Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-74945-697-0

Illustration und Umschlagsgestaltung:

MARCUS HEIN - Akademie für Neurologische Führung

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt

Copyright © 2019 by MARCUS HEIN, Krefeld

Alle Recht vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

www.marcus-hein.de

Für meine erste Enkelin Josephine.

Inhaltsverzeichnis

  1. Das Warum dieses Buches
  2. Neurobiologische Grundlagen
  3. Motivation
  4. Neurologische Denk- und Motivationsstrategien
  5. Neurologisches Anforderungsprofil
  6. Stellenanzeige
  7. Bewerbungsunterlagen
  8. Vorstellungsgespräch
  9. Interviewleitfaden
  10. Praxisbeispiel
  11. Aussicht

VORWORT

25 Jahre habe ich mich im Thyssen-, später im ThyssenKrupp-Konzern mit der Gewinnung und Einstellung von Mitarbeitern auf allen Konzernebenen beschäftigt. Dies ist sicherlich angenehmer, als Mitarbeiter abzumahnen, zu kündigen oder sogar Massenentlassungen zu begleiten. Auch das musste ich in meiner HR-Laufbahn tun, zum Glück aber nie lange und immer relativ sozial verträglich.

Gewinnung und Einstellung neuer Mitarbeiter - auch als Recruiting und Onboarding bezeichnet - beinhaltet ein gewisses Risiko: Finde ich den richtigen Mitarbeiter? Stelle ich den Richtigen ein? Bewährt er oder sie sich in der neuen Aufgabe? Es ist die Kunst des Personalers, dieses Risiko zu minimieren. Dazu ist Erfahrung ein wesentlicher Erfolgsfaktor. In meiner 25jährigen Tätigkeit habe ich, ohne sie gezählt zu haben, sicher mehr als 1.000 neue Mitarbeiter eingestellt. Darunter befand sich die gesamte Bandbreite, vom Hilfsarbeiter und Kranfahrer, über qualifizierte Handwerker, kaufmännische Sachbearbeiter, Team- und Abteilungsleiter, bis hin zu Direktoren und Geschäftsführern. Gab es dabei Fehlgriffe? Ja, ganz bestimmt. Gelegentlich habe ich mich blenden lassen und habe - sympathiegetrieben - über das eine oder andere hinweg gesehen. Hier und da auch deshalb, weil sich Mitentscheider durchgesetzt haben. Zum Glück waren diese Fehlgriffe die absolute Ausnahme.

Was aber macht eine hohe Treffsicherheit bei der Personalauswahl aus? Zugegebenermaßen war es bei mir oft die Intuition, das sogenannte Bauchgefühl. Fachliche Aspekte konnte ich oft nicht beurteilen. Da verließ ich mich auf die Fachexperten. Ob aber jemand ins Team passt und ob er engagiert ist, dafür hatte ich einen guten Riecher entwickelt. Oft konnte ich meine Entscheidung nicht begründen. Wissenschaftlichen Überprüfungen hätten sie nicht standgehalten.

In sehr kritischen Stellenbesetzungen führten wir Assessment Center durch. Hier entwickelte ich zunehmend Kompetenz und schaffte es mit dem Beobachterteam, Wahrnehmungsfehler möglichst auszuschließen. Wir trieben großen Aufwand bis hin zu Beobachterschulungen vor jedem AC. Letztlich konnten wir auch mit diesen Instrumenten den Bewerbern lediglich vor den Kopf schauen und beurteilen, wie er oder sie sich in der simulierten Situation verhält. Ob der Mitarbeiter das in der späteren beruflichen Praxis auch so zeigen würde, konnten wir nur spekulieren und durch gezielte Beobachtung versuchen, die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen. Sicherheit gab es auch hier nicht.

Es wäre schön gewesen, wenn wir den Bewerbern in den Kopf hätten schauen können. Gerne hätten wir beobachtet, wie in ihren Köpfen Motivation entsteht. Damals dachte ich noch, dass für die Motivation der Vorgesetzte zuständig sei. Ein Irrtum. Denn Motivation - das werde ich in diesem Buch noch zeigen - entsteht im Mitarbeiter selbst, und zwar auf eine sehr spezifische Art und Weise.

In diesem Buch möchte ich mit Ihnen den Blick auf die Neurologische Personalauswahl richten. Sie versteht sich nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung zu den gängigen Auswahlinstrumenten.

Neurologisch bedeutet in meinem Verständnis, dass wir uns neuronale Aktivitäten, also die Arbeitsweisen des Gehirns anschauen. Neurologische Personalauswahl geht davon aus - und dies ist durch die Gehirnforschung inzwischen nachgewiesen -, dass Menschen Informationen auf eine ganz bestimmte und sich sicher wiederholende Weise verarbeiten. Diese Verarbeitung betrifft auch den Prozess der Motivation. Denn Motivation fällt nicht vom Himmel - wir machen Motivation. Das ist für jeden individuell extrem logisch. Ziel der Neurologischen Personalauswahl ist es, herauszufinden, wie der spezielle Bewerber dies tut. Sobald wir das als Recruiter wissen, können wir das Ergebnis mit dem Neurologischen Anforderungsprofil vergleichen. Dieses Profil zeigt uns, wie jemand denken und sich motivieren sollte, damit ihm die Arbeit möglichst leicht fällt und er somit maximale Motivation entwickeln kann.

In diesem Buch werden wir uns zunächst mit einigen Grundlagen beschäftigten, die den Einblick in den Aufbau des Gehirns und dessen grundlegende Funktionen vermittelt. Danach werfen wir einen Blick auf das Thema Motivation und wie sie entsteht. Auf Basis dieser Grundlagen entwickeln wir ein Neurologisches Anforderungsprofil für die zu besetzende Stelle.

Dieses Anforderungsprofil ist die Basis dafür, eine Stellenanzeige so zu gestalten und zu formulieren, dass sie bereits die richtigen Denk- und Motivationsstrategien anzieht. Ich verrate an dieser Stelle nicht zu viel, wenn ich behaupte, dass eine Vielzahl der Stellenanzeigen genau die falschen Bewerber anzieht. Ich bin von der Idee getrieben, dass sich möglichst nur ein Bewerber bewirbt und vorstellt, der hundertprozentig auf die zu besetzende Stelle passt. Natürlich ist das Utopie. Dennoch ist das meine Handlungsmaxime. Es macht keinen Sinn, 17.000 Bewerbungen zu managen, um eine Stelle zu besetzen, wie ich das bei ThyssenKrupp vor vielen Jahren einmal beobachten konnte - und man war sogar stolz darauf.

Eine am Neurologischen Anforderungsprofil orientierte Stellenanzeige zieht die passenden Bewerber an. Dies ist ein wirksames Mittel gegen den Fachkräftemangel. Denn fehlende Ausbildung und Erfahrung lassen sich meist relativ schnell erwerben, die passenden Denk- und Motivationsstrategien sind jedoch sehr stabil.

Danach schauen wir uns an, wie wir anhand der Bewerbungsunterlagen bereits eine Vorauswahl treffen können und wie wir ein Vorstellungsgespräch gestalten, in dem wir die Denk- und Motivationsstrategien zielsicher ermitteln. Das ist einfacher, als es sich im Moment anfühlt, braucht jedoch etwas Übung. Auf vielfachen Wunsch finden Sie am Ende des Buches einen Interviewleitfaden für das Vorstellungsgespräch. Dieser kann aus meiner Sicht lediglich eine Orientierung geben und braucht positionsbezogene und individuelle Anpassung, um verlässlich zu funktionieren. Dennoch bietet er eine gute Grundlage für Ihren persönlichen Leitfaden.

Noch ein wichtiger Hinweis: Immer wenn ich in diesem Buch Formulierungen für Stellenanzeigen oder das Vorstellungsgespräch vorschlage, dann sind dies meine persönlichen Vorlieben, mein persönliches Wording. Bitte kopieren Sie dies nicht eins zu eins, sondern entwickeln Sie Ihr eigenes Wording, Ihren eigenen Stil.

Dieses Buch ist geschrieben für alle Mitarbeiter und Verantwortlichen in Personalabteilungen, die gelegentlich oder regelmäßig mit der Gewinnung und Rekrutierung von Mitarbeitern beschäftigt sind. Auch wenn ich in diesem Buch nicht explizit darauf eingehe, ist das Konzept der Auswahl auch auf interne Recruiting-Prozesse und die Führungskräfteauswahl und -entwicklung anzuwenden. Darüber hinaus richtet sich das Buch an Führungskräfte, die in Personalentscheidungen involviert sind, sowie an Berater und Headhunter, die in der Vermittlung von Fach- und Führungskräften tätig sind.

Die Idee zu diesem Buch ist entstanden auf einer Veranstaltung des BNI Chapter Bagno in Steinfurt. Vor ca. 80 Unternehmern und Führungskräften sprach ich über das Thema Neurologische Personalauswahl. Zahlreiche Teilnehmer kamen nach dem Vortrag zu mir und fragten, ob man das Gehörte irgendwo nachlesen könne. Ich entschied, dass ich diese Frage mit Ja beantworten sollte. Da mir kein spezifisches Buch hierzu bekannt war, musste ich es selbst schreiben. Deshalb gilt mein besonderer Dank Nicole und Franjo Cyran, die mich als Keynote Speaker zu dieser Veranstaltung eingeladen haben.

Auch möchte ich meiner Geschäftspartnerin und lieben Freundin Brigitte Seifert-Schäfer danken, die mir in ungezählten Stunden lebhafter Diskussion geholfen hat, neurologische Vorgänge im Gehirn von Menschen noch besser zu verstehen. Sie hat wichtige Impulse für dieses Buch geliefert und das Lektorat übernommen.

Ganz besonders bedanke ich mich bei meiner lieben Frau Heike, die mir nicht nur den Rücken freigehalten, sondern mich in schwierigen Situationen ermutigt hat. Nicht zuletzt bringt sie mir aus ihrer Arbeit in Schulen und Kindergärten zahllose Beispiele aus dem Verhalten von Kindern (sowie Lehrern und Eltern) mit nach Hause, die spannende Diskussionen über Denk- und Motivationsstrategien anregen.

In diesem Buch werde ich die überwiegend übliche und lesegewohnte männliche Form verwenden. Damit will ich in keiner Weise jegliche andere Identität leugnen oder diskreditieren und bitte jeweils um Verständnis und Nachsicht.

Noch ein Hinweis zu den zitierten Stellenanzeigen: Ich habe den Text original, oft gekürzt, aber nie korrigiert übernommen. Befanden sich im Original Schreibfehler, so wurden diese übernommen.

Ich wünsche dem Leser interessante und spannende Einblicke in die neuronale Welt, die sich weit über die Personalauswahl bis hin zu persönlichen Beziehungen erstreckt. Vielleicht werden Sie entdecken, dass das Verhalten anderer im Verein, in der Nachbarschaft, Freundschaft oder in der Familie plötzlich viel verständlicher wird. Übertragen Sie die Erkenntnisse aus diesem Buch in Ihre berufliche und persönliche Kommunikation. Dann stellen Sie fest, dass sich schwierige Situationen entschärfen. Ganz sicher trägt dieses Buch damit auch zu einer besseren Kommunikation und einem erfolgreichen und harmonischen Miteinander bei.

Marcus Hein

Krefeld, Februar 2019

1. DAS WARUM DIESES BUCHES

Mit der MARCUS HEIN - Akademie für Neurologische Führung begleite und unterstütze ich Führungskräfte, in ihren Verantwortungsbereichen über sich hinaus zu wachsen. Mit meiner Vision „Kluge Köpfe, die Limits sprengen." zeige ich, dass mehr möglich ist. Dazu müssen wir Dinge verändern, nicht mit mehr Energie, Druck oder Kraft, sondern intelligenter.

Sie geben viel Geld aus, um für potenzielle Mitarbeiter attraktiv zu sein. Das reicht inzwischen bis hin zu Wechsel- und Willkommensprämien. Längst ist jedoch bekannt, dass attraktive Arbeitgeber und Führungskräfte von sich aus Mitarbeiter anziehen.

Viele Stellenanzeigen sind so gestaltet und getextet, dass die falschen Bewerber angezogen werden. Gleichzeitig klagen diese Unternehmen über Bewerbermangel. Und ist ein Bewerber gefunden und eingestellt, redet man ihn sich schön, ist aber von seinen Leistungen am Ende enttäuscht.

Für Leistungen jenseits durchschnittlicher Erwartungen ist es notwendig, exzellente Mitarbeiter zu gewinnen. Ich erinnere mich an eine Studie des Gallup Instituts, einem amerikanischen Marktforschungsunternehmen.

Die Forscher wollten wissen, was exzellente Führungskräfte anders machen, als durchschnittlich gute Führungskräfte. Diese Exzellenz machten sie an wirtschaftlichen Kennzahlen und Mitarbeiterbefragungen fest. Insgesamt betrachteten sie 105.000 Führungskräfte weltweit. Das, was sie herausgefunden haben, waren lediglich vier entscheidende Faktoren:

Der Durchschnitt stützt die Mitarbeiterentwicklung auf Lernprozesse mit dem Ziel, Karriereschritte zu planen. Exzellente Führungskräfte setzen auf die Passung zwischen Talent und Aufgabe. Darauf komme ich gleich zu sprechen.

Durchschnittlich gute Führungskräfte erzeugen Mitarbeitermotivation dadurch, dass sie individuelle Schwächen ermitteln und in umfangreichen Programmen überwinden. Exzellente Führungskräfte konzentrieren sich auf die Stärken der Mitarbeiter und setzen diese stärkenorientiert ein.

Im Erwartungsmanagement geht es dem Durchschnitt der Führungskräfte um die Festlegung der richtigen Schritte. Sie denken prozessorientiert. Exzellente Führungskräfte fokussieren auf die richtigen Ziele, auf Visionen, also auf das Warum.

In der Mitarbeiterauswahl greift der Durchschnitt zurück auf Ausbildung, Erfahrung, Intelligenz und Zielstrebigkeit. Exzellente Führungskräfte suchen nach Talenten. Das sind die Dinge, die dem Bewerber bzw. Mitarbeiter leicht fallen. Es ist offensichtlich, dass Unternehmen dann deutlich erfolgreicher sind, wenn sie Mitarbeiter dort einsetzen, wo ihnen die Arbeit leicht von der Hand geht.

Für den wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens oder eines Projekts ist entscheidend, vorhandene Ressourcen effizient und wirksam einzusetzen. Ausbildung und Erfahrung lassen sich bei Bedarf nachholen. Sie sind kein Indiz dafür, dass jemandem etwas leicht fällt. Auch kann niemand vorhersehen, ob der Mitarbeiter bereit sein wird, seine Kompetenzen wirklich einzusetzen. Vielleicht kann der Bewerber, aber wird er auch wollen?

Sie wollen Limits sprengen? Sie wollen das Unmögliche möglich machen? Dann fokussieren Sie sich auf die Talente Ihrer Mitarbeiter, denn Talente sind die Dinge, die leicht fallen. Und dabei lohnt es sich, ins Detail zu schauen. Mir fällt es zum Beispiel leicht, Strukturen zu erkennen oder zu improvisieren. Improvisieren setze ich im Training und Coaching ein, es macht mich flexibel. Ich setze es aber auch am Klavier oder der Kirchenorgel ein, oder als Dirigent in Chorproben. Es geht also nicht um Training oder Klavierspielen, sondern um das Talent Improvisation. Dem anderen fällt es leicht, Dinge zu organisieren. Dabei ist es unerheblich, ob er dieses Talent auf der Arbeit oder im Verein einsetzt.

Talente beziehen sich auf sogenannte synaptische Autobahnen. Darauf werde ich in den nächsten Kapiteln ausführlich eingehen. Motivation folgt solchen Autobahnen. Doch lassen Sie uns zuvor ein paar neurobiologische Grundlagen schaffen.

2. NEUROBIOLOGISCHE GRUNDLAGEN

Die Gehirnforschung beschränkte sich auf bis vor Kurzem auf Verhaltensbeobachtungen und Untersuchungen eines nach dem Tod entnommenen Gehirns. Erst seit relativ wenigen Jahren ist es möglich, einem lebenden Menschen ins Gehirn zu schauen. Und noch viel jünger ist die Möglichkeit, dem Gehirn beim Arbeiten zuzuschauen. Und auch heute ist das nur eingeschränkt möglich, da wir letztlich nur Aktivitäten messen, aber nicht beobachten können, was exakt geschieht.

Dennoch haben die letzten Jahre zu bahnbrechenden Erkenntnissen geführt, die gerade auch für Themen wie Motivation und Gesundheit relevant sind und einige wesentliche Paradigmen auf den Kopf stellen.

2.1. Aufbau und Entwicklung

Was wissen wir über die Entstehung des Gehirns? Nach der Befruchtung teilt sich die Zelle und ab der achten Zellteilung spezialisieren sich die Zellen. Ab der dritten Woche entwickelt sich das sogenannte Neuralrohr. Bereits in der vierten bis sechsten Schwangerschaftswoche bilden sich Vorder-, Mittel- und Hinterhirn aus. Weiter bildet sich die Großhirnrinde und bis zur Geburt des Kindes entstehen 100 Milliarden Nervenzellen.

Grundsätzlich unterscheiden wir drei Ebenen des Gehirns. Der entwicklungsgeschichtlich älteste Teil ist das sogenannte Stamm- oder auch Reptiliengehirn. Es regelt grundlegende Körperfunktionen, wie Herzschlag, Atmung sowie Zellteilung. Auch steuert es Reflexe.

Ein weiterer, jüngerer Teil des Gehirns ist das Limbische System. Es steuert körperliche Bedürfnisse, Empfindungen, Affekte und Gefühle. Dieser Teil ist auch ganz wesentlich am Wahrnehmungsprozess beteiligt.

Der entwicklungsgeschichtlich jüngste Teil des Gehirns ist die Großhirnrinde oder auch Neo-Cortex. Hier werden Erinnerungen gespeichert und hier findet bewusstes Denken statt. Auf das Thema Bewusstsein gehen wir aufgrund seiner Bedeutung noch ausführlicher ein.

Die eigentliche Leistung unseres Gehirns wird dadurch möglich, dass sich Nervenzellen miteinander verbinden und sich gegenseitig beeinflussen, hemmen oder aktivieren. Im Durchschnitt geht jede einzelne Gehirnzelle eine Verbindung mit 10.000 anderen Gehirnzellen ein. Man sagt, dass jede Zelle mit jeder anderen Zelle im Gehirn über eine weitere Zelle verbunden ist. Deshalb ist unser Gehirn so schnell.

Ein weiterer Grund für die hohe Schnelligkeit ist, dass Verbindungen zwischen zwei Gehirnzellen, so sie denn erfolgreich genutzt werden, mit einer besonderen Schicht umgeben werden (Myelinisierung), die die Übertragungsgeschwindigkeit auf das 100fache anhebt. Nicht genutzte Verbindungen lösen sich hingegen auf und sterben ab. Use it or lose it.

Das Gehirn eines Embryos oder Säuglings ist wie ein leeres Buch, dessen Seiten noch unbeschrieben sind. Jetzt könnte aus diesem kleinen Menschen noch alles werden: Polizist, Gewaltverbrecher, Bundespräsident, Postbote, Gehirnchirurg oder Sachbearbeiter. Im Laufe der individuellen Entwicklung werden die Seiten in diesem Buch gefüllt. Es entstehen Prägungen, Prioritäten, Werte, Überzeugungen. Ganz am Anfang gibt es die noch nicht.

2.2. Synaptische Autobahnen

Im vorherigen Kapitel sprach ich bereits über die Verbindungen zwischen den Nervenzellen. Diese sind für unser Thema zentral. Deshalb gehe ich darauf noch etwas vertiefend ein.

Dass Zellen Verbindungen eingehen ist durchaus metaphorisch erweiterbar auf die Verbindung zwischen Menschen: Das Gehirn eines Menschen will sich mit Gehirnen anderer Menschen verbinden. Lernen funktioniert ohne diese Verbindungen nicht. Wir brauchen einander, um leben zu können.

Eine einzelne Zelle im Gehirn des Menschen kann alleine nichts bewirken. Deshalb geht sie Verbindungen ein. Dabei entstehen für geübte Vorgänge, wie Schnürsenkelbinden, Autofahren oder Zähneputzen sehr starke Verbindungen. Ich bezeichne sie gerne als synaptische Autobahnen.

Hirntechnisch gesprochen, probiert eine synaptische Verbindung etwas Neues aus. Genauer gesagt, schaut sich der Mensch etwas bei einem anderen ab und in seinem eigenen Gehirn sind die gleichen Zellen und Verbindungen aktiv, wie bei demjenigen, der es vormacht. Das Kind sieht, wie die Mutter lächelt. Aufgrund emphatischer Nähe springen sogenannten Spiegelneuronen an und lösen das gleiche Aktionspotenzial im Gehirn des Kindes aus. Geschieht dies oft genug, wird das Kind irgendwann lächeln können. Dazu muss es keine Regeln oder Prozessabläufe lernen. Es macht einfach.

Das Kind probiert bestimmte synaptische Verbindungen aus. Viele funktionieren nicht oder sind nicht geeignet. Doch irgendwann funktioniert etwas. Das stärkt die Verbindung. Andere Verbindungen reihen sich ein und es entsteht eine synaptische Autobahn.

Falls Sie wissen wollen, was eine synaptische Autobahn ist, machen Sie bitte folgende Übung. Vermutlich putzen Sie sich morgens und abends die Zähne immer mit der gleichen Hand. Ich nehme immer die rechte. Die Steuerung dieses Vorgangs ist eine synaptische Autobahn. Sie funktioniert perfekt, weitgehend fehlerfrei und Sie müssen nicht darüber nachdenken.

Putzen Sie Ihre Zähne heute Abend mit der anderen Hand. Und seien Sie besonders vorsichtig, es könnte zu Verletzungen kommen (der Autor haftet ausdrücklich nicht für Schäden und Verletzungen!). Jetzt stellen Sie fest, dass Sie nicht mehr auf einer synaptischen Autobahn, sondern eher auf einem synaptischen Trampelpfad unterwegs sind.

Falls Sie daran wirklich Interesse haben und dran bleiben, also immer wieder die andere Hand benutzen, wird es einige Zeit brauchen und es entsteht eine neue Autobahn. Setzen Sie das über Jahre so fort, werden Sie irgendwann überlegen müssen, wie das mit der ursprünglichen Hand ging. Die alte synaptische Autobahn ist überwuchert, zerfallen, vielleicht gänzlich unbrauchbar geworden. Dafür funktioniert die neue Verbindung sehr gut.

Für den Führungsalltag und speziell den Auswahlprozess ist entscheidend, dass Sie Mitarbeiter auswählen bzw. so einsetzen, dass diese überwiegend auf synaptischen Autobahnen unterwegs sind. Natürlich haben Sie mit der ungewohnten Hand auch ihre Zähne geputzt. Aber war das toll? War es leicht? Sie mussten sich sehr anstrengen und konzentrieren, vielleicht hat es weh getan oder sogar geblutet. Mitarbeiter können Dinge außerhalb ihrer synaptischen Autobahnen tun. Das ist mühsam, braucht hohe Konzentration und gelingt nicht so perfekt. Spaß macht es auch nicht, aber es geht irgendwie. Exzellente Führungskräfte nutzen die synaptischen Autobahnen ihrer Mitarbeiter.

2.3. Bewusst & Unbewusst

Was glauben Sie: Wieviel Prozent neuronaler Prozesse laufen unbewusst ab und entziehen sich damit der bewussten Kontrolle?

Diese Frage führt in der Regel bei meinen Seminarteilnehmern zu einer Antwort die bei 80 : 20 oder 90 : 10 liegt. Die meisten gehen davon aus, dass der überwiegende Teil unbewusst gedacht wird.

In der Tat geht man - sehr vorsichtig, wie ich finde - davon aus, dass 70 bis 90 Prozent unserer Entscheidungen unbewusst gefällt werden. Dies ist schwer zu beurteilen, weil unser Gehirn nach einer Entscheidung sofort die (und nur die) Argumente einsammelt, die die Entscheidung rechtfertigen. Damit wirkt die Entscheidung, als wäre sie bewusst gefällt.

Betrachtet man alle neuronalen Prozesse, so geht die Wissenschaft von einem Verhältnis von 1 zu einer Million aus. Das heißt, auf einen bewusst gedachten Vorgang kommen eine Million unbewusste Vorgänge. Hierzu zählen auch alle Vorgänge, die der Körpersteuerung und der Wahrnehmung dienen.

Im nächsten Kapitel über Wahrnehmung komme ich auf dieses Thema noch einmal zurück. Sobald wir verstehen, wie Wahrnehmung funktioniert, wird deutlich, dass ein sehr hoher Anteil unbewusst stattfindet. Dies wirkt sich wesentlich auf Mitarbeiterführung, gegenseitiges Verständnis und Einflussnahme aus.

2.4. Wahrnehmungsprozess

Um den Wahrnehmungsprozess zu verstehen, werde ich ein konkretes Beispiel darstellen.

Äußere visuelle Reize dringen durch die Pupille ins Innere des Auges und bilden sich auf der Rückseite, der Retina ab. Dort werden sie in elektrische Impulse umgewandelt und über Nervenbahnen ins Gehirn geleitet.

Vergliche man das Gehirn mit einem Computer, so würden die Impulse auf der Grafikkarte verarbeitet. Im menschlichen Gehirn ist das anders. Die elektrischen Impulse landen zunächst und direkt im Limbischen System, dort im sogenannten Thalamus. Der Thalamus ist der Eingangspförtner des Gehirns. Er entscheidet, ob eine äußere Wahrnehmung bedrohlich ist oder nicht. Ist sie bedrohlich, wird sofort das Alarmsystem aktiviert und es kommt zu reflexartigen Reaktionen, vorwiegend aus dem Stammhirn. Dieser Prozess dauert zwischen 120 und 150 Millisekunden.

Ist die Wahrnehmung nicht bedrohlich, wird sie im Gehirn weiterverarbeitet. Die Qualität des von der Retina gelieferten Bildes ist nicht sonderlich gut. Das nachstehende Bild deutet das an. Eigentlich könnte unser Gehirn damit nichts anfangen.

Die Weiterverarbeitung dieses rudimentären Bildes findet nun iterativ statt. Der Thalamus fragt quasi im visuellen Cortex nach, ob dieses Bild-Fragmente bekannt sind. Auch andere Areale, wie z. B. der auditive Cortex, werden nach weiteren Informationen befragt. Und so baut das Gehirn sich ein Bild zusammen, von dem sein Besitzer behauptet, dass es die äußere Realität ist. In Wahrheit ist es überwiegend konstruiert, weshalb wir auch von Konstruktivismus sprechen. Und es ist fertig konstruiert einschließlich aller emotionalen Aufladungen nach ca. 350 bis 400 Millisekunden.

Ist das jetzt bewusst oder unbewusst? Sicher können Sie diese Frage selbst beantworten.

Die Auflösung des Bildes finden Sie auf der Autorenseite.

Was lernen wir für die Neurologische