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Tom Gschwandtner & Christian Redl

Wirklich leben heißt entscheiden

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Inhalt

Kapitel 1

Worauf warten wir eigentlich? Dass das Leben endlich beginnt?

Kapitel 2

Das Kennenlernen von Tom Gschwandtner und Christian Redl.

Kapitel 3

Wenn sich das Leben plötzlich ändert.

Kapitel 4

Der erste Schritt vor jeder Entscheidung: ehrliche Bestandsaufnahme.

Kapitel 5

Entscheide, wie du denken möchtest. Dem Denken eine Richtung geben.

Kapitel 6

Aktive Entscheidungen treffen. Selbst den Ton angeben. Auf sich selbst hören.

Kapitel 7

Entscheide dich, Verantwortung zu übernehmen.

Kapitel 8

Richtige und falsche Entscheidungen.

Kapitel 9

Entscheide dich gegen Mittelmaß. Grenzen überwinden und sich befreien.

Kapitel 10

Entscheide, auf wen du hörst und mit wem du dich umgibst. „Don’t listen to the naysayers.“

Kapitel 11

Unterschätze kleine Entscheidungen nicht. Neinsagen lernen.

Kapitel 12

Wenn wir wirklich schwierige Entscheidungen treffen müssen.

Kapitel 13

Entscheidung für das Jetzt. Vergangenheit loslassen und durchstarten!

Kapitel 14

Jetzt sind Sie dran. Auf ins wirkliche Leben!

Kapitel 1

Worauf warten wir eigentlich? Dass das Leben endlich beginnt?

„Ein frei denkender Mensch bleibt nicht da stehen, wo der Zufall ihn hinstößt.“

Heinrich von Kleist

Na? Wie schmeckt Ihnen Ihr momentanes Leben? Sind Sie hungrig auf mehr von dem, was da ist? Fehlt Ihnen nicht doch etwas Frische und Würze? Oder sind Sie schon satt, demotiviert und müde? Hand aufs Herz. Läuft Ihr Leben tatsächlich nach Ihren Wünschen und Vorstellungen? Läuft es vielleicht nur? Oder läuft im Moment nichts, wie es sollte? Jeder von uns kennt diese Phasen, und viele werden sie wahrscheinlich schon mehrmals durchlebt haben. Das Leben ist eben keine Glückskurve, die ausschließlich steil nach oben geht. Es ist aber auch bei Weitem kein ewiges Jammertal, aus dem es kein Entrinnen gibt. Wenn alles glatt läuft und die Sonne in unser Leben lacht, fällt es uns naturgemäß leichter, die Dinge anzupacken. Da sitzen uns der Mut und die Zuversicht in den Knochen, dass es nur so eine Freude ist. Ziehen aber die ersten dunklen Wolken auf und wird es düster, sieht plötzlich alles ganz anders aus. Jede Leichtigkeit ist schlagartig verschwunden und wir glauben unrettbar in unserem Unglück festzustecken. Wir treten auf der Stelle, und die Schwere unseres scheinbar endlosen Leides drückt uns den Kopf zwischen die Schultern. Erinnern wir uns aber zurück, zum Beispiel an unseren ersten Liebeskummer, an überstandene Erkrankungen, an überwundene Verluste oder Schicksalsschläge, dann stellen wir fest, dass auch das vorübergegangen ist, und dass es ausgerechnet diese belastenden Situationen waren, die uns stärker gemacht und wachsen haben lassen.

Leben bedeutet permanente Veränderung. Es ist ein ewiges, unumstößliches Naturgesetz, dass sich alles verändert. Jeder von uns weiß das. Dennoch lassen wir diese Tatsache viel zu sehr außer Acht und klammern uns verbissen an Dinge, Personen, Umstände, sogar an unsere Gefühle und Gewohnheiten, obwohl wir uns darüber im Klaren sein müssten, dass es da nichts festzuhalten gibt. Es ist, als würden wir mit der bloßen Hand in einen Fluss greifen, um das Wasser festzuhalten. Wenn wir aber loslassen und akzeptieren, dass sich die Dinge eben ändern, dann vergeuden wir nicht sinnlos unsere Energie, sondern können jederzeit neu durchstarten. Nicht jammern und nicht klammern. Eigentlich ganz einfach.

Wenn wir das Gefühl haben, festzustecken oder wenn wir meinen, dass sich unsere verfahrene Lebenssituation oder eine momentane Krise niemals zum Besseren ändern wird, dann ist es äußerst befreiend, sich genau jetzt noch einmal dieses Gesetz der Veränderung und der Vergänglichkeit ganz bewusst vor Augen zu führen. So schlimm eine Situation auch sein mag: Auch diese geht vorüber. Und jederzeit kann unerwartet etwas Wundervolles in unser Leben treten. Natürlich bedeutet das nicht, die Hände in den Schoß zu legen und untätig abzuwarten, bis sich die ganze Angelegenheit von selbst erledigt hat. Ganz im Gegenteil. Die Gewissheit, dass selbst die schlimmste Situation irgendwann überstanden sein wird, gibt uns die Zuversicht und die notwendige Kraft, das Beste daraus zu machen, anstatt in Selbstmitleid und Resignation zu versinken.

Unabänderliche Tatsachen müssen wir zwar hinnehmen und akzeptieren, aber meistens haben wir ein gewichtiges Wort mitzureden und können das Heft selbst in die Hand nehmen. Es ist uns oft nur nicht bewusst, welche großartigen Chancen und Möglichkeiten wir tatsächlich haben, um den Lauf der Dinge nach unseren eigenen Wünschen und unseren innersten Bedürfnissen zu steuern.

Natürlich werden wir niemals alles unter Kontrolle haben können. Das heißt aber noch lange nicht, dass wir uns deshalb zum Spielball der Umstände und der äußeren Einflüsse degradieren lassen müssen. Wir sind die Spieler. Wir können die Initiative übernehmen, wir können eine gestalterische Haltung einnehmen und aktiv bestimmen, wohin der Ball fliegen und wo er landen soll. Es kommt lediglich darauf an, wie wir uns entscheiden und wohin wir zielen. Wir müssen es nur tun. Ansonsten vergeuden wir das Wertvollste, was wir haben.

Tom Gschwandtner und Christian Redl

„Wir haben uns entschieden! Für einen Lebenstraum und für das Leben überhaupt.“

Jeder Mensch hat seine ganz persönliche Art, Entscheidungen zu treffen, Herausforderungen zu bewältigen oder das Leben überhaupt zu meistern. Dafür kann es keine allgemeingültige Gebrauchsanweisung und schon gar kein Patentrezept geben. Bei der Arbeit an diesem Buch hörten wir zufällig im Radio, dass heutzutage besonders die Ratgeberliteratur boomt. Eine nicht sonderlich überraschende Information, aber dennoch interessant genug, dass wir im Internet das Stichwort „Ratgeber“ in das Suchfeld eintippten. Das Ergebnis hat uns dann doch überrascht. Allein in der Kategorie „Ratgeber in deutscher Sprache“ hat die Suchmaschine unglaubliche 270.000 (in Worten: zweihundertsiebzigtausend) Buchtitel über alle möglichen Themen ausgespuckt! Einkaufen, Kinder, Eltern, Gesundheit, Abnehmen, Lebensführung, Auto, Sex, Garten, Einrichtung, Bewegung, Kommunikation, Beziehungen, Psychologie, Recht, Glück, Stärke, Schönheit – und diese Liste ging schier endlos weiter. Kein Lebensbereich, der nicht beratschlagt würde. Vielleicht könnte man noch einen Ratgeber für den Umgang mit Ratgebern schreiben, aber vermutlich gibt es sogar einen solchen bereits.

Natürlich stolpert einem da sofort die Frage durch den Kopf, warum in unserer Zeit ein derart großer Bedarf an Tipps, Tricks und Zauberformeln herrscht? Woran hat man sich eigentlich früher orientiert? Also in der prä-rat-gegebenen Zeit? Wie konnte man sich damals ohne Anweisungsliteratur halbwegs würdig auf den Beinen halten, verletzungsfrei ein Glas Wasser trinken oder im Großen und Ganzen mit seinem Leben zufrieden sein? Wie konnte man ohne Anleitung in der richtigen Reihenfolge die Augen auf- und zumachen?

Die Ratgeberliteratur boomt also, und jetzt kommen ausgerechnet ein Rollstuhlfahrer und ein Profitaucher mit ihren Weisheiten daher? Eine berechtigte Frage, die wir uns natürlich auch gestellt haben, denn die Gefahr ist naturgemäß groß, dass bereits alles gesagt wurde, nur noch nicht von uns. Dennoch halten Sie nun dieses Buch in Ihren Händen. Es war uns ein echtes Herzensanliegen, unsere persönlichen Erfahrungen mit dem Thema Entscheidungen weiterzugeben, weil wir überzeugt sind, dass dieses Buch Inspiration sein und Mut machen kann, das Leben selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu gestalten, anstatt sich in eingefahrene Routinen und ungewollte Fremdbestimmung zu verstricken.

Wir möchten Ihnen einen Einblick in unsere Lebensgeschichten geben und Ihnen von unseren persönlichen Erfahrungen berichten. Wir haben selbst erlebt, dass es immer einen Weg gibt, um nicht in Widerstand zu leben, sondern aus jeder Situation das Beste zu machen. Egal, ob man sein bisheriges Leben nicht mehr weiterführen möchte oder ob man sein altes Leben nicht mehr zurückhaben kann. Es sind nicht die Voraussetzungen oder Umstände, die den Verlauf und die Qualität unseres Lebens bestimmen, sondern es ist unsere ganz persönliche Entscheidung, was wir aus unserem zeitlich sehr begrenzten Dasein machen. Wenn wir alle Ausreden weglassen, können wir immer wählen, wohin die Reise führt.

Das Leben ist oft gar nicht so kompliziert und viele Situationen sind auch nicht so schwierig, wie sie uns manchmal vielleicht vorkommen. Wenn wir einfach damit aufhören, aus jeder Kleinigkeit eine große Geschichte zu machen, dann haben wir schon enorm viel erreicht, weil der Druck und die Belastung spürbar weniger werden. Wenn wir die Dinge so nehmen, wie sie sind, nicht überbewerten oder aufbauschen, dann bleibt unser Blick klar und wir können viel leichter zu guten Entscheidungen kommen. Es ist unsere Wahl, ob wir Pilot oder Passagier sind.

Der amerikanische Boxweltmeister Joe Luis drückte es einmal so aus: „Alle wollen in den Himmel, aber keiner will sterben.“ Dieser treffenden Aussage stimmen wir absolut zu! Alles hat seinen Preis. Was auch immer wir erreichen möchten, uns muss dabei klar sein, dass wir nur in den seltensten Fällen etwas geschenkt bekommen. So schön es auch wäre, aber meistens fällt uns das Glück nicht so einfach in den Schoß. Wenn man in der Lotterie gewinnen möchte, muss man sich zumindest ein Los kaufen.

Ein gelungenes, selbstbestimmtes Leben hängt von unseren Entscheidungen, unserem entschlossenen Tun und unserem Dranbleiben ab. Egal, wie schwierig die Umstände auch sein mögen. Man muss sich weder im Rollstuhl ausbremsen lassen, noch muss man sich von irgendjemandem einreden lassen, dass es unmöglich sei, sich einen großen Lebenstraum zu erfüllen und beispielsweise Profifreitaucher zu werden. Mit einer lebensbejahenden Haltung bedeutet eine hohe Querschnittlähmung noch lange nicht das Ende, und auch die Erfahrungen im Extremtauchen zeigen, dass man mit einer positiven mentalen Einstellung scheinbar Unmögliches schaffen und über vermeintliche Grenzen hinausgehen kann. Dieses Buch soll nicht nur Unterstützung sein, das Leben besser und leichter zu meistern, sondern es soll Anregung sein und motivieren, sich für das Leben zu begeistern!

Kapitel 2

Das Kennenlernen von Tom Gschwandtner und Christian Redl.

„Das Schlimmste in allen Dingen ist die Unentschlossenheit.“

Napoleon

Im Juni 2018 sind wir einander auf einer Plattform dieser „sozialen Medien“ über den Weg gelaufen. Sagt man doch so. Über den Weg laufen. Auch wenn ein Rollstuhlfahrer und ein Profifreitaucher aufeinandertreffen. Man fährt oder taucht einander ja nicht über den Weg. Aber egal. Jedenfalls haben wir nach einigen Textnachrichten, die wir zwischen dem Waldviertel und dem südlichen Niederösterreich hin und her geschickt hatten, festgestellt: Wir müssen uns unbedingt persönlich treffen! Kurz darauf saßen wir auch schon in einem Lokal in der Nähe von Wien und konkretisierten unsere zuvor im Chat entstandene Idee, gemeinsam ein Buch zu schreiben.

Das Thema ließ uns einfach nicht mehr los. Es faszinierte uns, dass wir aufgrund unserer völlig konträren Lebenssituationen zwar ganz unterschiedliche Schwierigkeiten zu stemmen haben, aber trotzdem sehr viele Gemeinsamkeiten entdecken konnten, wie wir mit diesen Herausforderungen umgehen.

Ein Leben im Rollstuhl erfordert naturgemäß etwas mehr Anstrengung, und dennoch kann man mit der richtigen Einstellung und beherzten Entscheidungen ein sehr gutes Leben daraus machen, ja man kann sogar mehr zustande bringen als man ursprünglich gedacht hätte.

Ebenso ist es mit Entschlossenheit und Willenskraft möglich, sich einen Lebenstraum zu erfüllen, um beispielsweise professioneller Freitaucher und mehrfacher Weltrekordhalter zu werden. Grenzen zu verschieben und ein freudvolleres, weil freieres Leben zu führen ist nicht unmöglich, wenn man sich aus vollem Herzen dafür entscheidet!

Genau darum geht es in diesem Buch. Um Entscheidungen, weil wir dadurch selbst bestimmen, wie unser Leben verläuft. Aufgrund unserer Entscheidungen sieht unsere gegenwärtige Lebenssituation so aus, wie sie ist, und durch unsere Entscheidungen gestalten wir unsere Zukunft. Egal, über welches Thema wir bei unserem ersten Treffen in diesem Lokal sprachen, egal, welchen unserer Lebensbereiche wir durchleuchteten, wir kamen immer auf diesen einen Punkt. Somit war es natürlich auch keine große Überraschung, dass wir dort, in diesem Lokal in der Nähe von Wien, ebenfalls eine klare Entscheidung trafen: Wir machen dieses Buch!

Was dann folgte, war ein intensives Jahr zahlreicher Treffen, Gespräche, Mails und Telefonate. Wir recherchierten, sammelten Ideen, überprüften Fakten und klopften immer wieder unsere Sichtweise auf Richtigkeit ab. Schließlich sind wir weder Psychologen noch ausgebildete Fachleute in diesem Themenbereich. Was wir aber mitbringen, sind unsere persönlichen Erfahrungen aus vierundzwanzig Jahren als Rollstuhlfahrer und vierzehn Jahren als Profisportler in Grenzbereichen. Davon möchten wir Ihnen erzählen. Vielleicht kann die eine oder andere Geschichte eine Bereicherung für Ihr Leben sein.

Tom Gschwandtner

„Freitauchen ist für Christian nicht nur eine faszinierende Sportart, sondern auch eine Lebensschule.“

Wie vorhin erwähnt, kam der Kontakt zwischen Christian und mir über ein soziales Medium zustande. Eine großartige Sache also! Dennoch sind gerade diese Medien bekannt dafür, dass man sich dort selbst gerne ein bisschen besser darstellt, als man in Wirklichkeit ist. Überspitzt ausgedrückt ist jeder ein Superstar, jeder hat das tollste Leben, erlebt die aufregendsten Abenteuer, ist im Besitz der absoluten Wahrheit und natürlich schielt absolut niemand jemals auf die Likes und die Anzahl der Kommentare. Selbstverständlich machen das auch Christian und ich niemals! Auf den Punkt gebracht: Man belügt sich.

Was in diesen Medien also gang und gäbe und in diesem Rahmen soweit ja auch in Ordnung sein mag, funktioniert im Echtbetrieb des Lebens freilich nicht. Man kann vielleicht kurzfristig da und dort einen Filter über etwas nicht so Tolles legen, aber irgendwann geht das zwangsläufig schief. Als mir Christian über seinen Werdegang vom Investmentbanker zum Profifreitaucher erzählte und besonders, wie er es schafft, derart lange die Luft in Extremsituationen anzuhalten, kamen wir genau auf dieses Thema, nämlich „Ehrlichkeit sich selbst gegenüber“, zu sprechen. Was ich bis dahin zum Beispiel nicht wusste, war, dass ein positiver Gedanke weniger Sauerstoff verbraucht als ein negativer. Ein hochinteressantes Phänomen, das Christian beim Freitauchen messbar macht! „Unter Wasser kannst du dich nicht belügen, sechzig Sekunden sind sechzig Sekunden“, so brachte er es im Gespräch auf den Punkt, und dann sagte er noch: „Viele Leute stehen vor dem Spiegel und reden sich ein, dass eigentlich eh alles super ist.“ Würde Christian mit einer derart verfälschten Selbsteinschätzung freitauchen, unter Eis oder in Höhlen, wo er mit seinen Gedanken völlig alleine ist, bekäme er umgehend die Rechnung für seine Entscheidung präsentiert. „Wenn ich mich unter Wasser nicht belüge, warum sollte ich es dann im Alltag, wo es meist um viel weniger Dramatisches geht, tun?“ Eine Sicht der Dinge, die mir selbst auch zu einer grundsätzlichen Lebenseinstellung geworden ist, seit ich vor fünfundzwanzig Jahren drei Wochen lang beatmet auf der Intensivstation lag und mit den ungefilterten Tatsachen klarkommen musste. Seither weiß ich, dass ich mit weitaus Schlimmerem als mit irgendwelchen alltäglichen Sorgen und Problemen fertig werden kann.

Im Verlauf unseres Gesprächs wurde mir immer mehr bewusst, dass mir da ein ganz besonderes Exemplar gegenübersitzt. Christian erzählte derart unaufgeregt von seinem Leben als Freitauchprofi, dass es erst nach und nach in meinen Verstand sickerte, zu welch unglaublichen Leistungen er imstande ist. Christian kann sieben Minuten lang die Luft anhalten. Sieben! So lang kann ich nicht einmal meine Klappe halten.

Ich bekam mit der Zeit auch den Hauch einer Idee, was es tatsächlich heißt, mit nur einem einzigen Atemzug unter Eis, in Höhlen, am Nordpol oder in über fünftausend Metern Seehöhe zu tauchen und dabei auch noch Freitauchweltrekorde aufzustellen. Im Klartext: Christian war oder ist bereits zehn Mal weltweit der Beste im Freitauchen! Natürlich gibt es alle möglichen, respekteinflößenden Weltrekorde. Ein sehr bekanntes, sehr dickes Buch ist voll davon. Aber das, was Christian mental und physisch leistet, ist schon etwas sehr Spezielles. Man muss sich das einmal vorstellen: Einen letzten Atemzug nehmen und mit dem Wissen abtauchen, dass man diesen Tauchvorgang nicht abbrechen kann, weil über einem eine dicke Eisdecke oder massives Gestein ist. Dieser psychische Druck, keinen Ausweg zu haben, die Kälte, Dunkelheit und Enge, das würde die meisten von uns schon in endlose Panik versetzen, wenn nicht einmal Wasser mit im Spiel wäre. Christian aber muss am Einstiegsloch alles rund um sich ausblenden und sich in einen tiefen Entspannungszustand bringen, trotz der Kälte seine Herzfrequenz bis auf nur 25 Schläge pro Minute absenken und während eines letzten Atemzuges definitiv entscheiden, ob er in der Lage sein wird, die Tauchstrecke unter Eis bis zum Ausstiegsloch zu schaffen. Wenn du da ein Problem bekommst, steckst du wirklich in ernsthaften Schwierigkeiten.

Stichwort Problem. Von Christian erfuhr ich auch, dass er sich schon längere Zeit mit einer von ihm ins Leben gerufenen Initiative sehr stark für die Rettung der Ozeane einsetzt, weil bereits ein massives, sehr ernstzunehmendes Umweltproblem besteht. „7Oceans – for the love of the oceans“ nennt sich sein weltweites Projekt, das dadurch entstanden ist, dass Christian durch seine Tauchgänge rund um den Globus mit eigenen Augen gesehen hat, zu welchen dramatischen Verschmutzungen der Weltmeere es bereits gekommen ist und wie sehr die Pflanzen- und Tierwelt dadurch unmittelbar bedroht ist. Besonders setzt sich Christian für den Schutz der Haie ein. Faszinierende Meeresbewohner, die leider von den meisten Menschen immer noch in einem völlig falschen Licht gesehen werden. Und als mir Christian von seinen vielen unbeschreiblichen und, wie er sagt, ungefährlichen Freitaucherlebnissen mit diesen Tieren vorschwärmte, waren wir wieder beim Thema Problem, genauer gesagt dabei, auf welche Weise viele Menschen ein Problem betrachten. Nämlich mit einer zu engen Sichtweise und immer nur aus der gleichen Perspektive. Viel zielführender ist es, einmal einen ganz anderen Blick auf das Problem zu werfen, um erstens zu erkennen, ob die Situation tatsächlich so bedrohlich ist, und zweitens, um neue Lösungsmöglichkeiten zu entdecken.

Ich selbst hätte nämlich auch angenommen, dass eine Begegnung mit einem Hai eine gefährliche, wenn nicht sogar lebensbedrohliche Situation wäre. Christians spannende und hochinteressante Schilderung von seinen Erlebnissen mit diesen Raubtieren hat mich nicht nur eines Besseren belehrt, sondern ich hielt dabei tatsächlich über einen längeren Zeitraum meine Klappe: Das Tauchen mit diesen imposanten Meeresbewohnern ist für ihn keineswegs riskant, obwohl er sich natürlich bewusst ist, dass immer ein kleines Restrisiko besteht, wenn man einem „gefährlichen“ Tier begegnet.

Christian aber taucht ja ganz bewusst mit diesen Tieren, ist darauf vorbereitet und geht auch nur bei bester Sicht ins Wasser, weil er so die Haie sehr gut beobachten und rechtzeitig auf deren Verhalten korrekt reagieren kann. Den größten Fehler, den man bei einer Begegnung mit einem Hai machen kann, ist: wegschwimmen. Aus Sicht des Raubtieres ist die Sache damit klar. Wer vor ihm flüchtet, ist schwächer, hat Angst und könnte somit ein Beutetier sein. Wer flieht, macht sich zum Futter, ein ganz simples Naturgesetz, das man kennen und unbedingt beachten muss.

Christian dreht den Spieß um, wenn ein Hai direkt auf ihn zukommt und signalisiert dem Tier, dass er als Taucher der Stärkere ist. Mit einem ganz einfachen Trick. Wenn sich der Hai nähert, sieht dieser von vorne ja nur den kleinen Kopf des waagrecht tauchenden Menschen, was das Raubtier naturgemäß nicht sonderlich beeindrucken wird. Also bringt sich Christian in eine senkrechte Position und plötzlich sieht der Hai einen viel größeren Gegner vor sich, was sein Verhalten nun doch wesentlich beeinflusst, noch dazu, weil sich Christian in dieser Position auf ihn zubewegt. Sollte der Hai trotzdem nicht abdrehen und im Angriffsmodus bleiben, bleibt noch eine weitere, sehr effektive Maßnahme, indem man mit der flachen Hand Wasser gegen seine Kiemen drückt. Dem Hai bleibt dadurch sprichwörtlich die Luft weg. Die Unfähigkeit zu atmen macht den Raubfisch vorübergehend kampfunfähig und deswegen wird er Christian nicht mehr weiter attackieren, sondern sich freundlich für ein Selfie mit ihm zur Verfügung stellen.

Hier schloss sich der Kreis und wir waren in unserem Gespräch wieder beim Stichwort „Problem“ angelangt, weil Christian einen interessanten Vergleich zog. Ein Hai stoppt den Angriff in den allermeisten Fällen sofort, wenn Christian seinen Körper in eine senkrechte Position bringt. Die vermeintlich leichte Beute verwandelt sich für den Hai also allein durch die veränderte Perspektive in einen übermächtigen, unbezwingbaren Gegner.

Wenn wir Menschen im Alltag einem Problem gegenüberstehen, machen wir es oft genau umgekehrt. Wir selbst verharren in unserer Position und Sichtweise, drehen und wenden aber das Problem solange, bis es uns riesig und unlösbar erscheint. Die bessere Option: Einfach das Problem so zur Kenntnis nehmen, wie es nun einmal ist, und nicht noch künstlich eine größere Geschichte daraus machen. Dann fällt es uns auch leichter, die nötigen Entscheidungen zu treffen, um diese Sache aus der Welt zu schaffen.

Das gefiel mir! Treffender hätte es Christian bei unserer ersten Begegnung in diesem Lokal gar nicht ausdrücken können. In der Überschrift dieser Textpassage habe ich angeführt, dass das Freitauchen für Christian auch eine Lebensschule ist. Ich finde, damit hat er völlig Recht.

Christian Redl

„Ich war überrascht. Von Toms Tatendrang, seiner mentalen Einstellung und von seiner unerschütterlichen Dankbarkeit gegenüber dem Leben.“

Als ich Tom an diesem extrem heißen Tag im Juni zum ersten Mal sah, hatte ich sofort den Eindruck, dass ihm seine Behinderung völlig egal ist. Im weiteren Verlauf unserer Unterhaltung bestätigte sich meine Vermutung immer mehr. Tom lässt sich von seiner Querschnittlähmung nicht im Geringsten beeinträchtigen, sondern hat einen enormen Zug nach vorne. Außerdem hatte ich bei ihm das Gefühl, einen guten, alten Bekannten getroffen zu haben. Noch bevor wir bei der Kellnerin unsere Bestellung aufgegeben hatten, fragte er mich auch schon: „Und? Wie gehen wir es an?“ Wie gesagt, Zug nach vorne.

Ich selbst habe von klein auf an beiden Beinen eine extreme Fußfehlstellung. Trotz mehrerer Operationen bin ich dadurch auch heute noch gehandicapt und kann mich nicht schmerzfrei bewegen. Im Wasser hingegen werde ich zum Pinguin und merke nichts von meiner Einschränkung. Das erklärt auch, warum ich schon als Kind lieber im Wasser war und schon sehr früh mit dem Tauchen begonnen habe. Wasser ist mein Element.

Aber was ist schon mein orthopädisches Problem im Vergleich zu Toms Behinderung? Und vor allem, welches Element hat Tom für sich entdeckt, das ihm die Kraft gibt, derart fest im Leben zu stehen? Wasser jedenfalls nicht, hat er mir lachend erzählt, denn das sei aufgrund seiner Lähmung eine einzige Bedrohung für ihn. Völlig frei fühle er sich aber, wenn er mit seinem auf Handbetrieb umgebauten Auto fährt: „Autofahren ist meine kurze Auszeit vom Rollstuhl, aber den Großteil des Tages muss ich einfach ohne Widerstand mit meiner Situation umgehen können. Mein Element kann daher nur in meinem Kopf sein. Was ich durch den Unfall gelernt habe, ist, dass ich mich den Tatsachen stellen muss. Ich kann definitiv nicht mehr davonlaufen, so wie ich es früher gerne getan habe. Ich habe keine Chance, mich zu drücken. Ich kann nicht wegrennen. Egal, womit ich mich auch ablenken würde, egal, wo ich auch hinfahren oder hinfliegen würde, ich bin überall gelähmt. Mein Körper macht zum größten Teil nicht mehr das, was ich vielleicht gerne hätte. Also muss es mein Geist tun. Ich bin nicht behindert, weil ich es im Denken nicht bin. Deshalb kann mich meine Behinderung gernhaben. Natürlich musste ich lernen, meine Behinderung vollständig zu akzeptieren. Ich kann sie durch nichts wegschieben, sie gehört bis zum letzten Atemzug zu mir. Kein medizinisches Wunder wird mir das abnehmen. Wenn doch, dann freue ich mich darüber. Aber ich hoffe nicht darauf. Ich akzeptiere es so, wie es ist. Und dass mir das tatsächlich gelungen ist, dafür muss ich dankbar sein. Das ist nämlich nicht selbstverständlich. Was will ich eigentlich mehr?“