Der Spiegelwächter

 

 

 

 

Der Spiegelwächter

 

 

 

 

 

Für Louisa

 

 

 

 

 

Annina Safran

 

Der Spiegelwächter

 

 

Die Saga von Eldrid

 

 

Erster Band

 

 

2. vollständig überarbeitete Auflage

 

 

Prolog

 

Hatte sie gerade ein Klirren gehört? Das konnte nicht sein! Ludmilla hob den Kopf und sah sich um. Sie hockte auf dem Waldboden und hatte das Treiben eines wundersamen Völkchens beobachtet. Abertausende winzig kleine Wesen, nicht größer als Stecknadelköpfe, die aussahen wie schillernd bunte Schmetterlinge, waren organisiert wie Ameisen. Dabei benutzten sie jedoch nicht ihre Flügel, sondern spazierten aufrecht und stolz auf dem Waldboden umher und streckten ihre kleinen, menschlich anmutenden Köpfe mit spitzen langen Nasen in die Luft. Das war verwunderlich, amüsant und faszinierend zugleich.

Nun aber war Ludmilla abgelenkt und stand langsam auf. Woher kam dieses Geräusch? Es hatte sich genauso angehört, als wäre ein Glas auf einen harten Boden gefallen und in tausend kleine Teilchen zersplittert. Gerade als sie sich fragte, ob sie es sich vielleicht eingebildet hatte, hörte sie wieder etwas: Ganz entfernt meinte sie, ein Knirschen wahrzunehmen. So als liefe jemand über Scherben. Ludmilla drehte sich stirnrunzelnd und alarmiert im Kreis. Sie hatte bereits viele merkwürdige Dinge in diesem Wald entdeckt und noch mehr unbekannte Geräusche gehört. Aber diese gehörten einfach nicht hierher. Jedoch alles, was sie sah, waren uralte, riesenartige Bäume, deren Kronen sich berührten, als würden sie sich umarmen, leuchtend grüne Sträucher und Büsche in den unterschiedlichsten Facetten und den mit Moos bedeckten Waldboden.

Ludmilla schüttelte ungläubig den Kopf. Und dennoch war sie sich sicher: Sie hatte sich nicht geirrt. Irgendwoher mussten diese Geräusche kommen. Ein winziger regenbogenfarbiger Vogel, nicht größer als Ludmillas Daumen, flatterte um sie herum und setzte sich auf ihren Arm. Ludmilla lächelte ihn voller Bewunderung an. Für einen kurzen Augenblick ließ sie sich ablenken, aber dann besann sie sich. »Ich habe leider keine Zeit mehr«, flüsterte sie dem Vogel zu und verscheuchte ihn mit einer sanften Handbewegung. Sie hatte ein ungutes Gefühl im Bauch. Irgendetwas stimmte hier nicht. Sie musste zurück! Erst langsam, dann immer schneller ging sie den Waldweg entlang. Zwischendurch blieb sie stehen und horchte. Es war nichts mehr zu hören. Dennoch wurde sie immer unruhiger. Sie war schon viel zu lang in dieser Welt gewesen. Sie musste nach Hause.

Endlich! Vor ihr wurde der Wald lichter, und sie konnte den Wasserfall hören. Die Höhle war nicht mehr weit. Ein letztes Mal drehte sie sich um. Sie war allein. Vorsichtig schlich sie den Höhleneingang entlang und spähte um die Ecke. Die Höhle war leer. Ludmilla atmete erleichtert auf. »Zum Glück! Uri ist nicht da!« Bei dem Namen »Uri« verdrehte sie genervt die Augen. Hastig durchquerte sie den Raum und lief zu dem Spiegel, der in der hintersten Ecke im Dunklen stand. Er leuchtete nicht. Jetzt nur nicht die Geduld verlieren! Ludmilla atmete tief durch und berührte den Spiegel. Wie wunderschön er war! Ganz vorsichtig strich sie mit den Fingern über die Verzierungen. Aber er begann nicht zu leuchten. Ludmillas Herz begann zu rasen. Sie musste zurück. Sie wollte zurück. Immer wieder berührte sie den Spiegel. Vorsichtig und sacht. »Oh, bitte, bitte, bitte«, murmelte sie vor sich hin und strich sich eine lange, rote Haarsträhne aus dem Gesicht.

Da hörte sie ein dumpfes Geräusch. So als würde jemand gegen einen harten Gegenstand laufen. Ludmilla fuhr herum. Hier musste doch jemand sein. Aber die Höhle war leer. Sie kniff ihre hellen blauen Augen zusammen. »Hallo?«, rief sie laut und fordernd. Wie ein Echo vernahm sie ein boshaftes Kichern. Ludmillas Herz blieb vor Schreck fast stehen. Sie drehte sich im Kreis, konnte aber niemanden entdecken. Also ging sie wieder tiefer in die Höhle hinein. »Hallo!«, rief sie ungeduldig. »Ist hier jemand?« Sie suchte die Feuerstelle und die Wände ab. Vielleicht ein kleines Wesen, das sie bisher nicht bemerkt hatte? Aber sie konnte nichts entdecken. Irgendetwas stimmte hier nicht. Hilflos sah sie zum Spiegel. Der Spiegel antwortete ihr mit seinem Leuchten. Erleichtert atmete Ludmilla auf. »Na also, geht doch!«, sagte sie leicht überheblich, während sie auf den Spiegel zulief. »Und das hier muss dann wohl bis zum nächsten Mal warten!«, rief sie laut in die Höhle hinein, als erwartete sie, dass jemand antwortete.

Der Spiegel verschluckte Ludmilla, und in der nächsten Sekunde stolperte sie in das Zimmer. Sie hatte Mühe, sich abzufangen. Gerade noch rechtzeitig ergriff sie den nächststehenden Sessel und verhinderte so einen Sturz. »Puh«, sagte sie leise und atmete schwer auf. Nach der Reise durch den Spiegel war ihr immer etwas übel. Sie stützte sich auf den Sessel, dann sah sie es aus den Augenwinkeln. Die Zimmertür stand sperrangelweit offen! Sie hatte sie aber geschlossen, bevor sie durch den Spiegel gereist war. Ludmilla riss den Kopf herum. Also stimmte hier etwas nicht! Diese Geräusche kamen aus dieser Welt! Aber wie war das möglich? Durch den Spiegel? Das war neu.

»Mina?«, rief Ludmilla zaghaft. Vorsichtig steckte sie ihren Kopf aus dem Zimmer. Der Flur war dunkel. Keine Spur von ihrer Großmutter. Erleichtert atmete sie auf. Das war nicht das erste Mal, dass sie dachte, dass ihre Großmutter sie erwischt hätte. Unwillig schüttelte sie den Kopf, als wolle sie diesen Gedanken abschütteln, und wandte sich wieder dem Spiegel zu. Er leuchtete noch immer, und sein Leuchten erfasste einen kleinen Teil des Raumes.

Ludmilla sah sich im Spiegel an. Sein Glas hatte ein paar rostige Stellen, dennoch konnte sie sich darin gut sehen. Ihre langen, dunkelroten Haare hingen ihr wirr ins Gesicht. Sie strich sie zur Seite und betrachtete sich für einen Augenblick. Aus ihrem länglichen blassen Gesicht stachen hellblaue Augen hervor, die von dicken dunkelroten Augenbrauen eingerahmt wurden. Die prägnante Augenpartie überspielte die etwas zu große Nase, die Ludmilla kritisch betrachtete. Ihre schmalen, rosa Lippen presste sie aufeinander. Und gerade, als die Anspannung ein wenig wich, grinste ihr Spiegelbild sie an. Ludmilla zuckte zusammen. Das konnte einfach nicht sein. Sie grinste nicht! Aber dieses Mädchen in dem Spiegel grinste, und zwar fies. Ungläubig fasste sich Ludmilla ins Gesicht. Ihr Mund war vor Erstaunen leicht geöffnet. Aber sie grinste nicht! Nur ihr Spiegelbild tat es. Ihr Herz fing an zu rasen. Sie machte einen Schritt auf den Spiegel zu, doch da erlosch das Leuchten. In dem Zimmer wurde es schlagartig stockdunkel.

Ludmilla konnte kaum etwas sehen, am wenigsten konnte sie ihr Spiegelbild erkennen. Es war alles so schnell gegangen. Sie musste sich geirrt haben. »Das geht doch gar nicht, Ludmilla!«, flüsterte sie sich selbst zu und schüttelte den Kopf. Doch so sicher war sie sich da nicht. Schließlich hatte sie es mit einem magischen Spiegel zu tun, der das Portal in eine andere Welt war. Sie hatte sich bisher nur keine Gedanken darüber gemacht, wie sich das auf ihre Welt auswirkte, dass sie den Spiegel benutzte.

Langsam und in Gedanken versunken lief sie zur Tür. Da knirschte es unter ihren Füßen. Verwundert trat sie einen Schritt zurück. Das Licht vom Flur fiel auf den Boden, auf dem eine zerbrochene Vase lag. Sie hatte zuvor auf dem Tisch gegenüber dem Spiegel gestanden. Ludmilla schlug sich die Hand auf den Mund und riss die Augen auf. Sie atmete schwer durch ihre Hand. Hastig sah sie sich erneut im Zimmer um. Nichts rührte sich. Unschlüssig blieb sie stehen. Was hatte das alles zu bedeuten? Und viel wichtiger: Wer hatte die Vase zerbrochen?

Als Ludmilla die Tür zu dem Zimmer schloss und auf Zehenspitzen den Flur entlang schlich, hatte sie eine Entscheidung getroffen: Sie würde sich mit Uri treffen müssen. Zwar war er ihr nicht geheuer, aber vielleicht konnte er ihr erklären, was hier vor sich ging. Schließlich war er der Wächter dieses Spiegels, der Spiegelwächter.

 

Erstes Kapitel
Der Schlüssel

 

Ludmilla grinste übermütig. Endlich! Wie lange hatte sie auf diesen Moment gewartet. Triumphierend drückte sie den Schlüsselbund in ihrer Hand. Ihre Großmutter summte immer noch ein Liedchen vor sich hin und schnitt das Gemüse für das Abendessen. Sie hatte tatsächlich nichts bemerkt. Ganz vorsichtig ließ Ludmilla den Schlüsselbund in ihre Hosentasche gleiten. Bloß kein Geräusch machen, dachte sie angespannt. Sie spürte die Schlüssel in ihrer Tasche, und Mina hatte sich nicht umgedreht.

»Wie lange brauchst du noch?«, fragte Ludmilla so natürlich wie möglich. Innerlich zitterte sie aber vor Aufregung. Mina hielt inne und drehte sich um.

»Nicht mehr lang, Schätzchen!«, erwiderte sie fröhlich und strahlte Ludmilla an. Sie nickte ihr aufmunternd zu. »Ich rufe dich, wenn das Essen fertig ist.«

Ludmilla nickte knapp zurück und erwiderte das Lächeln. Dann verließ sie hastig die Küche. Instinktiv griff sie sich an die Hosentasche. Sie freute sich wie ein kleines Kind. Endlich hatte sie die Schlüssel ergattern können. Mina trug sie immer bei sich, nur sehr selten legte sie sie überhaupt aus der Hand. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis sie bemerkte, dass sie fehlten.

Ludmilla huschte die Stufen hinauf. Die Treppen knarrten fürchterlich, aber sie ließ sich nicht beirren. Schnell erreichte sie den ersten Stock. Zielstrebig wandte sie sich nach links in den dunklen Flur. Es gab mehrere Türen. Ludmilla schlich bis zu der letzten Tür auf der rechten Seite. Mussten denn jetzt auch noch die Dielen knarren? Genervt rollte sie die Augen und blies sich eine rote Haarsträhne aus den Augen. Mit einem nervösen Blick zurück Richtung Treppe holte sie den Schlüsselbund hervor und suchte nach dem passenden Schlüssel. Es waren viele, und natürlich passte keiner auf Anhieb. Ludmilla sah auf ihre schmalen blassen Hände. Sie zitterten. Warum war sie nur so aufgeregt? Wenn Mina sie jetzt erwischte, gab es Ärger. Mächtig Ärger! Aber den gab es eigentlich ständig, und es kümmerte Ludmilla nicht. Am Ende vertrugen sie sich immer wieder, und Mina hatte nicht genug Fantasie, um sich für Ludmilla Strafen auszudenken, die sie beeindruckten.

Über Ludmillas Gesicht huschte ein selbstzufriedenes Lächeln. Ihre Großmutter hatte sie gut im Griff, und gerade stand diese in der Küche und kochte das Abendessen. Warum sich also Sorgen machen? Sie atmete tief durch und versuchte es erneut. Langsam steckte sie jeden einzelnen Schlüssel ins Schloss. Einige passten gar nicht, andere passten, ließen sich aber nicht drehen. Es war der vorletzte Schlüssel. Er glitt fast wie von selbst ins Schloss. Ein leises Klicken, und die Tür schwang auf.

Erst machte Ludmillas Herz einen Freudenhüpfer, dann fuhr sie aber auch schon vor Schreck zusammen und bekam die Tür gerade noch rechtzeitig an der Klinke zu fassen, bevor sie an die Wand knallte. Ludmillas Herz klopfte wie wild. Wie konnte sich die Tür so verselbständigen? Hier gab es keinen Luftzug, und sie hatte der Tür keinen Stoß versetzt. Es war ihr, als hätte die Tür gewusst, dass es der richtige Schlüssel war.

Zögerlich spähte Ludmilla in den Raum und versuchte, diesen verrückten Gedanken abzuschütteln. Es war nur eine Tür! Zu gern hätte sie einen kurzen Blick riskiert, was in dem Zimmer war, das Mina abgeschlossen hielt. Unentschlossen starrte Ludmilla den Gang hinunter und horchte. Ihre Großmutter in der Küche summte nicht mehr. Ludmilla erstarrte. Hörte sie Schritte? Sie zog die Tür zu und schlich auf Zehenspitzen den Gang entlang. Kurz vor der Treppe hörte sie Mina mit dem Geschirr klappern. Erleichtert atmete sie auf.

»Ludmilla! Das Essen ist fertig!«

Ludmilla sah auf den Schlüsselbund in ihrer Hand. »Ich komme!«, rief sie und rutschte fast geräuschlos das Treppengeländer hinunter. Mit einem großen Schritt war sie in der Küche und sah, dass ihre Großmutter am Herd stand und ihr den Rücken zuwandte. Blitzschnell und kaum hörbar legte Ludmilla den Schlüsselbund zurück. Dann ging sie auf Mina zu und ergriff einen Topf. »Soll ich den so auf den Tisch stellen, oder wollen wir die Bohnen in eine Schüssel umfüllen?« Dabei zeigte sie ihr breitestes Lächeln.

Zweites Kapitel
Der Spiegel

 

Ludmilla und Mina wohnten in einem großen, alten, verwinkelten Haus. Es hatte mehrere Stockwerke, viele kleine Zimmer und mehrere Treppen, die in die verschiedenen Stockwerke führten. Es gab sogar Treppen, die nur einzelne Zimmer verbanden. Viele der Flure waren geschwungen, sodass das Haus insgesamt sehr unübersichtlich war. Schon Minas Eltern hatten in diesem Haus gelebt, und sie hing sehr daran. Für die beiden war es eigentlich viel zu groß, und Mina war schlecht darin, Dinge auszusortieren und wegzuschmeißen oder zu verschenken. Deshalb gab es in jedem Stockwerk Zimmer, in denen Mina Erinnerungsstücke aufbewahrte. Diese Zimmer waren vollgestopft mit alten Möbeln, Lampen, Koffern, Truhen und anderen Dingen, von denen sich Mina nicht trennen wollte. Ludmilla hatte die Zimmer immer wieder durchforstet und viele Fragen gestellt. Mina hatte sie bereitwillig und gerne beantwortet, da sie es liebte, Geschichten zu erzählen.

Jedoch gab es ein Zimmer in dem Haus, das Ludmilla nicht betreten durfte. Bei ihrem Einzug hatte Mina ihr das Versprechen abgenommen, dieses Zimmer nicht zu betreten. Sie hatte ihr erklärt, dass sie darin Erinnerungsstücke aufbewahre, deren Erinnerungen sie nicht teilen wolle. Sie habe sie für sich begraben. Begraben in diesem Zimmer, das sie dennoch nicht auflösen wolle, und deshalb sei dieses Zimmer immer abgeschlossen. Ludmilla war zwar sehr neugierig, aber da sie alle anderen Zimmer durchforsten durfte, hielt sie sich an ihr Versprechen. Sie sah keinen Sinn darin, in einem Zimmer zu stöbern, wenn sie nicht darüber reden und keine Fragen stellen durfte. Sie hatte das Zimmer fast vergessen, bis sie vor ein paar Monaten einen Streit aufgeschnappt hatte, der sich genau in diesem Zimmer abspielte. Das hatte alles geändert.

 

Ludmilla machte gerade in ihrem Zimmer Hausaufgaben, als sie laute Stimmen hörte. Die Stimme ihrer Großmutter schrillte durch das ganze Haus. Und da war noch eine zweite Stimme. Eine tiefe, ruhige Stimme, die Ludmilla nicht kannte und die auf Mina einredete. Ludmilla war den Stimmen gefolgt. Sie kamen aus dem ersten Stock des Hauses. Aus dem verbotenen Zimmer. Die Tür stand offen, und ein sonderbares, strahlendes Licht schien auf den Flur hinaus. Es kroch über den Boden, als hätte es ein Eigenleben. Ludmilla schlich auf Zehenspitzen den Flur entlang und lauschte.

»Das ist zu viel verlangt, Uri!«, hatte Mina aufgebracht geschrien. »Das kannst du nicht ernsthaft erwarten. Ich weiß, dass ich euch viel schulde und dir ebenso viel zu verdanken habe, aber sie ist meine Enkeltochter!« Minas schwerer Atem war nicht zu überhören. »Sie ist dafür auch überhaupt nicht geeignet. Sie ist frech, respektlos und übermütig.« Mina lachte kurz spöttisch auf. »Ich kenne die Wesen. Die können mit einer solchen unverschämten Art nicht umgehen. Das ist heute eine andere Zeit als damals. Die Jugend von heute …«, sie stockte, als suchte sie nach den richtigen Worten, »… und Ludmilla trägt einen Ton am Leibe …«

Mina ließ ein verächtliches Schnaufen ertönen, das Ludmilla so gut kannte, dass sie unwillkürlich grinsen musste. Sie wusste, dass sie mit ihrem Ton ihre Großmutter zur Weißglut treiben konnte.

»Sie kann sich und ihre Fähigkeiten nicht einschätzen«, zeterte Mina weiter. »Sie hält sich für das Größte und Beste! Sie überschätzt sich ständig. Sie ist ein pubertierender Teenager, der von eurer Welt keine Ahnung hat. Sie wird die Gefahr, die sich darin verbirgt, nicht einschätzen können, und du wirst sie nicht beschützen können.«

»Du kennst meine Mächte, Mina«, unterbrach der Mann sie, den Mina Uri nannte. »Selbstverständlich kann ich sie beschützen.« Seine Stimme war sehr ruhig und besonnen.

Minas hysterisches Auflachen schrillte durch das ganze Haus. »Dann müsstest du sie vor sich selbst beschützen, und das kannst selbst du nicht! Ich habe sehr deutlich gesagt, dass der Scathan-Spiegel nicht mehr als Portal zur Verfügung steht.«

»Und daran haben wir uns beide bis zum heutigen Tag gehalten, Mina«, unterbrach Uri sie mit klarer lauter Stimme. Er versuchte, das hysterische Schreien zu übertönen.

Aber Mina war weder zu übertönen noch zu beruhigen oder zu überzeugen. »Ich werde es nicht erlauben. Ich bin für sie verantwortlich und ich sage: NEIN! ENDE der Diskussion!«

Mit diesen Worten stürmte Mina aus dem Zimmer und stieß fast mit Ludmilla zusammen. Sie fuhr zusammen und starrte Ludmilla entsetzt an. Es kam Ludmilla so vor, als hätte Mina für einen Moment nun auch ihre restliche Fassung verloren. Doch dann polterte sie los: »Was machst du hier?«

In ihrer Stimme lag eine ungewöhnliche Schärfe. Ihre blaugrauen Augen funkelten Ludmilla böse an, und sie atmete schwer. Vor Aufregung zitterte sie am ganzen Leib. Aber bevor Ludmilla etwas erwidern konnte, packte Mina sie am Arm und schob sie zur Treppe.

»Hier gibt es nichts zu sehen oder zu hören. Wie oft muss ich dir noch sagen, dass dieses Zimmer für dich tabu ist?«, herrschte sie sie an. Sie presste die Worte angestrengt heraus, als ob ihr das Sprechen schwerfiele. »Und ich kann für dich nur hoffen, dass du uns nicht belauscht hast!«

Ludmilla war so verdutzt über die Reaktion ihrer Großmutter, dass ihr keine schlagfertige Antwort einfiel.

 

Sie hatten nie mehr darüber gesprochen. Ludmilla hatte das Thema vermieden, weil sie nicht noch mehr Ärger bekommen wollte. Und Mina hatte es von sich aus auch nicht angesprochen. Aber eines hatte dieser Vorfall bewirkt: Ludmilla wollte unbedingt einen Blick in dieses Zimmer werfen. Irgendetwas musste in diesem Zimmer sein. Warum hatte sich Mina gerade in dem Zimmer mit diesem Uri gestritten? Und wer war dieser Uri überhaupt? Von welchen Mächten und Wesen hatten die beiden gesprochen? Was hatte Mina mit »eurer Welt« gemeint? Und noch eine Frage ließ Ludmilla nicht los: Wie war dieser Uri in das Haus gelangt und wieder hinaus? Sie hatte weder jemanden kommen noch weggehen gehört oder gesehen. Und das, obwohl sie den gesamten Abend darauf gewartet hatte und jemand an ihrem Zimmer im Erdgeschoss vorbei gemusst hätte, um zur Haustür zu gelangen.

Seit diesem Vorfall waren mehrere Monate vergangen, in denen sich Ludmilla keinen Reim auf den Streit hatte machen können. Sie hatte keinerlei Vorstellung, worum es in dem Gespräch gegangen war. Sie konnte sich auch nicht erklären, warum ihre Großmutter sie so negativ beschrieben hatte. Normalerweise lobte Mina sie immer in den höchsten Tönen und behielt die kleinen Streitereien für sich. Ludmilla liebte ihre Großmutter über alles, auch wenn sie das selten sagte. Sie hatten eine besondere Art, miteinander umzugehen. Respektvoll und vor allem ohne Streit. Mina hasste es, zu streiten. Umso mehr wunderte sich Ludmilla über ihren Ausbruch. Die Worte, die sie gegenüber Uri benutzt hatte, hatten Ludmilla zwar getroffen, aber sie hatte es damit abgetan, dass Mina sehr aufgeregt gewesen war und in der Aufregung Sachen gesagt hatte, die sie nicht so gemeint hatte. In dieser Hinsicht war Ludmilla sehr pragmatisch. Sie kannte ihre Großmutter und wusste, wie sehr sie von ihr geliebt wurde. Ihren Ausbruch konnte sie sich zwar nicht erklären, war sich aber sicher, dass es nichts mit ihr, Ludmilla, zu tun hatte. Was es damit auf sich hatte, das musste sie unbedingt herausfinden.

Ludmilla konnte es kaum erwarten, sich in diesem Zimmer umzuschauen. Wer weiß, wann Mina das nächste Mal in das Zimmer geht?, dachte sie bei sich, während sie gedankenverloren in ihrem Essen herumstocherte. Vor zwei Tagen hatte sie die Tür aufgeschlossen, und seitdem hatte sie keine Gelegenheit gehabt, sich dem Zimmer auch nur zu nähern. Ihre Großmutter war immer zu Hause, wenn sie zu Hause war. Und während Mina im Haus war, konnte sie nicht längere Zeit im ersten Stock verschwinden.

Ihre Großmutter blickte sie streng an. »Ludmilla! Wenn du keinen Hunger hast, musst du nichts essen.«

Ludmilla starrte auf ihren halbvollen Teller.

»Aber du kannst mir gern Gesellschaft leisten. Erzähl mir von der Schule.«

Ludmilla sah sie an. Ihre Großmutter war groß und schlank. Das lange weiße, glatte Haar steckte sie stets zu einem strengen Knoten im Nacken zusammen, und um ihren Hals hing eine Lesebrille an einer goldfarbigen Kette. Ihre blaugrauen Augen blitzten sie an. Mina war recht jung geblieben, auch wenn sie das mit ihren altmodischen Kleidern gut zu verstecken wusste. Sie trug immer einen weiten Rock, der über die Knie reichte, dazu eine Bluse und darüber eine Strickjacke. Das ganze Jahr über. Es war fast eine Art Uniform. Ludmilla sah zu ihren Turnschuhen hinunter und musste grinsen.

»Was ist so lustig?«, erkundigte sich Mina leicht pikiert.

Ludmilla fing an zu kichern. »Ich stelle mir dich gerade mit Jeans und Sneakers vor.«

Mina zog die Augenbrauen hoch. »Mit was?«

»Na, mit Jeans und meinen Turnschuhen. Du weißt schon, was man sonst noch so tragen kann, wenn man nicht Rock, Bluse und Strickjacke trägt«, gluckste Ludmilla los.

Mina lächelte amüsiert. »Ich habe verstanden. Aber ich mag meine Kleidung. Möchtest du aufstehen?«

Das war typisch für Mina. Sie verstand Ludmillas Scherze sehr oft nicht und erstickte Diskussionen meist im Keim. Ludmilla hatte sich daran gewöhnt und wusste, wie sie damit umzugehen hatte.

Ludmilla wollte sich nach dem Essen gerade in ihr Zimmer verziehen, als Mina sagte: »Ludmilla, ich muss heute Abend noch mal weg. Es könnte spät werden. Geh also bitte nicht zu spät ins Bett. Morgen ist Schule, in Ordnung?«

Ludmilla sah sie erstaunt an. Ihre Großmutter ging selten aus. Sehr selten! Sie überlegte kurz, ob sie nachfragen sollte, was sie vorhatte, aber dann bemerkte sie Minas Gesichtsausdruck. Sie sah an diesem Abend sehr müde aus. Ihre Stirn hatte tiefe Falten, und der Mund wirkte besonders dünn.

Ludmilla zog die Augenbrauen zusammen und biss sich auf die Unterlippe. »Okay«, sagte sie und versuchte, gelassen zu wirken. Sie hob kurz die Hand zum Gruß und ließ ihre Großmutter stehen.

Die Haustür fiel schwer ins Schloss. Ludmilla war allein. Darauf hatte sie gewartet. Ungläubig ging sie zum Fenster. Sie konnte gerade noch die Rücklichter von Minas Auto sehen, als es um die Ecke bog. Weg war sie.

Irgendwie war Ludmilla plötzlich mulmig zumute. Warum konnte sie nicht sagen. Langsam ging sie die Treppe in das obere Stockwerk hinauf. Selbst als sie vor der Tür stand, zögerte sie noch. Sie blickte erneut den Gang hinunter. Keiner da. Das wusste sie doch. Warum traute sie der Ruhe nicht? Die Dielen knarrten nicht. Das taten sie komischerweise nie, wenn Mina nicht im Haus war. Manchmal hatte Ludmilla sich schon überlegt, dass das Haus mit Mina sprach. Das passte zu den Geschichten ihrer Großmutter. Zu den Geschichten über das Haus. Mina war der Meinung, dass jedes Möbelstück und sogar ein ganzes Haus seine eigene Geschichte hätte. Und wenn man lang genug davorsitze und zuhöre, bekomme man die Geschichte vielleicht erzählt. Das entscheide das Möbelstück oder das Haus selbst.

Früher hatte sie Mina mit Fragen über das Haus gelöchert, und Mina hatte immer eine passende Geschichte parat gehabt. Aber das war lange her. Heute erzählte ihr Mina keine Geschichten mehr. Was daran lag, dass Ludmilla nicht mehr danach fragte. Sie fand die Geschichten inzwischen kindisch und konnte oder wollte Mina nicht mehr recht glauben. Früher hatte sie alle Geschichten geglaubt und geliebt. Heute dachte sie öfter darüber nach, was Mina ihr erzählt hatte, und fragte sich insgeheim, was daran wohl ausgedacht und was wahr war. Und manchmal vermisste sie Minas Geschichten richtig. Aber das mochte sie nicht zugeben. Weder vor sich selbst noch vor Mina.

Ludmilla schüttelte den Kopf. Sie hatte jetzt keine Lust, über das Haus nachzudenken. Entschlossen drückte sie die Türklinke hinunter. Aber die Tür öffnete sich nicht. Ludmilla starrte sie ungläubig an. Sie hatte sie aufgeschlossen und den Schlüssel zurückgelegt! War Mina in den letzten Tagen in dem Zimmer gewesen und hatte danach wieder abgeschlossen? Nervös kniff sie die Augen zusammen und drückte erneut die Klinke hinunter. Jetzt etwas fester und mit mehr Druck. Klemmte die Tür? Ludmilla presste die Lippen zusammen und lehnte sich gegen die Tür. Sie wollte unbedingt in dieses Zimmer. Und jetzt war die Gelegenheit.

Die Tür sprang so plötzlich auf, dass Ludmilla in den Raum hineingeschleudert wurde. Sie stolperte und stieß gegen einen Sessel. »Aua!«, stieß sie vorwurfsvoll hervor.

Sie rieb sich die Hüfte, während sie sich langsam umsah. Das Zimmer sah genauso aus wie ein beliebiges anderes Zimmer im Haus, in dem Mina alte Möbel aufbewahrte. Möbel über Möbel, die mit großen, weißen Laken abgedeckt waren. Unschlüssig stand sie da. Es war dunkel. Sehr dunkel und kühl. Ludmilla rieb sich fröstelnd die Unterarme, während sie zur Tür ging und den Lichtschalter betätigte. Das Klicken des Schalters hallte durch das gesamte Haus. Aber im Zimmer blieb es dunkel.

»Keine Glühbirne!«, stöhnte Ludmilla. Sie drehte sich um und suchte nach einer Lampe. Aber keiner der verhüllten Gegenstände sah wie eine Lampe aus. »Also gut!«, murmelte Ludmilla genervt und lief aus dem Zimmer.

Während sie den Gang entlang ging, knallte die Tür hinter ihr zu. Ludmilla fuhr zusammen und blieb stehen. Langsam drehte sie sich um und sah den Flur hinunter. Dieser lag ganz still da. Es gab keinen Luftzug. Ludmilla schüttelte den Kopf, als wollte sie einen schlechten Gedanken abschütteln. So was passierte in dem Haus andauernd. Merkwürdige Dinge. Dinge, die sich Ludmilla nicht erklären konnte. Manchmal machte es ihr Angst, aber diesen Gedanken schob sie dann ganz schnell beiseite.

Ludmilla lief durch die Küche in den Vorratsraum, in dem der Werkzeugkasten stand. Daneben stand die Taschenlampe. »Mein Freund, die Taschenlampe!«, sagte sie hämisch. Sie sprach gern laut zu sich selbst, wenn sie allein im Haus war. Auch wenn das etwas schräg war, es passte zu ihr.

Ludmilla war eine Außenseiterin in der Schule, ein eher stilles Mädchen, das gern beobachtete und viel las. Für eine Fünfzehnjährige war sie durchschnittlich groß, hatte leicht wellige, dunkelrote, dicke lange Haare, die sie sich gern zu einem Pferdeschwanz band, und große, strahlend blaue helle Augen. Ihre Haut war extrem blass und ihr Gesicht sehr schmal, so dass sie häufig kränklich aussah. Ihre Statur war schlaksig. Sport gehörte nicht zu ihren Vorlieben. Insgesamt gefiel sie sich in der Rolle der verschlossenen Außenseiterin. Ihre Mitschüler waren ihr viel zu albern, zu kindisch, und viele gemeinsame Interessen konnte Ludmilla nicht entdecken. Sie fand ihre Mitschüler langweilig, wie den Großteil ihrer Mitmenschen auch. Oft hatte sie das Gefühl, dass sie eine andere Sprache spreche als alle anderen um sie herum. Das war ihr zu mühsam, und so blieb sie lieber für sich.

Ludmilla pfiff sich ein Liedchen, während sie zurück zum Zimmer ging. Dabei musste sie grinsen. Ja, die verschrobene Ludmilla. Spricht zu sich selbst und pfeift Lieder, während sie Zimmer mit altem Kram durchforstet. Das passte doch.

Vor der Tür blieb Ludmilla stehen und atmete tief durch. »Na, dann wollen wir mal!«

Sie drückte entschlossen die Klinke hinunter. Dieses Mal ließ sich die Tür ganz leicht öffnen. Mit der Taschenlampe leuchtete sie das Zimmer ab. Die Schlagläden waren geschlossen. Es gab drei Fenster in einem Erker. Die schweren, dunkelroten, samtartigen Gardinen waren zugezogen, sodass kein einziger Lichtstrahl von draußen in das Zimmer dringen konnte.

Ludmilla bahnte sich ihren Weg zu dem Erker, zog die Gardinen zur Seite, öffnete die Fenster und schob die Schlagläden zur Seite. Die Schienen quietschten so laut, dass Ludmilla angestrengt das Gesicht verzog. Sie hasste dieses Geräusch. Mit der Taschenlampe beleuchtete sie die Schienen, auf denen die Schlagläden liefen. Sie schüttelte missbilligend den Kopf. Sie waren völlig verrostet. »Mina hat hier seit Jahrzehnten kein Sonnenlicht reingelassen«, murmelte Ludmilla empört. Draußen fing der herrliche, verborgene Garten des Hauses die letzten Strahlen des Sonnenuntergangs ein. Ludmilla öffnete alle Fenster ganz weit und ließ frische, wärmende Sommerluft in das Zimmer hereinströmen.

Unschlüssig sah sie sich um. Etwas unwillig seufzte sie. Was versteckte Mina hier? Warum hatte sie sich gerade in diesem Zimmer mit diesem Uri gestritten? Irgendetwas musste hier sein. Nur was? Ganz vorsichtig fing sie an, die Laken zu entfernen. Sie faltete jedes einzelne Laken sorgfältig zusammen und legte alle auf einen Haufen. Schließlich starrte sie fragend auf ihr Werk. Das Zimmer stand voll mit Sesseln, Stühlen, mehreren kleinen Tischen, zwei Kommoden und einem Sofa. An der Wand standen einige Bilder. Nichts von den Dingen erschien Ludmilla interessant oder auffällig.

Sie schaute sich lange im Zimmer um. »Was suche ich?«, fragte sie sich, während sie ratlos jedes einzelne Möbelstück betrachtete. Und dann erinnerte sie sich an das merkwürdige Licht, das aus dem Zimmer gekommen war, an dem Abend, an dem sich Mina mit diesem Uri gestritten hatte. Woher war das eigentlich gekommen?

Ludmilla kniff den Mund zusammen, sodass ihr Kinn noch spitzer wirkte. Irgendetwas musste sie übersehen haben. Ihr Ehrgeiz war geweckt. Immer wieder drehte sie sich im Kreis, ging die einzelnen Stücke ab, betrachtete sie eingehend, bevor sie sie verwarf. Und dann entdeckte sie etwas, das sie bisher übersehen hatte. Direkt hinter der Tür lehnte etwas sehr Großes, Rechteckiges an der Wand. Es war ebenfalls mit einem Leinentuch abgedeckt und etwas tiefer als ein Bild. Ludmilla ging auf die Tür zu und schloss sie fast ganz. Draußen war es inzwischen dunkel geworden, so dass nur durch den Spalt der Tür etwas Licht vom Flur in das Zimmer hineinfiel. Ludmilla konnte das Laken kaum entfernen. Das, was sich darunter befand, war größer als sie selbst und sehr schwer. Deshalb schlug sie das Laken, so weit sie konnte, zurück. Sie wollte erst einmal sehen, was sich darunter verbarg, bevor sie sich die Mühe machte, das ganze Laken zu entfernen. Bei den restlichen Möbeln hatte sich die Mühe nicht gelohnt. Genervt sah sie in das Zimmer. Und sie musste auch noch alles wieder zudecken.

»Wer weiß, wann Mina das nächste Mal das Zimmer betritt. Dann muss alles wieder aussehen wie vorher«, knurrte sie vor sich hin. Endlich wandte sie sich dem zu, was sie gerade aufgedeckt hatte, und es verschlug ihr den Atem.

Es war ein Spiegel. Ein riesiger, wunderschöner Spiegel. Der Rahmen war aus dunklem Ebenholz und mit einem geschnitzten Muster versehen. Auf den Leisten lagen goldene Farbe und zusätzliche goldene Verzierungen. Er war übersät mit Ornamenten, Blumen, Ranken, Blättern und Zeichen. Ludmilla entdeckte Schriftzüge, die ihr völlig fremd waren. Das Gold auf dem dunklen Holz glänzte, als wäre es gerade erst poliert worden. Sie kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Sie musste sich unbedingt den gesamten Spiegel anschauen. In diesem Moment konnte sie gerade einmal die Hälfte davon betrachten.

Aber das Laken komplett zu entfernen war schwieriger, als sie gedacht hatte. Es war über den Spiegel gelegt und klebte an der Wand. Der Spiegel könnte umfallen, wenn sie an dem Laken zog. Sie überlegte. Direkt neben der Tür stand ein alter Ohrensessel mit einem scheußlichen, verblassten Blumenmuster. Ludmilla schüttelte missbilligend den Kopf, während sie ihn vorsichtig in Richtung des Spiegels schob. Wie konnte Mina etwas so Hässliches aufbewahren? Das Parkett quietschte und knarrte. Der Sessel aber blieb stumm. Er glitt fast geräuschlos über den Boden.

»Hallo, Verbündeter!«, feixte Ludmilla. »Du bist zwar hässlich, aber zweckdienlich.« Zweckdienlich. Ein schönes Wort. Ludmilla liebte es, Wörter zu sammeln. Wohlklingende Wörter, skurrile Wörter, bösartige Wörter, romantische Wörter. Alle Wörter, die ihrer Meinung nach irgendwie besonders klangen oder einen bestimmten Ausdruck hatten oder sie einfach nur ansprachen. Zweckdienlich war ein solches Wort. Grinsend schob sie den Sessel links neben den Spiegel und stieg darauf. Jetzt konnte sie vorsichtig das Laken von dem oberen Ende des Spiegels lösen. Zweckdienlich! Ludmilla gluckste. Das musste sie sofort in ihrem Büchlein zu ihrer Wörtersammlung hinzufügen!

Aber jetzt erst einmal der Spiegel: Als sie den Rest des Lakens herunterzog, verschlug es ihr abermals die Sprache. Am oberen Rand des Spiegels gab es zusätzliche Malereien aus Gold, die eine Geschichte zu erzählen schienen. Das musste sie sich genauer anschauen. Sie wusste zwar nicht, ob es der Spiegel war, den Mina versteckt hielt, aber irgendwie machte es Sinn. Wieso sollte Mina etwas so Schönes in einem verschlossenen Zimmer stehen lassen? Das musste einen Grund haben. Nur welchen? Nachdenklich betrachtete sie den Spiegel. Und plötzlich fiel ihr auf, wie dunkel es geworden war. Und spät. Sie hatte die Zeit völlig vergessen und hatte keine Ahnung, wann Mina zurück sein würde.

Es fiel ihr schwer, aber sie musste sich an die Arbeit machen und die Möbel wieder mit den Laken bedecken. Dabei starrte sie immer wieder den Spiegel an. Er war zu faszinierend. Zumindest von den Malereien und den Schriftzeichen wollte sie mit ihrem Handy ein Foto machen. Damit könnte sie im Internet recherchieren, um welche Schriftzeichen es sich handelte. Vielleicht würde sie so auch etwas über die Herkunft des Spiegels herausfinden. Als sie ihr Handy aus ihrer Hosentasche zog, bemerkte sie, dass der Akku leer war. Ludmilla fluchte. Ihr lief die Zeit davon. Das musste bis zum nächsten Mal warten. Schweren Herzens bedeckte sie schließlich den Spiegel mit dem Laken und verließ das Zimmer.

 

Drittes Kapitel
Das Gesicht

 

Sie schloss die Tür und lief den Flur entlang. Als sie die Treppe erreicht hatte, hörte sie das Auto ihrer Großmutter in die Einfahrt fahren. Das Garagentor quietschte laut. Hastig wollte sie gerade die Treppe hinunterlaufen, da hörte sie ein leises Klicken. Ludmilla hielt inne und schaute zurück in den Gang. Noch während sie angestrengt in die Dunkelheit starrte und sich fragte, was das für ein Geräusch gewesen war, entdeckte sie ein schwaches Licht, das den Flur erhellte. Als käme es aus dem Zimmer, dessen Tür sie gerade geschlossen hatte. Sie zuckte zusammen. Was jetzt? Sie schaute die Treppe hinunter und dann wieder den Flur entlang. Mit klopfendem Herzen lief sie zurück zu dem Zimmer. Die Tür stand sperrangelweit offen. Das Zimmer leuchtete in dem goldenen Licht, das Ludmilla vor ein paar Monaten schon einmal gesehen hatte.

Sie starrte staunend in den Raum, als sie die Autotür von Minas Auto hörte, die ins Schloss fiel. Panisch ergriff sie die Türklinke und zog die Tür zu. Zur Sicherheit drückte sie sich gegen die Tür. Sie öffnete sich nicht noch mal. Durch den Türspalt am Boden kroch das goldene Licht in den Flur. Entsetzt starrte Ludmilla auf den erleuchteten Boden. »Bitte hör auf zu leuchten. Du verrätst mich noch!«, flüsterte sie. Dann sprintete sie den Flur entlang, sprang die Treppe hinunter, mehrere Stufen auf einmal nehmend, und rannte in ihr Zimmer. Währenddessen hörte sie, wie Mina die Haustür aufschloss. Hastig schaltete sie ihre Schreibtischlampe an und schlug ein Lehrbuch auf, das auf dem Schreibtisch lag.

Sekunden später steckte Mina den Kopf zur Tür rein. »Du lernst noch?« Mina kam in das Zimmer. »Hast du morgen einen Test?«, fragte sie prüfend.

Ludmilla versuchte, einen gelassenen Gesichtsausdruck aufzusetzen, und unterdrückte ihren schweren Atem. »Nein, aber ich will vorbereitet sein.«

Sie hustete leicht. Als Mina sie weiter fragend ansah, blaffte sie sie an: »Sei doch froh, dass ich mich fortbilde!« Das Wort »fortbilde« sprach sie betont langgezogen und gekünstelt aus.

Mina hob spöttisch die Augenbrauen. »Ja, sicher, Ludmilla. Nur, das Buch habe ich im Wohnzimmer gefunden und hatte es dir auf deinen Schreibtisch gelegt. Es ist über ein Jahr alt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du dich damit noch fortbilden kannst.« Mina warf ihr ein überlegenes Lächeln zu und ergriff die Türklinke.

Ludmilla starrte entgeistert auf das Buch. Ihre Wangen fingen an zu glühen.

»Vergiss nicht, die Zähne zu putzen, bevor du schlafen gehst. Ich gehe jetzt ins Bett«, erklärte ihr Mina sachlich.

Ludmilla warf ihr einen erstaunten Blick zu. Sie konnte kaum glauben, dass Mina nichts weiter dazu sagen wollte.

»Gute Nacht, Schätzchen!«, flötete Mina nur und zog die Tür hinter sich zu.

 

Später in der Nacht konnte Ludmilla nicht einschlafen. Der Spiegel und das goldene Licht gingen ihr nicht aus dem Kopf. Kam das Licht von dem Spiegel? War es das? Er war übersät von dieser goldenen Farbe. Das passte irgendwie zusammen. Und dann fiel es ihr siedend heiß ein: die Taschenlampe. Sie hatte die Taschenlampe in dem Zimmer vergessen. Sie musste noch mal in das Zimmer. Aber natürlich nur, um die Taschenlampe zu holen. Nicht, um den Spiegel zu betrachten. Sie grinste. Sie konnte einfach nicht widerstehen.

Ludmilla wartete noch eine Weile, um sicherzugehen, dass Mina schlief. Als sie sich endlich einen Ruck gab, war es weit nach Mitternacht, und Mina schlief tief und fest. Vorsichtig schlich Ludmilla die Stufen hinauf. Sie kannte die Treppe in- und auswendig und wusste genau, welche Treppenstufen besonders laut knarrten. Die hätten sie bestimmt verraten. Aber gerade in diesem Moment knarrten alle Treppenstufen, und zwar so laut, dass es im gesamten Haus widerhallte. Das konnte sie jetzt nicht gebrauchen. Was sollte sie Mina sagen, wenn sie sie im ersten Stockwerk des Hauses antraf? Atemlos blieb sie auf der Treppe stehen und horchte nach unten. Alles still.

Oben angekommen, zögerte sie. Sollte sie es wagen, das Licht einzuschalten? Es war einer dieser altmodischen Schalter, die man drehen musste und die ein klickendes Geräusch machten. Aber ohne das Licht vom Flur würde sie die Taschenlampe nicht finden können. Also musste sie es riskieren. Sie konnte nicht darauf spekulieren, dass das mysteriöse Leuchten wieder auftauchte. Das klickende Geräusch hallte den Flur entlang. Ludmilla horchte angestrengt. Alles blieb still. Also weiter. Zur Tür. Mit zittriger Hand drückte sie die Klinke nach unten. Die Tür gab nicht nach. Ludmilla stutzte und versuchte es erneut. Ohne Erfolg. Inzwischen raste ihr Herz. Was sollte das schon wieder? Während sie ratlos die Tür anstierte, öffnete sie sich plötzlich ganz langsam von selbst und blieb einen Spaltbreit offen stehen.

Jetzt fehlt nur noch ein Knarren, und ich stecke mitten in einem dieser absurden Gruselfilme, dachte sie und presste angestrengt die Zähne aufeinander. Sie zögerte eine Weile und stand unschlüssig vor dem Zimmer. Dann drückte sie die Tür mit ihrem nackten Fuß einen weiteren Spalt auf. Die Taschenlampe stand zwei Schritte von ihr entfernt auf dem Fußboden. Von ihrer Position aus konnte Ludmilla den Spiegel nicht sehen. Unentschlossen stand sie auf der Türschwelle. Sie hatte beide Hände zu Fäusten geballt, ihr Herz raste und sie atmete schneller. »Jetzt sei kein Angsthase!«, murmelte sie und machte einen großen Schritt in das Zimmer.

Hastig ergriff sie die Taschenlampe und wandte sich zum Gehen, als es unter dem Leinentuch zu leuchten begann. Ludmilla hielt inne und starrte den Spiegel an. Also doch! Das seltsame Licht kam von dem Spiegel. Aber wie konnte das sein? Ja, sie hatte viele verrückte Dinge in diesem Haus erlebt. Türen, die sich verselbstständigten, Holzdielen und selbst Möbel, die ein regelrechtes Eigenleben hatten, wenn es darum ging, Geräusche von sich zu geben. Aber ein Leuchten? Das war etwas Neues. Sie war hin- und hergerissen. Einerseits war sie neugierig und wollte unter das Leinentuch schauen, andererseits hatte sie panische Angst. Das, was hier passierte, konnte sie sich nicht erklären. Mit Logik nicht und auch sonst nicht.

Schließlich nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und hob mit spitzen Fingern das Leinentuch an. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie realisierte, dass der gesamte Spiegel leuchtete. Es war nicht nur der Rahmen, dessen Goldverzierungen, die regelrecht in Brand standen, sondern auch das Spiegelglas selbst leuchtete. Es war ein Leuchten, als ob sich die Sonne darin spiegelte. Ludmilla stand mit aufgerissenen Augen davor. Vorsichtig schlug sie das Tuch noch weiter zurück. Jetzt konnte sie auch ein Teil ihres eigenen Spiegelbildes erkennen.

Und auch ihr Spiegelbild leuchtete, es brannte buchstäblich. Ludmilla wich stolpernd zurück. Sie sah ihr viel zu großes T-Shirt, das sie nur zum Schlafen trug, die Shorts und ihre nackten Füße, die genauso leuchteten wie der Rest des Spiegels. Dann sah sie an sich hinunter – und sie leuchtete nicht! Natürlich nicht. Nur ihr Spiegelbild. Was ging hier vor?

Noch bevor Ludmilla einen weiteren klaren Gedanken fassen konnte, nahm sie eine Bewegung am oberen Teil des Spiegels war. Am höchsten Punkt des rechteckigen Rahmens schob sich etwas aus dem Rahmen heraus. Ein winzig kleines Gesicht, vollkommen in Gold getaucht und mit dicken Backen, bildete sich auf dem Leinentuch ab. Ludmilla entfuhr ein unterdrückter Aufschrei. Sie schlug sich die Hand auf den Mund und machte einen Schritt nach hinten, so dass sie gegen die Tür stieß. Die Tür schwang zu und wäre fast mit einem lauten Knall ins Schloss gefallen, hätte Ludmilla nicht in letzter Sekunde die Klinke zu fassen bekommen. Ihr Herz pochte wie wild. Sie stand schwer atmend an der Tür und starrte den Spiegel an. So sehr sie auch versuchte, sich zusammenzureißen, den einzigen klaren Gedanken, den sie fassen konnte, war FLUCHT. Sie traute sich nicht mehr, das Leinentuch wieder über den Spiegel zu ziehen. Ihr Griff um die Taschenlampe wurde fester, als sie die Tür schloss.

Ludmilla lief, so schnell sie konnte, auf Zehenspitzen den Flur entlang. Sie drehte sich immer wieder panisch um. Dieses Mal blieb die Tür zum Zimmer geschlossen.

Als sie an der Treppe ankam, hörte sie ganz leise eine Stimme rufen: »Ludmilla! Ludmilla!« Sie erstarrte. Die Stimme gehörte nicht Mina. Immer wieder rief jemand ihren Namen. Es war mehr ein Flüstern, das im Flur und in Ludmillas Kopf widerhallte. Die Stimme war hoch, warm und freundlich. Die Panik schnürte ihr die Kehle zu. Ludmilla schaltete vorsichtig das Licht im Flur aus. Natürlich gab der Schalter wieder das hässliche laute Geräusch von sich. Aber das war jetzt auch egal. Mina war bestimmt schon wach geworden. Jetzt ging es nur darum, so schnell wie möglich ins Erdgeschoss zu gelangen und eine gute Ausrede parat zu haben.

So leise wie möglich rannte Ludmilla in ihr Zimmer und verkroch sich unter ihre Decke. Erst dann wagte sie, wieder zu atmen. Sie presste sich die Decke auf den Mund und keuchte. Mit rasendem Herzen saß sie in ihrem Bett und horchte. Nichts. Alles still. Sie horchte und horchte. Und dann hörte sie es wieder: »Ludmilla! … Ludmilla!«, hallte es immer wieder durch das gesamte Haus und blieb in Ludmillas Kopf stecken. Es war kein Flüstern, sondern ein Ruf. Ein Ruf des Spiegels, oder bildete sie sich das nur ein?

Viertes Kapitel
Das Spiegelzimmer

 

Ludmilla schlief schlecht in dieser Nacht. Immer wieder träumte sie von dem Spiegel, dem Leuchten und von Mina, wie sie sie vor dem Spiegel erwischte. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, war sie immer noch müde. Sie blieb eine Weile liegen und dachte darüber nach, ob sie es noch einmal wagen sollte, zu dem Spiegel zu gehen. Ihre Neugier war sehr groß. Eigentlich war bisher nichts Gefährliches oder Schlimmes passiert, versuchte sie sich zu beruhigen. Aber sie konnte sich das Leuchten nicht erklären, und dass mitten in der Nacht jemand oder etwas ihren Namen rief, machte ihr Angst. Schließlich beschloss sie, den Gedanken erst mal ruhen zu lassen. Sie konnte sich nicht entscheiden.

Als sie in die Küche kam, saß Mina am Küchentisch, trank ihren Tee und las die Zeitung. Sie hatte wie immer einen grauen Rock mit einer weißen Bluse und einer Strickjacke darüber an. Ihre Füße steckten in schwarzen Slippern. Ludmilla hatte sich ihr blaues Lieblingskapuzensweatshirt übergezogen und ging barfuß zur Teekanne, die neben dem Herd stand.

»Guten Morgen«, murmelte sie verschlafen und beobachtete Mina dabei aus den Augenwinkeln. Mina reagierte nicht sofort. Sie nickte kurz und war in ihren Artikel vertieft. Ludmilla atmete innerlich erleichtert auf. Also hatte Mina in der Nacht nichts gehört. Sonst würde sie sie genau jetzt einem Kreuzverhör unterziehen.

Schließlich blickte Mina auf und sah Ludmilla prüfend an. »Hast du gut geschlafen? Du siehst schrecklich aus«, stellte sie knapp fest.

»Vielen Dank für das reizende Kompliment«, meckerte Ludmilla sie an.

Mina verkniff sich ein Lachen. Stattdessen fragte sie weiter: »Geht es dir gut? Ich meine es ernst. Du siehst krank aus. Zum Glück ist Wochenende. Da kannst du dich ausruhen. Magst du dich vielleicht noch einmal hinlegen?« Sie sah sie besorgt an.

Ludmilla aber, die Minas Fürsorglichkeit in diesem Moment schrecklich nervte, verzog den Mund. Bevor sie sich zusammenreißen konnte, giftete sie sie weiter an: »Mir geht es gut! Ich bin nicht krank. Kein Grund zur Sorge.«

Mina zog erbost die Augenbrauen hoch. »Also gut, Fräulein. Aber mäßige deinen Ton!« Mina scheute zwar die Konfrontation, aber sie bestand auf einem respektvollen Umgang.

Ludmilla zögerte, murrte dann ein »Ja, in Ordnung, Entschuldigung« und setzte sich zu Mina an den Küchentisch. Eigentlich wollte sie gar nicht so biestig sein. Sie gefiel sich selbst nicht, wenn sie sich so verhielt. Aber sie konnte manchmal nicht aus ihrer Haut. Und auch wenn es klüger gewesen wäre, Mina nach dieser Nacht nicht so anzublaffen, sie konnte sich nicht beherrschen. Jetzt tat es ihr leid.

»Hast du Pläne für das Wochenende?«, fragte sie Mina versöhnlich.

Mina sah verwundert von ihrer Zeitung auf. »Nein, warum? Du?«

Ludmilla schüttelte den Kopf. Sie hatte fast nie Pläne für das Wochenende. Ihr Leben war insgesamt sehr langweilig. Die Wochenenden verbrachte sie entweder mit Mina zu Hause oder in der Bibliothek. Zwar hatte sie ein Handy, ein Tablet und einen eigenen Computer, aber da sich ihre Großmutter energisch weigerte, technische Neuerungen im Haus einzuführen, war Ludmilla gezwungen, einen Teil ihrer Hausaufgaben in der Bibliothek zu machen. Sie hatte so oft mit Mina über die Notwendigkeit von Internet und WLAN diskutiert, und das ohne Erfolg, dass sie es inzwischen aufgegeben hatte. Mina ließ sich nicht beirren: Sie empfand das Internet als völlig überflüssig und unnötig. Da war nichts zu machen.

»Wozu brauchst du dieses Internet, wenn du alles in der Bibliothek nachlesen kannst?«, argumentierte Mina immer. In Minas Augen war die Bibliothek genau der richtige Ort für Teenager in Ludmillas Alter. »Dort kannst du doch auch deine Freunde treffen. Oder du nimmst sie mal mit zu uns nach Hause und lernst hier mit ihnen?«, versuchte Mina das Positive aus der Situation herauszukehren.

Ludmilla verdrehte dann immer die Augen. Sie hatte keine Freunde, die sie mit nach Hause bringen wollte. Schon gar nicht zum Lernen. Sie war eine ausgezeichnete Schülerin und lernte mit Vorliebe allein. Aber vor allem lernte sie am liebsten in der Bibliothek. Nicht nur, weil sie dort das WLAN nutzen konnte, sondern auch, weil es dort jede Menge interessanter Bücher gab. Ludmilla liebte Bücher. Sie vertiefte sich gern in irgendwelche Sachbücher, die sie durch Zufall entdeckte. Für ihre Hausaufgaben brauchte sie meist nicht lange. Aber auch das brauchte Mina nicht zu wissen. Wenn es Ludmilla langweilig war, ging sie in die Bibliothek. Also verbrachte sie ihr halbes Leben in der Bibliothek. Zumindest kam es Ludmilla so vor.

Dieses Wochenende wollte sie unbedingt etwas über die Schriftzeichen auf dem Spiegel herausfinden. Zu dumm, dass sie kein Foto hatte machen können. Aber vielleicht konnte sie das eine oder andere Schriftzeichen aus dem Kopf aufmalen. Bei dem Gedanken an den Spiegel lief ihr ein Schauer über den Rücken. Sie hatte es gerade einmal für ein paar Minuten vermeiden können, daran zu denken. Sofort erinnerte sie sich wieder an das Leuchten, das kleine Gesicht und die Stimme. Davon bekam sie Gänsehaut. Und dennoch: Sie konnte nicht aufhören, daran zu denken.

Ludmilla verbrachte den restlichen Tag in der Bibliothek und versuchte, irgendetwas über den Spiegel herauszufinden. Ohne Erfolg. Weder die Schriftzeichen hatte sie in einem der vielen Bücher über Schriftkunde finden können, noch hatte eine der zahlreichen Suchmaschinen etwas über leuchtende Spiegel ausgespuckt.