Kinder, ihr seid Helden!

A.S.

Auf zum Geheimtreffen!

Im Honigkuchenwald beginnt ein neuer, wundervoller Tag. Sein Name stammt aus der Zeit, als man noch keinen Zucker kaufen konnte, ja, als man noch nicht einmal wusste, dass es etwas so Süßes überhaupt gibt. Dort, wo der kleine Bach im Tal eiskalt in ein Sandsteinbecken plätschert, an dem man seinen Durst stillen kann, hatte vor vielen Hundert Jahren eine alte Frau einen winzigen Verkaufsstand, an dem sie den kostbaren Tannenhonig ihres Bienenvolkes verkaufte.

Eines Tages brachte sie sich statt eines Apfels frischen Honigkuchen als Proviant mit. Der Honigkuchen duftete so köstlich, dass jeder, der des Weges kam, seine Reise unterbrach und anhielt: Kutschen, Fuhrwerke, Kaufleute und Wanderer. Sie alle wollten kein Töpfchen Honig erstehen, sondern ein Stück des Kuchens. Er war schwer und saftig und klebrig, weil die alte Frau nicht nur Karotten und Walnüsse, sondern natürlich reichlich Honig in den Teig gegeben hatte. Bald verkaufte sie so viele Kuchen, dass sie sich ein zweites Bienenvolk zulegen konnte.

Wenn fortan jemand fragte, wo man denn dieses köstliche Backwerk kaufen konnte, sagten die Leute nur noch: »Im Honigkuchenwald natürlich!«

 

Es ist früher Morgen, und die Vögel zwitschern sich zu, was sie in der Nacht geträumt haben. Wie üblich will jeder jeden mit seinen Geschichten übertreffen, weshalb es manchmal so dermaßen laut werden kann, dass Opa Eichelhäher die Krise kriegt und mit einem zackigen Warnpfiff seine gefiederten Mitbewohner zur Ruhe ermahnt – die üblicherweise nicht lange anhält …

Dass Opa Eichelhäher so lärmempfindlich ist, kommt Mama Wildschwein sehr zupass. Von dem Vogelkrakeele wachen sonst noch ihre Kinder auf, viel zu früh, und das ist NICHT gut, für keinen der Beteiligten, wie alle Eltern wissen. Grunzend dreht sie sich jetzt auf ihrem Blätterbett um und streift mit verschlafenem Blick über die Frischlinge, die eng an sie gepresst in der Mulde liegen: Zwei, drei, vier, zählt sie müde. Es werden schon alle sein, kann sie gerade noch denken, und schon ist sie wieder eingeschlafen.

Doch es sind nicht alle.

Rufus fehlt.

Er ist schon eine ganze Weile ausgeschlafen und putzmunter aus dem Dickicht gekrabbelt. In der warmen Morgensonne hat er bereits einen Maiskolben verspeist, Fred, den Schmetterling, gejagt, ist mindestens hundert Mal über die Baumstämme balanciert, hat sich garantiert tausend Jahre gelangweilt, hat versucht, einen Kopfstand zu machen, wie Frau Frettchen bei ihren Yogaübungen, und lauscht nun ungeduldig in den Wald, ob Herr Kuckuck nicht endlich die Uhrzeit verkündet.

DIE Uhrzeit. Zu der Rufus FRÜHESTENS bei seinen Freunden auf der Matte stehen darf, wie die Eltern gemeinsam und einhellig beschlossen haben.

»Sieben, acht, neun«, zählt Rufus mit, als Herr Kuckuck loslegt. »Ja!«, jubelt er und stürmt davon.

Und das Beste? Heute muss Rufus gar nicht erst bei Flora, Mikkel oder Poppy vorbeischauen, um zu fragen, ob sie zum Spielen rauskommen, nein, sie sind bereits verabredet. Zu einem Geheimtreffen!

Rufus macht vor lauter Vorfreude einen Luftsprung.

»Jihaaa«, jubelt er und tollt weiter.

»Oh Mann«, sagt Mikkel kopfschüttelnd, der wie aus dem Nichts plötzlich genau vor Rufus auf dem Weg sitzt. »Das nennst du Geheimtreffen? Der ganze Honigkuchenwald weiß jetzt, wo du hinwillst.«

Rufus bremst so abrupt, dass er beinahe einen Purzelbaum macht.

»Hast du mich erschreckt«, japst er. »Ich hab dich gar nicht kommen hören.«

»Das war der Sinn der Sache«, erwidert der kleine Fuchs. »Einem Geheimtreffen nähert man sich ja auch eher, na, geheim eben.«

»Echt?«, fragt Rufus.

»Echt«, sagt Mikkel.

Dann laufen die beiden weiter.

»Da lang«, meint Mikkel, als sie bei Morschi, der umgestürzten, morschen Kastanie, angelangt sind.

»Nee, ich geh da, ist kürzer«, widerspricht Rufus, senkt den Kopf und wühlt sich mitten durch die Weißdornhecke.

»Oh Mann«, sagt Mikkel wieder, setzt lautlos über den Stamm, duckt sich durch einen Tunnel zwischen zwei Heidelbeersträuchern und huscht zum Treffpunkt.

Zufrieden versteckt er sich hinter dem alten Holzfass. Nach einer Weile schiebt sich Rufus raschelnd durch den Farn.

»Erster!«, ruft er und lässt sich japsend ins Gras fallen.

»Buh!«, sagt Mikkel und springt hervor.

»Och menno«, mault Rufus enttäuscht.

Mikkel grinst. »Man verliert die meiste Zeit damit, dass man Zeit gewinnen will«, sagt er weise und springt mit einem Satz auf die Tonne, wo er seine Schnauze in die Sonne reckt.

»Das hätte voll von Flora kommen können«, ruft Rufus und grunzt vor Lachen.

»Was hätte von mir kommen können?«, fragt eine Stimme aus dem Unterholz. Gewissenhaft lugt Flora nach links, nach rechts und wieder nach links und stakst dann bedächtig heran.

»Was Mikkel eben gesagt hat«, erklärt Rufus. »Mit so Sinn drin.«

»Aha.« Flora kichert. »Wie ich sehe, fehlt nur noch unser Waschfräulein.«

»Wahrscheinlich war die Buntwäsche noch nicht fertig«, scherzt Mikkel.

»Schubs!«, macht Poppy da von hinten, und Mikkel fällt von der Tonne ins Gras. »Die Weißwäsche«, verbessert sie kichernd, während sich Mikkel die Löwenzahnschirmchen aus dem Fell schüttelt.

»Erster Platz im Anschleichen«, lobt er anerkennend. »Echt super.«

Poppy klatscht. »Und das aus deinem Mund.«

Rufus rast unterdessen eine übermütige Begrüßungsrunde um seine Freunde, dreht sich ein paarmal um sich selbst und lässt sich dann ins Gras fallen.