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Nr. 3084

 

Brigade der Sternenlotsen

 

Ein Konstrukteur des Sternenrads – er erzählt die Geschichte eines ungeheuren Verrats

 

Uwe Anton

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

1. Bouner Haad: Begegnung auf Virkol

2. Die Geschichte des Sternenrads Emlophe

3. Bouner Haad: Das Gewicht der Erinnerung

4. Die Geschichte des Sternenrads Emlophe

5. Bouner Haad: Die Vorzüge eines Planhirns

6. Die Geschichte des Sternenrads Emlophe

7. Bouner Haad: Das simulierte Bewusstsein

8. Die Geschichte des Sternenrads Emlophe

9. Bouner Haad: Die pikogentische Technosumme

10. Die Geschichte des Sternenrads Emlophe

11. Bouner Haad: Nur weg von hier

Report

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Mehr als 3000 Jahre in der Zukunft: Längst verstehen sich die Menschen als Terraner. Mit ihren Raumschiffen sind sie in die Tiefen des Universums vorgestoßen und dabei immer wieder außerirdischen Lebensformen begegnet; ihre Nachkommen haben Tausende von Planeten besiedelt und sich den neuen Umwelten angepasst.

Perry Rhodan ist der Mensch, der den Terranern diesen Weg zu den Sternen eröffnet und sie seitdem begleitet hat. Nun steht er vor einer seiner größten Herausforderungen: Er wurde mit seinem Raumschiff, der RAS TSCHUBAI, vorwärts durch die Zeit in eine Epoche katapultiert, in der Terra und Luna verloren und vergessen zu sein scheinen.

Auf der Suche nach der Erde und ihrem Mond hat er einen Zwilling unseres Universums entdeckt, das zusammen mit dem Einstein-Universum das so genannte Dyoversum bildet. In jener anderen Hälfte des Dyoversums hat er Terra und Luna wiedergefunden. Die Rückkehr der Ursprungswelt aller Terraner ist so in greifbare Nähe gerückt.

Aber auch im heimischen Universum spitzt sich die Lage zu: Die Cairaner beordern ihr Sternenrad in den Kugelsternhaufen M 13, die Heimat der Arkoniden. Dieses Sternenrad ist ein beispielloses Machtmittel und ein Gebilde voller Geheimnisse. Eine Schlüsselrolle in der Geschichte dieses phantastischen Gebildes spielt die BRIGADE DER STERNENLOTSEN ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Bouner Haad – Der Haluter erfährt von den Missionen HATH'HATHANGS.

Tenshuun – Der Benshér erzählt die Geschichte des letzten Sternenrads.

1.

Bouner Haad:

Begegnung auf Virkol

 

Bouner Haad durchpflügte das Meer, während Tenshuun auf seinem Rücken saß und jauchzte.

Er frohlockt gerne und häufig, dachte der riesige Haluter. Er findet Vergnügen an allen Bewegungen, je wilder, desto besser. Kein Wunder, er musste lange genug darauf verzichten. Und nun wird er sterben, aber er will die letzte Phase seines Leben zumindest noch genießen.

Der Haluter Bouner Haad hatte den Benshér, der sich in den Namen Tenshuun fasste, aus dem Montagekomplex der Enzephalotronik und aus seinem Gefängnis befreit, das ihn zugleich am Leben erhalten hatte.

Gemeinsam waren die beiden nun auf der Flucht vor den Gebietern des Sternenrads, den Cairanern. Denn diese schienen in besonderer Weise mit dem Benshér verbunden zu sein. Und Bouner Haad ahnte bereits, in welcher Form ...

Bouner Haad hatte sich an der Küste Ghalabaicos einfach in die Fluten gestürzt. Was für einen Menschen ein Risiko gewesen wäre, blieb für den Haluter harmlos: Er war knapp drei Meter hoch und brachte die brachiale Urgewalt mit, die sein Volk auszeichnete, verbunden mit einer exzellenten Ausbildung. Ein Terraner wäre da selbst mit einem schweren Schutzanzug nicht einmal ansatzweise mitgekommen.

Das Planhirn – jene anatomische Besonderheit, die Haluter auszeichnete und oft mit einem organischen Computer verglichen wurde – wusste sofort die entsprechenden Daten beizusteuern: Ein menschlicher Schwimmer zufolge legte etwa drei Kilometer pro Stunde zurück, der Haluter problemlos das Zwölffache. Haad sicherte seinen jubelnden Passagier mit einem Laufarm und konzentrierte sich ansonsten auf die Bewegungen der drei anderen Arme und der beiden Beine, die ihn durchs Wasser vorwärtstrieben. Vor ihrem Aufbruch hatte er ihr Ziel ins Auge gefasst, und das Planhirn hielt ihn auf Kurs. Die beiden seitlich am Kopf sitzenden winzigen Ohrlöcher und die flachen Nasenöffnungen hielt er durch Hautfalten verschlossen.

Der Planet Ghibona war zwar erdähnlich, doch die Atmosphäre wesentlich turbulenter. Das Meer war aufgewühlt, der ewige Sturm peitschte hohe Wellen auf, die auch ihm als Haluter durchaus gewisse Anstrengungen abverlangten.

Noch zehn Minuten, bis er die ausgewählte Insel erreichen würde.

Bouner Haad reckte den Oberkörper und damit den Kopf hoch und schaute in den Himmel empor, der ihm noch so fremdartig vorkam wie am ersten Tag im Sternenrad. Zwei rot-orangefarbene Sonnen standen am Himmel, und aus dem gemeinsamen Schwerpunkt, um den sie sich drehten, stieß das Weiße Loch Emlophe Energie aus. Zu sehen war dieses kleine stellare Objekt selbst mit der scharfen Sicht eines Haluters nicht, er konnte nur dessen Wirkung erkennen. In der Nacht war der Anblick noch seltsamer; dann bot sich dem Betrachter ein sternenloser, milchig-weißer Himmel. Sterne waren nicht zu sehen, nur die gelegentlich erscheinenden anderen Planeten des Sternenrads.

Der Haluter fuhr alle drei Augen auf den Stielen aus. Nun konnte er zum einen besser über die Bugwelle sehen, die er verursachte, und zum anderen nach Raubfischen Ausschau halten, die dumm genug waren, ihn als Beute anzusehen. Damit war zwar nicht zu rechnen – allein seine Größe würde die meisten fleischfressenden Fische davon abhalten, ihn anzugreifen –, doch Vorsicht war angeraten: Er wusste so gut wie nichts über die Fauna dieses Ozeans, und vielleicht gab es Spezies, die ihn aufgrund ihrer gewaltigen Ausmaße als kleinen, schmackhaften Happen ansahen.

Wobei selbst sie sich buchstäblich die Zähne an ihm ausbeißen würden, wenn er seine Körperstruktur verhärtete und dadurch praktisch unverwundbar wurde.

Haad versuchte, noch schneller zu schwimmen, doch er strengte seinen Körper schon bis zum Äußersten an. Einerseits trieb ihn die pure Ungeduld: Er sah diese Schwimmeinlage als reine Notwendigkeit an, als einfachste Möglichkeit, von einem Ort zum anderen zu gelangen, und konnte es kaum erwarten, weitere Pläne für ihre Flucht zu schmieden. Doch dafür musste er erst einmal die Insel erreichen. Wollte er auch weiterhin keine technischen Hilfsmittel einsetzen, konnte er mitten in diesem gewaltigen Ozean nichts ausrichten.

Andererseits bereitete es ihm geradezu körperliche Erleichterung, sich wieder einmal verausgaben zu können. Eine Drangwäsche war zwar etwas völlig anderes, aber die meisten Haluter benötigten eine gewisse Auslastung. Sie fühlten sich dann einfach besser.

Er näherte sich schnell der Insel.

Seine Ungeduld hatte noch einen weiteren Grund: Er wollte mehr Hintergründe von dem Benshér erfahren, doch der war zu sehr von ihrem kleinen Ausflug abgelenkt – und Bouner Haad gönnte es ihm von Herzen. Sobald beide wieder festen Boden unter den Füßen hatten, würden sie Informationen austauschen können.

Wäre sein Begleiter ein anderer Haluter gewesen, hätten sich die beiden auch während der Reise unterhalten können. Aber ...

Der Haluter bemerkte einen auffälligen Wellengang nicht weit von ihm entfernt. Dort näherte sich etwas unter der Wasseroberfläche. Er sah einen dunkelblauen Schatten, der sich schnell bewegte und deutlich von dem hellen Blaugrün des Wassers abhob: ein gewaltiges Wesen, mindestens 20 Meter lang und drei, vier Meter hoch, stromlinienförmig und wendig.

Eindeutig ein Raubtier, dachte er. Und es hielt direkt auf ihn zu.

»Gut festhalten!«, rief er dem kleinen Benshér zu, der den Ernst der Lage nicht zu verstehen schien und das Ganze offensichtlich für einen gewaltigen Spaß hielt. Ihm galt seine größte Sorge. Wie würde er reagieren, wenn Haad plötzlich untertauchte? Würde er den Halt verlieren? Würde sich seine überschwängliche Freude ins Gegenteil verkehren und von Panik verdrängt werden?

Nein, dieses Risiko konnte Bouner Haad nicht eingehen. Er hatte Tenshuun nicht befreit, nur um ihn kurz darauf wieder zu verlieren.

Der Haluter zog Tenshuun vom Rücken an seine Seite, sodass der Kleine noch Luft bekam, aber vor dem Angreifer – dass es einer war, daran zweifelte Haad nicht – sicher war.

Wie beiläufig gab er seiner Körperstruktur auf molekularer Basis die Härte von Terkonit, sodass es schon eines schweren Schiffsgeschützes bedurfte, um ihm gefährlich zu werden. Zwar konnte er sich in dieser Verfassung nicht mehr so schnell fortbewegen wie zuvor, doch von dem Angriff eines großen Meeresungetüms drohte ihm nun keine ernsthafte Gefahr mehr.

Dann war der Raubfisch heran: Haad wartete gelassen ab, sah den gewaltigen Körper, das weit aufgerissene Maul, Zähne von der Länge seiner Laufarme. Olfaktorische Reize drangen auf ihn ein, ein übler Gestank, der von verfaulenden Fischresten, wahrlich großen Brocken, zwischen diesen scharfen Hauern stammte.

Der riesige Meeresbewohner riss das Maul noch weiter auf und reckte den Kopf vor, um zubeißen zu können.

Bouner Haad schlug zu. Ganz leicht nur, er wollte das Tier nicht übermäßig verletzen und schon gar nicht töten, nur vertreiben.

Der Hieb traf den Raubfisch über dem Maul – und zeigte sofort Wirkung. Der große Räuber schaute verdutzt, als könnte er nicht fassen, was da gerade passiert war, dann riss er den Kopf herum und tauchte tiefer in sein Element ein. Schnell entfernte er sich von dem Haluter.

Haad lachte donnernd, ergriff den kleinen Benshér vorsichtig und setzte ihn zurück auf den Rücken. Seine Handlungsarme peitschten wieder das Wasser, und er schwamm weiter, als wäre nicht das Geringste vorgefallen.

 

*

 

Die Insel vor ihm wurde schnell größer, das Wasser zunehmend seichter.

Nach ein paar weiteren Schwimmzügen spürte Bouner Haad weichen, sandigen Boden unter den Füßen, in den er tief einsank. Er kam nicht schneller voran, eher das Gegenteil war der Fall. Eine Wolke aus aufgewühltem Sand umgab seinen Körper und behinderte ihn zusätzlich. Nach einigen Schritten konnte er sich auf die Laufarme fallen lassen und preschte wieder voran.

Das Ufer der Insel war flach. Die Wellen brandeten schwach auf einen breiten Strand, wo sie gemächlich ausrollten. Haad stapfte aus dem Wasser und schaute sich um.

Das Innere der Insel stieg flach an. In einiger Entfernung sah er eine mittelhohe Hügelkette, die für ihn aber problemlos zu erklimmen sein würde. Aber das war nicht seine Absicht; er würde die Insel zügig wieder verlassen und mit seinem Schutzbefohlenen zum nächsten Eiland der Kette schwimmen. Auf dieser Welt gab es einen großen Kontinent, der wie ein Doppel-S geformt war und sich gewissermaßen um den Äquator schlängelte: Ghrissnar.

Dort lebte der größte Teil der Cairaner. Die anderen beiden Kontinente, beide etwa so groß wie Australien, lagen jeweils nahe an einem der beiden Pole und waren tropfenförmig. Ihre spitzeren, schmaleren Enden wiesen dabei zum Pol und waren vereist. Der Nordkontinent wurde Naragaipe genannt, der Südkontinent Suluwak. Mit Ghrissnar waren beide Kontinente über je eine Inselkette verbunden, über deren südliche Bouner Haad sich nun vorarbeitete.

Der Haluter fuhr die Augen ein Stück weiter aus. Täuschte er sich, oder sah er in der Ferne, am Fuß der Hügelkette, etwas, das nicht natürlichen Ursprungs sein konnte?

Er hatte sich nicht getäuscht: Dort kräuselte sich eine dunkle, fast schwarze Rauchfahne in den hellen Himmel.

Als er genauer hinschaute, entdeckte er ein kleines Gebäude, eine Art Bungalow. Die Insel war also bewohnt.

 

*

 

Bouner Haad pustete Tenshuun ganz sanft ab, bis die letzten Wassertropfen von dessen Schuppenkleid abgeperlt waren. Der Benshér ringelte den langen Schwanz um seine Leibesmitte und ließ es unbeeindruckt über sich ergehen.

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Illustration: Swen Papenbrock

Der Haluter stellte fest, dass der Blick des kleinen Wesens sich verändert hatte. Die hemmungslose Freude und der Überschwang waren daraus verschwunden, der Ernst zurückgekehrt. Dem Benshér war klar, dass all die neuen, lange vermissten Erfahrungen und Erlebnisse sein Denken nicht bestimmen durften. Es war an der Zeit, in die Wirklichkeit zurückzufinden und sich Gedanken über die Zukunft zu machen, wie kurz sie auch sein mochte. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, das Leben dieses Wesens zu retten, das sich selbst als Diener einer verstorbenen Superintelligenz bezeichnet hatte.

Aus seiner Ausbildung bei Icho Tolot hatte Bouner Haad vieles behalten – auch auf Terra hatte es eine Weile die letzten Diener einer verstorbenen Superintelligenz gegeben: die Schohaaken hatten einst ARCHETIM gedient. Aber auch sie waren längst Geschichte. Die Zeit radierte viele Spuren aus, und man durfte sich glücklich schätzen, wenn man Spuren oder gar Zeitzeugen fand, die Aufschluss über längst vergangene Tage gaben.

Haad setzte sich in Bewegung, und Tenshuun folgte ihm leise und unauffällig. Der kleine Benshér bewegte sich mit übertriebener Vorsicht, als wäre ihm von einem Augenblick zum anderen klar geworden, dass sein bisheriges Verhalten eine Gefahr für sie beide darstellte.

Als der Haluter dem Gebäude näher kam, konnte er es besser erkennen. Es war in der Tat eine Art Bungalow und bestand aus Holz, Blättern, Glas, Stein und einem unbekannten, plastikähnlichen Material. Das Haus war kugelförmig und hatte zwei Etagen, aber die Sphäre ruhte nicht auf einem sonst für die cairanische Architektur üblichen Stiel oder Schaft, sondern flach auf dem Boden. Eine große, weitläufige Veranda bot genug Platz, um sich vor dem Haus zu entspannen und die Schönheit der Natur zu genießen.

Ein cairanisches Wohnhaus in der Einsamkeit ... Selbst wenn die Bauweise nicht explizit auf Angehörige dieser Spezies hinwies, war die Wahrscheinlichkeit dafür hoch. Wer sonst sollte sich auf dieser bedeutenden Welt des Sternenrads niedergelassen haben? Ghibona war der erste Planet der beiden Sternenrad-Sonnen und Standort der großen Enzephalotronik, der Kontrollplanet für die Hyperschub-Maschinerie.

Aber warum hatte das Haus dann nicht die typische cairanische Bauweise?

Das war nicht die einzige Frage, die der junge Haluter sich stellte. Wieso war der Planet so verblüffend erdähnlich? Eigentlich lag er viel zu dicht an den Sonnen des Sternenrads.

Hatte all das mit der Technologie zu tun, die einst einer Superintelligenz zu Gebote gestanden hatte und die sich die Cairaner ... angeeignet hatten, während sie für die VECU und die Kosmokratin Mu Sargai eigentlich mit deren Entsorgung beauftragt gewesen waren? Noch hatte er keine eindeutigen Beweise gefunden, die diese Hypothese unterstützten.

Er warf einen verstohlenen Blick auf Tenshuun. Zeigte der kleine Benshér vielleicht Anzeichen von Hunger? Er benötigte Nahrung, um seine Körperfunktionen aufrechtzuerhalten. Aber was sollte er ihm anbieten? Frischen Fisch? Was aß ein Benshér normalerweise, abgesehen vom Bendo, auf das er nun verzichten musste.

»Komm mit!«, sagte er zu Tenshuun und setzte den Weg zu dem Gebäude fort, aber die Aufforderung war überflüssig. Das etwa 1,70 Meter große Schuppenwesen ließ ihn nicht aus den Augen und wäre ihm wohl überallhin gefolgt.

Waren es Haads donnernde Schritte, die die Bewohner des Bungalows vor die Tür lockten, oder verließen sie ihn in diesem Augenblick rein zufällig? Haad konnte es nicht sagen, und es spielte auch keine Rolle.

Es waren Cairaner.

Ein leicht rauchiger Geruch stieg Haad in die Nasenöffnungen, ähnlich wie Feuer, und direkt danach der angenehme Duft von Sandelholz.

Es waren ein Mann und eine Frau.

 

*

 

Der riesige Haluter blieb zögernd stehen. Er wollte die beiden humanoiden Wesen nicht von vornherein allein durch den Anblick verschrecken, den er nun einmal bot, doch diese Rücksichtnahme war anscheinend überflüssig. Die Cairaner kamen völlig unbeeindruckt auf ihn und den kleinen Benshér zu.

Sie waren schlank und hochgewachsen, wie es bei den meisten Cairanern der Fall war. Wenn Haad sich nicht irrte, war ihre goldene Haut besonders stark gefleckt, und sie trugen an allen vier Händen so dünne Handschuhe, dass sie wohl nur rein zeremoniellen Zwecken dienten. Cairaner zeigten ihre Hände ja nicht so gern.

Die Frau legte den Kopf zurück und schaute zu ihm hoch. »Ah, ein Haluter! Wie schön! Ich habe vor Jahren in Kosmopolis auf Ecaitan gearbeitet und bin dort einigen begegnet. Riesige, aber sehr höfliche Wesen. Doch wer ist dein Begleiter?«

»Oder was ist er?«, fügte der Mann hinzu.

»Das ist Tenshuun«, stellte Bouner Haad seinen Begleiter vor. »Ein Benshér.«

»Ein Benshér«, wiederholte die Cairanerin desinteressiert, fast unbeteiligt, und ihr Partner reagierte gar nicht, als der Name fiel. Sein Gesicht blieb völlig unbewegt.

»Aber verzeiht.« Die Frau vollzog mit den feingliedrigen Innenhänden ein kompliziert anmutendes Bewegungsmuster, das Haads Planhirn sofort analysierte und speicherte. »Ich lobe die Höflichkeit der Haluter und vergesse meine eigenen Manieren.« Sie zeigte auf den Mann. »Das ist Bhemosil, und ich bin Caupin. Und falls ihr es nicht wissen solltet, diese Insel heißt Virkol.«

»Das wusste ich tatsächlich nicht. Mein Name ist Bouner Haad. Und diese Insel ist wirklich ... sehr idyllisch.« Das war nicht gelogen, nicht einmal geschmeichelt. Der Haluter konnte sich vorstellen, dass die Beschaffenheit dieses Eilands Lebewesen wie den Terranern als reinstes Paradies vorkommen musste. Die Umgebung war perfekt.

Doch die Situation kam ihm ziemlich irreal vor. Er traf auf zwei Cairaner, und diese behandelten ihn und den Flüchtling nicht nur sehr freundlich, sondern sogar mit vorzüglicher Höflichkeit? Das erweckte sein Misstrauen. Oder war er nur paranoid?

Caupin räusperte sich. »Unser Haus steht Reisenden offen. Wenn es euch gefällt, verweilt bei uns. Falls eure Reise anstrengend war, könnt ihr euch bei uns erholen.«

Das traf auf den Haluter zwar nicht zu, aber Tenshuun benötigte offensichtlich dringend eine kurze Pause. Außerdem brannte Haad darauf, von dem Benshér mehr über die Geschichte des Sternenrads und die Rolle zu erfahren, die dessen Volk – und er selbst ganz besonders – bei seinem Bau gespielt hatte.

»Wir nehmen Ihr Angebot gerne an«, antwortete er.

»Dann ist es entschieden«, sagte Caupin. »Ihr seid unsere Gäste.« Sie musterte den Haluter von oben bis unten. »Allerdings wirst du das Haus wohl nicht aufrecht betreten können, Bouner Haad. Nimmst du auch mit der Veranda vorlieb? Sie ist stabil, und ihr könnt euch völlig frei auf ihr bewegen. Falls ihr etwas benötigt, gebt einfach Bescheid, und ich bringe es euch.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich danke Ihnen.«

»Folgt mir, bitte.« Caupin trat auf die Veranda und schob einige Stühle und Tische beiseite, um Platz für den Haluter und den Benshér zu schaffen. Als sie zufrieden mit dem Ergebnis war, nickte sie den Gästen zu und zog sich ins Haus zurück.

Ihr Mann folgte ihr.

Bouner Haad sah sich um. Die Veranda war so groß, dass er sich bequem auf ihr niederlassen und ausstrecken konnte. Tenshuun lief noch eine Weile auf und ab, bevor er endlich Ruhe fand und sich neben den Haluter hockte.

Kann ich den beiden Cairanern vertrauen?, fragte sich der Haluter.

Er beschloss, das Risiko einzugehen und vorerst keinen Kontakt mit dem restlichen Team aufzunehmen.

»Bald ist es so weit.« Tenshuun blinzelte und verzog das Gesicht, was ein Lächeln zum Ausdruck bringen sollte, wie Haad mittlerweile wusste.

»Was ist so weit?«, fragte er.

»Meine Tage sind gezählt«, antwortete der Benshér geradeheraus. »Ohne das Bendo kann ich nicht lange überleben.«

»Wir werden Bendo für dich auftreiben«, sagte er.

Aber wie?, fragte er sich. Ich weiß nicht einmal, wie es sich zusammensetzt.

»Das bezweifle ich«, sagte Tenshuun heiter, fast übermütig. »Das Bendo war das Lebenselixier von HATH'HATHANG, es treibt nicht einfach im Ozean. Aber die Aussicht auf meinen Tod schreckt mich nicht. Ich habe lange, so lange gelebt.«

Haad wusste nicht, was er von dieser Aussage halten sollten. Noch war der Tod eine ferne, sehr abstrakte Aussicht für das kleine Wesen. Wie würde es empfinden, wenn er tatsächlich konkreter wurde und näher kam?

Aber noch war es nicht so weit. Noch lange nicht. Und wenn Bouner Haad konnte, würde er verhindern, dass das Leben des Kleinen wirklich endete.

Er durfte den eigentlichen Sinn der Befreiungsaktion nicht aus den Stielaugen verlieren. »Würdest du mit etwas über dein Leben erzählen?«, bat er den Benshér. »Und über das Sternenrad?«

»Das eine ist ohne das andere kaum möglich«, antwortete Tenshuun.

»Bedeutet das, du wirst mir nichts erzählen, weil du befürchtest, Geheimnisse zu verraten?«

»Keineswegs. In diesem Universum gibt es nur ein wirkliches Geheimnis: das Universum selbst. Dieses Geheimnis ist und bleibt unergründlich. Alles andere ist klar und durchsichtig wie Bendo.«

Bouner Haad musste innerlich auflachen. Die Sichtweise des Benshér hatte etwas für sich.

Und Tenshuun erzählte ...

2.

Die Geschichte des Sternenrads Emlophe

 

Erster Teil, in dem der Benshér Tenshuun

zur Stadt Ghus'Ghunar kommt und einen Auftrag erhält

 

Es waren uralte Kreaturen, die sich im Gleißmeer bewegten, und eine davon war Tenshuun.

Das Bendo, aus dem das Gleißmeer bestand, war kein Wasser. Aber es verhielt sich manchmal genau wie Wasser. Nicht, dass es launisch gewesen wäre, aber es hatte seine Eigenwilligkeiten.

Meist war es einfach nur ein wenig zäher als Wasser, dabei aber von einer unglaublichen Transparenz, einer unnatürlichen, fast übernatürlichen Durchsichtigkeit. Das Bendo war das allgegenwärtige Lebenselixier der Superintelligenz HATH'HATHANG, wenn man so wollte, deren pikogentische Technosumme. Tenshuun konnte so weit sehen, wie der unverstärkte Blick seiner Augen reichte. Manchmal hatte er das Gefühl, bis in die Unendlichkeit schauen zu können.

Rot schimmerte das Meer im Licht der Sonne Mic'Mithar, die hoch im Zenit stand. Die Kraft des Gestirns war stark genug, um die Tagseite von Nou'Noinou in helles, fast grelles Licht zu hüllen, das gesamte Gleißmeer auf dieser Seite der Welt. Es bedeckte einen großen Teil des Planeten, aber es gab noch genug Landflächen, darunter auch einige karge, leblose Hochplateaus, um eine funktionsfähige Infrastruktur und wichtige Schaltknoten auf diesem Planeten zu errichten, die das Schicksal vieler Galaxien beeinflussten.

Tenshuun trat mit den Hinterbeinen und machte ein paar träge Schwimmzüge. Wenn er sich schneller, zielgerichteter bewegen wollte, setzte er den langen Stützschwanz ein, aber das war im Augenblick nicht nötig. Er hatte es nicht eilig.