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Die Autorinnen und Autoren

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Dr. Yvonne Blumenthal lehrt an der Universität Rostock sowie an der Universität Greifswald Sonder- und Inklusionspädagogik sowie Pädagogik mit dem Förderschwerpunkt Lernen und emotionale, soziale Entwicklung. Sie hat derzeit eine Gastprofessur an der Freien Universität Berlin.

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Prof. Dr. Gino Casale lehrt Methodik und Didaktik in den Förderschwerpunkten Lernen und Emotional-soziale Entwicklung an der Bergischen Universität Wuppertal.

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Prof. Dr. Bodo Hartke ist Sonderpädagoge und lehrt an der Universität Rostock Sonder- und Inklusionspädagogik sowie Pädagogik mit dem Förderschwerpunkt Lernen.

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Prof. Dr. Thomas Hennemann lehrt an der Universität zu Köln Erziehungshilfe und sozial-emotionale Entwicklungsförderung.

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Prof. Dr. Clemens Hillenbrand lehrt Pädagogik und Didaktik bei Beinträchtigungen des Lernens an der Universität Oldenburg.

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Prof.in Dr. Marie-Christine Vierbuchen ist Juniorprofessorin für Inklusive Bildung in den Erziehungswissenschaften an der Universität Vechta

Yvonne Blumenthal/Gino Casale/Bodo Hartke/Thomas Hennemann/Clemens Hillenbrand/Marie-Christine Vierbuchen

Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten und emotional-sozialen Entwicklungsstörungen

Förderung in inklusiven Schulklassen

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-033836-4

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-033837-1

epub:    ISBN 978-3-17-033838-8

mobi:    ISBN 978-3-17-033839-5

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

  1. 1 Emotional-soziale Entwicklungs- und Verhaltensstörungen im inklusiven Bildungssystem
  2. 1.1 Zum Begriffsfeld
  3. 1.2 Ziele und Entwicklungsschritte: Emotionale Kompetenz
  4. 1.3 Ziele und Entwicklungsschritte: Soziale Kompetenz
  5. 1.4 Ziele und Entwicklungsschritte: Handlungsregulation
  6. 1.5 Zusammenfassung
  7. 2 Empirisch bewährte Erklärungs- und Handlungsansätze
  8. 2.1 Empirisch bewährtes pädagogisches Wissen – Entstehung und Aussagekraft
  9. 2.2 Lerntheoretische Ansätze
  10. 2.2.1 Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten und emotional-sozialen Entwicklungsstörungen aus lerntheoretischer Perspektive
  11. 2.2.2 Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten und emotional-sozialen Entwicklungsstörungen aus lerntheoretischer Perspektive
  12. 2.3 Kognitionspsychologische Ansätze
  13. 2.3.1 Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten und emotional-sozialen Entwicklungsstörungen aus kognitionspsychologischer Perspektive
  14. 2.3.2 Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten und emotional-sozialen Entwicklungsstörungen aus kognitionspsychologischer Perspektive
  15. 2.4 Entwicklungspsychologische Ansätze: Resilienz und Vulnerabilität
  16. 2.4.1 Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten und emotional-sozialen Entwicklungsstörungen aus Perspektive der Resilienzforschung
  17. 2.4.2 Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten und emotional-sozialen Entwicklungsstörungen aus Perspektive der Resilienzforschung
  18. 2.5 Zusammenfassung
  19. 3 Positiv evaluierte Praxiskonzepte
  20. 3.1 Mehrstufige schulweite Förderkonzepte zur Prävention von Verhaltensstörungen – und zur inklusiven Beschulung bei sonderpädagogischem Förderbedarf mit dem Schwerpunkt emotionale soziale Entwicklung
  21. 3.2 Zur Wirksamkeit schulischer Prävention
  22. 3.3 Mehrstufige Ansätze zur Prävention in der Schule
  23. 3.4 Response-to-Intervention (RTI)
  24. 3.5 Schoolwide Positive Behavior Support
  25. 3.6 Zusammenfassung
  26. 4 Emotional-soziale Förderung aller Kinder im Klassenraum – Förderebene I
  27. 4.1 Die Beziehung zwischen Lehrkraft und Lernenden
  28. 4.2 Classroom Management – die Gestaltung des Unterrichts
  29. 4.3 Soziales Lernen in der Klasse – wirksame Förderprogramme
  30. 4.4 Modellierung und Verstärkung positiven Verhaltens
  31. 4.5 Zusammenfassung
  32. 5 Unterrichtsintegrierte Förderung gefährdeter Schülerinnen und Schüler – Förderebene II
  33. 5.1 Erkennen gefährdeter Schülerinnen und Schüler
  34. 5.2 Lerntheoretisch basierte Förderung im Unterricht
  35. 5.3 Kognitive Verhaltensmodifikation im Unterricht
  36. 5.4 Elternarbeit zur Unterstützung von unterrichtsintegrierter Förderung emotional-sozial gefährdeter Schülerinnen und Schüler
  37. 5.5 Zusammenfassung
  38. 6 Einzelfallhilfe bei deutlich ausgeprägten emotional-sozialen Entwicklungs- und Verhaltensstörungen – Förderebene III
  39. 6.1 Erkennen von deutlich ausgeprägten emotional-sozialen Entwicklungs- und Verhaltensstörungen
  40. 6.1.1 Ressourcenorientierte Diagnostik
  41. 6.1.2 Störungsspezifische Diagnostik
  42. 6.2 Personelle und organisatorische Gelingensbedingungen
  43. 6.2.1 Personelle Rahmenbedingungen
  44. 6.3 Überblick über wirksame Fördermaßnahmen bei ADHS und Störungen des Sozialverhaltens
  45. 6.3.1 Wirksame pädagogische Förderung bei Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
  46. 6.3.2 Wirksame pädagogische Förderung bei aggressivem Verhalten
  47. 6.4 Zusammenfassung
  48. 7 Soziale Integration fördern
  49. 7.1 Erkennen sozialer Desintegration
  50. 7.1.1 Ermittlung von Freundschafts- und Netzwerkdaten mittels Nominierungsverfahren
  51. 7.2 Förderung sozialer Integration
  52. 7.3 Peer-mediiertes Lernen
  53. 7.3.1 Kooperative Lernformen
  54. 7.3.2 Peer Tutoring
  55. 7.4 Lehrkraft- und Peer-Feedback
  56. 7.5 Zusammenfassung
  57. 8 Datenbasierte Förderentscheidungen
  58. 8.1 Screening- und Monitoringverfahren sowie Hilfen zur Ziel- und Handlungsplanung
  59. 8.1.1 Grundlegendes Vorgehen beim Treffen datenbasierter Förderentscheidungen
  60. 8.1.2 Instrumente zum Screening von emotional-sozialen Entwicklungs- und Verhaltensstörungen im inklusiven Setting
  61. 8.1.3 Instrumente zum Monitoring von Verhaltensauffälligkeiten und emotional-sozialen Entwicklungsstörungen
  62. 8.2 Differentielle Förderplanung in kooperativen, multiprofessionellen Teams
  63. 8.3 Zusammenfassung
  64. 9 Kindeswohlgefährdung
  65. 9.1 Formen der Kindeswohlgefährdung
  66. 9.2 Vorgehen von Lehrkräften beim Verdacht auf Kindeswohlgefährdung
  67. 9.3 Hilfs- und Informationsnetzwerke
  68. 9.4 Zusammenfassung
  69. 10 Praxisbeispiel Rügener Inklusionsmodell
  70. 10.1 Das Modell im Überblick
  71. 10.2 Das Zusammenwirken der zentralen Elemente
  72. 10.2.1 Merkmal Datenbasierte Entscheidungsfindung (einschließlich Screening und Verlaufsdiagnostik)
  73. 10.2.2 Merkmal Mehrebenenprävention
  74. 10.2.3 Merkmal Wissenschafts- und Evidenzbasierung
  75. 10.3 Zusammenfassung
  76. 11 Zur Implementation wirksamer Hilfen in die Schule
  77. 11.1 Forschungsbefunde über Gelingensbedingungen der Implementation eines Konzepts
  78. 11.2 Implementation neuer Konzepte durch Schulentwicklung und Change Management
  79. 11.3 Implementation neuer Konzepte und Handlungsmöglichkeiten durch Fortbildungen
  80. Literatur

1          Emotional-soziale Entwicklungs- und Verhaltensstörungen im inklusiven Bildungssystem

 

 

 

Der Auftrag inklusiver Bildung fordert eine wirksame Unterstützung aller Lernenden gemäß ihren individuellen Bedürfnissen (United Nations, 2006, Art. 24, 3). Die wirksame Unterstützung bei Verhaltensauffälligkeiten und die gleichzeitige Berücksichtigung der Bedürfnisse aller Schülerinnen und Schüler bereitet Lehrkräften in inklusiven Bildungssystemen die größten Sorgen (Forlin & Chambers, 2011). Diese belastenden Erziehungssituationen sind einerseits als Interaktionen zu verstehen (Hillenbrand, 2011), andererseits werden sie meist an den Verhaltensweisen von Schülerinnen und Schülern festgemacht. Die aktuelle Schulstatistik belegt eine steigende Häufigkeit entsprechender Diagnosen: Der Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung erlebt eine Zunahme und stellte im Schuljahr 2015/16 mit 85.644 Schülerinnen und Schülern (ca. 1,2% aller Schülerinnen und Schüler in Deutschland der Jahrgänge 1 bis 10) den zweitgrößten Förderschwerpunkt dar (Kultusministerkonferenz, 2016, S. 8). Die internationalen Erfahrungen inklusiver Bildungssysteme belegen die besonderen pädagogischen Herausforderungen im Rahmen einer angemessenen und förderlichen Unterrichtung von Kindern und Jugendlichen mit Förderbedarf in der emotionalen und sozialen Entwicklung (World Health Organization & World Bank, 2011).

1.1       Zum Begriffsfeld

Das Thema wird von verschiedenen Wissenschaften, z. B. Medizin, Soziologie, Psychologie, Pädagogik und Sonderpädagogik, bearbeitet. In der Literatur finden sich daher divergierende Begriffe (Herz, 2014; Hillenbrand, 2008; Myschker & Stein, 2014). Die Beschreibungen der Symptome bilden ein breites Spektrum von emotionalen und verhaltensbezogenen Phänomenen ab und fassen sie unter Begriffen wie psychische Störung, Verhaltensauffälligkeit oder Verhaltensstörung zusammen. Der jeweils verwendete Begriff zieht unterschiedliche Phänomene zusammen, er stellt einen »Kontraktionsbegriff« (Hillenbrand, 1996) dar. Die verschiedenen Theoriekonzeptionen der Pädagogik bei Verhaltensstörungen, von tiefenpsychologischen über behaviorale bis zu konstruktivistischen Ansätzen, bedingen auch unterschiedliche Begriffsbildungen und Definitionen (Hillenbrand, 2008; Myschker & Stein, 2014). Die Unterschiedlichkeit der Begriffe ist nicht aufzuheben, umso wichtiger ist die kommunikative Absicherung eines gemeinsamen Verständnisses.

Bildungspolitisch und schulpraktisch relevant ist die Umschreibung der Kultusministerkonferenz (2000): »Sonderpädagogischer Förderbedarf ist bei Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen der emotionalen und sozialen Entwicklung, des Erlebens und der Selbststeuerung anzunehmen, wenn sie in ihren Bildungs-, Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten so eingeschränkt sind, dass sie im Unterricht der allgemeinen Schule auch mit Hilfe anderer Dienste nicht hinreichend gefördert werden können« (S. 10 f.).

International findet der fachwissenschaftliche Terminus »Gefühls- und Verhaltensstörung«, der vom US-amerikanischen Fachverband Council for Children with Behavior Disorders (CCBD) vorgeschlagen wurde, Verwendung. Dieser Begriff bietet zudem die Vorteile einer interdisziplinären Verständigungsebene sowie der expliziten Berücksichtigung der Emotionen (Forness & Knitzer, 1992, nach Opp, 2003, S. 509 f.).

Innerhalb dieses Buches werden hauptsächlich die Begriffe Verhaltensauffälligkeiten, emotional-soziale Entwicklungs- und Verhaltensstörungen sowie Sonderpädagogischer Förderbedarf mit dem Schwerpunkt emotionale soziale Entwicklung verwendet. Der Begriff Verhaltensauffälligkeiten (und synonym zwecks sprachlicher Variabilität verwendete Begriffe wie Verhaltensprobleme, Probleme in der emotional-sozialen Entwicklung oder auch Förderbedarf in der emotional-sozialen Entwicklung) bezieht sich auf Vorformen von emotional-sozialen Entwicklungs- und Verhaltensstörungen. Der Begriff Sonderpädagogischer Förderbedarf mit dem Schwerpunkt emotionale soziale Entwicklung beschreibt eine besonders schwerwiegende pädagogische Problematik, die durch eine besonders stark ausgeprägte emotional-soziale Entwicklungs- und Verhaltensstörung oder durch eine Kumulation von schwerwiegenden Entwicklungsrisiken gekennzeichnet ist. Die Begriffspräferenzen sollen aufzeigen, dass sich eine inklusive Förderung im Förderschwerpunkt emotionale soziale Entwicklung

•  auf ein in Art und Ausmaß differierendes Spektrum an Erziehungsproblemen bezieht,

•  hierbei neben dem Verhalten emotionale und soziale Kompetenzen und deren Entwicklung eine besondere Rolle spielen und

•  die Förderung auf die präventive Veränderung von Entwicklungsprozessen ausgerichtet ist.

Die genannten Begriffe sind kompatibel zu den in der klinischen Psychologie und der Kinder- und Jugendpsychiatrie verwendeten Begriffen. Verhaltensauffälligkeiten bzw. Entwicklungs- und Verhaltensstörungen von Kindern und Jugendlichen werden dort in mehrere Klassen eingeteilt: hyperkinetische Störungen, Störung des Sozialverhaltens, emotionale Störungen des Kindesalters, kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen, Störungen sozialer Funktionen mit Beginn der Kindheit, Tic-Störungen sowie sonstige Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn der Kindheit und Jugend (Döpfner, 2013, S. 37 f.). Die bezeichneten Auffälligkeiten werden häufig in vier Klassen unterteilt, die ebenfalls die Unterschiedlichkeit von emotional-sozialen Entwicklungs- und Verhaltensstörungen dokumentieren: externalisierende Störungen, internalisierende Störungen, sozial unreifes Verhalten und sozialisiert delinquentes Verhalten (Myschker & Stein, 2014).

Die berichtete Häufigkeit spezifischer Störungsformen unterscheidet zwischen Angststörungen (ca. 18%), depressiven und aggressiv-dissozialen Störungen (ca. 10%) und hyperkinetischen Störungen wie ADHS (ca. 4%) (Forness, Kim & Walker, 2012). Häufig sind mehrere Formen zugleich zu beobachten (Komorbidität) und Übergänge festzustellen (Schmid, Fegert, Schmeck & Kölch, 2007). Das gleichzeitige Auftreten von Lern- und Verhaltensstörungen (Komorbidität bzw. Overlap) wird bei ca. 50% der betroffenen Kinder und Jugendlichen beobachtet (Klauer & Lauth, 1997).

Nur ein Teil der in den epidemiologischen Studien ermittelten Häufigkeiten spiegelt sich in der Förderquote im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung: Ungefähr 15% aller Schülerinnen und Schüler mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf in Deutschland (was ca. 1,2% aller Schülerinnen und Schüler von 6 bis 15 Jahren im deutschen Bildungssystem entspricht, s. o.) erhalten aktuell eine entsprechende Diagnose. Gegenüber früheren Befunden stellt dies eine Verdreifachung der Diagnosen dar (Kultusministerkonferenz, 2016). Diese Entwicklung steht im Zusammenhang mit dem Ausbau inklusiver Beschulungsformen, der generell zu einer Zunahme der sonderpädagogischen Förderung führt (Kultusministerkonferenz, 2016; McLeskey, Landers, Williamson & Hoppey, 2012). Bundesweit nehmen inzwischen mehr als die Hälfte aller Schülerinnen und Schüler mit einem Förderbedarf im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung am Unterricht der allgemeinen Schule teil.

Die Befunde weisen darauf hin, dass viele Kinder und Jugendliche mit Verhaltensauffälligkeiten oder emotional-sozialen Entwicklungs- und Verhaltensstörungen weder eine sonderpädagogische Unterstützung noch Hilfe durch das medizinische oder soziale Versorgungssystem erhalten. Angesichts der Stabilität von Förderbedarf in der emotional-sozialen Entwicklung und dessen Bedeutung für die Bildungslaufbahn müssen alle Möglichkeiten der Unterstützung, insbesondere präventive Hilfen, intensiv genutzt und ausgebaut werden (Najaka, Gottfredson & Wilson, 2001; Reinke, Herman, Petras & Ialongo, 2008). Die aktuellen Forschungsansätze bevorzugen anspruchsvolle Mehrebenenmodelle der schulbasierten Prävention (Response to Intervention; Schoolwide Positive Behavior Support) (Casale et al., 2018; image Kap. 3 bis 6). Im inklusiven Kontext gewinnt die flächendeckende Implementation solcher Modelle noch stärker an Bedeutung. Kinder und Jugendliche, die von sozial-emotionalen Entwicklungs- oder Verhaltensstörungen betroffen sind, haben ungünstige Entwicklungsprognosen für die schulische, berufliche und persönliche Entwicklung. Sie wirkungsvoll zu unterstützen, ist eine bedeutsame Aufgabe und benötigt fundiertes Fachwissen.

Im Folgenden werden zentrale Einflussfaktoren der emotional-sozialen Entwicklung (emotionale und soziale Kompetenz sowie Handlungsregulation) beschrieben, die gleichzeitig Zielbereiche der sonderpädagogischen Förderung sind und zwischen denen ein dynamischer, transaktionaler Zusammenhang besteht.

1.2       Ziele und Entwicklungsschritte: Emotionale Kompetenz

Die emotionale Kompetenz, also der adäquate Umgang mit Emotionen, wird von Denham (1998) in die drei Komponenten des Emotionsausdrucks, des Emotionsverständnisses und der Emotionsregulation unterteilt. Eine Emotion stellt eine »zeitlich begrenzte Konfiguration von Körperreaktionen (z. B. Herzschlagänderung), Ausdrucksformen und subjektivem Gefühlszustand« (Holodynski, Hermann & Kromm, 2013, S. 196) dar. Je nach Situation, Interpretation und wahrgenommenen Reizen kann eine Emotion von einer Person sehr unterschiedlich wahrgenommen und reguliert werden sowie zu verschiedenen Verhaltensweisen führen. Emotionen geben Handlungsimpulse, z. B. eher unsicheres und zurückgezogenes Verhalten in angstauslösenden Situationen. Es findet eine Interaktion der Person mit der Umwelt in Form einer Rückkopplung statt, d. h., die Emotion wird von der Reaktion der Umwelt beeinflusst (Janke, 2002). Im Laufe der Entwicklung verschiebt sich die Gewichtung der Emotionsregulation von der interpsychischen (Reaktion der Umwelt beeinflusst stark die Emotion des Individuums) hin zur intrapsychischen Regulation, bei der das Kind oder der Jugendliche zunehmend selbstständig seine Emotionen steuert und eine emotionale Selbstregulation vornimmt.

Verhalten und Emotionen stehen in engem Zusammenhang, insbesondere die »Regulation von Handlungen durch Emotionen (mittels der Handlungsbereitschaft einer Emotion) sowie die Regulation von Emotionen durch Handlungen (Emotionsregulation)« (Holodynski et al., 2013, S. 198). Für eine kompetente Emotionsregulation werden spezifische Fähigkeiten benötigt: ein Repertoire an effektiven Regulationsstrategien, die Nutzung von Sprache als Mittel der psychologischen Distanzierung sowie die Anwendung exekutiver Funktionen auf die eigenen Emotionen und der Aufschub der Befriedigung ausgelöster Emotionen durch Zukunftsperspektiven (Holodynski et al., 2013).

Im Kontext der Prävention von sozial-emotionalen Entwicklungsstörungen wird die Emotionsregulation häufig thematisiert (Scheithauer & Petermann, 2002; Schell, 2011). Positiv ausgeprägt ist sie ein wichtiger Schutzfaktor für die Entwicklung (Lösel & Bender, 2008; Werner, 2005) und gilt als ein Prädiktor mit hoher Vorhersagekraft für die weitere Entwicklung (Lohaus & Vierhaus, 2013). Ebenfalls gilt eine ungünstig ausgeprägte Emotionsregulation als Risikofaktor und wird mit internalisierenden und externalisierenden Störungen (z. B. Koglin, Petermann, Jaščenoka, Petermann & Kullik, 2013; Schipper, Kullik, Samson, Koglin & Petermann, 2013), vor allem reaktiver Aggression (Calvete & Orue, 2012) in Verbindung gebracht. Koglin et al. (2013) fordern basierend auf aktueller Forschung die Förderung der Emotionsregulation als Bestandteil der Prävention und Therapie von Störungen des Sozialverhaltens.

1.3       Ziele und Entwicklungsschritte: Soziale Kompetenz

Soziale Kompetenz gilt als weitere Schlüsselqualifikation für eine positive Entwicklung. Klieme, Artelt und Stanat (2002) bezeichnen soziale Kompetenz als »vielschichtige Handlungskompetenz, die durch verschiedene Fähigkeiten, Fertigkeiten, Wissensstrukturen, motivationale Tendenzen, Einstellungen, Präferenzen usw. bestimmt wird« (S. 215). Wissen und Verhalten müssen hier unterschieden werden. Wissen darüber, was in sozialen Situationen erwartet wird, und grundsätzlich vorhandene Handlungsmöglichkeiten (Kompetenz) sind Voraussetzung für sozial kompetentes Verhalten. Die vorhandene Kompetenz bietet jedoch noch keine Garantie für die Umsetzung sozial kompetenten Verhaltens (Performanz) (Kanning, 2002; Reißig, 2007). Sozial kompetentes Verhalten besteht in einem dynamischen und komplexen Zusammenspiel u. a. aus dem Herstellen von positiven sozialen Beziehungen, der Rücksichtnahme auf Interaktionspartner und einer erfolgreichen Aufrechterhaltung sozialer Kontakte (Vierbuchen, 2015).

Sozialer Kontakt in der Schule und somit der Einfluss der Gleichaltrigen ist ein reziproker und transaktionaler Prozess (Bradford Brown, Bakken, Ameringer & Mahon, 2008), wobei Kinder mit ähnlichen Verhaltensweisen sich stärker gegenseitig beeinflussen als Kinder mit stark unterschiedlichem Sozialverhalten (Vitaro, Brendgen, Pagani, Tremblay & McDuff, 1999). Das ist gerade im Zuge der inklusiven Schulentwicklung ein relevanter Aspekt, den es im gemeinsamen Miteinander des schulischen Alltags in heterogenen Gruppen zu beachten gilt. Positive soziale Interaktionen in einer Klasse stärken die Kinder und Jugendlichen und führen zu positiveren sozialen Interaktionen und prosozialen Freundschaften auch außerhalb der Schule. Untersuchungen bringen Ablehnung durch Gleichaltrige, ungünstiges Sozialverhalten und aggressives Verhalten in einen engen Zusammenhang (z. B. Dodge, Greenberg, Malone & Conduct Problems Prevention Reseach Group, 2008; Lansford, Malone, Dodge, Pettit & Bates, 2010; Müller & Minger, 2013). Gerade der intensive Kontakt zu anderen Gleichaltrigen mit geringer sozialer Kompetenz ist ein signifikanter Prädiktor für aggressives Verhalten im Jugendalter (Dodge et al., 2008).

Das Verhalten in sozialen Situationen und die sozialen Beziehungen zu Gleichaltrigen wiederum sind eng mit dem schulischen Erfolg verbunden (Caprara, Barbaranelli, Pastorelli, Bandura & Zimbardo, 2000; image Kap. 7). Woodward und Fergusson (2000) belegen, dass problematische Freundschaftsbeziehungen in der Kindheit mit einem höheren Risiko schwacher akademischer Leistungen und Arbeitslosigkeit im Alter von 18 Jahren verbunden sind. Kinder und Jugendliche mit hohem Entwicklungsrisiko benötigen daher stärkere systematische Unterstützung, um positive soziale Erfahrungen im inklusiven Kontext sammeln zu können.

1.4       Ziele und Entwicklungsschritte: Handlungsregulation

Neben sozialen und emotionalen Aspekten liefern kognitive Komponenten die Grundlagen für das Verhalten einer Person. Die Theorie der sozial-kognitiven Informationsverarbeitung (Crick & Dodge, 1994; Lemerise & Arsenio, 2000; image Kap. 2.3.2) bringt diese Aspekte zusammen und beschreibt modellhaft die internalen Verarbeitungsprozesse, welche sozialen Handlungen zugrunde liegen (image Abb. 1.1). Diese Theorie bietet Erklärungsansätze für gelingende oder auch inadäquate soziale Handlungen und ermöglicht ein schrittweises Training der sonst unbewusst und automatisiert ablaufenden Prozesse.

Eine differenzierte Beschreibung dieser Prozesse findet sich z. B. bei Vierbuchen (2015). Im Folgenden werden vor allem Probleme des Ablaufs am Beispiel aggressiven Verhaltens fokussiert, denn in jedem Schritt dieses komplexen Prozesses liegen Stolpersteine, die zu Störungen führen können (Crick & Dodge, 1994), die in inadäquatem Verhalten resultieren und aversive Reaktionen aus der Umwelt hervorrufen können.

Männliche Jugendliche mit aggressiven Verhaltensweisen reagieren besonders sensitiv auf aggressive Hinweisreize aus der Umwelt (Dodge & Frame, 1982), was den Prozess bereits vom ersten Schritt an beeinflusst. Dieses Ergebnis findet sich auch für die Speicherung und Erinnerung solcher Reize, im Gegensatz zu Jugendlichen mit angemesseneren Verhaltensweisen (Dodge & Frame, 1982). Fontaine et al. (2010) zeigen, dass Jugendliche mit geringen sozialen Kompetenzen überzufällig häufig bereits im ersten Schritt Probleme mit dem Filtern der relevanten sozialen Reize haben.

In ambivalenten sozialen Situationen tendieren aggressive Jugendliche dazu, ihrem Interaktionspartner eher eine feindselige Handlungsabsicht zuzuschreiben, was in ihren bisherigen Erfahrungen begründet sein kann (Fontaine et al., 2010). Das führt im zweiten Schritt häufig zu Fehlinterpretationen, die ursprünglich neutrale Reize in Reize mit hoher psychosozialer Belastung umwandeln. Provokante Intentionen zu bewerten, gelingt den aggressiven Jungen ebenso gut wie denjenigen ohne aggressives Verhalten (Dodge & Coie, 1987). Ein Unterschied zeigt sich erst in der Wahrnehmung der positiven sozialen Absichten oder versehentlichen Provokationen, bei denen Jungen ohne aggressives Verhalten adäquatere Bewertungen zeigen.

Die Ziele, die Kinder und Jugendliche mit Verhaltensproblemen im dritten Schritt anstreben, sind eher kurzfristig gesetzt und selbstbezogen (Coie, Dodge, Terry & Wright, 1991). Es fehlt die Planung langfristiger Ziele und Absichten in Situationen. Sozial unangepasste Personen wählen eher Ziele aus, die sich auf die Beziehungen zu ihren Mitmenschen negativ auswirken (Slaby & Guerra, 1988).

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Abb. 1.1: Modell der sozial-kognitiven Informationsverarbeitung (SKI; Crick & Dodge, 1994; Lemerise & Arsenio, 2000; Hillenbrand & Hennemann, 2006, S. 45)

Als Verhaltensalternativen (vierter Schritt) werden eher aggressive und impulsive Handlungsmöglichkeiten angewendet (Zelli, Dodge, Lochman, Laird & Group, 1999). Falls ein ausgewähltes Verhalten nicht zum erwarteten Ziel führt, werden im wiederholten Durchlauf des Prozesses kaum alternative Handlungsmöglichkeiten gefunden (Dodge, 1993). Das zeigt, dass das Verhaltensrepertoire von Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensproblemen wesentlich kleiner als bei sozial kompetenten Gleichaltrigen ist (Slaby & Guerra, 1988).

Aus diesem eingeschränkten Spektrum an Handlungsalternativen wird in der Entscheidung für eine bestimmte Handlung im fünften Schritt eine einseitig gefärbte Auswahl getroffen. Kinder und Jugendliche mit geringen sozial-kognitiven Kompetenzen unterschätzen die negativen Konsequenzen des aggressiven Verhaltens und bewerten dieses häufig als geeigneter für die schnelle Zielerreichung (Zelli et al., 1999; Slaby & Guerra, 1988).

Im sechsten Schritt existiert kaum Zugriff auf funktionierende, eintrainierte soziale Verhaltensweisen oder Handlungsabläufe, und so muss sich der Jugendliche immer wieder neu in der Umsetzung bestimmter Verhaltensweisen versuchen oder auf alte Handlungsschemata zurückgreifen, die für die aktuelle Situation nicht unbedingt angemessen sind (Dodge, Pettit, McClaskey & Brown, 1986).

Eine Störung im Ablauf dieses Prozesses stellt eine Beeinträchtigung dar, die über die gesamte Altersspanne hinweg negative Folgen in verschiedenen Entwicklungsbereichen haben kann. Das Auftreten von Schwierigkeiten im sozialen Verhalten ist häufig ein sich selbst verstärkender Prozess in Wechselwirkung mit der sozialen Umwelt. Kinder und Jugendliche, die ihren Interaktionspartnern eher negative Absichten unterstellen und aggressivere Verhaltensweisen auswählen, sind häufig in einem Freundeskreis mit anderen, die diese Bewertungen ebenso durchführen. Somit bekommen sie positive Rückmeldungen für ihre Handlungen, erreichen ihre Ziele und sehen häufig keine Notwendigkeit, ihre Verhaltensweisen zu ändern. Hier ergeben sich im inklusiven Kontext Chancen positiver sozialer Modelle, die jedoch gezielt genutzt und unterstützt werden müssen.

1.5       Zusammenfassung

Grundlegende Wissensbestände zum Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung belegen die hohe Verbreitung emotionaler und sozialer Entwicklungs- und Verhaltensprobleme im Kindes- und Jugendalter. Evidenzbasierte Prävention (image Kap. 2.1) und inklusive Förderung durch die wirksame Unterstützung emotionaler und sozialer Entwicklungsprozesse finden in der Praxis bisher keine ausreichende Beachtung. Eine systematische Implementation bewährter Förderkonzepte (wie in Kapitel 3 beschrieben) findet selten statt. Dabei besteht hierfür vor allem im inklusiven Kontext eine zwingende Handlungsnotwendigkeit. Eine verzerrte sozial-kognitive Informationsverarbeitung stellt einen wesentlichen Prädiktor für sowohl internalisierende als auch externalisierende Verhaltensstörungen dar, die mit einem problembehafteten Sozialverhalten in einem engen Zusammenhang stehen. Eine systematische Förderung emotionaler und sozialer Kompetenzen sowie der sozial-kognitiven Informationsverarbeitung verspricht deutliche Entwicklungsfortschritte im schulischen, persönlichen und sozialen Bereich. Rahmenkonzepte, wie Response to Intervention (image Kap. 3.4 & Kap. 10) oder Schoolwide Positive Behavior Support (image Kap. 3.5), eignen sich für die Realisierung einer präventiven und inklusiven Förderung im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung.

2          Empirisch bewährte Erklärungs- und Handlungsansätze

 

 

 

2.1       Empirisch bewährtes pädagogisches Wissen – Entstehung und Aussagekraft

Für den schulischen Bereich im Allgemeinen und für inklusive Settings im Besonderen existieren eine Vielzahl an Konzepten und Maßnahmen zur Förderung von emotional-sozialen Kompetenzen und des Verhaltens. Nicht alle der in der Praxis genutzten Konzepte und Maßnahmen sind gleichermaßen wirksam (Burns & Ysseldyke, 2009). Zwei Kriterien sollten bei der Auswahl von Fördermethoden genutzt werden: die theoretische Fundierung und die Evidenzbasierung. Ein pädagogisches Konzept und damit verbundene Maßnahmen sind dann theoretisch fundiert, wenn die Inhalte und Methoden zumindest von einem wissenschaftlich überprüften Modell, das Lernen und Entwicklung von Kindern und Jugendlichen erklärt, ausgehend entwickelt und ausgewählt wurden. Evidenzbasierung bezeichnet die wissenschaftlich nachgewiesene Wirksamkeit sowie die praktische Anwendbarkeit eines Förderkonzepts, wie z. B. eines sozialen Trainings oder eines Konzepts zur Klassenführung. Theoretische Fundierung und Evidenzbasierung sind eng miteinander verbunden. Ein wissenschaftlich orientiertes Handlungskonzept ist eine Ableitung aus einer Theorie bzw. einem Modell. Wirksamkeitsstudien zum abgeleiteten Handlungskonzept geben Aufschluss über den empirischen Bewährungsgrad und die Reichweite der Theorie bzw. des Modells.

Doch wie gelangt man zu Erkenntnissen über die Wirksamkeit und damit der Evidenzbasierung pädagogischer Handlungsmöglichkeiten? Die Forderung nach einer evidenzbasierten Praxis (EbP) wird in der Pädagogik sowohl in der Forschung als auch in der Praxis zunehmend beachtet und kritisch diskutiert (z. B. Gebhardt et al., 2017; Grosche, 2017; Hartke, Blumenthal & Voß, 2017; Hillenbrand, 2015a; Nußbeck, 2007). Im Rahmen der Diskussion geht es um die wissenschaftlich und praktisch erprobte Wirksamkeit und Anwendbarkeit von theoriegeleiteten pädagogischen Förderkonzepten und Maßnahmen. Diese sollten sich also bewährt haben, evident sein (Hillenbrand, 2015a). Dass ein solches Wissen darüber, was wirkt, sehr nützlich sein kann, ist weitestgehend unumstritten. Unklar ist, ab wann eine pädagogische Maßnahme als evident eingestuft wird und auf welcher Grundlage entschieden wird, welche Fördermethode im Einzelfall angewendet wird.