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SCHEINWERFERKINDER

4 / 7

 

 

Trauma

 

 

Alexandria Emilia Rawa

 

 

 

Cover: Giada Armani

Copyright: BERLINABLE UG

 

 

Berlinable lädt dich ein, alle deine Ängste hinter dir zu lassen und in eine Welt einzutauchen, in der Sex der Schlüssel zur Selbstbestimmung ist.

Unsere Mission: Die Welt verändern - Seele für Seele.

Akzeptieren Menschen ihre eigene Sexualität, formen sie eine tolerantere Gesellschaft.

Worte der Inspiration, des Mutes, der Veränderung.

Öffne deinen Geist und befreie deine tiefsten Begierden.

 

 

Alle Rechte vorbehalten. Es ist nicht erlaubt, die Inhalte dieses eBooks ohne die ausdrückliche Genehmigung durch den Verlag zu kopieren, weiter zu verbreiten öffentlich vorzutragen oder anderweitig zu publizieren. Änderungen, Satzfehler und Rechtschreibfehler vorbehalten. Die Handlung und die handelnden Personen dieses Buchs sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig.

 

How we survive is what makes us who we are.

 

Rise Against - Survive

 

 

Thanks for saving my life, guys. This one is for you.

 

***

 

 

 

Hass.

Das ist die vorherrschende Emotion auf diesem Planeten.

Und Liebe.

Weil du nur hassen kannst, wenn du auch geliebt hast.

Dann gibt es noch die Hassliebe.

Wenn du dich deines Hasses so sehr angenommen hast, dass du anfängst, ihn zu lieben. Weil er irgendwann die einzige Emotion ist, die dich spüren lässt, dass du am Leben bist.

 

Und ich frage mich: Was ist mit dem Liebeshass? Wenn du liebst, es aber hasst?

 

 

 

***

 


Kamila // Blackout

 

Fakt ist: Du kannst nicht deinen eigenen Ellbogen ablecken. Zumindest nicht, wenn du nicht gerade dafür brennst, eine Ellenbogenluxation auszuprobieren. Jetzt mal davon ausgehend, dass du zumindest einigermaßen normal und kein gottverdammter Schlangenmensch oder irgendeine andere Missgeburt bist.

 

Genauso wenig kannst du dir im Traum die Nase zuhalten. Soll heißen – zuhalten schon, aber nicht ersticken. Im Traum wirst du trotzdem atmen. Immer. Oder hatte schon mal jemand im Traum Druck auf den Ohren? I doubt it.

 

Ich für meinen Teil kann in Träumen auch nicht auf High Heels laufen. Nie. Mehr als zwei Schritte gehen nicht, bis meine Knie nachgeben. Immer und immer wieder haue ich mich auf die Fresse oder torkle wie ein besoffener Pirat auf Glatteis. Egal in welchem Kontext – wenn ich davon träume, auf hohen Schuhen zu laufen, werden meine Beine zu Gummi.

 

Aber der schlimmste – und vermutlich weitverbreitetste – Traum: Die Treppe. Respektive diese eine vermaledeite Stufe, die plötzlich einfach weg ist. Der Moment, in dem dein Fuß ins Leere tritt. Dieser mini heart attack. Wenn dein Körper zusammenzuckt und d...

 

Mit einer übertrieben hohen Herzfrequenz schrecke ich auf.

Es ist kein langsames, kuscheliges Zu-Sich-Kommen, bei dem du dich noch drei Mal in duftenden Duvets wohlig seufzend von einer Seite auf die andere drehen und es in einem Anflug aus Größenwahn riskieren kannst, einen Fuß unter der Decke hervorschlüpfen zu lassen, während dir aus der Küche schon der Geruch von frischem Kaffee und Eggs Benedict in die Nase steigt.

 

Nope.

 

Es fühlt sich an wie ein Lichtschalter, ein Bewusstseinslichtschalter, auf den ich im Traum statt der fehlenden Treppenstufe getreten sein muss. Knips – an. Aber mit ’nem ordentlichen Holzhammer hinterher.

 

Ich bin augenblicklich völlig da, bin wach, mitsamt all meinen Sinnen, die Augen weit aufgerissen. Mein Puls rast, und meinen Herzschlag spüre ich noch in meinen Gliedmaßen widerhallen. Ich würde gerne runterkommen, tief durchatmen, doch als ich Luft hole, erschrecke ich mich vor dem Rasseln in meinem eigenen Brustkorb. Stockend atme ich stattdessen flach ein und aus und lausche.

 

Um mich herum ist es totenstill. Und viel zu hell. Es stinkt nach Kotze und Alkohol. Mir wird übel, aber meine Kehle ist so trocken, dass sie sich regelrecht wie zugeklebt anfühlt. Wenn mir jetzt was hochkommt, kommt es also gar nicht durch. Beruhigend.

 

Meine Zunge hängt fett, faul und belegt an meinem Gaumen wie ein gestrandeter Wal. Das schreckliche Tageslicht hat gefühlt meine Netzhaut verätzt. Und in meinem Kopf vergnügen sich gefühlte tausend Bauarbeiter mit Presslufthammern zu dem Beat, den mein Herz vorgibt.

 

Oh fuck. Mehr Kater als im Tierheim.

 

Mit zusammengekniffenen Augen rolle ich mich auf die Seite und ziehe mir die Decke über den Kopf, aber in einem Tempo, als wäre ich ein gottverdammter Klon von Reiner Calmund. Ich will schlafen, schlafen, sterben, verfickt noch mal, will nichts mehr spüren und auch nie wieder Alkohol trinken. Schwöre.

 

Doch schon der erste Atemzug unter der Decke treibt mir die Tränen in die Augen. Hustend, koffend und würgend schieße ich hoch und springe aus dem Bett. Die Matratze ist vollgekotzt. Und ich lag darin.

 

Ich will mich sofort übergeben, nur mein Blutdruck sieht das anders. Alles beginnt sich zu drehen. Ein schwarzer Vorhang fällt vor meinen Augen, die sich unnatürlich zu verdrehen scheinen, weil ich plötzlich nur noch die weiße Deckenlampe sehe. Zitternd sinke ich auf die Knie, dann auf alle Viere. Mein Kopf pulsiert und pocht von Sekunde zu Sekunde stärker, ich bin kurz davor, vor Schmerzen den Verstand oder das Bewusstsein zu verlieren. Der beißende Gestank von Magensäure, Alkohol und schlecht verdautem Essen kitzelt mich wieder in der Nase... Ich muss hier raus.

 

Wie ein neugeborenes Katzenbaby krieche ich über den Teppichboden ins angrenzende Badezimmer. Meine Umarmung der Kloschüssel fällt ungefähr so aus, als wäre sie meine lang vermisste Zwillingsschwester, von der ich bei der Geburt getrennt worden bin und mit der mich erst irgendeine dieser pathetischen Reality-Sendungen wieder zusammengeführt hat.

 

Ich würge und würge, aber spucke nur ekelhafte gelbe Galle. Aha. Chances are, dass die Kotze im Bett also von mir ist. Ich weiß grad nur nicht, ob’s das besser oder noch beschissener macht.

 

Erschöpft und völlig von der Rolle lasse ich mich auf den Boden im Bad sinken. Das tut gut. Hier werde ich erst mal bleiben. Die kühlen Fliesen bereiten meiner erhitzten Haut und meinen Schmerzen Linderung. Platt wie eine Flunder breite ich mich aus.

Ein kleiner Schauer wandert über meinen Körper. Ich nehme tatsächlich erst jetzt wahr, dass ich vollkommen nackt bin. Ich frage nach keinem Warum. Im Moment ist das perfekt so, weil ich mich mit jedem verfügbaren Quadratzentimeter meiner Haut an den Boden kuscheln kann. Nackte Haut gegen Marmor. Langsam aber sicher kann ich wieder normal atmen.

 

 

***

 

 

Als ich erneut zu mir komme, ist mir kalt. Jesus fucking Christus, dieser Organismus ist launischer als ein ganzer Geburtsvorbereitungskurs zusammengenommen. Irgendwas ist immer.

 

Fröstelnd ziehe ich die Knie bis an mein Kinn und schlinge meine Arme darum, so gut es eben geht, wenn du als Knochenhaufen auf dem Fußboden liegst und dein Kopf sich so anfühlt, als wäre er nebenberuflich als Verstärker auf Heavy-Metal-Konzerten tätig. Eine Minute lang schaffe ich es, so liegen zu bleiben, dann wird mir klar, dass ich etwas gegen diese elenden Kopfschmerzen brauche. Am besten eine Badewanne voll Vicodin. Und eine Decke. Klamotten. Und – als vor meinem inneren Auge wieder das Bild des vollgereiherten Betts auftaucht – eine Dusche, oh Gott, eine Dusche...

 

Ungelenk rappele ich mich erst auf die Knie, dann auf die Toilette, deren Deckel immer noch aufgeklappt ist. Wenn ich schon hier sitze, kann ich auch gleich den Restalkohol auspissen. Aber mein Kopf ist so schwer, dass ich ihn aufstützen muss, sogar sitzend.

 

Meine Fresse, wann hatte ich das letzte Mal denn bitteschön so einen Schädel? Der Schmerz sitzt nicht dumpf in den Schläfen, so wie sonst, sondern stechend und pulsierend im Stirn- und Augenbereich. Vor allem rechts. Mit müden, schweren Augen mustere ich die weiße Maserung in unserem schwarzen Badezimmermarmor, und selbst das tut weh. Alter Finne. Was muss denn da gestern los gewesen sein? Ich erinnere mich nicht wirklich an viel. Eigentlich an gar nichts, stelle ich gerade so fest.

 

Ups. Fast bringt mich ein Anflug von postfeierlicher, jugendlicher Omnipotenz und hochprozentiger Sorglosigkeit zum Grinsen. Das sind immer die besten Partys. Du hast dann zwar nichts, was du deinen Kindern und Enkeln mal erzählen kannst, aber du kannst dir wenigstens denken, dass es geil war. Und mal ungelogen – ich glaube schon auch, dass die Fantasie am nächsten Morgen die weggesoffenen Erinnerungen mit noch viel besseren Eventualitäten ersetzt. Außerdem – ich und Kinder... Merkste selbst, ne? Von Enkeln ganz zu schweigen. So alt werde ich noch nicht einmal werden, da wett’ ich drauf.

 

Oh, whatever.

Die Erinnerungen werden schon wiederkommen, wenn sie es wert sind. Entweder in ihrer buchstäblichen Form oder auf den Titelseiten von irgendwelchen Klatschblättern.

Ich spüle, habe aber keine Kraft, mich vom Klo zu erheben, also angle ich lediglich nach dem Mikrofaser-Hotelbademantel, der sich warm und flauschig an meine knochigen Schultern schmiegt.

Jetzt erst mal Zähne putzen. Am besten zwei Mal hintereinander, denn dem Gefühl in meinem Mund zufolge habe ich Fressenkanalisation wie ein Kloakebecken.

 

Im Sitzen taste ich über die Waschbeckenablage, auf der haptischen Suche nach Zahnbürste und Zahncreme, die dort irgendwo liegen müssen. Weil sie das immer tun. Mit Palander-Logo.

Das Erste, was sich nach Plastikstäbchen anfühlt, ziehe ich zu mir. Doch als ich sehe, wahrnehme, verstehe, was es ist, fällt es mir wieder aus der Hand.

 

Ein schmerzhafter Gedanke durchfährt mich und lässt meine rechte Gesichtshälfte wieder stärker pochen. Ich klammere mich an der Ablage fest und stehe auf. Ein Gewitter tobt in meinem Kopf, und als ich das erste Mal an diesem Tag in den Spiegel blicke, trifft mich der Schlag.

 

Mein Gesicht ist eingefallen, aschig, die Haut matt. Sämtliche Farbe scheint daraus gewichen zu sein. Bis auf meinen verschmierten Lippenstift.

Und den riesigen, blutrot-bordeaux-violett-schwarzen Bluterguss an meinem rechten Auge.

 

„Fuuuuck...“, entfährt es mir in heiserem Flüsterton. Ich kann mich nicht bewegen, und genauso wenig kann ich mich von meinem verspiegelten, malträtierten Abbild losreißen.

 

„Was zum Ge...“ – Ich breche ab und falle zum wiederholten Mal auf die Knie. Wo ist das verfickte Ding, das ich eben für meine Zahnbürste gehalten habe?!

 

Meine Finger zittern und scheinen mit einem Mal noch kälter und steifer geworden zu sein.

Ja, das hier ist unbestreitbar das, wonach es vorhin schon ausgesehen hat. Weißer Plastik mit einem rosaroten Deckelchen. Und zwei pinken Streifen. Und einem Wort.

 

Schwanger.

 

Intuitiv halte ich mir die Nase zu und atme tief ein. Komm schon, Gott, du hattest deinen Spaß, wir haben alle gelacht, aber jetzt kann ich ja auch wieder aufwachen. Aufwachen aus diesem Alptraum, der mich aussehen lässt wie eine misshandelte Asi-Mutter aus der Bronx auf Crack.

 

Doch nichts passiert. Wenige Sekunden später muss ich wie eine gottverdammte Titanic-Passagierin nach Luft japsen, weil ich eben doch nicht mit zugehaltener Nase atmen konnte. Weil ich wach bin.

 

Und von da an durchzucken mich die Erinnerungsfetzen, als wäre ich ein Blitzableiter.

 

Hamburg, Ria. Die Party, Alkohol, Eitelkeit. Koks auf dem Klo.

 

Und dann...

 

Fußballer. Übelkeit, Panik.

 

Ich will die Augen schließen, mich optisch wegsperren vor meinem zurückkommenden Gedächtnis. Aber in der Dunkelheit hinter meinen Lidern wird die Wucht der Erinnerungen nur noch potenziert.

 

Mein Herz zieht sich zusammen, es tut so weh, dass ich hingreifen muss. Als würde das helfen.

 

Der Frust. Der Schwangerschaftstest. Die Tränen.

 

Kälte, Schmerz. Atemnot. Mülltonnen. Mülltonnen?

 

Ich schlucke schwer.

 

Sterben.

 

Rico.

 

Liebeshass. Wenn du liebst, es aber hasst.

 

Schreie. Rico, der schreit.

 

Und Rico, der vor meinen Augen die Faust hebt.

 

Ausholt.

 

Zuschlägt.


Rico // Heringsdorf // 29. Juni 2013

 

„Rico, Sie machen es nicht nur mir schwer, sondern auch sich selbst. Vor allem sich selbst.“

 

Die Stimme von Dr. phil. Yvonne Schulze verliert sich im Lärm der prasselnden Regentropfen. Ehrlich gesagt habe ich nichts dagegen einzuwenden.

 

Ich betrachte das Unwetter durch die gläserne Terrassentür ihres Behandlungszimmers. Wir haben den kühlsten und regenreichsten Juni seit Beginn der meteorologischen Aufzeichnungen, behaupten die Wettershows, und es ist keine Besserung in Sicht. Auch dagegen habe ich nichts. Regen ist fast das Einzige, woran ich mich seit dem 29. Mai durchgehend erinnern kann. Heute genau ein Monat. Seit...

 

„Rico...“, unterbricht die Psychologin wieder meine Gedanken.

 

Es reizt mich stark, dass sie mich in jedem zweiten Satz mit meinem Vornamen anspricht. Das machen hier alle, weil das vermeintlich „die Ebene der fremden Distanz neutralisiert“ und „die nötige Nähe schafft, mithilfe derer Patienten und Therapeuten eine größtmögliche Vertrauensbasis aufbauen können, die wiederum für bestmögliche Rehabilitationsergebnisse unabdingbar ist“.

 

‚Wir sind hier alle eine große Familie’