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Dr. Sonntag
– Box 2 –

E-Book 6-10

Peik Volmer

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74096-216-6

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Vom Himmel das Blau

Offene Fragen, Wünsche, Illusionen und Versprechungen

Roman von Peik Volmer

Ist es nicht erstaunlich, verehrte Leserin, geehrter Leser, wie schnell aus völlig unbekannten Menschen gute Bekannte, vielleicht sogar Freunde werden können? Bis vor kurzem kannten Sie Egidius noch nicht, seine Frau Corinna, und Daniel, den Schriftsteller. Haben Sie einen Sohn wie Lukas daheim? Ein lieber Junge, aber mit 15 mitten in der Pubertät! Dagmars Probleme scheinen gelöst. Endlich kennt sie ihre Eltern, und mit Anton scheint sie ihre große Liebe gefunden zu haben – im Gegensatz zu Frau Fürstenrieder! Den kleinen Hannes kann ich gut verstehen, aber auch Lily. Natürlich macht sie sich Sorgen um den Jungen, der ja unter einer psychischen Erkrankung leidet. Philipp und Chris gehen entspannter mit ihm um, vermutlich fühlt er sich bei den beiden wohler als bei seiner Mutter. Ich habe gerade eben das Ende des fünften Bandes noch einmal gelesen. Drei Informationen schulde ich Ihnen noch. Sie erinnern sich doch sicher an das Wichtelgeschenk für Ludwig, den jungen Assistenzarzt. Die Lotto-Ziehung fand am Samstag, den 22.12. statt. Dann die Frage, wo und mit wem Lukas Silvester feierte. Und drittens: Wie verlief eigentlich der Besuch bei Professor Tauber? Egidius Sonntag mit seinem untrüglichen Gefühl für das richtige »timing«, wie man sagt, hatte ja exakt zu dem Zeitpunkt angerufen, an dem der Chefarzt der Pädiatrie, alles für sinnlos haltend, beschlossen hatte, seinem Leben ein Ende zu setzen ...

Zur rechten Zeit

»Könnt ihr mich nicht in Ruhe lassen? Lasst mich doch einfach alle in Ruhe! Was habe ich euch denn getan? Ich – kann einfach nicht mehr!«

Tauber schluchzte auf. Egidius war alarmiert.

»Herr Tauber, ich stehe praktisch schon vor Ihrer Tür. Und: Nein, ich werde Sie nicht in Ruhe lassen. Ich bin ärztlicher Direktor, und die Qualität Ihrer hervorragenden Arbeit trägt zum exzellenten Ruf unserer Klinik bei. St. Bernhard wäre nicht die Institution, die sie ist, ohne Sie. Bitte, öffnen Sie mir, wenn ich klingele.«

Egidius hatte das Schlimmste befürchtet. Als auf sein Läuten hin der Summer ertönte, der die Eingangstür freigab, zischte er erleichtert und knurrte: »Dem Himmel sei Dank!« Er sprang die Treppen empor, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Tauber lag im Flur. Tränen liefen über sein Gesicht.

»Ich kann nicht mehr. Ich kann einfach nicht mehr! Warum tut Sie mir das an? Warum tut Antretter mir das an?«

»Aber lieber Herr Tauber, darf ich Sie erinnern? Sie sind geschieden!«

»Aglaja hat sich scheiden lassen, nicht ich!«

»Das mag sein, ändert aber nichts am Resultat!«, erwiderte Egidius bestimmt. »Sie müssen akzeptieren, dass Ihre Ex-Frau ihre eigenen Wege geht. Es steht ja auch Ihnen frei, Ihre eigenen Wege zu gehen. Der Weg allerdings, an den Sie gerade eben gedacht haben, ist völlig untauglich!« Mit dem scharfen Auge des Arztes hatte er den kleinen Ritz in der Haut über dem linken Handgelenk seines Kollegen entdeckt, der leicht blutete, allerdings nicht lebensgefährlich.

Egidius kletterte über den liegenden Kollegen hinweg.

»Ich mach mal Kaffee«, erklärte er. »Milch steht im Kühlschrank?«

»Die ist nicht mehr gut!«

»Dann eben schwarz. Soll ja schön machen!«

Wenig später saßen die Kollegen sich im spärlich möblierten Wohnzimmer des Pädiaters gegenüber. Man merkte dem Raum immer noch an, dass er offenbar nur eine Art Notbehelf war. Zwei Sessel, ein Couchtisch, ein kleiner Esstisch und zwei Stühle. Auf einem kleinen Rollwagen stand ein altmodischer Fernseher mit integriertem Videorecorder, worüber Egidius gegen seinen Willen grinsen musste.

»Der gehört ins Museum, oder?«

»Für die ›Tagesschau‹ reicht’s! Und ›Criminal minds‹!«

Egidius’ Gesicht wirkte wie ein Fragezeichen.

»Ich sehe es eben gern.« Tauber klang trotzig, wie ein kleiner Junge. Fehlte nur noch das Aufstampfen mit dem Fuß.

Schweigend tranken die Herren ihren Kaffee. Egidius sprach nach einer längeren Pause.

»Ich verstehe gut, wie Sie sich fühlen, Herr Tauber. Mir würde es nicht viel anders gehen, wenn Corinna … Ich will mir das gar nicht vorstellen. Ihr Leben aber ist zu wichtig, um es wegzuwerfen. Darf ich Sie an den Fall dieses syrischen Jungen erinnern? Wie hieß er noch gleich?«

»Nazem. Nazem Almansour.«

»Bitte. Sie haben ihn gerettet, und dem Jungen geht es gut. Glauben Sie, dass jemand anders das geschafft hätte?«

»Jeder ist ersetzbar, Herr Sonntag. Bichler ist ein fantastischer Mann und etwas, was in unserer Zunft nicht häufig ist. Er ist ein guter Mensch.«

»... der alles, was er kann und weiß, von Ihnen gelernt hat. Sie haben doch auch mal den Eid des ollen Hippokrates geschworen, oder? Erinnern Sie sich? Unter anderem steht da, dass sie geloben, ›diese Kunst zu lehren ohne Entgelt und ohne Vertrag; Ratschlag und Vorlesung und alle übrige Belehrung meinen und meines Lehrers Söhnen mitzuteilen‹. Diesen heiligen Eid wollen Sie brechen? Mal ganz von der Verpflichtung abgesehen, alles für Ihre Patienten zu tun!«

»Und wer hilft dem Helfer?«

»Ich. Ich habe nämlich nicht vor, Sie fallenzulassen. Ich befürchte, dass Sie sich noch einmal ein der Entzugsklinik vorstellen müssen. Und Sie werden sicher psychotherapeutisch betreut werden müssen. Aber glauben Sie mir, es lohnt sich. Ich glaube an Sie. So, und jetzt nehme ich Sie mit!«

»Wohin?«

»Entweder zu mir nach Hause oder in die Klinik!«

»Nein, Sie können mich hier lassen. Ich verspreche Ihnen, dass Sie sich keine Sorgen machen müssen. Und gleich nach den Feiertagen stelle ich mich in Garmisch vor. Lech-Mangfall-Klinik. Die erinnern sich sicher noch an mich!«

»Na gut. Ich vertraue Ihnen. Versprechen Sie mir, dass Sie sich melden, wenn es Ihnen schlechter geht. Und bitte bedenken Sie, Herr Kollege, dass wir nicht auf der Welt sind, um den Erwartungshaltungen anderer zu entsprechen. Leider ist Ihre Erwartungshaltung Ihnen selbst gegenüber viel zu hoch. Bitte erwarten Sie von sich nur, was Sie zu leisten imstande sind.«

Egidius Sonntag verabschiedete sich, und fuhr nachdenklich heim. Er würde um Tauber kämpfen. Wer konnte glauben, dass ein Mann, der unzähligen Kindern geholfen, ihnen das Leben gerettet hatte, vor seinen eigenen Problemen kapitulierte? »So viel zum Thema ›Halbgott in Weiß‹«, knurrte er leise. Ob irgendein Patient je darüber nachdachte, dass auch ein Arzt gepeinigt wurde durch Ängste, ein gebrochenes Herz, Selbstzweifel?

Millionären widerspricht man nicht

Frau Fürstenrieder hatte eine kalte Platte arrangiert und eine Thermoskanne voll Früchtetee zubereitet. Dem gemütlichen Fernsehabend stand nichts mehr im Weg. Ludwig hatte es sich auf der Couch bequem gemacht und sah auf die Uhr.

»Ach, verflixt!«, schimpfte er. »Ich wollte unbedingt die Lottozahlen sehen, wegen dem Schein!«

»Wegen des Scheines«, korrigierte Frau Fürstenrieder mild. »Warte noch ein Viertelstündchen. Am Ende der Tagesschau werden die noch einmal verlesen! Was schauen wir uns an?«

»Wo ist die Programmzeitschrift?«

»Hier!«

»Die endete gestern. Freitag. Ich meine die neue, mit dem Programm ab heute!«

»O weh! Die muss ich vergessen haben! Wie dumm!«

»Macht nichts. Es gibt ja den Bildschirmtext!« Ludwig ergriff die Fernbedienung. »Also: Erstes – Drama mit Christiane Hörbiger als alkoholischer Architektin. Zweites – Komödie mit Christine Neubauer als verliebte Nonne. Bayern – ­Zünftig aufgspuit. Volksmusik aus dem Tölzer Land. RTL – Casting-Show. SAT1 – Erotikkomödie mit der Ferres als Mutter, deren Mutter und deren Schwester in einer Dreifachrolle. RTL II – Kochshow. Kabel – Sylvester Stallone. Rambo I-IV, 1982. ARTE – eine tschechische Tragödie mit französischen Untertiteln. VOX – Arztserie. Nein, Arzt­serien hasse ich! Die sind immer voll unglaubwürdig. Und viel zu schmalzig!«

»Das hört sich ganz entsetzlich an, außer der Komödie im 2.!«

»Kommt nicht infrage! Die Neubauer als Nonne? Und dann noch verliebt? Ob der Papst das weiß? Nein, werte Frau Fürstenrieder. Nur über meine Leiche!«

In diesem Moment gab es einen kleinen Knall, begleitet von einer Art Blitz. Der Bildschirm wurde dunkel. Es stieg heller Rauch auf. Frau Fürstenrieder stieß einen Schrei aus, und griff sich and Herz.

»Was war das? Ich dachte, mein Herz bleibt stehen!«

Ludwig hatte sich vorsichtig dem Gerät genähert und einige Knöpfe betätigt.

»Der Rauch erinnert etwas an den Vatikan – habemus Papam! Passend zu dem Nonnen-Spektakel! Ich schätze, der Fernseher hat den Geist aufgegeben. Und wenn Sie meine ehrliche Meinung hören wollen: Angesichts dieses Programms bin ich ganz auf seiner Seite!«

»Dann eben die Weihnachts-CD. Und wir schwatzen ein wenig.«

Der junge Arzt ergriff die Hülle. »Vom Regen in die Traufe! Klausjürgen Wussow liest die Weihnachtsgeschichte! Und Peter Alexander singt Heidschi-Bumbeidschi! Mir bleibt aber auch nichts erspart!«

»Mitgehangen, mitgefangen!«, rief Frau Fürstenrieder, boshaft kichernd. Sie wies mitunter deutliche charakterliche Defizite auf.

»Und was ist mit meinen Lottozahlen?«

»Morgen. Am Kiosk. In der Sonntagszeitung!«

»Kommt nicht infrage. Wozu gibt es denn das Internet?«

Ludwig tippte auf seinem Mobiltelefon herum.

»Und? Hast du?«

»Das sind doch die Zahlen von heute, oder? 29.12.2018? Und der Schein?«

»Die Ziehung von heute. 29.12.18.«

Ludwig verglich. Er schaute auf die Zahlen auf dem Tippschein, dann auf das Display seines Handys. Wieder und wieder.

»Was ist denn nun?«, erkundigte sich Frau Fürstenrieder ungeduldig. »Ein Dreier? Oder gar ein Vierer?«

Der junge Doktor streckte ihr den Schein mit dem Telefon hin. Er war ziemlich blass um die Nase.

»Ich glaube, ich habe gewonnen«, sagte er leise.

»Wie, gewonnen?«

Frau Fürstenrieder verglich. »1, 8, 11, 34, 37, 42. Superzahl 0.«

Sie griff sich ans Herz. »Ludwig, Junge! Sechs Richtige! Mit der Superzahl! Wie viel hast du gewonnen?«

»Keine Ahnung. Weiß man das nicht erst in der kommenden Woche?«

»Schon, aber so Pi mal Daumen ist das bekannt! Schau doch mal auf der Internetseite nach!«

»Habe ich schon. Das steht was von 7,5 Millionen Euro. Das kann doch gar nicht sein!«

»Natürlich kann das sein! Gewonnen ist gewonnen! Ludwig? Du bist Multi-Millionär! Du darfst es aber niemandem erzählen!«

»Warum nicht?«

»Weil du dann plötzlich sehr viele gute Freunde hast, von denen du vorher nichts geahnt hast. Sei klug und schweige, hörst du? Die von der Lottozentrale werden dir einen Berater schicken, der erklärt dir, wie du das Geld anlegst!«

»Den Berater brauche ich nicht. Ich weiß genau, was ich mit dem Geld mache! Wenn das alles so stimmt! Und ein Mensch weiß sowieso Bescheid. Der nämlich, von dem ich den Lottoschein bekommen habe!«

»Glaubst du, dass der sich die Zahlen notiert hat? Ach, egal! Darf ich fragen, was du vorhast?«

»Ganz einfach: Ich kaufe zwei Wohnungen. Eine für Sie, eine für mich. Haushaltsgeräte, Möbel und so. Und Fernseher! Besonders Fernseher!«

Er lachte.

»L-Ludwig«, stotterte Frau Fürstenrieder, »du musst mir nichts kaufen, schon gar keine Wohnung! Das ist doch viel zu verpflichtend! Dass könnte ich niemals annehmen!«

Er kniete sich vor ihr auf den Boden, und ergriff ihre Hände.

»Wer hat mich bei sich aufgenommen wie einen Sohn? Für mich gesorgt, gewaschen, gebügelt, genäht, gekocht? Sich mein Gejammer angehört? Mir Mut gemacht? Keine Widerrede. Das glaube ich nicht. Millionären widerspricht man nicht.«

Er lachte. Dann schwankte er plötzlich, und griff nach einer Stuhllehne.

»Ich glaube, ich werde ohnmächtig!«

*

Die Ohnmacht wich einem eigenartigen Gefühl der Interesselosigkeit. Erstaunlich. Man hätte doch annehmen sollen, dass ein Gewinn von derlei Ausmaßen zu Euphorie führt. Zu hemmungsloser Ausgelassenheit. Oder wenigstens zu einer kolossalen Erleichterung angesichts eines sich chronisch am Limit bewegenden Kontos.

Nichts von alledem. Eher Verunsicherung. Zweifel. Ängste. Da half es nur, einen Plan zu machen. Er hatte ja genügend Zeit zwischen den Feiertagen. Bis zum Drei-Königs-Tag ging die Feiertagsregelung. Er musste nur zweimal die Visite übernehmen.

Na denn! Bewaffnet mit einem Din-A-4-Bogen und einem Kugelschreiber verteilte er. Zwei Kinderhospize würde er bedenken. Die Krebsforschung, die AIDS-Forschung, die Stammzellforschung. Die beiden Wohnungen mit komplett neuer Ausstattung. Und seine Schulden bezahlen. Die Kollegen und der Verwaltungsleiter hatten seinetwegen auf 100 Euro ihres Gehalts verzichtet, ein halbes Jahr lang, oder? Und der Chef sogar auf 200 Euro. Das würde er zurückgeben, mit Zinsen. Und er würde sich was auf die hohe Kante legen. Keine peinlichen, angsteinflößenden Briefe von der Sparkasse mehr. Ach ja: Führerschein, und vielleicht ein kleines Auto. Erstmal einen Gebrauchten, zum Beulen reinfahren.

Das Telefon klingelte. Er sah auf die Uhr. Wie lange hatte er hier gesessen? Wie spät war es überhaupt? Hatte das Neue Jahr schon begonnen?

»Lechner bei Fürstenrieder, guten Abend!«

So hatte die Stimme von Korbinian Wachs noch nie geklungen. Furcht, Panik, Verzweiflung. Ansteckend war dies atemlose Keuchen.

»Korbi hier, Ludwig, du musst sofort in die Klinik kommen! Umgehend! Es geht um Leben und Tod! Schnell!«

Noch bevor er fragen konnte, hatte sein vorgesetzter Kollege den Anruf beendet. Frau Fürstenrieder schlief schon. Auf Silvesterfeiern hatte sie keine Lust. Das Neue Jahre begänne auch ohne sie, pflegte sie zu sagen.

Der neue Gast

Das letzte, was Egidius mitbekam, war, dass sein Wagen die Leitplanke durchbrach, kurzstreckig durch die Luft flog und sich seitlich überschlug. Sein letzter Gedanke war, dass Corinna sich wundern würde, wo er bliebe. Dann umklammerte ihn eine Art zäher Nebel, bevor alles schwarz wurde.

Dass ungefähr eine halbe Stunde später der Ort des Geschehens durch Scheinwerfer und Blaulicht illuminiert wurde, und dass Sirenen von Polizei und Feuerwehr sich in das Geräusch explodierenden Feuerwerks mischten, nahm er nicht wahr.

»Nur einer, Gott sei Dank! Wir kommen so nicht an ihn dran! Dach wegflexen, sofort!«

»Ich taste Puls! Der lebt noch!«

»Wer ist das? Hat er Papiere?«

Der Notarzt hatte intubiert und einen intravenösen Zugang gelegt.

»Er kann in die Klinik! Die nächste ist St. Bernhard! Hoffentlich ist der Chef zu erreichen, der soll sehr tüchtig sein!«

Derweil hatte Dr. Wachs laut geflucht. Warum kam der Chef nicht endlich? Der Springer hatte noch einmal versucht, ihn anzurufen, aber die Ansage war, dass der Teilnehmer derzeit nicht erreichbar war.

»Vermutlich ein Funkloch! Wie leben halt auf dem Land!«

»Bitte Schweiß abtupfen, Schwester!«

Korbinian Wachs hatte sich durch den Eingriff gekämpft. Endlich war er fertig. Der Chef hatte mal gesagt, dass man schlimmstenfalls den Magen-Darm-Trakt auch in einer Schicht vernähen könnte, aber er wollte nichts riskieren und nähte Schleimhaut und Muskelschicht getrennt voneinander. Er hatte es geschafft. Er hatte es ganz allein geschafft. Selbst. Ohne Hilfe. Selbständig.

»Ich muss nur noch zunähen, Frau Pahlhaus!«, nickte er der Chefin der Anästhesie zu. »Ist er stabil?«

»Alles wunderbar, Herr Wachs! Ich gratuliere im Übrigen! Champag­ner muss nicht sein. Es reicht ein guter Sekt oder wenigstens ein feinperlender Prosecco! Oder, was neuerdings en vogue ist, ein Crémant!«

»Wie bitte?«

»Keine Widerworte, Herr Kollege! Sie haben hier operiert wie ein junger Gott! Das muss gefeiert werden!«

Korbinian Wachs war verlegen.

»Ach was …«

»Jetzt nehmen Sie das Lob ruhig mal an! Ich habe schon so einige Chirurgen kommen und gehen sehen. Die meisten habe ich wieder gehen sehen, glauben Sie mir! Sie waren richtig gut!«

»Dem kann ich nur zustimmen, Herr Dr. Wachs,« pflichtete Schwester Marion der Narkoseärztin bei. »Bin ich auch zum Umtrunk eingeladen? Übrigens: Ein frohes Neues Jahr, meine Damen und Herren!«

»Was? Schon Neues Jahr? Was soll man erwarten, wenn das Alte mit Arbeit endet und das Neue mit Arbeit beginnt?«

Der OP hallte wider von lauter Neujahrswünschen.

Irgendwo in der Ferne ertönte ein Martinshorn.

»Ob das was für uns ist?«, fragte der Springer stirnrunzelnd.

»Vermutlich eher die Feuerwehr. Ein Weihnachtsbaumbrand. Oder ein Böller hat sich ins Heu verirrt!«

Das Geräusch kam näher.

Das Telefon im OP klingelte.

»OP, Schwester Marion? – Ja, danke. Ich richte es aus. Wir sind eben mit einem nörgeligen Magen fertig geworden. Unsere Form ist beispielhaft!«

Sie wandte sich an die Kollegen.

»Ein Verkehrsunfall. Männlich, Mitte 40. Verdacht auf Hirnblutung, Nierenkontusion oder Abriss und Wirbelsäulenverletzung! Zugang und Tubus liegen! Sieht so aus, als ginge es munter so weiter in 2019!«

»Ist denn der Chef nun endlich da?«, wollte Dr. Wachs wissen.

»Nicht, dass ich wüsste!«, stellte Frau Pahlhaus fest. »Wirklich komisch! Sonst kann man sich doch immer auf ihn verlassen! Was mag da passiert sein? – Kommen Sie, Herr Wachs! Heißen wir unseren neuen Übernachtungsgast willkommen!«

Scheißegal

War es je vorgekommen, das Egidius und sie nicht auf das Neue Jahr angestoßen hatten, dachte Corinna, als die Kapelle plötzlich ›Auld Lang Syne‹ anstimmte und überall das Klirren von Gläsern und »Prost Neujahr« zu hören waren. Wie hätte ihr Mann gesagt? ›Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps.‹ So war das eben, wenn man mit einem Vollblutarzt verheiratet war. Sie hob ihr Glas und prostete einem imaginären Gegenüber zu. »Frohes Neujahr, Egidius, Liebling. Ich wünsche dir ein glückliches, gesundes Neues Jahr!«

*

Lukas hatte Chris angerufen, am Silvestermorgen. Er müsste ihn und Philipp etwas Dringendes fragen. Und ob er kurz vorbeikommen dürfte. Seine Eltern seien ohnehin irgendwo eingeladen, wohin zu gehen er keine Lust hätte.

»Willst du mit uns Silvester feiern?«, wollte Chris wissen. »Wenn das für deine Eltern okay ist, würden wir uns freuen!«

Lukas reiste mit dem Bus an.

»Was gibt es denn so Wichtiges?«, fragte Philipp.

Lukas erzählte von seinem Versuch, die ›Benefits‹ einer bereitwilligen Freundin auszunutzen, als er die Chance dazu hatte. Und dass er, als es zur Sache gehen sollte, einfach keine Lust darauf hatte, was ihm komisch vorgekommen war, weil in seiner Klasse alle, aber wirklich alle sich offenbar regelmäßig mit ihren Freundinnen zum Austausch allerlieblichster Gefühle trafen.

Chris kicherte frech. »Klappern gehört zum Handwerk!«, behauptete er.

»Was?«

»Du bist 15, oder? Da ist vermutlich eher der Wunsch der Vater des Gedankens. Oder, um es verständlicher auszudrücken: Die Kids schnacken nur, und tun sich groß. Aber drüber reden tut eben gut!«

Lukas nickte. »Das habe ich auch schon gedacht«, erwiderte er nachdenklich. »Meinst du, dass ich vielleicht schwul bin?«

Chris ging ein Licht auf. »Ach! Jetzt verstehe ich, warum du uns so dringend besuchen wolltest! Du hast Fachleute gesucht, stimmt’s? Nach dem Motto: ›Er hätte lieber jemanden fragen sollen, der sich damit auskennt!‹«

Der Junge verfärbte sich dunkelrot. Er nickte. »Wen sollte ich denn sonst fragen?«

»Ist doch in Ordnung, Lukas«, erklärte Chris. »Aber ich glaube, du setzt dich da viel zu sehr unter Druck! Du musst ja keine Entscheidung treffen, die für den Rest deines Lebens gilt. Außerdem gibt es da auch nichts zu entscheiden. Entweder bist du schwul oder du bist es nicht. Wenn du es nicht bist, dann wirst du es nicht, weil du es gern möchtest. Es würde dir keinen Spaß machen. Man kann sich nicht für oder gegen blaue Augen entscheiden, weißt du? Die hat man oder nicht.«

Philipp nickte zustimmend. »Weißt du, Lukas, mir ging das ganz ähnlich wie dir. Ich war nämlich auch mal 15. Und ich hatte eine Freundin. Hilke. Ein biederes, freundliches, gut genährtes Mädchen. Das fand ich ziemlich cool. Und dann, auf einer Klassenfahrt, verliebte ich mich in Axel. Ach, Axel! So ein bildhübscher, sanfter, dunkler Typ! Braune Rehaugen. Leider sehr christlich! Knall auf Fall war ich verschossen. Ein Naturereignis. Ich konnte gar nichts dagegen tun. Leider erwiderte er meine Zuneigung nicht im mindesten. Er ist übrigens heute verheiratet, evangelischer Pastor und lebt mit seiner Frau und sechs Kindern in der Nähe von Hamburg!« Er lachte.

»Wie spricht der Herr? Seid fruchtbar und mehret euch! Das hat er bitter ernst genommen!«

»Das spricht nicht gerade für dich«, grinste Chris. »Auch nicht gegen dich. Aber eben nicht wirklich für dich, oder?«

»Alberner Kerl!« Philipp runzelte tadelnd die Stirn. »Was ich sagen will, Lukas: Du hast noch viel Zeit. Warte ab. Eines Tages steht dir jemand gegenüber, von dem du weißt und fühlst, das ist er – oder sie. Du wirst verliebt sein, Liebeskummer-Bauchschmerzen und Schmetterlinge haben, nicht schlafen können und dir den Mut wünschen, einfach auf sie oder ihn zugehen zu können, und zu sagen, hey, lass uns den Rest unserer Leben miteinander verbringen. Du wirst dich zu Hause fühlen, angekommen, angenommen. Das beste Gefühl der Welt.«

Lukas nickte. »Ich hab nur gedacht, dass ich vielleicht ein Spätzünder bin. Etwas zurückgeblieben, eben. Aber wenn das voll normal ist – okay!«

Philipp Angerer nahm seinen Mann in den Arm. »Chris, ich danke dir für das vergangene Jahr. Es war für mich das schönste Jahr meines Lebens – bis auf 2013.«

»Moment mal!«, unterbrach Chris. »Was war denn 2013?«

»Mein medizinisches Staatsexamen.«

»Ach so!«

»Das schönste Jahr meines Lebens, also. Und ich freue mich auf das kommende Jahr – gemeinsam mit dir!«

»Ich will auch Sekt!«, murrte Hannes.

»Kommt nicht in die Tüte. Du bist 10! Du bekommst Brause!«

»Sekt!«

»Gib ihm doch zwei Tropfen!«

»Unter keinen Umständen. Ich habe da eine Idee!«

Philipp trug ein kleines Tablett mit vier Sektkelchen herbei.

»So. Damit stoßen wir an!«

»Was ist das?«

»Apfelschorle. Für uns vier. Brauchen wir Alkohol?«

»Du bist genial!«

Sogar Hannes war zufrieden. Und Lukas noch viel mehr.

*

»Es wird ein wunderbares Jahr!«, orakelte Anton. »Ich wette, dass unsere Hochzeit im englischen Fernsehen übertragen wird! Stundenlang! Ich habe nämlich vor, Kate und William und Meghan und Harry und wie sie alle heißen in den Schatten zu stellen!«

»Du spinnst. Aber das liebe ich an dir!«, lachte Dagmar. »Ich dachte, wir erledigen das in unserem niedlichen kleinen Rathaus auf dem Standesamt!«

»Das glaubst du! Kirchlich. Ein Bischof. Kommunalpolitiker als Trauzeugen! Kutsche. Sechs Schimmel. Ein Haute-Couture-Kleid … Ich wollte meine Freundin Vera Wang bitten, dir was auf den Leib zu schneidern!«

»Deine Freundin Vera Wang!«

»Wir haben uns mal bei einer Oscar-Verleihung kennengelernt. Ach Quatsch! Nein! Das waren die Golden Globes! Ja, genau. Die Golden Globes!« Er machte eine kleine Pause. »Oder waren es die Grammys? – Eigentlich ist sie nur eine gute Bekannte!«

»Ach so! Na, dann geht’s ja! – Aber ich sage dir ein kurzes Leben voraus, wenn du Papa nicht erlaubst, uns in seiner Kirche zu trauen! Womöglich gibt er dir gar nicht die Erlaubnis zur Heirat!«

»Dann heiraten wir trotzdem, und laden ihn zur Strafe einfach nicht ein!«

»So machen wir das. Und enthalten ihm seine acht Enkel vor!«

»Acht! Bist du sicher?«

»Natürlich nicht. Sollten es zehn werden, ist das auch in Ordnung!«

*

Frau Fürstenrieder erwachte durch das Geräusch des Feuerwerks. Sie erhob sich, bedeckte sich mit ihrem Morgenrock und verließ ihr Schlafzimmer.

»Ludwig? Ludwig? Bist du da?«

Keine Antwort. Außer dem Krach, der von draußen in die Wohnung waberte, war nichts zu hören. Vielleicht hatte der Junge sich in letzter Minuten entschieden, das Feuerwerk am Schliersee anzusehen. Karin Fürstenrieder entnahm ihrem Kühlschrank eine Piccolo-Flasche Sekt, goss einen Schluck in einen Kelch, und trat vor ihren Flurspiegel.

»Prosit Neujahr, Karin. Ein frohes Neues Jahr wünsche ich dir. Du bist nicht dumm, hast Kultur, siehst nicht schlecht aus. Finde jemanden, mit dem du das teilen kannst. Irgendwo wird ja wohl jemand auf dich warten, oder?«

*

Die Narkoseärztin erkannte Egidius den Bruchteil einer Sekunde eher als Korbinian Wachs. »Um Gottes willen«, stieß sie zwischen den Zähnen hervor.

»Die Röntgenbereitschaft, sofort. Eine SpiralCT geht am schnellsten! Und Labor! Ich rufe Ludwig an. Aber auch zu zweit können wir das nicht allein! Ich bin nicht firm in in neurochirurgischen Eingriffen! Es muss ein Experte kommen!«

»Ich rufe in München an. Rechts der Isar, Barmherzige Brüder, Bogenhausen und Großhadern!« Frau Pahlhaus hatte bereits zum Handy gegriffen.

»Das dauert zu lange! Sogar, wenn einer von den Herren Dienst haben sollte! Die schaffen das doch nie in einer halben Stunde hierher! Nein. Ich rufe Cortinarius an!«

Schwester Marion erschrak. »Der ist doch beurlaubt! Und wer weiß, ob der da ist!«

»Versicherungstechnisch kann das Probleme bereiten, Herr Wachs! ­Vorsicht, Vorsicht! Wenn etwas passiert …«

»Das ist mir scheißegal!«, brüllte Korbinian verzweifelt. »Es ist bereits etwas passiert! Ich rufe Cortinarius an!«

*

»Cortinarius!«

»Wachs, Klinik St. Bernhard! Herr Cortinarius, Sie müssen unbedingt kommen! Unverzüglich! Ich brauche dringend ihre Hilfe!«

»Aber ich bin beurlaubt, Herr Wachs! Professor Sonntag wird das nicht recht sein!«

»Um den geht es. Er hatte einen schweren Unfall und muss operiert werden. Ich kann ihn nicht neurochirurgisch versorgen! Schon gar nicht allein!«

»Und die Kollegen aus München?«

»Das dauert doch viel zu lange! Der Kollege aus Großhadern kann frühestens in zwei Stunden hier sein!«

»Ich bin in sieben Minuten bei Ihnen. Narkose macht Frau Pahlhaus? Es gibt eine CT?«

»Alles ist bereit!«

»Bis gleich!«

*

Dr. Wachs wurde ruhiger. Zusammen mit Cortinarius und Ludwig konnte er es schaffen, und wenn der Kollege aus Großhadern – alles würde gut werden.

»Ist der Chef ansprechbar?«

Frau Dr. Pahlhaus schüttelte den Kopf.

»Ich habe schon die CCT gesehen. Eine Hirnblutung können wir ausschließen, denke ich. Allerdings hat er eine schwere Kontusion und ein Hirnödem. Die anderen Bilder kommen in wenigen Minuten. Wirklich erstaunlich: Ein paar Abschürfungen, sonst keine Frakturen. Aber: Er macht mir Sorgen mit dem Blutdruck. Wir haben zufällig sechs Konserven im Kühlschrank, die ich für den Eingriff übermorgen bestellt hatte, die passen, aber er muss innerlich bluten! Und schauen Sie mal hier!«

Sie untersuchte die Reflexe der Beine. »Eine schlaffe Parese. Hoffentlich kein Querschnitt.«

In diesem Moment stürmte der Oberarzt Cortinarius in den Vorraum zum OP und begann unverzüglich, sich zu waschen.

»Ich komme eben aus dem Röntgen. Er blutet ins Retroperitoneum, offenbar Nierenstielabriss links. Und fragen Sie nicht, wie LWK 2 und 3 aussehen. Das Rückenmark muss dringend dekomprimiert und die Wirbelkörper rekonstruiert und stabilisiert werden! Aber erst die linke Niere!«

Die Doktoren Cortinarius, Wachs und Lechner kämpften um Egidius’ Leben. »Das war Rettung in letzter Sekunde, meine Herren«, lobte die Narkoseärztin. »Der Blutdruck stabilisiert sich!«

»Kein Wunder«, entgegnete Ludwig. »Das Leck ist dicht. Hat er eigentlich einen Blasenkatheter?«

»Die Nieren arbeiten, der Urin ist klar.«

»So, einmal in die sitzende Position bringen, bitte!«, ordnete Dr. Cortinarius an. Die zweite Operation nahm ihren Verlauf.

Der Herr Oberarzt fluchte. »Schaut euch diesen Mist hier an! Lauter Absplitterungen! Wir müssen das Rückenmark sorgfältig dekomprimiert kriegen, sonst ist der Querschnitt sicher! Für einen ordentlichen spinalen Schock sollte es allemal gereicht haben! Na prima. Dann machen wir uns mal an die Rekonstruktion. Eins weiß ich genau: Diese Wirbel werden beim nächsten Ausfall nicht mehr brechen!«

»Ein frohes Neues kann ich vermutlich nicht wünschen, meine Damen und Herren?«

»Herr Professor Helmchen! Ich bedanke mich, dass Sie gekommen sind!«

Korbinian Wachs erläuterte die Befunde und berichtete, was bereits geschehen war. Der Neurochirurg trat herzu und gab anerkennende Laute von sich.

»Meine Herren, ich sehe, Sie brauchen mich gar nicht! Bemerkenswert, was Sie hier leisten, wirklich! Wir neurochirurgischen Hochlandgewächse in den Uni-Kliniken halten uns immer für die Erdachse. Aber Sie können das auch alles! – Was meinen Sie dazu: Ich bekomme einen wunderbaren, großen Kaffee mit Milch und vier Stück Zucker, und halte mich zur Verfügung, falls Sie mich brauchen. Und wenn nicht, war es mir eine Ehre, von Ihnen gerufen zu werden, und vor allem, Sie kennenzulernen!«

Vier Tassen Kaffee später verabschiedete sich der Ordinarius, der dem OP-Team zweimal beratend zur Seite stand. Frau Pohlhaus hatte Egidius noch einen zentralen Zugang gelegt. Der Eingriff war beendet. Genau in diesem Moment klingelte das Telefon im OP.

»OP, Schwester Marion? Schwester Corinna – Frau Sonntag – könnten Sie bitte in die Klinik kommen? Die Ärzte möchten gern mit Ihnen sprechen! Nein, persönlich, nicht am Telefon. Ja? Bis gleich!«

»Das haben Sie gut gemacht, Schwester Marion«, lobte Dr. Cortinarius. »Es ist besser, wenn Frau Sonntag nicht im Schock hierher kommt. – So, ich denke, dass ich mich dezent zurückziehe. Ich denke, es ist besser, wenn nicht jeder sofort mitbekommt, dass ich hier illegal operiert habe!« Er lachte heiser.

»Herr Wachs, Herr Lechner – es war mir eine Ehre, mit Ihnen operieren zu dürfen. Und danke, dass Sie so viel Vertrauen zu mir hatten. Trotz allem, was war. Hängen Sie’s nicht an die große Glocke. Übrigens: Ich habe mich gefreut, dass Sie mich angerufen haben, Herr Wachs. Danke. Ich hatte wirklich Heimweh. Und bitte, seien Sie mir nicht mehr böse.«

Das hörte sich endlich aufrichtig an, im Gegensatz zu seiner Floskel ›bitte nicht böse sein!‹

»Herr Cortinarius, ich bedanke mich für Ihren Beistand. Allein hätte ich das nie geschafft, und der Chef wäre nicht mehr am Leben, wenn Sie nicht gewesen wären. Das vergesse ich Ihnen nie. Ich bin ja nun, seit Sie fort sind, der Oberarzt, und da der Chef ausfällt, leite ich die Chirurgie kommissarisch. Deswegen bitte ich Sie ausdrücklich, am 2. Januar Ihren Dienst wiederaufzunehmen – als stellvertretender Chefarzt!«

»Wachs, Sie sind komplett wahnsinnig! Also, wenn Sie in Schwierigkeiten geraten … Ich stelle mich dumm und lehne die Verantwortung ab!«

Korbinian Wachs lächelte den Oberarzt an. »Bis vor Kurzem hätte ich Ihnen das geglaubt, Herr Cortinarius. Seit heute weiß ich, dass man sich auf Sie verlassen kann. Und zwischen uns beiden ist alles gut.«

*

Corinna saß an Egidius’ Bett. Frau Pahlhaus hatte ihn im künstlichen Koma gehalten. Das Beatmungsgerät fauchte wie ein Drache, und das »Biep-Biep-Biep« des Monitors ertönte mit ermüdender, wenn auch beruhigender Regelmäßigkeit. Alle hatten sorgenvoll dreingeschaut, auch wenn Herr Cortinarius zufrieden war mit dem Eingriff und dem stabilen Zustand des Patienten.

»Er wird es überleben. Wir haben alles im Griff. Was allerdings die Funktion der Beine angeht, Frau Sonntag, das weiß nur der Allmächtige!«

Corinna erhob sich. »Herr Cortinarius, ich – ich weiß natürlich, dass es eine große Geste von Ihnen war, so spontan meinem Mann zu Hilfe zu kommen. Hätten Sie das abgelehnt, hätte man Ihnen noch nicht einmal einen Vorwurf machen können. Ich möchte Ihnen ein herzliches und aufrichtiges ›Dankeschön‹ sagen, auch wenn ich weiß, dass ein einfacher Dank Ihrer Leistung nicht im Mindesten gerecht wird.«

»Sie beschämen mich, Frau Sonntag. Ich habe in der kurzen Zeit, die ich an der Seite Ihres Gatten arbeiten durfte, einiges gelernt. Auch durch meine Beurlaubung. Sehen Sie, Ihr Mann hätte mich wegen meiner Verfehlungen hinauswerfen können. Was tat er? Er baute mir goldene Brücken, und er sagte mir zu, mich in diesem Jahr wieder einzustellen.«

»Er würde niemals jemanden ohne triftigen Grund fallenlassen, das ist wahr«, lächelte sie. »›Aufgeben‹, besonders, wenn es sich um Menschen handelt, ist ein Fremdwort für ihn.«

Dr. Wachs schaute seinem ehemaligen Oberarzt freundlich in die Augen.

»Herr Cortinarius, ich denke, dass es mit dem Einverständnis des Chefs geschieht, wenn ich Ihnen noch einmal und offiziell die sofortige Wiederanstellung zu den alten Konditionen antrage. Die Feinheiten können Sie – hoffentlich – später mit ihm selbst besprechen. Nehmen Sie an?«

»Es ist mir eine Ehre, Herr Wachs. Wenn Sie einverstanden sind, leiten wir die Abteilung kommissarisch gemeinsam!«

Eine Klinik hält die Luft an

Corinna Sonntag hatte, nachdem die beiden Herren sich zurückgezogen und Frau Dr. Pahlhaus noch einige Messungen protokolliert und Infusionen und Perfusoren justiert hatten, sich erneut auf dem Stuhl neben Egidius’ Bett niedergelassen und seine Hand ergriffen.

»Ich würde gern losheulen, Egidius, Liebster. Weil ich so ratlos und verzweifelt bin. Und weil ich mich schuldig fühle. Warum habe ich dich allein losfahren lassen? Hätte meine Begleitung dich beschützt? Dich bewahrt vor diesem entsetzlichen Unfall? Ich weiß es nicht. Ach, wie nichtig, ach wie flüchtig ist der Menschen Freude.

Aber weißt du, was komisch ist? Ich kann nicht weinen. Ich fühle es nicht in mir. Nicht nur, weil ich weiß, dass dir rührselige Szenen zuwider sind. Du lachst immer, wenn die Film- und Serienhelden im weißen Kittel ihre Heldentaten vollbringen und Herzschmerz Besitz von allen Umstehenden ergreift. Nein, weinen werde ich nicht. Ich bin so voller Wut, Hoffnung und Kampfgeist, dass ich zur Trauer keinen Anlass sehe. Du musst kämpfen, und ich werde auch kämpfen. Mach dir keine Sorgen. Theres, Lukas und ich, wir werden an deiner Seite sein.«

Sie ergriff seine Hand, auf der, orangefarben vom Desinfektionsmittel, eine Plastikkanüle mit weißem Pflaster fixiert war, und streichelte sie.

»Ich habe keine Angst. Ich bin ganz tapfer, siehst du? Lach du nur über die kitschigen Serien. Aber ich glaube fest daran, dass die Liebenden überleben werden. Liebende überleben immer. Alles.«

Eigenartig! Er, der sonst Kompetenz und Stärke ausstrahlte, wirkte so zerbrechlich, so verletzlich. Sein Leben hing am seidenen Faden. Von einer Sekunde zur anderen hatte sich alles geändert. Ach, wie nichtig, ach wie flüchtig ... erklang es in ihrem Kopf.

Warum hatte sie sich nie gefragt, was sein würde, sollte sie ihn überleben? Natürlich hatte sie ihr eigenes Leben. Es war noch gar nicht so lange her, da hatte er ihren Hochzeitstag verschwitzt. Und sie hatte, um ihn nicht zu belasten, ihm ihre Brustkrebserkrankung verschwiegen. Sie war stark. Eine selbstbewusste, selbstständige Frau.

Aber dennoch. Das Wissen, dass er an ihrer Seite war, hatte ihr immer Halt gegeben und Zuversicht. Man musste nicht alles im Detail zerreden.

»Liebster, ich werde jetzt Lukas und deine Mutter informieren. Und ich werde auch mit Daniel reden. Ich hoffe, dass du verstehst, dass ich seine Unterstützung brauche. Ich komme so schnell wie möglich wieder zu dir.«

Sie presste ihre Lippen auf seine Stirn.

»Ich liebe dich, Egidius Sonntag. Du hast mein Leben mit Erinnerungen gefüllt, von denen ich gerade nicht weiß, ob sie wirklich geschehen sind. Du hast mich reich gemacht.«

›Ach, wie nichtig ...‹

»Halt den Schnabel, Johann Sebastian!«, rief sie ärgerlich.

*

Es ist immer wieder erstaunlich. Alle, die in einem Betrieb, einem Büro, einer Behörde, einer Klinik arbeiten, kennen ein Phänomen, das als ›Flurfunk‹ bekannt ist. Man sagt auch Klatsch, Latrinenparole oder Gerüchteküche dazu. Irgendetwas passiert. Herr X wird befördert, Frau A hat was mit Herrn B, und über Frau Z schwebt die fristlose Kündigung. Etwas Genaues weiß man nicht. Aber kein Rauch ohne Feuer. Ja, und wenn dann so etwas passiert, etwas so Unerhörtes, Entsetzliches, Schicksalhaftes, dann fragt sich jeder, wird er es überleben? Und wenn ja, welche Folgen wird das haben? Bleibt da was nach? Wird er je wieder der Alte sein? Wird sich für uns irgendetwas ändern? Wie nehmen seine Angehörigen das auf?

Das ist nicht böse gemeint. Auch wenn es lästig und unangemessen ist. Aber derlei entspringt einem echten Interesse, einer wahrhaftigen Sorge um den, den es betrifft – besonders, wenn es sich um einen Menschen wie Prof. Dr. Egidius Sonntag handelt.

Die Kunde von seinem Unfall hatte sich pfeilschnell herumgesprochen. Jeder in der Klinik wusste davon, und das »Haben Sie schon gehört?« breitete sich vom Schliersee über den gesamten Landkreis aus, in der Regel begleitet von einem »die arme Frau Sonntag!«

»Wenigstens meine Frau hat er noch operiert«, verriet Bauer Erlacher seinen Kundinnen auf dem Wochenmarkt. »Ein feiner Mann. Mit dem kannst red’n als wia mit’m Deppen! Und erst seine Frau! Die kauft ja immer ihr Obst und Gemüse bei mir!«

Frau Fürstenrieder war völlig aufgelöst, aber jeder Zoll eine perfekte Sekretärin, sie erfüllte ihre Pflichten. Eine lange Liste mit Terminen war zu verschieben, auf unbestimmte Zeit, oder auch ganz und gar abzusagen. So erreichte sie Hartmut Engling.

»Herr Engling, ich bedauere, aber der Chef ist leider nicht in der Lage, den vereinbarten Nachsorgetermin für Sie und Frau Bernleitner wahrzunehmen!«

»Nanu? Ist etwas passiert?«

Frau Fürstenrieder rang um Fassung.

»Ein Unfall. Aber das wird schon wieder. Es dauert nur seine Zeit. Wollen Sie selbst einen alternativen Behandler suchen, oder sollen wir uns wieder bei Ihnen melden?«

»Sagten Sie ›alternativen Behandler‹, liebe Frau Fürstenrieder? Ich denke, zu Ihrem Chef gibt es keine Alternative! Selbstverständlich warten wir auf seine Genesung. Es wäre sehr freundlich, wenn Sie sich wieder melden würden! Oh, und gute Besserung!«

Die gute Seele schluchzte kurz auf, putzte sich die Nase, und erledigte den nächsten Anruf.

*

Dagmar und Anton trafen sich beim Frühstück in der Cafeteria. Beiden sah man an, dass die schlechten Nachrichten nicht an Ihnen vorübergegangen waren.

»Anton, ich ...«

»Ich bin ganz deiner Meinung, mein Herz. Verschieben wir die Hochzeit!«

»Woher ...?«

»Angewandte Parapsychologie.«

»Lass mich raten: Ludwig-Maximilians-Universität München.«

»Freie Universität Berlin.«

In der Tat. Dagmar hatte sich gewünscht, wie schon vor ihr Chris und Philipp, Egidius überreden zu können, ihr Trauzeuge zu sein. Aber selbst, wenn er dies ablehnte, konnte sie sich nicht vorstellen zu heiraten, ohne dass ihr Chef unter den Gästen war. Sie war sehr erleichtert, dass Anton das offenbar ebenso sah, und lächelte ihn an.

»Ich weiß auch nicht, wie er das geschafft hat, dass wir uns hier alle wie eine große Familie fühlen. Aber ich spüre eher, dass der Patriarch, das geliebte und bewunderte Familienoberhaupt erkrankt ist, als dass das mein Chef ist, der da oben liegt!«

Anton pflichtete ihr bei.

»Es ist, als hielte die Klinik die Luft an, nicht? Als könnte das Ausatmen einen Sturm entfachen, der zur Katastrophe führt!«

*

»Fuck!«, kommentierte Murat. »Kommt der Meister wieder auf die Beine? Echt krasser Scheiß!«

»Murat, jetzt drück’ dich doch nicht so vulgär aus! Ich möchte nicht, dass unser Kind sich solche Redensarten angewöhnt!« Schwester Katrin strich stirnrunzelnd über ihren Bauch. »Ja, natürlich kommt er wieder auf die Beine! Immerhin liegt er im besten Krankenhaus Oberbayerns!«

»Weißt du«, sinnierte der Vater ihres Kindes, »ich bin nicht so schlau. Aber wenn er seine Zeitung kaufte, hat er mit mir so – besonders gesprochen, verstehst du? So – mit Respekt! Als ob ich auch Chef bin. Und irgendwie wichtig!«

Frau Ayse, die treue Seele, kippte einen extragroßen Schuss von dem Mittel für die Flächendesinfektion in den Eimer. »Ich alles gaaanz sauber machen. Und bring Baklava. Chef muss schnell gesund werden!«, sagte sie zu Corinna. In ihren Augen blitzten Tränen. »Ich helfen, dass dein Mann schnell gesund werden. Wie lange sein verheiratet?«

»Mein ganzes Leben«, lächelte Corinna.

Die Raumpflegerin gab leise Grunzlaute von sich.

»Tochter Hatice noch nicht verheiratet. Und ist schon 29!«

Sie hob kurz die Schultern, produzierte ein resigniertes Geräusch, und umarmte Corinna herzlich.

»Ich mithelfen. Wird gut.«

Angst