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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

©2011
Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 9783844857214

Frank Lehmann

Jahrgang 1966, entdeckte, nachdem er einige Jahre in der Informatikbranche und der Werbung tätig gewesen war, dass seine eigentliche Leidenschaft dem Schreiben galt.

Aus dieser Leidenschaft heraus entstanden viele Geschichten für Kinder und Jugendliche, die seit 2011 auch als Bücher erschienen sind.

Jenny Harder

geboren 1986 in Hamburg, studierte Internationale Wirtschaftssprachen und Visuelle Kommunikaton. Heute ist sie als Freelance Designerin in Deutschland, Japan und England tätig.

Ihre Arbeit besteht hauptsächlich aus Aufträgen im Bereich Concept Art und Illustrationen.

Obwohl es ein sonniger Tag ist, dringt kaum Tageslicht durch die dichten Baumkronen des Waldes.

Mit kurzen Schritten läuft Schrabb so schnell er nur kann den Waldweg entlang. Immer wieder schaut er sich ängstlich um. Eingehüllt in einen Umhang, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, schauen lediglich noch die weit aufgerissenen grünen Augen sowie seine große fleischige Nase hervor.

Es kommt ihm so vor, als schauen ihn aus den Schatten, die sich im Halbdunkel des Waldes abzeichnen, tausend Augenpaare an.

»Diesen Teil des Weges mag ich überhaupt nicht«, murmelt er.

Angetrieben von seiner Angst tragen ihn seine Füße immer schneller voran.

Dann wird es lichter und das einfallende Sonnenlicht treibt die Schatten scheinbar tief in den Wald zurück. Ein letztes Mal dreht er sich zurück, um mit Erleichterung festzustellen, dass er es wieder einmal geschafft hat.

»Ich habe keine Angst, vor nichts und niemanden«, ruft er zurück.

Vor ihm öffnet sich der Wald und gibt den Blick frei auf das Tal, seine Heimat. Unten im Tal liegt Groda, eine Ansiedlung von kleinen Hütten, umringt von Wiesen und Äckern, auf denen einige der Dorfbewohner ihrer Feldarbeit nachgehen. Hinter dem Dorf strecken sich die Ausläufer des Eisgebirges gen Himmel. Auf dessen höchsten Erhebungen glitzert der niemals abschmelzende Schnee in der Sonne.

Schrabb lächelt bei diesem Anblick. Obwohl er von der Rennerei völlig aus der Puste ist, schlendert er nun fröhlich pfeifend den Weg zum Dorf hinunter. Auf der Brücke, die über den kleinen Bach in der Nähe des Dorfes führt, bleibt er stehen. Lässig lehnt er sich über das schon etwas morsche Geländer und schaut hinunter in das seichte Wasser, welches sich gemächlich zwischen den Steinen hindurch schlängelt. Er beobachtet zwei kleine Fische, die krampfhaft versuchen, zwischen den Steinen hindurch, gegen die Strömung anzuschwimmen. Schrabb greift sich einen Stein vom Boden und wirft ihn geschickt hinter den beiden Fischen ins Wasser. Aufgeschreckt und mit neuer Kraft schwimmen sie zwischen den Steinen hindurch und verschwinden im Dickicht der Pflanzen.

»Geht doch«, stellt er mit einem Lachen fest und setzt seinen Weg ins Dorf fort.

Als er die ersten Hütten erreicht, blickt Schrabb sich um. Niemand ist zu sehen. Ein Blick auf den Stand der Sonne bestätigt seine Befürchtung.

»Oh man, ich bin schon wieder zu spät«, murmelt er und schlängelt sich schnellen Schrittes zwischen den Hütten hindurch. Er läuft auf eine etwas abseits gelegene Hütte zu, reißt die Tür auf und stürmt hinein.

Erschrocken durch Schrabbs lautstarkes Eintreten dreht sich seine Mutter, die gerade mit einer großen Holzkelle eine Schale mit Suppe füllt, um. Fast hätte Sie die gefüllte Schale fallen lassen.

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»Schrabb«, ruft sie, »ich habe dir schon tausende Male gesagt, dass du mich nicht so erschrecken sollst.«

Sie wendet sich wieder dem Kessel zu, der über dem offenen Feuer an einer Kette hängt und hängt die Holzkelle über dem Kessel an eines der Kettenglieder.

Schrabb schließt vorsichtig die Tür und lächelt verlegen.

»Entschuldigung Mama«, sagt er.

Während er sich seines Umhangs entledigt und an einen der Holzhaken neben der Tür hängt, stellt seine Mutter die Schale mit herrlich duftender Suppe auf den Holztisch.

»Und zu spät bist du auch mal wieder«, sagt sie und fügt dann noch mit fragendem Blick hinzu. »Du weißt doch, was heute für ein Tag ist?«

Mit gesenktem Kopf setzt sich Schrabb an den Tisch und murmelt. »Die Anhörung, ich hab es nicht vergessen.«

Die Mutter nickt zustimmend, greift in die Tasche ihrer Schürze und zieht einen kleinen Holzlöffel heraus. Sie wischt ihn noch schnell an der Schürze ab und reicht ihn dann Schrabb.

»Mein Kleiner«, sagt sie, «jetzt wird aber erst einmal gegessen. Alles andere kann warten.«

Sie streicht ihm mit der Hand über sein krauses Haar und blickt nachdenklich aus dem kleinen Fenster neben der Tür.

»Nur gut, dass dein Vater heute zur Jagd ist«, sagt sie ruhig, »die Anhörung wäre sicher eine Schmach für ihn.«

Schrabb löffelt still seine Suppe und wagt es gar nicht erst, zu seiner Mutter aufzuschauen.

»Wo warst du eigentlich den ganzen Vormittag?«, fragt sie verwundert.

Schrabb zuckt ein wenig zusammen. Diese Frage musste ja kommen. Sein Blick fällt auf die Mutter, die sich gerade daran macht, einige Holzschalen in einem Eimer voll Wasser zu reinigen.

»Bei Xsantus«, murmelt Schrabb verlegen.

Mit strengem Blick wendet sich ihm die Mutter zu.

»Du weißt doch genau, dass dein Vater und ich es nicht möchten, dass du zum Zauberer gehst«, sagt sie. »Der Weg in die Berge ist gefährlich und die Dinge, die du bei Xsantus lernst, bringen dir nur noch mehr Ärger ein.«

Schrabb senkt den Kopf und rührt verlegen in dem Rest seiner Suppe herum.

»Aber er ist doch mein Freund und hat doch sonst niemanden«, murmelt er vor sich hin.

Seine Mutter geht kopfschüttelnd zurück zur Feuerstelle und schwenkt den Kessel vom Feuer.

»Du solltest lieber mit den anderen Kindern spielen, das würde uns einige Sorgen ersparen.«

So köstlich die Suppe auch sein mag, das Gespräch mit seiner Mutter sowie der Gedanke an die Anhörung, lassen jeglichen Appetit vergehen. Schrabb steht auf, bringt schweigend die Schale hinüber zur Mutter und geht zu seinem Bett, das sich, abgetrennt durch ein Leinentuch, in der hinteren Ecke der Hütte befindet. Die Mutter blickt ihm etwas besorgt hinterher. Ihr ist klar, dass die Anhörung für ihren kleinen Schrabb ein schwerer Weg sein wird.

»Ziehe die Sachen auf deiner Liege an«, bittet sie ihn, »du sollst doch nachher einen vernünftigen Eindruck machen.«

Schrabb wechselt Hemd und Hose, legt sich auf die Liege und blickt nachdenklich zur Decke hinauf.

»Schon erledigt«, ruft er ihr zu.

Mutter hat sich ihr lockiges Haar mit einer Schleife zusammengebunden und ihren besten Umhang übergestreift.

»Wir müssen gehen«, ruft sie durch den Raum, »fehlt gerade noch, dass wir zu spät kommen. Wie würde das aussehen.«

Während sie die Tür öffnet, fällt ihr Blick auf Schrabb, der sich gerade den Umhang zuknöpft. Die Angst vor der Anhörung steht ihm förmlich ins Gesicht geschrieben.

»Hab keine Angst«, beruhigt sie ihn, »es wird dir niemand den Kopf abreißen.«

Sie zieht ihn zu sich heran und nimmt ihn fest in die Arme.

»Du wirst sehen, alles wird gut.«

Gemeinsam verlassen sie die Hütte und machen sich auf den Weg zum Gemeinschaftshaus, dem Versammlungsort des Dorfes.

Auf dem Weg treffen sie auf einige ihrer Nachbarn. Auch wenn Schrabb seinen Blick ganz tief zu Boden senkt und lieber die Steine auf dem Weg zählt, die stechenden Blicke der Dorfbewohner bleiben ihm nicht verborgen. Ganz fest drückt er die Hand seiner Mutter.

Vor dem großen Tor, dem Eingang zum Versammlungsort, bleibt Schrabb stehen. Ängstlich schaut er in den Saal, der überraschend gut mit Dorfbewohnern gefüllt ist. Schrabb zieht seine Mutter zurück.

»Ich habe Angst«, flüstert er ihr leise zu.

Sie beugt sich zu ihm herunter und legt beruhigend die Hand auf seine Schulter.

»Ich bin doch bei dir«, sagt sie, »hab keine Angst.«

»Denk immer daran«, fügt sie mit einem Lächeln auf den Lippen hinzu »dein Vater und ich werden immer für dich da sein. Wir lieben dich.«

Sie steht auf und durchschreitet gemeinsam mit Schrabb das Tor.

Als sie den Saal betreten, wird es ruhig. Alle Augen sind auf Schrabb und seine Mutter gerichtet. Einige Dorfbewohner stecken die Köpfe zusammen und tuscheln, andere blicken wohlwollend auf Schrabb und nicken ihm zu. Schrabb wird von seiner Mutter in die Mitte des Saals geführt, wo ein kleines Podest steht. Dort angekommen, umarmt sie Schrabb, drückt ihn noch einmal ganz fest und lässt ihn dann stehen, um sich auf einen Platz, einige Meter von ihm entfernt, zu setzen.

Schrabb blickt nach vorn auf die große Tafel, an der mittlerweile die Dorfältesten ihren Platz eingenommen haben. Da er die Blicke nicht ertragen kann, senkt er den Kopf. Im Wirrwarr der Wortschwalle, die zu ihm durchdringen, kann er zwar nichts verstehen, aber er weiß natürlich sehr gut, worüber alle reden.

Der Vorsitzende des Ältestenrates erhebt sich von seinem Platz und mahnt mit einer Glocke zur Ruhe.

»Ruhe bitte«, ruft er den Dorfbewohnern zu.

Es wird still im Saal, lediglich das Gelächter einiger Kinder ist noch zu hören.

Der Vorsitzende schaut in die Runde, setzt sich wieder auf seinen Platz und nimmt einen Stapel Blätter in die Hand. Er wirft kurz einen Blick darauf und richtet dann das Wort an die versammelte Dorfgemeinschaft.

»Wir haben uns heute und hier versammelt«, beginnt er, »um über das Fehlverhalten unseres Mitbewohners Schrabb zu verhandeln und abschließend ein Urteil zu fällen.«

Bei diesen Worten zeigt er mit ausgestrecktem Finger auf Schrabb, der eingeschüchtert mit gesenktem Kopf und zittrigen Knien hinter dem Podest steht.

Ein Raunen geht durch den Raum und lässt Schrabb ängstlich zu seiner Mutter blicken. Die nickt ihm mit einem Lächeln aufmunternd zu. Mit einem Blick zur Seite ergreift der Vorsitzende erneut das Wort.

»Bruder Urando«, sagt er, »verlese nun bitte die Anklageschrift!«

Urando, ein alter knöcherner Greis zur Linken des Vorsitzenden erhebt sich sichtlich mühsam, und entrollt ein Blatt Papier.

»Schrabb«, beginnt mit kaum hörbarer Stimme zu lesen, »Sohn des Ilis und der Dimona, geboren im Jahre des Drachen steht hier und heute vor dem Rat, um sich für die Verfehlungen am 9. Tag der letzten Dekade zu verantworten. Durch sein unbedachtes Handeln in Verbindung mit unerlaubtem Zauber wurde unserem ehrenwerten Bewohner und Viehzüchter Dramol erheblicher Schaden zugefügt.«

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Erneut geht ein Raunen durch den Saal und bringt Urando völlig aus dem Konzept. Sogleich ertönt die Glocke des Vorsitzenden.

»Ruhe bitte!«, ruft der Vorsitzende und blickt streng in die Runde. »Bruder Urando, bitte setze deine Ausführungen fort.«

Nachdem er sich wieder gesammelt hat, setzt Urando das Verlesen der Anklageschrift fort.

»…Schaden zugefügt, ach ja«, stammelt er und versucht den Faden wieder aufzunehmen. »Es ist durch den Rat festzustellen, wie der angerichtete Schaden durch den Angeklagten wieder gutzumachen ist und eine angemessene Strafe festzusetzen.«

Sichtlich erleichtert setzt sich Urando wieder auf seinen Platz und übergibt das Wort mit einem Wink zurück an den Vorsitzenden.

Der erhebt sich und richtet sich mit strengem Blick an Schrabb.

»Schrabb«, sagt er. »Gibt es etwas, dass du zu deiner Verteidigung sagen möchtest?«

Schrabb blickt beschämt zum Vorsitzenden auf. »Ich habe das nicht gewollt, das müsst ihr mir glauben.«

Einige Tränen kullern seine dicken Wangen hinunter und tropfen auf seinen Umhang. Der Vorsitzende blickt in die Runde, sein Blick bleibt bei Schrabbs Mutter hängen. Ihr trauriges Gesicht veranlasst ihn, seine Ausführungen etwas milder fortzusetzen.

»Selbstverständlich gehen wir davon aus, dass dieser Vorfall nicht mit Absicht begangen wurde. Allerdings ändert das nichts an der Tatsache, dass dem ehrenwerten Bruder Dramol 25 seiner Zuchthasen abhanden gekommen sind, was einen beträchtlichen Schaden ausmacht.«

Mit einem Nicken richtet er seinen Blick auf Dramol, der etwas verstört in der ersten Reihe sitzt.

Dann schaut er wieder auf Schrabb.

»Aber nun möchten wir von dir hören«, sagt er, «was an diesem Tag genau geschehen ist.«

Während der Vorsitzende sich setzt, schaut Schrabb ängstlich durch den Saal und beginnt mit zittriger Stimme zu erzählen.

»Ich hatte nur vor, für ein kleines Kunststück zu üben, welches ich auf dem kommenden Rübenfest zur Unterhaltung aller Dorfbewohner aufführen wollte«, beginnt er zu erzählen. »Daher ging ich am besagten Tag zu Dramols Weide…«

Schrabb öffnet das Gatter zur Weide, auf der die Hasen friedlich grasen. Einige Kinder aus dem Dorf haben ihn begleitet und machen es sich auf dem Zaun bequem. Sie beobachten gespannt, wie Schrabb das Gatter schließt und sich mitten in die Hasenherde stellt. Die lassen sich beim Fressen nicht weiter stören und blicken den kleinen Schrabb erst verstört an, als dieser seine Arme gen Himmel streckt und mit ehrfurchtsvoller Stimme einen Zauber ausspricht, den er bei Xsantus gelernt hat.

»Radusa hebitualis entro! Miregerius alefriso tendro!«

Sogleich hören alle Hasen mit dem Fressen auf und blicken auf Schrabb, der aus seinem Umhang eine Flöte zieht. Er beginnt zu spielen und wie von Geisterhand formieren sich die Hasen zu einem Zug.

Die Kinder auf dem Zaun staunen und blicken gebannt, wie Schrabb Flöte spielend losmarschiert, gefolgt von den Hasen.

»Das gibt’s doch gar nicht!«, Ein Junge stupst seinen Nachbarn mit dem Ellenbogen in die Seite. Ohne den Blick von dem Schauspiel zu wenden erwidert der sogleich.

»Schrabb ist schon einer…«

Der marschiert, stolz auf das geglückte Kunststück, die Weide auf und ab. Dann beschließt er übermütig, den Marsch außerhalb der Weide fortzuführen und öffnet das Gatter.

Gefolgt von den Hasen geht es weiter in Richtung Dorf.

Die Kinder sind vom Zaun gesprungen und laufen lachend und staunend zugleich neben dem stolzen Schrabb her.

Mit Entsetzen sehen sie dabei zu, wie Schrabb über einen Stein auf dem Weg ins Stolpern gerät. Selbst das »Schrabb pass auf!«, das ihm noch eines der Kinder zuruft, kommt zu spät. Schrabb fällt und verliert dabei seine Flöte. Sogleich verliert der Zauber seine Wirkung. Mit Entsetzen muss Schrabb, der noch immer am Boden liegt, zusehen, wie die Hasen in alle Himmelsrichtungen davonlaufen.

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»Oh nein, wie konnte das nur passieren?«