Reiten ist wie ein Tanz mit dem Wind,

solange es dir gelingt,

ohne Erwartung in den Sattel zu steigen.

 

Vernon Vanderbrought

#anfangundende

Etwas lag in der Luft.

Der Winterhimmel war zwar voller grauer Wolken, aber dennoch glühte Ava vor Aufregung. Endlich ließ das Wetter es zu, auf dem großen Springplatz zu trainieren. Es war das erste Mal in diesem Jahr, und nichts war besser, als im Sattel zu sitzen und die weit ausholenden Bewegungen ihres Pferdes unter sich zu spüren, während sie dem kalten Neujahrswind trotzte.

Ava strahlte über das ganze Gesicht, und auch Flint schien sich zu freuen. Wie von selbst steuerte er das erste Hindernis an und nahm den Steilsprung mit Leichtigkeit. Es war wie fliegen, nur besser. Schon kam der Oxer, auch über den schwebten sie, als wären ihnen beiden Flügel gewachsen, und Ava überließ ihm das Tempo, vertraute ihrem Flint. Es war so schön zu spüren, mit welcher Freude der Wallach bei der Sache war. Problemlos steuerte er jetzt die Kombination an, danach die Mauer. Sogar die fiese Triplebarre meisterten sie, ohne aus dem Rhythmus zu gelangen, als wären sie eins. Am Schluss noch einmal den Steilsprung. Wie von selbst ging sie mit Flint in der Bewegung mit und ließ ihr Pony danach in Ruhe ausgaloppieren.

Ihre Trainerin quittierte dies jedoch nur mit einem schmalen Lächeln. »Okay, das war nicht übel«, kommentierte sie Avas fehlerfreien Ritt. »Das nächste Mal aber treibe ihn mehr an.« Frau Eisstätt blickte auf die Stoppuhr in ihrer Hand. »Das muss schneller werden, ja?!«

Es war keine Frage, die Frau Eisstätt gestellt hatte, sondern eine Anweisung, und Ava spürte dabei die vertraute Wut, die in ihr hochstieg. Hatte die Trainerin nicht gesehen, wie gern Flint gesprungen war? Zählte das denn gar nichts? Am liebsten hätte Ava die drahtige, kleine Frau mit dem eisgrauen Haar prompt gefragt, ob sie vielleicht eine neue Brille brauchte, doch sie schluckte ihre zornigen Worte hinunter. Sie wollte sich nicht schon wieder mit Frau Eisstätt in die Wolle kriegen. Dafür war ihr das erste Training nach der Winterpause viel zu kostbar. Sie nickte stattdessen widerwillig und flüsterte Flint ins Ohr: »Ich finde, du hast das super gemacht.« Dabei kraulte sie ihm den Hals, so wie er es am liebsten hatte. »Man darf doch wohl ein bisschen Spaß dabei haben, oder?«

Der Wallach antwortete mit einem zufriedenen Schnauben, und Ava musste grinsen. »Siehst du, du verstehst mich«, sagte sie lächelnd und ritt am langen Zügel zu ihren Freundinnen hinüber, ehe Frau Eisstätt noch mehr an ihr rummeckerte.

Obwohl Ava eine sehr gute Reiterin war, nörgelte die Trainerin ständig an ihr herum. Vielleicht, weil sie so gut war und alle Hoffnung auf ihr ruhte? Auf Ava Gildstein, dem Nachwuchstalent von Eschenthal? Oder lag es daran, dass sie in Wirklichkeit mehr auf ihr Bauchgefühl vertraute als auf die Meinung der Trainerin? Das meldete sich in letzter Zeit viel zu häufig, deshalb gerieten sie auch ständig aneinander …

Heute aber ließ sich Ava davon nicht die Laune verderben. Es war richtig gewesen, ihrem Flint das Tempo zu überlassen. Richtig und gut. Das hatte sie vorhin genau gespürt, auch wenn Frau Eisstätt für Avas Einbildungsgabe, wie die Trainerin ihre eigene Meinung nannte, nicht viel übrighatte. »Am Ende zählt nur die Leistung, wann kapierst du das endlich?«, rief sie ihr auch jetzt hinterher, und Ava tat so, als hätte sie nichts gehört.

Als Nächstes war Freya an der Reihe und danach Sina. Auch Avas beste Freundinnen ritten einen guten Durchgang. Wenn sie weiterhin so hart trainierten, würde Team Eschenthal in der kommenden Turniersaison mächtig Schleifen sammeln, so viel stand fest.

Auch Frau Eisstätt schien nun etwas zufriedener zu sein. Denn als es wieder zu regnen anfing und der Wind eisig über den Platz fegte, schickte sie die Mädchen mit ihren Pferden gnädigerweise ins Trockene. So hockten die drei bald gemütlich in der warmen Sattelkammer und lästerten über den Eisklotz, wie sie Frau Eisstätt heimlich nannten. Der Trainerin konnte man ja auch wirklich viel zu selten etwas recht machen.

»Jaja, du musst schon schneller werden, Ava«, äffte Freya den Eisklotz nach und begann Dantes Zaumzeug zu putzen. »So schnell wie eine Rakete, wenn’s geht, ja?«

Ava lachte. »Ach, Flint war super heute.«

Sina seufzte. »Und wie! Ihr seid beinah geflogen. Ich wünschte, mein Pargos würde so springen.«

»Macht er ja auch«, tröstete Ava sie. Doch insgeheim wusste jede von ihnen, dass Flint um Häuser besser war als Sinas Pargos oder Freyas Dante. »Wir sind alle super in Form. Der Eisklotz soll bloß nicht so viel meckern, sonst könnte man meinen, dass er eine Ziege ist. Määääh!«

Freya lachte. »Stimmt! Dieses Jahr kann uns Show Jumping Girls nichts aufhalten.« Sie hielt ihre mit Sattelseife verschmierte Hand in die Höhe, und Ava und Sina klatschten ab.

»Die Show Jumping Girls von Eschenthal werden gewinnen«, rief Sina.

»Und nichts und niemand wird uns aufhalten«, gelobte Ava. Auch sie konnte es kaum noch erwarten, dass endlich die Springsaison begann. Das nächste Mal würde sie Flint einfach mehr die Sporen geben, dann gab auch der Eisklotz Ruhe. Jetzt aber war erst mal Feierabend angesagt. »Mann, hab ich einen Kohldampf«, seufzte sie und hängte Flints frisch geputztes Zaumzeug an den Haken. »Seid ihr auch fertig?«

Freya und Sina nickten. Gemeinsam räumten sie das Lederputzzeug weg und verabschiedeten sich von ihren Pferden. Dann fuhren sie gut gelaunt auf ihren Rädern nebeneinander nach Hause.

Dabei glühte Ava noch immer vor Aufregung. Reiten war eben das Schönste, und vor Glück hätte sie die ganze Welt umarmen können. Ja, sogar den Eisklotz.

Doch etwas lag in der Luft.

Etwas, das auf Ava wartete.

Etwas, das alles verändern sollte.

#sehnsucht

Ava starrte die kahlen Wände an. Nichts erinnerte mehr daran, dass vor wenigen Wochen dies noch ihr Zimmer gewesen war. Keine unzähligen Pferdeposter klebten an den Wänden, keine Turnierschleifen zierten die Dachbalken. Kein Motiv von Flint schmückte ihre Bettdecke.

Flint. Es reichte aus, nur an ihn zu denken, und Avas Magen krümmte sich zu einer Schnecke zusammen. Klein, eng und unglaublich unglücklich.

Flint. Ihr hübscher fuchsfarbener Welsh-Cob-Wallach. Nun war er weg. Gehörte einem anderen Mädchen und nicht mehr ihr. Ava spürte die Tränen in ihren Augen. Nicht schon wieder, dachte sie und wischte sich wütend übers Gesicht. In den letzten Wochen hatte sie schon genug geheult. Also diesmal keine Tränen. Nicht wegen dem Haus. Das ist nicht so schlimm. Häuser kann man ersetzen. Flint nicht!

Ein letztes Mal hangelte sie sich die Dachbalken hoch zum Giebel ihres alten Zimmers. Von ihrem Lieblingsplatz aus konnte sie durch ein kleines, rundes Fenster die großen Pferdekoppeln sehen. Weiße Zaunpfähle auf himmelblauem Horizont, keine fünfhundert Meter von ihr entfernt, zum Greifen nah. Rauch stieg aus dem Schornstein von Gut Eschenthal. In der Reithalle brannte Licht. Irgendjemand drehte darin grade seine Bahnfiguren, vielleicht sogar Freya und Sina. Beinah konnte sie das zufriedene Pferdeschnauben hören, das Knarzen von Leder sowie das leise Rieseln, das entstand, wenn Pferdehufe durch den Sand stieben. Gut Eschenthal war ihr ganzes Glück gewesen. Denn dort war Flint. Doch nun?

Am liebsten wäre Ava zwischen den Dachbalken hocken geblieben und hätte so getan, als wäre nichts passiert. So getan, als hätten ihre Eltern, Oskar und Paula Gildstein, niemals die Firma aufgeben müssen. So getan, als könnten sie sich Flint noch leisten. So getan, als müssten sie nicht in eine neue, fremde Stadt ziehen, weit weg von allem, was ihr vertraut war … Doch Ava wusste, dass dies nicht möglich war. Die neuen Besitzer ihres alten Zuhauses würden jeden Moment kommen. Spätestens dann musste sie das Feld räumen und ihr Zimmer einem anderen Kind überlassen.

Wie ungerecht! Wütend trommelte sie mit der Faust gegen die Dachbalken. Autsch, das half auch nichts.

Hilflos ließ sie die Schultern sinken. Verdammte Wirklichkeit! Ungerechte Dinge passierten. Ständig. Auch ihr. Das hatte sie in den letzten Wochen schmerzlich begriffen. Und sie hatte auch begriffen, dass sie ihren Eltern nicht die Schuld an diesem schicksalsräudigen Schlamassel geben durfte. Auch sie hatten alles verloren. Das Haus. Die Firma. Ihr Ansehen. Und auch sie hatten schreckliche Angst vor dem Neubeginn. Das spürte Ava überdeutlich, wenn sie derzeit in die Gesichter ihrer Eltern blickte. Doch obwohl Ava sonst gut funktionierende Antennen hatte, hatte sie das alles dennoch nicht kommen sehen. Sie war so auf die kommende Turniersaison fixiert gewesen, dass sie alles andere ausgeblendet hatte. Dabei waren die Zeichen sehr wohl sichtbar gewesen. Die immer schlechter werdende Laune ihres Vaters, wenn er abends vom Büro nach Hause kam. Der sorgenvolle Blick ihrer Mutter, wenn Flint neue Hufeisen brauchte. Und alles nur wegen irgendwelcher dummer Geschäfte, die völlig schiefgelaufen waren. Und jetzt waren sie pleite, aber so was von.

Ein leises Räuspern ließ sie hochschrecken.

Ihre Mutter stand unter ihren baumelnden Füßen und sah zu ihr hoch. »Es ist so weit. Papa wartet im Auto auf uns. Die neuen Besitzer werden jeden Moment hier sein, und ich bin nicht scharf darauf, ihnen über den Weg zu laufen. Also, kommst du bitte?«

Irgendwo in der Ferne wieherte ein Pferd. Hell und klar. Ein Wiehern, wie Flint es oft ausstieß, wenn Ava mit dem Fahrrad und einem Bund Möhren unterm Arm Richtung Eschenthal unterwegs gewesen war. »Ob er sich an mich erinnern wird?«, murmelte sie.

Paula Gildstein seufzte unter ihr. »Bestimmt, weil du immer gut zu ihm gewesen bist. Auch jetzt noch. Obwohl er eine neue Besitzerin hat, kann er deinetwegen auf Eschenthal bleiben. Du hast ihm eine gute neue Menschenfreundin gesucht. Für Flint geht das Leben weiter. Und für uns bestimmt auch. Du wirst schon sehen: Neues Leben, neues Glück, heißt es nicht so?«

Ava verdrehte die Augen. Die Wohnung in der neuen Stadt war ungefähr so gemütlich wie eine leere Pappschachtel. Darin das Glück zu finden, war somit ziemlich unwahrscheinlich. Aber sie wollte es ihren Eltern nicht noch schwerer machen. Und sich selbst irgendwie auch nicht. Irgendwann musste sie sich schließlich mit ihrem Schicksal abfinden. Also schenkte Ava ihrer Mutter ein tapferes Lächeln und drehte Eschenthal, das durch das Fensterglas milde in der Abendsonne leuchtete, für immer den Rücken zu.

 

Sie hatte zwei Wochen Schonfrist bekommen, ehe sie in die neue Schule musste. Als die Osterferien jedoch zu Ende gingen, war es schließlich so weit.

Nervös stand Ava am Morgen ihres ersten Schultages vor dem Spiegel und zupfte an ihrem goldblonden langen Pferdeschwanz herum. Sie hatte sich für ihre Lieblingsjeans entschieden und ihren Lieblingspulli. Nichts Auffälliges, lieber etwas Dezentes. Wer wollte schon als die Neue unangenehm auffallen? Es würden sie auch so schon alle anderen anstarren, dessen war sie sich bewusst. Noch nie hatte sie sich so allein gefühlt wie jetzt. Ohne Freya und Sina fühlte sie sich wie ein halber Mensch.

Als Ava in den Spiegel seufzte, drückte ihre Mutter sie fest an sich. »Du schaffst das schon! Ich hab mit dem Direktor deiner neuen Schule gesprochen. Du bekommst eine nette siebte Klasse, und deine Klassenlehrerin Frau Plettner ist auch in Ordnung. Und wegen der Klassenarbeiten, die du zu schreiben hast, da mach dir mal keine Sorgen. Ich habe das alles schon mit Frau Plettner besprochen. Falls der Unterrichtsstoff zu sehr von deinem alten abweicht, dann …«

»Mama«, stöhnte Ava und befreite sich aus der klammernden Umarmung. »Das macht mich noch nervöser. Ich will nur … ach, egal. Können wir einfach fahren?« Und es hinter mich bringen, dachte Ava mit Grabesstimme. Ein Schulwechsel war schon schlimm genug, hingegen mitten im Schuljahr zu wechseln, kam einem persönlichen Weltuntergang gleich. Anfangs – nachdem sich der erste Schock gelegt und ihr Gehirn angefangen hatte zu begreifen, dass das alles kein böser Scherz war, sondern die bittere, untrügliche Wahrheit – hatte Ava ihre Eltern angefleht, den bescheuerten Umzug zumindest auf den Herbst zu verschieben.

»Bitte, diesen einen Sommer noch«, hatte sie gebettelt. »Damit ich Zeit habe, mich zu verabschieden.« Doch ihre finanzielle Lage war so mies, dass kein letzter Sommer auf Eschenthal für sie drin war. Ihr Vater hatte sogar seinen geliebten Oldtimer verkaufen müssen, um den Umzug in die neue Stadt überhaupt finanzieren zu können. Und eigentlich sollte Ava Cassisburg, wie ihre neue Heimat hieß, dankbar sein. Immerhin hatten ihre Eltern in dieser Stadt schnell Arbeit gefunden, dennoch konnte Ava sie nicht ausstehen. Dieser Lärm und die vielen Menschen, und nirgendwo Luft zum Atmen … Ihr Leben war eine einzige Katastrophe. Sie seufzte schwer.

Ihre Mutter seufzte ebenfalls. »Okay, schon gut. Ich muss ja auch los. Schließlich hast nicht nur du heute deinen ersten Schultag.«

Oh, dachte Ava. Das hatte sie völlig vergessen. Nicht nur für sie war heute ein besonderer Tag, auch ihre Mutter musste sich in ihrer neuen Klasse bewähren. Aber im Gegensatz zu ihr schien sich ihre Mutter auf diese Herausforderung sehr zu freuen. Manchmal, so hatte Ava den Verdacht, war Paula Gildstein über ihre schlimme Lage gar nicht so unglücklich. Den Job in der Firma als Buchhalterin hatte sie schließlich nur ihrem Mann zuliebe gemacht. Nun aber konnte sie wieder das tun, was ihr wirklich Spaß machte, und das war nun mal, kleinen Rotznasen das Lesen und Schreiben beizubringen.

»Also, auf ins Abenteuer?!« Paula Gildstein schulterte ihre Lehrertasche. »Und, Schätzchen, bitte … trag nicht gleich wieder dein Herz auf der Zunge, hörst du? Nicht jeder verträgt die ungeschönte Wahrheit.«

Wenn es darum ging, war ihre Tochter nämlich in der Tat etwas eigensinnig. Denn Ava hatte ein beinah unwirkliches Gespür für die Gefühle anderer. Das mochte in manchen Situationen zwar hilfreich sein – aber oft wirkte sie dadurch einfach ziemlich aufmüpfig. Paula Gildstein sah ihre Tochter daher mahnend an. »Das ist nur zu deinem Besten, ja?!«

»Mama«, stöhnte Ava erneut und setzte sich hastig die Kopfhörer auf, um nicht noch nervöser zu werden. Auch wenn ihre Mutter es nur gut meinte, half das in dem Moment gar nichts. Sie würde sich schon selbst auf die Zunge beißen, so ungeschickt war sie dann auch wieder nicht, sich gleich am ersten Tag unbeliebt zu machen.

Manche Dinge musste man ohnehin alleine auf die Reihe kriegen, und so drehte Ava die Musik auf volle Lautstärke. Flints letzte Dressurkür-Musik strömte in ihre Ohren, und Ava spürte den Stich im Herzen. Schnell drückte sie weiter. Weh tat es trotzdem.

#magenschnecke

Die Urs-Franklin-Schule hatte nichts mit ihrem alten Gymnasium gemein. Es schien vielmehr so, als wäre sie plötzlich auf einem anderen Planeten gelandet. Weit weg von jenem wunderbaren Fleckchen Erde, das sich Eschenthal nannte.

Alle redeten hier nur von Bloggern, Vloggern, YouTubern und Influencern, von denen Ava noch nie im Leben gehört hatte. Sie kam sich wie das größte Landei überhaupt vor, und anfangs tat sie so, als würde sie das alles total interessieren. Ava gab sich wirklich Mühe. Aber schnell verließ sie das Interesse. Zu doof war ihr das Getue um Siri_Nice, Magicdog, oder wie die alle im Netz hießen. Irgendwie chatteten hier alle mehr, als dass sie miteinander redeten, und ständig ging es nur darum, wie oder wer was und wo getan hatte. Sie hingegen würde sich sicherlich nicht mit so einem doofen Hashtag in eine Schublade pressen lassen … auf #shithappens #magenschnecke oder #fürdietonne konnte sie gern verzichten. Denn so fühlte sie sich derzeit, und deshalb war es auch nicht weiter verwunderlich, dass sie in der Schule kaum Bekanntschaften schloss. Ava hatte schlichtweg keinen Bock drauf.

Obendrein schöpfte sie bald den Verdacht, die Klassenlehrerin hatte die anderen bloß dazu angestiftet, anfangs nett zu ihr zu sein: zur Neuen vom Land. Doch als die Schonfrist vorüber war, hockte Ava bald in den Pausen alleine rum und machte Hausaufgaben, während die anderen Mädchen aus ihrer Klasse sie wie Luft behandelten und bloß von diesem XluX schwärmten, dem neuen Shootingstar im Internet. Innerhalb kürzester Zeit folgten ihm über 10000 Follower auf Instagram, doch der eigentliche Knaller war, dass XluX mit ziemlicher Sicherheit in Cassisburg wohnte. Schließlich stammten die provokanten Fotos auf seinem Account allesamt aus der Gegend. Niemand aber wusste, wer XluX in Wirklichkeit war. XluX war der große Unbekannte dieser Tage. Sogar ein Foto vom desolaten Sportplatz ihrer Schule, mit #scherbenmeer, hatte er zuletzt auf seinen Account gestellt, und Avas Mitschüler redeten bald von nichts anderem mehr als davon, dass XluX bestimmt einer von ihnen war. Vielleicht steckte ja Tristan aus der Zehnten hinter XluX? Schließlich trug er ständig schwarze Klamotten und war obendrein mit seinem iPhone verwachsen … vor allem aber war er ausgesprochen gut aussehend. Ava jedoch konnte der schöne, schwarze Tristan gestohlen bleiben. Und dieser Lux-Irgendwer sowieso. Darauf hatte sie wirklich überhaupt keine Lust! Dann war sie eben die Außenseiterin, damit konnte sie leben – auch wenn sie sich diese Rolle in Zukunft mit Lou teilen musste, denn dieses Mädchen aus ihrer Klasse hing auch ständig alleine rum.

Aber bei Lou lag es daran, dass sie kaum mit jemandem sprach. Ständig glotzte sie so komisch, und schräg war sie auch. Jeden Tag drehte sie ihre widerspenstigen Locken zu einem Messy Bun, der aussah, als hätte sie ein Vogelnest auf dem Kopf. Dazu trug sie knallbunte Klamotten, als wäre sie in einen Farbkasten gefallen. Ava wurde aus diesem Mädchen nicht schlau. Sonst fiel es ihr leicht, Menschen zu durchschauen. Neid, Wut, Eifersucht, Angst, Liebe … all diese Emotionen schwirrten in der Klasse herum, wenn sie ihre Mitschüler betrachtete. Nur bei Lou war sie ratlos. Anfangs dachte sie, die anderen wollten nichts mit ihr zu tun haben. Aber bald kam Ava der Verdacht, dass es vielleicht andersrum war. Lou mied die Klasse. Nur wieso?

 

Eigentlich hätte Ava das alles egal sein können, doch es sollte anders kommen. Zwei Wochen später verkündete Frau Plettner, die auch ihre Biolehrerin war: »Es wird Zeit, über eure diesjährige Projektarbeit nachzudenken. Wie ihr wisst, möchte ich, dass ihr bis Ende des Schuljahres ein Referat ausarbeitet. Und zwar zu zweit. Tragt euch in diese Liste ein, und schreibt auf, für welches Thema ihr euch entscheidet. Die Themen dazu findet ihr auf der Rückseite.«

Frau Plettner überreichte Florentine, der Klassensprecherin und zufälligerweise dem hübschesten und beliebtesten Mädchen des Jahrgangs, die Liste. Klar, dass Florentine mit Milla zusammenarbeiten wollte. Milla war nicht nur ihre Freundin, sondern wurde von der Klasse auch gerne mal als Streberin bezeichnet. Florentine würde also nicht viel Arbeit haben mit diesem Bioding. Die Liste ging rasch weiter an den Nächsten.

Aber nicht der Reihe nach, wie Ava verwundert feststellte. Manche bekamen die Liste sofort, andere hingegen mussten darauf warten, obwohl sie viel weiter vorne saßen. Auch Ava wurde übergangen, als Nivo die Liste Elaf auf den Tisch knallte. Niemand schien sich an dieser seltsamen Vorgehensweise zu stören. Nicht einmal Frau Plettner sagte etwas, die abgelenkt war und im digitalen Klassenbuch las. Irgendwann aber lag die Liste dann doch auf ihrem Platz.

»Jetzt hat Lullu endlich jemanden, der freiwillig mit ihr zusammenarbeitet«, hörte Ava prompt Florentine hinter sich flüstern. Die anderen Mädchen kicherten. Sogar die meisten Jungs grinsten.

Vom Lärmpegel irritiert sah Frau Plettner hoch. »Na, Ava? Schon ein Thema gefunden?«

Missmutig drehte Ava den Zettel um. Amöben, Weichtiere und Unpaarhufer waren noch übrig. Na toll, dachte sie. Amöben waren so interessant wie Schleimschnecken, und Unpaarhufer kamen überhaupt nicht infrage. Es reichte der bloße Gedanke daran, und die fiese Magenschnecke brachte sie zum Heulen. Trotzig verschränkte sie die Arme.

»Du kannst ja auch unser Thema haben, wenn dir das lieber ist«, bot Florentine großzügig an. Doch nur, um nicht mit Lou zusammenarbeiten zu müssen, so viel war klar. Schließlich gab es nun sie – die Neue in der Klasse –, und daher war es sonnenklar, dass Ava sich ab jetzt mit Lou herumärgern musste, wenn sie eine Partnerarbeit zu erledigen hatten. Ob sie wollte oder nicht.

Na, das hat sich Florentine ja schön ausgedacht, knurrte Ava in Gedanken. Auf diesen schrägen Vogel konnte sie genauso gut verzichten wie die anderen.

»Mhm«, machte die Klassenlehrerin und griff nach der Liste, als Ava nicht antwortete. »Hättest du denn Lust auf … das Paarungsverhalten von Primaten

Im Ernst? Dieses Thema hatte sich Florentine ausgesucht? Da waren ihr ja Schleimschnecken tausendmal lieber. Hustend schüttelte Ava den Kopf, was ihr ein grunzendes Gelächter der Jungs einbrachte.

»Tja, Lou, was würdest du denn gerne für ein Thema wählen? Wie ich sehe, arbeitet ihr beiden zusammen?« Frau Plettner zwang sich zu einem unbekümmerten Lächeln.

Lou aber zuckte bloß gelangweilt mit den Schultern und sagte wie immer nichts.

Frau Plettner seufzte, dann schien sie plötzlich eine Idee zu haben, denn mit einem Mal lachte sie erleichtert auf. »Aber das ist es doch! Unpaarhufer, prima! Deine Mutter hat mir erzählt, dass du schon etliche Turniere gewonnen hast. Da müssten dich die Unpaarhufer doch sehr interessieren.« Sie strahlte Ava an.

Wie auf Kommando pfiffen ein paar Jungs durch die Zähne, und Nivo lachte: »Turniere auf Rindviechern?! In der Pampa ist das bestimmt der letzte Schrei!«

Die Klasse wieherte vor Lachen.

»Unpaarhufer sind Pferde, Nivo. Das solltest du längst wissen«, tadelte Frau Plettner. »Wir hatten das zuletzt im Unterricht. Also, wenn Pferde Unpaarhufer sind, was sind dann Rinder?«

Nivo hatte nicht den blassesten Schimmer, und das war nicht besonders gut für ihn.

»Teresa und Betty, macht es euch etwas aus, wenn ihr mit Nivo und Timo die Themen tauscht?«, fragte Frau Plettner prompt. »Ihr habt euch zwar für die Paarhufer eingetragen, aber ihr würdet dafür die Wirbeltiere im Wasser bekommen. Dann merkt sich Nivo hoffentlich endlich, dass Kühe Paarhufer sind«, sagte sie streng.

Die beiden Jungen murrten, aber Teresa und Betty strahlten übers ganze Gesicht. Auch sie hatten zu den Letzten gehört, die die Liste bekommen hatten, und Wasserwirbeltiere waren anscheinend ein Top-Thema.

»Ava? Lou? Macht ihr nun die Unpaarhufer?«, fragte die Klassenlehrerin jetzt ungeduldig.

Neugierig schielte Ava zu Lou. Auch die anderen blickten gespannt zu dem Mädchen in den knallbunten Klamotten.

»Puh, das dauert mal wieder«, stöhnte Florentine. »Lullu hat heute ja einen richtigen Redeschwall.«

»Na ja, zumindest labert sie keinen Müll«, murrte Ava eine Spur zu laut, was das Mädchen mit den feuerroten Haaren prompt nach Luft schnappen ließ.

Als hätte Lou ebenfalls gehört, was Ava eben gemurmelt hatte, kam plötzlich Leben in das stumme Mädchen. Sie nickte.

Sogar Frau Plettner war überrascht. Sie blickte Ava flehentlich an.

Ava gab sich einen Ruck. »Also gut«, sagte sie. Es mussten ja nicht Pferde sein. Zebras und Esel gehörten schließlich auch zu den Unpaarhufern, und damit konnte sie leben.

 

»Jetzt hat Lullu endlich eine Freundin. Dann könnt ihr über Kuhvideos quatschen«, krähte Nivo, als es zur Mittagspause geläutet hatte. Die Stimmung in der Klasse war nach dem Bio-Desaster schrecklich aufgeheizt. Ava wollte sich so schnell wie möglich verdrücken. Doch da hatte sie die Rechnung nicht mit Nivo gemacht, der immer noch stinksauer war, und das ließ er jetzt auch jeden spüren. Vor allem Ava. »He, ich red mit dir!«, schnauzte er sie an, als sie mit gesenktem Kopf an ihm vorüberhuschte. Als Ava immer noch nicht darauf einging, rempelte er sie glatt von hinten an.

Es fühlte sich an wie ein Stromschlag, als sie Nivos Hand auf ihrem Rücken spürte. Die Wut, die sie in den letzten Wochen mühsam unterdrückt hatte, schien mit einem Mal überzukochen, ja beinah zu explodieren. Ava fuhr herum, reckte das Kinn und funkelte Nivo mit wütenden Augen an. »Ein paar Kuhvideos würden grade dir nicht schaden!«

»Ah, du bist anders als Lullu, die den Mund nie aufkriegt«, raunzte Nivo überrumpelt. »Du bist ja fast so wie Lava. Haha, passt doch. Ava wie Lava!« Er begann zu wiehern, als wäre sein lahmer Wortwitz tatsächlich lustig gewesen. Und wirklich stimmte die halbe Klasse mit ein.

»Lullu und Lava! Echt, Nivo, du bist der Beste!«, flötete Florentine, und Nivos Gesicht begann daraufhin vor Stolz zu leuchten.

Ava verdrehte genervt die Augen. Im Grunde genommen war es sinnlos, mit diesen Idioten hier zu streiten, doch ihr alter Kampfgeist erwachte eben wieder zum Leben. So schnell würde sie nicht klein beigeben! »Dann pass mal auf, dass du dir die Fünfhufer nicht verbrennst, Nivo. Lava ist nämlich explosiv! Nur für den Fall, dass du das nicht weißt«, zischte sie und stolzierte dann betont lässig aus der Klasse. Feige war sie nämlich noch nie gewesen – dennoch klopfte ihr Herz nun viel zu schnell, als sie draußen vor der Klassentür stehen blieb. Es war nicht klug gewesen, Nivo vor der ganzen Klasse zu provozieren. Das wurde ihr im nächsten Moment bewusst, und in Gedanken konnte sie ihre Mutter schon wieder seufzen hören.

Doch dann hörte Ava noch etwas anderes. Jemand aus der Klasse sagte: »Das muss man der Neuen lassen, Mut hat sie.«

Neugierig spähte Ava um die Ecke. Elaf. Es musste Elaf gewesen sein. Nivo rempelte den Jungen nämlich ziemlich unsanft an.

Elaf jedoch ließ sich davon nicht beeindrucken. Kein Wunder, der Junge mit den schwarzen Haaren und den tiefgrünen Augen war ja auch um einen ganzen Kopf größer als Nivo. Und auch sonst schien Elaf anders zu sein. Nicht so albern. Ob es daran lag, dass er eine Klasse wiederholen musste und ein Jahr älter war? Nachdenklich betrachtete sie noch kurz die seltsame Situation im Klassenzimmer. Es war klar, dass Elaf grade für sie in die Bresche gesprungen war, denn Nivo hielt nun tatsächlich seine dumme Klappe. Vielleicht sind ja doch nicht alle so bescheuert, seufzte Ava in Gedanken und ging dann hinaus in den Schulhof, ehe die anderen aus der Klasse stürmten.

In einer stillen Ecke unweit vom Sportplatz kramte sie ihr Handy hervor, obwohl das während der Schulzeit eigentlich streng verboten war, doch Ava musste jetzt dringend mit jemandem quatschen. Seit Tagen hatte sie nichts von ihren Freundinnen gehört. Gerade jetzt wäre ein Lebenszeichen von ihnen schön. Schnell tippte sie eine Nachricht in ihre Chatgruppe, die sie Show Jumping Girls nannten.

Ava: Hatte heute den ersten Beef in der Schule, sie nennen mich jetzt Lava *grins* Vermiss euch. BFF.

Doch auch nach einigen Minuten des Wartens blieb das Handy stumm. Niedergeschlagen steckte Ava es weg. Gerade noch rechtzeitig, denn im nächsten Moment kam jemand um die Ecke. Ein Vogelnest war zu sehen und die dazugehörige bunte Gestalt.

»Ach, du bist es.« Ava zwang sich zu einem Lächeln.

Und wieder mal sagte Lou nichts, sondern starrte bloß blöd in der Gegend rum.

Ava seufzte. »Ach ja, was ich noch sagen wollte: Über Pferde will ich bei dem Bioding nichts machen, aber Zebras sind in Ordnung oder Esel«, erklärte sie und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.

Doch das Mädchen glotzte einfach weiter, erst nach einer gefühlten Ewigkeit murmelte es: »Wird schwierig werden mit Eseln und Zebras.«

»Warum?«, fragte Ava verdutzt.

»Na, wegen Punkt zwei.« Lou kramte einen Zettel hervor.

»Was? Frau Plettner will ein Beobachtungsprotokoll von uns haben?«, rief Ava empört, als sie die Zeilen überflogen hatte. »Ich meine, Kühe, na, gut! Aber was ist mit den anderen Tieren wie den Schimpansen oder den Fischen?«

Lou aber schien mit ihren Gedanken längst schon wieder ganz woanders zu sein. Sie glotzte abermals starr in die Gegend, was Ava ärgerte. »Mann, kannst du nicht einfach mal eine Antwort geben, wenn du was gefragt wirst?«, stöhnte sie genervt. »Wenn wir zwei schon zusammenarbeiten, dann musst du mit mir wohl oder übel reden!« Kaum waren ihr die Worte über die Lippen gerutscht, bereute sie sie auch schon. Bestimmt würde diese Lou jetzt einen Heulkrampf kriegen … und Ava mit Sicherheit noch mehr Ärger. Aber nein! Lous Nutella-Augen glitzerten plötzlich amüsiert, und Ava klappte der Mund auf. »Ach, so ist das also, du willst nur nicht reden! Und schüchtern bist du auch nicht … Ups, habe ich das eben laut gesagt?« Verlegen blickte sie zu Lou, die nun prompt breit grinste. Und als hätte Ava gerade eine megawichtige Prüfung bestanden, erklärte Lou plötzlich gar nicht mehr so mundfaul: »Frau Plettner hat uns dafür Adressen aufgeschrieben. Mit Tipps, wo wir die Tiere finden. In Cassisburg gibt es einen großen Zoo. Mit einem Meeresaquarium und einem Affengehege.«

»Ach so, und wo ist dann das Problem?«, hakte Ava freundlicher nach.

»Zebras und Esel hat der Zoo nicht. Wir müssen also dorthin.« Lou tippte auf zwei Adressen auf dem Zettel.

Forsthaus Hennelly und Springstall Rauewitz stand darauf, und augenblicklich kroch die fiese Magenschnecke in Avas Bauch zurück.

Von Pferden war nie die Rede gewesen! Zebras wollte sie. Oder Esel. Aber nicht Pferde! Sie schaffte das nicht! »Kannst du da nicht alleine hingehen? Ich mach dafür auch den Rest. Alles Lästige, das Schreiben, das Plakat, das Reden, versprochen«, bettelte sie.

Lou runzelte die Stirn. »Ich dachte, du bist so ein Pferdeprofi?«

Pferdeprofi. Autsch. Das hatte gesessen! »Ich … ich kann nicht«, murmelte sie.

Lou verschränkte die Arme. »Dann kann ich auch nicht. Pferde sind nämlich sowieso nicht so mein Ding. Wir gehen zusammen oder gar nicht.«

Überrascht hob Ava den Kopf. Sie hatte also wirklich recht. Lou war gar nicht schüchtern. Sie schien vielmehr keine Lust zu haben, mit den Idioten aus der Klasse rumzuhängen. Das machte sie beinah sympathisch.

»Ich weiß, wo wir diese beiden Reithöfe finden. Heute nach der Schule? Dann haben wir es wenigstens gleich hinter uns«, schlug Lou pragmatisch vor.

Ava gab sich geschlagen. »Aber dann bitte nicht zu Rauewitz, lieber zu Hennelly«, sagte sie, und dabei kam es ihr vor, als wollte ihr Kopf etwas Wichtiges sagen. Nur was? Dass es in Forsthäusern gewöhnlich keine Pferde gab? Oder war es dieser Name, Hennelly?

Zu ihrer Überraschung nickte Lou. »Das Forsthaus ist mir auch lieber, im Springstall Rauewitz soll sich Florentine rumtreiben, und auf die kann ich echt verzichten.«

»Was? Florentine reitet?« Ava riss vor Staunen ihre wasserblauen Augen auf. Florentine sah gar nicht so aus, als hätte sie Gummistiefel im Schuhschrank.

»Na ja, damit hat sie zumindest mal herumgeprahlt. Hat anscheinend vor ein paar Monaten ein teures Springpferd geschenkt bekommen. Aber ich glaube, die Wahrheit ist, dass ihr stinkreicher Vater den Gaul haben wollte, damit er angeben kann, und sie in Wirklichkeit grottenschlecht reitet. Sonst hätte sie sich doch selbst für die Unpaarhufer entschieden …«

»Vermutlich wusste sie nicht, was Unpaarhufer sind«, antwortete Ava.

Lou begann laut zu lachen. »Hey, jetzt gefällt mir das Pferdethema doch. Soll sich die Zicke mal ordentlich wegen uns in den Hintern beißen.«

Da musste auch Ava lachen. »Also gut, abgemacht. Dann heute nach der Schule.« Und gemeinsam gingen sie zum Unterricht, als wäre es das Normalste der Welt.

#silverhorse

Nur gucken, hatte Lou gesagt, und trotzdem war Ava nervös, als sie am späten Nachmittag zur vereinbarten Haltestelle radelte.

Lou hatte vorgeschlagen, ein Stück mit der Straßenbahn zu fahren und dann den Radweg zu nehmen, der direkt am Forsthaus vorbeiführte. Zum Glück hatte Avas Vater beim Umzug darauf bestanden, ihr Rad mitzunehmen. Nun war sie froh, in die Pedale treten zu können und den Fahrtwind um die Nase zu spüren. Es war ein bisschen so wie Reiten …

Lou kam pünktlich, und gemeinsam bugsierten sie die Räder in die Straßenbahn. An der Endstation stiegen sie aus. Es hatte am Vormittag geregnet, doch jetzt schien die Sonne. Die Hulder, ein Nebenarm der Andra, das war der große Fluss, der sich durch die Stadt Cassisburg schlängelte, plätscherte neben ihnen. Dahinter erstreckte sich ein riesiger Wald, aus dem munter die Vögel zwitscherten. Der Winter hatte schon längst seinen Rückzug angetreten, höchstens in den schattigen Ecken spürte man noch seinen kalten Atem der letzten Monate. Auf dem Radweg aber war es sonnig und warm. Irgendwo aus der Ferne brummte zwar die Stadtautobahn, doch die Geräusche der Natur übertönten beinahe den nervigen Stadtlärm.

Cassisburg hat also doch schöne Ecken, dachte Ava im Stillen, als sie neben Lou den Radweg entlangstrampelte. Es dauerte nicht lange, und sie hatte Pferdegeruch in der Nase. Wie sie diesen Duft vermisst hatte! Dieser würzige Geruch von Pferd und Heu, Gras und auch ein bisschen Mist, klar! Aber der konnte sie niemals davon abbringen, dass Pferde für sie genauso herrlich dufteten wie Schoko-Cookies oder Erdbeerkuchen. Ach, noch viel besser!

Unwillkürlich holte sie tief Luft. Der Abschied von Flint hatte tiefe Wunden hinterlassen. Dennoch musste Ava zugeben, dass die frische Waldluft, gepaart mit Pferdegeruch, das Beste war, was sie seit Wochen in der Nase gehabt hatte. Fast roch es hier so wie auf Eschenthal, und Ava war nun doch froh, mitgekommen zu sein.

Sie stellten die Räder an einer Abzweigung ab und gingen den letzten Rest zu Fuß. Von Weitem sahen sie die Pferde auf einer Lichtung grasen. Lou deutete auf eine kleine Brücke, die über die Hulder führte. Dahinter stand eine verwitterte Holzbank, die mit geschnitzten Verzierungen übersät war. Da die Hulder genau dort eine Schlinge machte, wirkte es so, als würde die Bank auf einer kleinen, von Dickicht überwucherten Insel stehen. Eine seltsame Stimmung ging von diesem Ort aus. Ava spürte, wie sich die Härchen auf ihren Unterarmen sträubten, als sie auf die geschnitzte Bank blickte, die mit der verschnörkelten Rückenlehne wie ein Thron aussah. Dieser Ort hatte etwas Geheimnisvolles an sich, das nicht gern von Eindringlingen gestört werden wollte, so viel stand fest. Aber da man von dort aus nun mal den besten Blick auf das Geschehen hatte, ohne selbst entdeckt zu werden, folgte Ava Lou über die Brücke. Dichte Haselsträucher wuchsen entlang des Flussufers, und ringsherum war keine Menschenseele zu sehen. Als sie die Insel erreichten, ließ das Prickeln nach, und Ava entspannte sich.

»Wow, tolle Kamera!«, staunte sie, als Lou wenig später eine schwarz glänzende Kamera aus dem Rucksack holte. »Gehört die dir?«

Doch Lou hatte schon wieder auf Stumm-Modus geschaltet. Wie gebannt blickte sie auf die Pferde vor ihnen – und da begriff Ava, warum Lou ständig stumm in der Gegend herumstarrte. Sie schien ein richtiger Fotofreak zu sein!

»Oh, dieses Licht«, hauchte Lou plötzlich. »Wie es durch die Bäume bricht und Schatten wirft … ich mach nur schnell ein paar Schnappschüsse, okay?«, nuschelte sie und sprang auf, während sie aufgeregt an ihrer Kamera herumnestelte. »Bin gleich fertig. Du kannst ja inzwischen aufschreiben, was die da so machen. Dann haben wir das Beobachtungsdings auch gleich hinter uns. Oh, Waaahnsinnslicht gerade …« Schon knipste sie wie wild drauflos, während die Nachmittagssonne hinter den Wipfeln der Bäume verschwand. Tatsächlich wurde die Lichtung mit ihren sanften Hügeln eben in ein ganz besonders magisches Licht gehüllt. Und mit einem Mal begann Ava Lou zu verstehen. So wie sie selbst auf ihre Gefühle vertraute, schien dieses Mädchen ihrem Blick zu vertrauen. Wenn Lou das zum Freak machte, dann war sie das auch.

Also tat Ava, was Lou gesagt hatte. Sie holte den Beobachtungsbogen aus ihrem Rucksack und begann die Herde genauer unter die Lupe zu nehmen. Es waren eindeutig Stuten, die dort vor ihnen grasten, das erkannte sie an ihrem Verhalten. Also schrieb sie zu Beobachtete Tierart: Stutenherde hin, und dann noch das Datum und die Uhrzeit.

Die große Schimmelstute war glasklar die Chefin der Herde. Dann gab es noch eine weitere Lipizzanerstute und noch zwei Tinkerstuten. Die eine war schwarz-weiß, die andere hatte braun-weiße Flecken. Und dann war da noch ein fuchsfarbenes Pony mit wilder Wuschelmähne.

Es war eine ziemlich zusammengewürfelte Truppe, fand Ava. Auf Gut Eschenthal sah man solche Pferderassen selten. Dort waren ausschließlich Warmblüter zu Hause. Teure Sportpferde wie riesige Hannoveraner, Holsteiner oder Oldenburger. Natürlich auch ein paar Sportponys wie Flint. Mit akkurat geschnittener Mähne und geschorenem Fell.

Diese Pferde hier sahen jedoch völlig anders aus. Sie hatten alle noch ihr struppiges Winterfell. Die Mähnen waren zerzaust vom Wind und die Hufe voll Matsch. Frau Eisstätt hätte einen Wutanfall gekriegt, hätte Flint jemals wie eines dieser Schlammmonster ausgesehen. Und obwohl die Pferde eine riesige Koppel zur Verfügung hatten und sehr zufrieden wirkten, fand Ava es schrecklich, wie ungepflegt sie im Gegensatz zu Eschenthals Pferden aussahen. Wurden die denn nie geputzt? Und wo waren überhaupt die Besitzer?