflückte.

Obwohl es in der Senke noch angenehm mild war, entging mir nicht, daß die Wolken sich langsam zusammenzogen. Ein frischer Seewind fuhr durch die Bäume und ließ die hellen Unterseiten der Blätter aufleuchten. Ich beschloß, es gut sein zu lassen.

Eins wollte ich jedoch noch erkunden. Als ich letztes Jahr mit Madragena hier gewesen war, hatten wir noch kein Seeadlerpärchen entdeckt. Falls sie tatsächlich in dem kleinen Hain nisteten, war das eine gute Nachricht für den nächsten Sprechtag.

Mit steifen Knochen richtete ich mich auf. Die knackenden Gelenke riefen mir auf unangenehme Weise mein Alter in Erinnerung. Zwanzig und vier Jahre. Ein alter Lehrling, eine junge Erdfrau ... Kea, meine Mutter, war nur fünf Jahre älter geworden. Ich zog den Fellumhang enger um meine Schultern. »Wir sind alle dem Tod geweiht«, sagte ich laut zu den Ahngeistern, denn in der kurzen Zeit zwischen dem Frühlingstag und dem Tag der ersten Sonne waren sie besonders mißgünstig und wollten mit Klagen und schlimmen Botschaften beruhigt werden. Der Wind peitschte mir meine drei Zöpfe ins Gesicht. Mit raschen Schritten ging ich um den Birken- und Haselhain herum, der bis zum Strand hinunter reichte.

Die Kiesel knirschten unter meinen Füßen. Selbst bei Flut war die Bucht nicht sonderlich tief. Das Wasser schillerte abwechselnd in einem stumpfen Blau, wo ausgedehnte Tangfelder unter der Oberfläche lagen, und einem leuchtenden Türkis, wo heller Sand hindurchschimmerte. Von den Algengirlanden, die die Winterfluten hoch auf den Strand gespült hatten, stieg ein fischig-fauliger Geruch auf.

Kapitel 2

Der Seeadler hob den Kopf. Er sah mich kurz an, schlug mit den Flügeln und flog auf. Mir war auf der Stelle klar, daß die Beute, an der er gefressen hatte, ein Mensch war. Er lag auf dem Boden vor dem Waldsaum, vielleicht zehn Mannlängen von mir entfernt.

Einen Herzschlag später wußte ich, daß er es war. Sihrus. Madragenas Sohn. Ich näherte mich ihm ohne Zögern und ohne Hast, als zöge mich eine unsichtbare Hand vorwärts. Er lag auf dem Bauch. Der rechte Arm, wie im Greifen erstarrt, über den Kopf ausgestreckt, der linke unter dem Oberkörper eingeklemmt. Den Kopf halb nach links gedreht, so daß die leere Augenhöhle in den Himmel starrte. Sein Hinterkopf war eine einzige Masse aus Blut, Knochensplittern und verklebten Haarsträhnen.

Zur Stirn und zu den Seiten hin, weiter weg von dem klaffenden Loch in der Mitte, hatte das lange Haar an einigen Stellen seine ursprüngliche Farbe behalten. Wenn das Korn ganz frisch geschnitten ist, sind die Stoppeln ein, zwei Tage lang von einem intensiv leuchtenden Gelb, und wenn die Strahlen der Abendsonne diese glänzenden Halme berühren, dann haben sie die Farbe von Sihrus' Haar. Daran habe ich ihn sofort erkannt. Und an seiner Gestalt, denn auch die war unverwechselbar. Groß, breitschultrig, langbeinig, kraftvoll selbst jetzt noch, wo er hier lag. Sihrus, der Strahlende. Sihrus, der Schöne. Sihrus, unser Held.

»Er ist tot«, sagte ich. Eine seltsame Starrheit legte sich über mich. Nur mein Herz schlug mit der erbarmungslosen Schnelligkeit eines Steinhammers, der auf eine Tschörtknolle niederfährt. Ich war mir jedes einzelnen Schlags bewußt, der von innen gegen meinen Brustkorb traf. Tack, tack. Tack, tack, tack. Die Haut an meinem Hinterkopf zog sich zusammen und prickelte, ein kaltes, drängendes Gefühl. Ich kniete mich neben ihn. Eine Schnecke kroch über seine Hand. Ich strich sie weg, ohne ihn zu berühren. Auf dem Knöchel blieb eine Schleimspur zurück. »Du bist tot«, sagte ich. Es kann nicht sein, dachte ich. Du kannst nicht tot sein. Es ist nicht möglich. Es darf nicht sein.

Er trug wie immer die Lederhose mit Stiefeln und das Hemd, das seine muskulösen Oberarme zeigte. Wo seine Haut unbedeckt war, war sie aufgepickt. Ich konnte die weißen Sehnen, die Muskelstränge, an manchen Stellen die Knochen sehen. Unterhalb seiner Rippen hatten eifrige Schnäbel und Klauen den robusten Lederstoff des Hemds beiseite gezerrt, um zu den weichen Eingeweiden vorzustoßen. Drei Wirbel schimmerten hervor.

Das Steinmesser an seinem Gürtel war halb aus seiner Bastscheide gerutscht und lag nun in einer kleinen Pfütze, die sich in der flachen Steinmulde unter seiner Hüfte gesammelt hatte. Die Flüssigkeit war von einem schmutzigen Braun, mit Regenwasser verdünntes Blut und kleine Bröckchen. Sihrus' Oberkörper ruhte auf weichen, niedrigen Gras- und Moospolstern. Ein, zwei Schritte abseits lagen der Ziegenbalg, in dem er seinen Vorrat an Honigbier mitgeführt hatte, sowie die lederne Tasche mit Proviant. Seine Beine zeigten zu dem Wäldchen. Den nächsten Baum, einen Haselbusch, hätte ich mit ausgestrecktem Arm berühren können.

Ich konnte den Blick nicht von seinem Körper wenden. Mit schmerzlicher Intensität nahm ich jede Einzelheit wahr. Ich wußte, bis zu meinem Tod würde ich es nicht vergessen.

An seiner rechten Hand hatten die Adler fast alles Fleisch und sogar einige Knochen weggerissen. Die oberen Glieder der vier langen Finger fehlten. Ich weiß noch, daß ich Zeit fand, mich über meinen geschärften Blick zu wundern. Und über meine Ruhe. Ich schien alle Zeit der Welt zu haben.

Meine Anwesenheit hielt die Seeadler davon ab, sich ihm wieder zu nähern, aber sie schwebten lauernd über uns und stießen ungeduldige Schreie aus. Der Himmel hatte sich völlig zugezogen. Ich kniete weiter neben Sihrus und betrachtete ihn. So nah war ich ihm nie gewesen. So viele Frauen, nur nicht ich. So weit bist du gereist, um auf den Inseln zu sterben. So vielen Gefahren hast du getrotzt, um hier von den Vögeln gefressen zu werden.

Ich streckte die Hand aus und legte sie ganz leicht auf sein Lederhemd, am Rücken, dort, wo es mir noch nahezu heil zu sein schien. Es fühlte sich an, als berührte ich einen riesigen Bovist, der seine Sporen in die Luft geblasen hat, eine leere Hülle. Die Adler hatten Sihrus von der Gürtellinie aufwärts ausgeweidet. Ich meinte ein schwaches Zischen zu hören. Ein süßlicher Geruch breitete sich aus.

Schreiend zuckte ich zurück, richtete mich auf. Mir wurde schwarz vor Augen, in meinem Kopf drehte sich alles. Nur nicht ohnmächtig werden, redete ich mir zu. Du wirst nach Hause gehen. Für ihn kannst du nichts mehr tun. Langsam wich ich zurück, den Blick weiter auf ihn gerichtet. Nur weg hier. Noch einen Schritt und noch einen. Ihn immer im Blick.

Ich strauchelte und stürzte zu Boden. Rappelte mich wieder auf, stellte fest, daß ich mir nichts gebrochen hatte, blickte noch einmal zu ihm hinüber und rannte los. Rannte, wie ich noch nie in meinem Leben gerannt war, obwohl es bergauf ging und Grasheide nicht der günstigste Untergrund ist, wenn man es eilig hat.

Erst in der Nähe des verlassenen Ahnenhauses hielt ich an. Meine Lunge brannte wie Imro in Anachs Feuerumarmung, meine Knie waren weich wie Quallenfleisch. Die Bilder, wie er dort am Waldrand lag, verfolgten mich. Mir war, als hätte ich ihn heimlich bei etwas Ungebührlichem beobachtet, hätte unerlaubte Einblicke genommen.

Ich sank vornüber und übergab mich, bis nichts mehr in meinem Magen war. Trockenfisch und Brotfladen. Was sonst, dachte ich, und es war dieser Gedanke, der meinen Verstand aus den gefährlichen Gefilden zurückholte, in denen er wilderte.

Von da an wechselte ich zwischen leichtem Trab und schnellem Schritt. Der Binsensack hüpfte beim Laufen auf und ab. Ich schlang ihn mir über den Rücken. Der Schweiß lief in Rinnsalen über meinen Rücken und zwischen meinen Brüsten hindurch. Meine Augen brannten, ob von Tränen oder Schweiß, wußte ich nicht. Der Wind zerrte an meinem Umhang.

Meine Gedanken flogen zurück in meine Kindheit. Unsere Kindheit. Als Junge hatte er fast weißblonde Haare gehabt. Er war immer der Anführer unserer Kindermeute gewesen. Madragenas schöner Sohn, unser kleiner Held. Obwohl er nur zwei Jahre älter war als ich, hatte ich stets zu ihm aufgeschaut wie zu einem Häuptling.

Ich sah ihn vor mir stehen, als wäre es gestern gewesen. Die rechte Hüfte leicht vorgeschoben, pulte er sich mit einem Stöckchen zwischen den Zähnen. »Wer hat Lust auf Papageitaucher-Eier?« fragte er in jenem selbstverständlichen, nicht besonders lauten Tonfall, der ihm eigen war. Wir alle wußten, daß Kinder nur unter Aufsicht eines erwachsenen Eiersammlers in die gefährlichen Klippen zwischen unserem Dorf und dem der Silbermöwenleute steigen durften. »Das geht schon in Ordnung«, fügte er lächelnd hinzu. »Oder hat jemand Angst?«

»Ich nicht«, log ich tapfer. Ich wollte nicht vor den anderen als Feigling dastehen, aber noch größer war der Wunsch, sein Lächeln nicht zu enttäuschen. Das ging uns wohl allen so.

»Hast du mit den Jägern oder dem Häuptling gesprochen?« wandte Rark, der jetzige Adlersohn, ein.

»Das geht in Ordnung, Raupe. Aber bleib ruhig hier. Als künftiger Tiersohn solltest du dein Leben nicht unnötig aufs Spiel setzen«, sagte Sihrus. Nichts in seinen Zügen deutete darauf hin, daß er den pummeligen Jungen vor sich hatte herabsetzen wollen.

»So etwas Törichtes werde ich tatsächlich nicht tun«, entgegnete Rark in seinem altklugen Tonfall. Er war weder ein schneller Läufer noch ein geschickter Schütze oder Kletterer. Zu allem Überfluß hatte seine Mutter ihn Raupe genannt. Wir wollten auf keinen Fall so sein wie er. Schmollend blieb er zurück.

»Los, wer kommt mit mir?« fragte Kwum, Sihrus' Stellvertreter, als wir die Felsen mit den Bruthöhlen der Papageitaucher erreicht hatten. Schon hatte er sich bäuchlings, die Füße voran, über die Klippenkante geschwungen. Luras jüngerer Bruder Kwum, klein, spritzig, sehnig, sollte jahrelang unser bester Eiersammler und Vogelfänger werden. Er ist nun schon über vier Jahre tot, vom Ossi Taing gestürzt.

Zu unser aller Überraschung schob sich Wibo, der bei unserem alten Schafhirten in die Lehre ging, über die Kante. »Ich komme mit«, sagte er mit blutleerem Gesicht. Seine Hand hinterließ eine dunkle Schweißspur auf dem Felsen.

»Nein, du nicht«, bestimmte Sihrus, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte. »Du bist nicht schwindelfrei, und ich trage die Verantwortung für euch.«

»Ich bin ein Jahr älter als du!« ereiferte sich Wibo. Er hatte schon verloren, bevor der Streit auch nur begonnen hatte.

»Möwe geht«, entschied Sihrus, wandte sich um und winkte das gleichaltrige Mädchen mit dem dichten braunen Haarschopf und den langen Gliedern heran. Auch Ayne, deren Kindername Möwe war, lebt nicht mehr. Vor zwei Jahren ist Twirks Frau bei der Geburt ihres fünften Kindes mit dem Kleinen gestorben. Ayne, schlank, behende und lebhaft, errötete vor Stolz und kletterte an Kwums Seite.

Die beiden arbeiteten sich vorsichtig zu der Brutkolonie zwei Mannlängen unter ihnen vor. Für einen geübten Kletterer war das ein Klacks. Von einem schmalen Felssims aus konnten sie mehrere der Erdhöhlen erreichen, in welche die Papageitaucher ihre Eier legen. Sihrus hatte den Platz gut gewählt.

Wibo hangelte sich wieder auf ebenen Boden. Zu allem Überfluß rutschte er aus und mußte sich, den Hintern in die Höhe gereckt, mit den Händen abstützen. Auch wenn er nie in seinem Leben durch Klugheit aufgefallen ist, muß er gewußt haben, daß er einen lächerlichen Anblick bot.

Hila von den Silbermöwenleuten stieß mir den Ellbogen in die Rippen. »Mähäh, mähäh, mähäh!« skandierte sie. »Der Schafhirt, der ist bähäh!«

Die Rotte brach in haltloses Kichern aus. Sihrus hörte sich das »Mähäh!« und »Bähäh!« eine Zeitlang an, bis er mit erhobener Hand Einhalt gebot. »Seid still. Sonst hören wir nicht, wenn die beiden unten uns was zurufen.«

»Angeber!« heulte Wibo auf und stürzte sich auf den Jüngeren. Der Überfall erfolgte so unvermittelt, daß Sihrus das Gleichgewicht verlor und sich erst kurz vor dem Klippenrand wieder fing. Mit dem rechten Fuß trat er ein Felsstück los, das den Abhang hinunterkollerte und –

Wir hörten einen Aufschrei – Ayne –, gefolgt von einem Fluch – Kwum. »Hilfe!« gellte Ayne. »Holt uns rauf!« brüllte Kwum. »Ich kann sie nicht mehr lange halten! Sie ist vom Sims abgerutscht!«

Mehrere Papageitaucher flogen auf. »Orr, orr, orr!« kam es aus ihren dicken, rot-schwarz-gelb gestreiften Schnäbeln. Wer die lustigen Vögel mit ihren kurzen Hälsen und den bunt geränderten Augen sieht, glaubt kaum, daß sie zur Verteidigung ihrer Brut selbst auf Menschen losgehen.

»Weg, weg!« kreischte es von unten.

Lura, Illib und ich warfen uns auf Wibo, und mit vereinten Kräften gelang es uns, den wild um sich schlagenden und unartikuliert brüllenden Hirtenjungen am Boden zu halten. Einmal spuckte er mir ins Gesicht. Ich widerstand der Versuchung, mir den Speichel abzuwischen, damit er sich nicht befreien konnte.

Lura, die damals auf ihre erste Blutung wartete und die Älteste und Größte von uns war, mußte hinterher lange wegen der eiternden Bißwunde in ihrem Oberschenkel behandelt werden. Damals hieß sie noch Kind – ihre Mutter war bei der Namengebung ihrer Sprößlinge außergewöhnlich einfallslos.

Natürlich kenne ich noch all unsere Kindernamen, aber manchmal will es mir scheinen, als seien die Gefährten von einst mit dem Anlegen des Erwachsenennamens auch ganz andere Menschen geworden. Sihrus hieß Sternchen, weil er bei seiner Geburt ein rotes Feuermal mit fünf Strahlen auf der Stirn gehabt hatte.

Während wir noch mit Wibo rangen, war Sihrus bereits über den Klippenrand geklettert. Er mußte nun dabei sein, sich zu den ersten Erdhöhlen vorzuarbeiten. »Du schaffst es! Noch ein Stückchen!« feuerten ihn die anderen an, die bäuchlings über dem Abgrund lagen und die Hälse in die Tiefe vorreckten.

»Einer muß uns helfen!« rief Sihrus von unten herauf. »Jemand Starkes!«

»Aber wer? Wer denn?« jammerte meine jüngere Schwester Regi verzweifelt.

»Hilfe! Ich rutsche ab!« kreischte Ayne in Todesangst.

Da bemerkten wir, wie Wibo in unserem Griff erschlaffte. »Ihr könnt mich loslassen«, flüsterte er. »Ich mach's.«

Wir ließen ihn los. Er schien wieder der Junge zu sein, den wir kannten. »Ich mach's«, wiederholte er.

Neben den anderen auf dem Bauch liegend, sahen wir von oben nur Felsvorsprünge, wild flatternde Papageitaucher, ein paar Hände und Scheitel und darüber Wibo, der sich flach an den oberen Hang preßte und einen Arm nach unten ausstreckte.

»Ich hab ihre andere Hand«, hörten wir Sihrus. »Hecht, hast du sicheren Halt?«

»Ja«, bestätigte Kwum von unten.

»Möwe, zieh jetzt den rechten Fuß ein Stückchen rauf, da ist eine Spalte. Wir halten dich.« Finger schlossen sich um ein schmales Handgelenk, Steine schlugen auf den Felsplatten tief unten auf. Ein leises Wimmern.

»Ich kann nicht«, weinte Ayne.

»Doch, du kannst. Ganz langsam. Wir halten dich. Jetzt löst du deinen rechten Fuß. Ja, so.«

Wieder prasselte eine kleine Lawine herunter. Ayne schob offenbar ihre Zehen in die Spalte. Die Steine hüpften ein paarmal auf den schwarzen Felsplatten am Strand, bevor sie mit einem satten Geräusch im Meer versanken.

»Sehr gut, meine kleine Möwe. Du machst das fabelhaft. Jetzt hebst du deinen linken Fuß in diese Bruthöhle da. Etwas nach rechts. Ja. Noch ein Stückchen weiter rechts.«

Sihrus und Kwum zogen keuchend ein schlaffes Bündel an den Armen hoch. Als sie Ayne mit dem Oberkörper über die Kante des steilen Teils hievten, sahen wir, warum ein dritter Helfer vonnöten war: Ayne zitterte so stark, daß sie sich kaum noch aus eigener Kraft bewegen konnte.

»Wir haben ein paar Eier, Leute!« Kwum grinste, als er aus der Wand geklettert war und sich neben uns fallen ließ. Dann legte er fünf der leicht gelblichen Eier zwischen die rosa Grasnelkenpolster. Wir öffneten die grobkörnige Schale und schlürften das köstliche Innere an Ort und Stelle aus, und Ayne, die eins ganz für sich allein bekam, erholte sich allmählich.

Es nützte uns nichts, daß wir Stillschweigen verabredet hatten. Bun, der alte Häuptling, erwartete uns bereits vor dem Dorf, die Erdfrau Madragena an seiner Seite. Bun war zwar alt, aber nicht zu alt, um Sihrus eine Tracht Prügel zu verabreichen, von der er noch Tage später ein blaues Auge hatte. Immerhin strafte er ihn nicht vor allen anderen, sondern schob ihn, ohne ein einziges Wort zu sagen, in sein Haus. Damals dachten wir alle, Sihrus würde einmal Häuptling werden. Daß er der Rädelsführer beim Eierklau gewesen war, bedurfte keiner Erklärung.

Während ich durch das Land der Otterleute lief, klang mir der Rhythmus der Schläge im Ohr, die bald nicht nur aus dem Häuptlingshaus, sondern auch aus anderen Häusern des Dorfs erklangen. Ich lief wie in Trance. Der Rhythmus half. Meine Füße klatschten auf den Boden, Handflächen klatschten auf Kinderhintern. Die Trommel schlug wam, wam, wam.

Unsere Mutter Kea hielt nicht viel von Schlägen. Sie ließ uns den Abtritt putzen. Durch die winzige Kammer läuft ein Zweig der Abwasserrinne, an die das gesamte Dorf angeschlossen ist. Schon seit geraumer Zeit hatte die Rinderhaut vor dem schmalen Eingang die unerfreulichen Gerüche nicht mehr zurückhalten können. Meine Mutter war nicht für ihre Sauberkeit berühmt gewesen.

Mit Strohbüscheln und Steinschaber ausgerüstet, zwängten Regi und ich uns in den feuchten Ort. Die kaum merklich abfallende Rinne aus Steinplatten verschwand in Richtung Meer unter dem Fußboden unseres Hauses, ein Andenken an einen kundigen Baumeister, dessen Namen niemand mehr kannte. Platsch, platsch, machte mein Steinschaber.

Platsch, platsch, machten meine Stiefel in den Tümpeln, die auf dem Inselweg standen. Platsch, platsch, machte der Regen, der mir ins Gesicht klatschte. Ich hätte freiwillig für den Rest meines Lebens alle Abtritte des Dorfs gereinigt, wenn mir dafür diese Pflicht erlassen worden wäre. Der Sippe von Sihrus' Tod zu berichten. Nein, zuerst Madragena. Ich mußte vor Madragena treten und ihr sagen, daß ihr Sohn tot war.

Das letzte Stück, nachdem der Weg das Gebiet der Seehundleute verläßt und zu unserem Dorf abzweigt, lief ich ohne Unterbrechung. Ich dachte nichts mehr, hatte nur noch den Rhythmus in meinem Kopf. Schläge. Schritte. Schläge. Schritte. Irgendwann kam der Trommelschlag der Brandungswellen unterhalb unseres Dorfs dazu. Ich dankte Vater Himmel für den Regen. So würden alle in den Häusern sein.

Verlassen lag das Dorf im Regen, halb in die schützende Erde eingegraben. Nur die Dächer erhoben sich aus dem Hügel wie Napfschnecken aus der einlaufenden Flut. Das alles bedeckt von einer dicken Schicht aus Erde und Grassoden, ein wärmender grüner Pelz.

Ich lief um das Dorf herum zur Landseite, wo sich die Schlupfpforte befand. Bückte mich unter den Steinplatten des Gangs. Wandte mich nach rechts zur Tür von Madragenas Haus. Schlug den Ledervorhang zur Seite. Blieb keuchend stehen.

Madragenas Haus war das kleinste im Dorf. Der Rauch vom Herd in der Mitte des ovalen Raums drang bis in die letzten Ritzen der mannshohen Steinmauern und sammelte sich unter dem Dach aus Treibholzbalken, als suche er verzweifelt nach einem Ausgang. Es gab keinen, denn bei Regen legten wir die gegerbte Schweinsblase über die Rauchöffnung im Dach.

Nach der frischen Luft draußen begannen mir die Augen zu tränen. Verschwommen nahm ich die beiden Betten in den Wänden links und rechts des Herds wahr, deren Ledervorhänge zurückgezogen waren und den Blick auf die Schaffelle und zerschlissenen Webdecken freigaben.

Madragena kniete auf der Erde am Kopfende des Raums, vor der steinernen Anrichte, dem Blickfang eines jeden Hauses. In den Händen zwei Geweihgabeln, mit denen sie einen heißen Kochstein ins Wasserbecken hob, drehte sie mir den hageren Rücken zu. Auf der Erde standen Schalen mit getrockneten Kräutern. Sie brühte Tee auf. Es roch nach Kamille und Purgierlein. Sie hatte die duftenden Kräuterbündel aus dem Vorraum geholt und auf die Anrichte gelegt.

Beim Geräusch meines Hustens wandte sie den Kopf und sah mich mit ihrem linken Auge an. Weiter konnte sie den Kopf nicht mehr drehen. Sie schaute wieder geradeaus und legte den Kochstein vorsichtig in das im Boden eingelassene Steinbecken. Das Wasser spritzte auf und zischte. Ich sah, wie schütter ihr Haar am Hinterkopf geworden war. Sie schien Luft zu holen für die Anstrengung. Dann richtete sie sich auf.

Ich brachte kein Wort heraus. Stand nur atemlos da und sah sie an. Das Wasser tropfte von meinem Umhang und sammelte sich in kleinen Pfützen um meine Füße.

Sie stand gerade da wie immer, und in ihre Augen trat ein entsetzter Blick. Einen Augenblick lang hatte ich den Eindruck, als wüßte sie es. Sie ließ die Werkzeuge aus Hirschgeweih fallen. Mit einem dumpfen Geräusch schlugen sie auf den Boden aus festgetretenem Lehm. Ihre Augen waren riesengroß und schwarz.

»Madragena, es tut mir so leid!«

Sie sah mich unverwandt an.

»Sihrus ... er ist ... er ist tot«, sagte ich. Die Tränen liefen mir über die Wangen. Ich sah wie durch eine Nebelwand.

Sie rührte sich nicht.

»Er ist – getötet worden.« Ganz kurz schoß mir ein anderes Wort durch den Kopf, ein böses Wort. Seltsam, dachte ich, daß mir der Gedanke erst jetzt kommt. Aber jetzt wußte ich es. Sihrus war keines natürlichen Todes gestorben.

Ich wischte mir mit dem Handrücken die Tränen ab.

Ihr Mund wurde hart. Ihre Zähne knirschten. »Nein«, sagte sie. »Nein.«

»Madragena!« beschwor ich sie. »Ich habe ihn gefunden. Er ist tot! Er liegt da! Wo ich Schlüsselblumen gesammelt habe. Neben dem Wäldchen an der Senke. Im Norden. Am Meer.«

»Ich weiß, wohin ich dich geschickt habe«, sagte sie schroff, und dann setzte sie sich auf den Steinstuhl neben dem Feuer, obwohl der eigentlich dem Ehrengast vorbehalten war und von den Hausbewohnern nur selten benutzt wurde. Zwischen ihren zusammengepreßten Zähnen kam ein Laut hervor, wie ich ihn noch nie gehört hatte. Ein Schluchzen, das man wieder herunterwürgt, ein ersticktes Wimmern. Der Schrei eines Säuglings, der nicht leben wird. Ganz leise und hoch. Ein Laut, der nicht von Madragena stammen konnte.

»Sihrus ist tot!« rief ich. »Er hat ein großes Loch in seinem Hinterkopf! Das kann er sich unmöglich selbst beigebracht haben. O Madragena, er ist tot.«

»Wie lange?« wollte sie wissen.

»Ein paar Tage. Die Adler haben ... Es waren Adler«,stammelte ich. »Was sollen wir tun?«

Madragena erhob sich wieder. Sie trat durch den Hauseingang, durchquerte den Vorraum mit den Regalen voller Schalen und Kräuterbündel, ging an meinem Haus vorbei durch den Seitengang und hielt an seiner Einmündung in den Hauptgang an. Dann legte sie die Hände wie einen Trichter an den Mund und rief: »Sihrus ist tot! Mein Sohn ist tot! Helft mir, ihn heimzuholen!« Ihre Stimme hallte durch das Dorf. Bevor die Menschen ihre Türvorhänge beiseite schlugen und in den Hauptgang strömten, sagte sie noch einmal so leise, daß nur ich es hören konnte: »Mein Sohn ist tot. Helft mir, ihn heimzuholen.«

Kapitel 3

Es war unser Häuptling Gorg, der in der anschließenden Verwirrung so etwas wie Ordnung wiederherstellte, indem er die Kinder in die Häuser scheuchte und die Erwachsenen mit guten Worten und harten Stößen in seinem Haus versammelte. In Madragenas kleines Haus hätten wir nicht gepaßt. Alles schrie durcheinander oder weinte, im Hintergrund hörten wir die kleineren Kinder heulen.

Im Augenwinkel bekam ich mit, wie Füchschen sich in dem allgemeinen Durcheinander durch einen schmalen, niedrigen Spalt in der Gangmauer zwängte. Er hatte unzählige Verstecke im Dorf, alte, halb zugemauerte Kammern und Gänge aus alten Zeiten, die blind irgendwo endeten, Nischen und Hohlräume, die wohl selbst unser Baumeister Twirk nicht alle kannte. Aber Twirk war auch nicht von dem Drang besessen, alles im Dorf mitbekommen zu müssen.

Madragena erklärte in knappen Worten, was geschehen war, und verlangte, daß wir Sihrus noch am selben Tag heimholten. Sie hatte mich auf den Platz neben sich gewinkt, um ihre Ausführungen zu bestätigen. Ich hätte sie gern umarmt, wagte es jedoch nicht. In ihrer starren, fast widernatürlich gefaßten Art schien sie jenseits eines solch unzulänglichen Trosts zu stehen.

Gorg wiegte bedenkenvoll den Kopf hin und her. Seine Statur, seine dichte, dunkle Behaarung, ja selbst seine tiefe Stimme hatten mich seit jeher an einen Bären erinnert, jenes Tier, das wir nur aus unseren Legenden kannten. Ich selbst war zwar so groß wie die kleineren Männer unserer Sippe und hielt mich nicht für schwach, aber Gorg überragte uns alle und konnte auf seinen Schultern Steinplatten tragen, für die wir sonst mehrere Männer gebraucht hätten. Nicht, daß er oft Steinplatten geschleppt hätte. Seiner Ansicht nach war das keine Beschäftigung für einen Häuptling. »Es ist fast ein halber Gehtag bis zur Axtbucht«, sagte er. »Bald wird es Nacht, und dann sehen wir bei dem Regen die Hand vor Augen nicht mehr. Laßt uns unseren Sippenbruder morgen heimholen.«

»Wie ist er gestorben?« kreischte Lele, die Frau des Schafhirten Wibo, mit tränenüberströmtem Gesicht. »Sihrus tot, o Vater Himmel!« Sie sank auf die Knie und rang, ein wenig übertrieben verzweifelt, die Hände.

»Schweig!« fuhr Adlersohn sie an. »Der Tag der Trauer ist noch nicht gekommen.« Unser Schamane hatte sich vollständig erholt. Die wohlgenährten Gesichtszüge, das überhebliche Lächeln um den vollen Mund, der sorgsam gestutzte Bart, die ekelhaft langen Fingernägel der rechten Hand – alles, was mich an ihm so störte, war wieder wie vor seinem bizarren Geisterflug am Frühlingstag.

»Lasra, sag doch, wie ist er umgekommen? Ist er ertrunken?« fragte Regi. Ich wollte meiner jüngeren Schwester antworten, als mir Madragena zuvorkam. »Dafür ist heute keine Zeit. Später. Heute will ich meinen Sohn heimholen.«

Kornmeisterin Illib schlug vor, das Tageslicht bis zum letzten Schimmer auszunutzen und die Nacht bei den Otterleuten zu verbringen. Der Vorschlag fand allgemeine Zustimmung. Auch Madragena nickte schließlich.

»So wollen wir es machen«, lenkte Gorg ein. »Adlersohn, Madragena und ich gehen, Lasra auch. Ibbe, Eno und Kebro, wir werden uns auf dem Rückweg abwechseln müssen. Gorg, hol die Trage. Du kommst auch mit«, setzte er, an seinen Sohn gewandt, hinzu. Ich mußte mir in Erinnerung rufen, daß der Vorschlag ursprünglich von Illib stammte. Nun war es jedenfalls Gorgs Plan. Gorg hatte diese Gabe.

»Ich bin stärker als der kleine Gorg! Nimm mich mit!« forderte Lele trotzig.

»Wenn der Tod unseres Sippenbruders es mir nicht verbieten würde, müßte ich glatt lachen«, spottete Sira. »Wann hätte man jemals gehört, daß Lele sich freiwillig für eine Arbeit meldet?«

»Ihr habt gehört, was Gorg gesagt hat«, fuhr Adlersohn dazwischen. »Und laßt dieses schamlose Gerede. Wahrt die Fassung! Wir werden unseren Sippenbruder heimholen und alles tun, um ihn sodann als Ahn bergen zu können. Zu gegebener Zeit wird sich alles fügen. Wie es Brauch ist bei den Adlerleuten.«

Als er aufstand, um sein Schamanenbündel zusammenzusuchen, löste sich die Versammlung auf. »Welche Ehre!« zischte mir Lele ins Ohr und trat mir im Vorübergehen auf den Fuß. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß es ein Versehen gewesen war.

Diejenigen, denen die ehrenvolle Aufgabe zugefallen war, Sihrus heimzuholen, eilten in ihre Häuser, um sich mit wasserdichten Umhängen und Stiefeln auszurüsten. Meine Familie – Schwiegermutter Lin, Großmutter Ulera und Füchschen – drängte mich, mir trockene Kleider anzuziehen und wenigstens einen Becher Milch zu trinken. Feste Nahrung hätte ich nicht herunterbekommen.

Wir trafen uns wieder in Gorgs Haus. Adlersohns Mantel mit Armschlitzen in Bauchhöhe bestand aus dem weißen und besonders wasserabweisenden Fell mehrerer Heuler.

Der kleine Gorg schleppte die Trage aus Treibholz und quer gespannten Lederstreifen an, die wir zum Transport schwerer Gegenstände benutzten. Er war ein schmächtiger, hoch aufgeschossener Bursche von fünfzehn Jahren. Seinem von Pusteln übersäten Gesicht hätte ein Tee aus Gänseblümchen gutgetan, aber er traute sich wohl nicht, die Erdfrau um Hilfe zu bitten.

Wir brachen hastig auf, um nicht noch mehr Zeit zu verlieren. Trotzdem senkte sich die Dunkelheit über das Land, als wir gerade das Dorf der Seehundleute hinter uns gelassen hatten. Obwohl der strömende Regen allmählich in ein sanftes Nieseln überging, hätte die Wanderung nicht mühevoller sein können. Madragena strauchelte ein paarmal, ansonsten hielt sie sich wohl aus schierer Willenskraft aufrecht. Ich versuchte sie zu stützen, so gut es ging, doch sie schüttelte meine Hand mehrmals ab. Ich fühlte mich seltsam schuldig, als sei ich auf irgendeine Weise für die Unglücksbotschaft verantwortlich, die ich hatte überbringen müssen.

Adlersohns Aufforderung, Schweigen zu bewahren, war überflüssig. Keinem von uns stand der Sinn nach Gesprächen. Eno trug einen Tontopf mit großen Löchern, in dem ein paar Holzstücke vor sich hin glommen. Jenseits des schwachen Lichtkreises, den sie verbreiteten, umschloß uns völlige Finsternis. Der Weg war nur noch in Ansätzen zu erkennen.

Trotzdem hieß ich das Reißen in meinen Waden und Oberschenkeln, die klamme Kälte, die aufgeplatzten Blasen in meinen nassen Stiefeln willkommen wie gute Freunde. Die Schmerzen lenkten mich ab, und sie ließen mich so etwas wie Sühne dafür leisten, daß ich noch lebte. So unsinnig mir diese Vorstellung vorkam, so zwingend war sie: Ich fühlte mich verantwortlich für Sihrus' Tod.

Schließlich standen wir vor der bereits für die Nacht geschlossenen Steintür, die den Zugang zum Dorf der Otterleute sicherte. Gorg hämmerte mit einem dicken Stein dagegen. Trotz der späten Stunde und des mehr als überraschenden Besuchs erwiesen die Otterleute uns die gebührende, ja sogar eine von Herzen kommende Gastfreundschaft. Rasch räumten Grihm und seine Familie das Fischerhaus und überließen es den Gästen. Ihr Beileid bekundeten sie uns, wie es üblich ist bei den Anhängern des alten Wegs, nur in respektvollem Schweigen. Der Tag der Trauer würde noch kommen.

Ich teilte mir eins der großen Steinbetten mit Madragena, das zweite nahmen die beiden Gorgs, Adlersohn erhielt ein eigenes. Ibbe, der Mann meiner Schwester Regi, Herdenvater Kebro, Siras Mann, und der Jäger Eno mußten sich das letzte teilen.

Madragena, die neben mir auf der Wandseite des Betts lag, hatte sich auf die Seite gedreht; sie war steif wie eine Tote. Ich legte mich neben sie auf die Seite, meine Brust hinter ihrem Rücken, ohne sie zu berühren.

Nach einer Weile legte ich meine Hand auf ihre Schulter. Sie schob sie nicht weg. Wir fanden beide keinen Schlaf. Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Immer wenn die Bilder von Sihrus am Strand der Bucht mich zu überwältigen drohten, zwang ich mich, an etwas anderes, Unverfängliches zu denken. Adlersohns feistes Gesicht. Leles Frechheiten. Füchschen mit der Schale Honigbier. Der Frühlingstag ...