Fußnoten

1

Skella, isländisch, sprich: Skettla

Vorgeschichte

Ein Vermögen

»Paulus?«, fragte Emily. »Warum kann ich kein Pferd haben?«

Emily saß auf dem kuscheligen Teppich vor dem Fernseher und zerlegte einen Mixer in seine Bestandteile.

Ihr Vater lag auf dem Sofa und las. Das heißt, in diesem Moment las er gerade nicht, denn seine Augen waren zum Fernseher gewandert. Dort war eben Applaus aufgebrandet: Ein Kandidat in einer Show hatte es in die nächste Runde geschafft und war dem Preisgeld von einer Million Euro einen Schritt näher gekommen. »Das hätte ich auch gewusst«, murmelte Paulus mit einem Blick auf die am Bildrand eingeblendete richtige Antwort.

»Paulus?«

»Weil wir in einer Wohnung mitten in der Stadt wohnen. Da ist kein Platz für ein Pferd.«

»Okay.«

Emily hatte das Gehäuse des Mixers abgenommen und betrachtete das Innere. Es war faszinierend. Ähnlich wie das letzte Modell, das sie auseinandergenommen hatte, aber doch ganz anders.

»Wo müssten wir wohnen, damit ich ein Pferd haben kann?«

»In einem Haus. Auf dem Land. Am besten mit einem Stall und Wiesen dabei.«

»Okay.« Je länger Emily auf das Innere des Mixers starrte, desto besser gefiel es ihr. Besonders der Kupferdraht hatte es ihr angetan.

»Warum ziehen wir dann nicht aufs Land in ein Haus mit einem Stall und Wiesen?«

Ihr Vater sah sie an und hob die Augenbrauen. »So ein Haus mit allem Drum und Dran ist teuer, Emmie. So viel Geld haben wir nicht. Leider. Und dann ist da auch noch mein Job.«

»Werden auf dem Land keine Fotografen gebraucht?«

Paulus überlegte kurz. »Doch, ich schätze schon. Aber ich kann es mir nicht leisten, meine Kunden hier aufzugeben.«

»Aber wenn wir Geld hätten, ginge es?«

Emilys Vater seufzte. »Mit Geld geht so einiges.«

»Und wir haben keines.«

»Nicht genug, nein.«

»Und wie bekommen wir so viel Geld, dass wir ein Haus auf dem Land kaufen können? Und ein Pferd? Und du deine Kunden aufgeben kannst?«

Paulus lachte laut auf. »Wir könnten im Lotto gewinnen«, sagte er.

»Die Wahrscheinlichkeit, im Lotto zu gewinnen«, erklärte Emily, ohne ihren Blick von dem zerlegten Mixer zu wenden, »liegt bei eins zu fünfzehn Millionen fünfhundertsiebenunddreißigtausendfünfhundertdreiundsiebzig Komma dreiunddreißig.«

»Oh«, sagte ihr Vater. »Wann hast du das denn ausgerechnet?«

Emily zuckte mit den Schultern. »Das war so eine Aufgabe aus dem Internet.«

»Okay«, sagte Paulus diesmal. »Dann spiele ich also kein Lotto.« Er warf erneut einen Blick auf den Fernseher, wo ein Mann gerade jubelnd die Hände in die Luft warf. »Dann bleibt nur eins: Ich spiele bei einer dieser Shows mit!« Er deutete auf den Fernseher.

»Was für Shows?«, fragte Emily. Zum ersten Mal blickte sie von dem Mixer auf und sah ihren Vater an.

»Na, so was wie das da! Der Glückspilz da hat gerade ein Vermögen gewonnen!«

Seine Hand deutete immer noch auf den Fernseher, und Emilys Augen folgten der Richtung, die sein Arm vorgab. Auf dem Bildschirm war ein Mann zu sehen, der beim Lachen sehr viele Zähne zeigte.

»Was muss man denn können, um ein Vermögen zu gewinnen?«

»Das kommt auf die Show an«, erklärte ihr Vater. »In manchen Shows muss man ein besonderes Talent zeigen, in manchen Fragen beantworten oder Aufgaben lösen.«

Emily überlegte einen Augenblick. »Ich glaube, es ist besser, ich mache bei so einer Show mit, nicht du«, sagte sie dann.

Paulus lachte erneut. »Aha«, sagte er. »Und warum?«

»Weil ich ein besonderes Talent habe

Paulus öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und überlegte es sich dann wieder anders.

Emily starrte auf den Fernseher. Der Mann hüpfte über die Bühne. Eben stürmte eine Frau auf ihn zu und umarmte ihn.

Emily schüttelte sich. »Muss man sich von der Frau umarmen lassen, wenn man gewinnt?«, fragte sie.

Paulus lächelte. »Nein«, antwortete er. »Ich würde dich wahrscheinlich umarmen, wenn du gewinnst.«

Emily überlegte kurz. »Das geht«, meinte sie dann.

8 Monate später

Das beste Pferd

Freitag, 08:07, Pferdehof Glockenbach, Stall.

»Die hier sind zum Verkauf«, sagte die Frau mit dem Pferdeschwanz und der lauten Stimme. Sie schien die Stallbesitzerin zu sein. »Ist Ihre Tochter Freizeitreiterin oder braucht sie ein Turnierpferd?«

Paulus warf einen Blick zu Emily, die vor einer Box stehen geblieben war und ein ziemlich klein gewachsenes mittelbraunes Pferd betrachtete, das mit dem Hinterteil zu ihr stand. »Meine Tochter ist eigentlich gar keine Reiterin«, sagte er. »Sie möchte einfach nur ein Pferd.«

Die Frau mit dem Pferdeschwanz zog die Augenbrauen hoch. »Für ein Kuscheltier ist ein Pferd ein bisschen groß«, meinte sie. »Und ein bisschen teuer.«

Ein Mann mit einer Schubkarre kam ihnen durch die Stallgasse entgegen. »Hey, Mädel«, sagte er. Emily reagierte nicht und starrte weiter das Pferd an.

»Entschuldigung«, sagte Paulus hastig zu dem Mann und wandte sich dann Emily zu. »Em, Schatz, kannst du bitte aus dem Weg gehen? Der Mann muss in die Box da!«

Emily blickte auf und der Mann erstarrte. »Ich kenn dich!«, rief er, nahm eine Hand vom Griff der Schubkarre und deutete damit auf Emily. »Du bist das kleine Mathegenie, stimmt’s?«

Emily antwortete nicht, aber das störte den Mann nicht weiter. »Ich weiß es genau, diese blauen Kulleraugen vergisst man nicht! Du hast in dieser Talentshow im Fernsehen ein Vermögen gewonnen!«

Paulus stellte sich zwischen seine Tochter und den Mann mit der Schubkarre und sagte freundlich: »Ja, das ist Emily. Sie hat eine außerordentliche Begabung für Zahlen.«

»Na, da haben Sie ja Schwein gehabt«, meinte der Mann und lachte. »Meine Kinder sind schon groß, aber die bringen mir keine Millionen nach Hause.« Sein Blick wanderte von Paulus zu Emily und wieder zurück. »Von Ihnen hat die Kleine die blauen Augen aber nicht!«

»Nein«, sagte Paulus. Seine Stimme klang jetzt nicht mehr ganz so freundlich. »Sie hat die Augen ihrer Mutter.«

»Das reicht jetzt, Max!« Die Stimme der Frau mit dem Pferdeschwanz schnitt durch die entstandene Stille. Der Mann öffnete ohne ein weiteres Wort die Tür der nächsten Box, griff nach einer Mistschaufel, fuhr die Karre rückwärts hinein und ließ sie in der Öffnung stehen, während er den Mist hineinschaufelte. Emily beobachtete ihn genau. Sie fand, dass er das sehr geschickt machte. Wie praktisch, die Schubkarre in der Tür stehen zu lassen, damit das Pferd nicht weglaufen konnte! Außerdem ersparte man sich, die Tür ein weiteres Mal zu öffnen und wieder zu schließen.

Die Stute hatte sich jetzt zu Emily umgewandt und betrachtete sie. Emily blickte zurück.

Paulus lachte ein wenig unsicher. »Ich hoffe, Sie denken jetzt nicht, dass Geld keine Rolle spielt«, sagte er zu der Frau mit dem Pferdeschwanz. »Wir haben eben erst ein Haus gekauft und ich spare für die Ausbildung meiner Tochter …«

»Keine Angst«, meinte die Frau lächelnd. »Dass Sie kein Pferdekenner sind, hab ich mir schon gedacht. Aber ich übervorteile meine Käufer nicht. Auf lange Sicht bringt das nichts. Außer einem schlechten Ruf.«

»Gut zu wissen«, meinte Paulus mit einem Seufzer.

»Das ist mein Pferd«, sagte Emily unvermittelt.

Paulus und die Frau mit dem Pferdeschwanz sahen sich zu ihr um. Die Frau runzelte die Stirn, und Paulus sagte: »Aber Em, du hast doch noch gar nicht alle Pferde gesehen!«

»Ich muss ja auch nicht alle sehen«, sagte Emily. »Wenn ich doch meines schon habe.«

»Von der Stute würde ich dir abraten«, sagte die Frau. »Sie ist etwas unberechenbar. Wahrscheinlich ein Weideunfall. Araber-Isländer-Mischling, wenn ich den Dokumenten glauben darf.« Die Hofbesitzerin zog eine kleine Grimasse. »Obwohl ich das mit dem Araber bezweifle. Aber wer weiß. Die Isländer-Gene haben sich jedenfalls durchgesetzt. Wir wissen nicht viel über ihre Herkunft. Haben sie ursprünglich beim Kinderreiten eingesetzt, aber sie hat gebuckelt und …«

»Wurde sie verletzt?«, unterbrach Emily. »Bei dem Unfall?«

Die Frau sah sie an und wusste ganz offensichtlich nicht, was Emily meinte.

Paulus wurde rot. »Schatz, ich glaube, das Wort Weideunfall bedeutet, dass eine Stute und ein Hengst ein Fohlen gezeugt haben, ohne dass es geplant war.«

Die Augenbrauen der Frau waren jetzt sehr hoch oben auf ihrer Stirn. »Vorsichtig ausgedrückt«, fügte sie hinzu.

»Jedenfalls ist das Pferd nichts für dich«, sagte Paulus schnell. »Es buckelt und ist unberechenbar.«

»Was kostet sie?«, fragte Emily, als hätte Paulus gar nichts gesagt.

»Emily …«

»Wir haben doch genug Geld?«

»Ja, schon, aber …«

»Dann kaufen wir sie.«

»Em …!«

Emily richtete ihre strahlend blauen Augen auf ihren Vater. »Papa«, sagte sie. »Das ist das beste Pferd für mich. Wirklich.«

»Von wegen Genie«, murmelte Max, der eben die Schubkarre wieder aus der Box schob. »Könnte jedes Pferd im Stall haben und sucht sich ausgerechnet …«

»Max!«, fuhr erneut die scharfe Stimme der Frau mit dem Pferdeschwanz dazwischen. »Ich glaube, du bist hier fertig.« Max klappte seinen Mund fest zu und lenkte seine Schubkarre zur nächsten Box.

»Für dieses Pferd«, sagte die Stallbesitzerin zu Paulus, »kann ich sowieso nicht viel verlangen. Jedenfalls nicht mehr als der Metzger …«

Paulus räusperte sich und die Frau brach ab.

»Soll das Pferd denn hier auf dem Hof bleiben?«, fragte sie dann und fügte noch hinzu: »Sie wissen doch, dass Pferde Herdentiere sind?«

Natürlich wusste Emily das. Das Pferd durfte nicht allein bleiben. Aber Paulus’ gerunzelte Stirn zeigte deutlich, dass er noch etwas Zeit brauchen würde, um auch zu diesem Schluss zu kommen.

»Dann lassen wir sie also besser hier?« Er warf einen forschenden Blick zu Emily. »Ist das okay, Em?«

Emily wusste, warum ihr Vater fragte. Im Reitstall herrschte bestimmt jede Menge Betrieb. Menschen, die Fragen stellten und Antworten erwarteten. Meistens war Emily mittags schon erschöpft vom unvermeidlichen Reden in der Schule und wollte dann allein sein.

»Wie heißt sie?«, fragte Emily.

»Runa«, sagte die Frau. »Ist irgendwas Isländisches, ich weiß nicht, was es heißt. Überhaupt habe ich mit Islandpferden nicht viel am Hut. Ich wollte einfach nur ein Pony für die Kinderstunden.«

Die Stimme der Frau klang irgendwie beleidigt. Sie schien es persönlich zu nehmen, dass Runa nicht so funktionierte, wie sie es erwartet hatte.

Emily wandte sich wieder dem Pferd zu. Sie streckte nicht die Hand nach der Stute aus, sondern ließ einfach nur ihre Augen in denen des Pferdes versinken.

»Runa«, sagte sie.

Erst einige Sekunden später antwortete Emily auf die Frage ihres Vaters. »Natürlich bleibt sie hier. Ich werde sie einfach jeden Tag besuchen.«

Die Frau zog fragend die Augenbrauen hoch und Paulus zuckte mit den Schultern. »Sie haben sie gehört«, meinte er mit einem kleinen Lächeln.

*

Samstag, 10:16, Pferdehof Glockenbach, Koppel.

Runa bedeutete treue Freundin, enge Vertraute. Oder Zauber, Geheimnis auf Isländisch. Emily mochte beide Erklärungen. Lautlos formte sie den Namen mit ihren Lippen. Runa.

Emily saß auf dem oberen Querbalken des Koppelzauns, nur wenige Meter entfernt von der Stelle, an der Runa stand und graste. Allein, abseits der Herde, fast so, als hätte sie einen unsichtbaren Kreis um sich gezogen, der die anderen Pferde fernhielt.

»Ich kenne das«, sagte Emily halblaut.

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass sie beobachtet wurde. Die Stallbesitzerin stand am Gatter und redete mit einer anderen Frau, ihr Blick wanderte dabei immer wieder zu Emily und Runa. Emily nahm an, dass die beiden über sie sprachen. Darüber, dass sie darauf bestanden hatte, ihr Pferd draußen auf der Koppel zu besuchen, statt es auf den Sattelplatz zu bringen. Sie wollte nicht reiten lernen, sie wollte auch nicht lernen, wie man Runa zäumte und sattelte. Sie wollte einfach nur in ihrer Nähe sein.

»Wenn sie die Pferde nicht verrückt macht«, hatte die Stallbesitzerin gesagt, »dann meinetwegen.«

»Meine Tochter hat ein gutes Gespür für Tiere«, hatte Paulus geantwortet. »Keine Sorge.«

 

Vor ein paar Jahren hatten Paulus und sie Urlaub auf einem Bauernhof in Österreich gemacht und auch da hatte es Pferde gegeben. Sie waren eine Woche dort gewesen und es hatte die meiste Zeit geregnet. Die anderen Gäste hatten sich nonstop über das Wetter beklagt, aber für Emily war es ein toller Urlaub gewesen. Sie hatte Stunden um Stunden auf der Koppel zugebracht, allein mit den Pferden. In ihrem gelben Regenmantel und ihren roten Gummistiefeln hatte sie damals auf dem Zaun gehockt, bis Paulus sie irgendwann beinahe mit Gewalt ins Haus holen musste.

»Was machst du denn bloß da draußen?«, hatte er kopfschüttelnd gefragt.

»Ich lerne Pferdesprache.«

Je öfter sie bei den Tieren auf der Weide gewesen war, desto klarer war ihr geworden, was ein Schubsen, ein Knabbern oder ein Hochreißen des Kopfes bedeutete. Wie sie ein Schnauben, Scharren oder Wiehern übersetzen musste. Und manchmal, wenn Emily sich den Pferden ganz nah gefühlt hatte, waren plötzlich diese Bilder in ihrem Kopf aufgetaucht, wie Gedankenpostkarten. Das hatte gar nichts Erschreckendes gehabt, sie war nicht einmal richtig überrascht gewesen. Sie hatte diese Pferdegedanken einfach zur Kenntnis genommen. Sie so vorsichtig aufgefangen, als wären es Seifenblasen, sie ein wenig auf sich wirken und dann weiterfliegen lassen.

Doch ihr eigenes Pferd hatte bis jetzt kaum eine Seifenblase in ihre Richtung geschickt.

»Runa.« Diesmal sagte Emily den Namen ihrer Stute halblaut und dachte ihn nicht nur. Die Stute hob den Kopf und sah sie an. »Du brauchst die anderen«, flüsterte Emily. »Warum lässt du sie nicht in deinen Zauberkreis?« Runa sah sie lange an, als wollte sie sagen: Das könnte ich dich genauso fragen. Dann senkte die Stute den Kopf und graste weiter.

Fünf, vier, drei, zwei, eins

Montag, 08:36, Schule, Emilys Klassenzimmer.

In dieser Klasse saßen weniger Kinder als in Emilys alter Schule, aber es waren immer noch viel zu viele. Bis unmittelbar vor Beginn der ersten Stunde hatte Emily sich auf der Toilette versteckt, um mit niemandem sprechen zu müssen. Erst in der Stille der Unterrichtsstunde hatte sie begonnen, den einen oder anderen unauffälligen Blick über die Bänke gleiten zu lassen. Sie stellte sich vor, am ersten Schultag wäre nur die Lehrerin da, vielleicht noch ein anderes Kind. Am zweiten Tag würde ein weiteres Kind hinzukommen. Dann noch eines und immer so weiter. An fünfundzwanzig Tagen je ein Schüler, anstatt alle fünfundzwanzig an einem Tag. Emily seufzte lautlos bei diesem Wunschbild.

Die Klassenlehrerin hieß Irene Paulsen. Sie hatte sehr glattes, blondes Haar, das im Nacken zu einem Knoten gesteckt war. Auch der Pony war lang und glatt und erreichte fast ihre Augen. Die rote Narbe, die von der Augenbraue über die Schläfe und dann in einer wilden Zacke bis zur rechten Wange verlief, war trotzdem unübersehbar.

»Emily«, sagte Frau Paulsen freundlich. »Kannst du meine Frage beantworten?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Emily wahrheitsgemäß. »Ich habe die Frage nicht gehört.«

Ein paar Kinder kicherten, und Frau Paulsen versuchte, streng zu schauen, was ihr nicht ganz gelang.

»Und warum hast du sie nicht gehört?«, fragte sie weiter.

»Ich habe nachgedacht«, erklärte Emily.

Die Mundwinkel von Frau Paulsen zuckten. In der letzten Bank prustete ein Junge los und steckte ein paar andere Kinder damit an. Es wurde unruhig in der Klasse.

»Und worüber hast du nachgedacht?«, fragte Frau Paulsen. »Hatte es wenigstens entfernt mit Erich Kästner zu tun?«

»Nein«, antwortete Emily. »Ich habe darüber nachgedacht, dass Sie wie eine Ballerina aus Porzellan aussehen würden ohne diese rote Narbe im Gesicht.«

Das Gekicher verstummte, es wurde still in der Klasse. In Frau Paulsens Gesicht stieg eine so dunkle Röte, dass die Narbe sich nur noch sehr wenig davon abhob. Sie schluckte und sagte dann: »Es wäre schön, wenn du dich mit dem beschäftigen könntest, was wir gerade durchnehmen.«

»Ist gut«, sagte Emily.

 

In der Pause öffnete Emily ihre Brotbox. Sieben Rosinen. Sechs Karottenstücke. Fünf Stück Gurke. Vier Erdbeeren. Drei Apfelspalten. Zwei Datteln. Ein Müsliriegel. Sie sah auf einen Blick, was Paulus sich heute ausgedacht hatte. Unter dem Müsliriegel steckte ein Zettel, auf den Paulus ein Pferd mit einer Denkblase gezeichnet hatte. In der Denkblase war eine große Karotte zu sehen, und das Pferd lächelte. Emily lächelte auch.

»Kannst du Frau Paulsen nicht leiden?«

Emily blickte auf. Vor ihr stand ein Mädchen mit braunen lockigen Haaren und sah sie ernst an.

Emily runzelte die Stirn. »Ich kenne sie doch noch gar nicht«, sagte sie. »Heute ist mein erster Tag.«

»Eben«, meinte das Mädchen. »Die meisten würden nicht gleich am ersten Tag so was Fieses zu ihrer Lehrerin sagen.«

»Hab ich das?« Emily dachte nach. Sie hatte der Lehrerin zur Begrüßung nicht die Hand geschüttelt. Aber sie war ziemlich sicher, Paulus hatte erklärt, dass es ihr einfach unangenehm war, fremde Menschen zu berühren. Sie konnte sich nicht erinnern, etwas Gemeines gesagt zu haben, aber sie wusste, dass sie das manchmal tat, ohne es zu merken. »Was war es?«, fragte sie das Mädchen. »Muss ich mich entschuldigen?« Paulus hatte ihr erklärt, dass man sich für manche Dinge entschuldigen musste, aber es fiel ihr schwer, zu erkennen, welche das waren.

Das Mädchen sah sie neugierig an. »Du hast wirklich keine Ahnung, oder?«

Emily schüttelte den Kopf.

»Was du über ihre Narbe gesagt hast. Dass sie ohne die Narbe wie eine schöne Ballerina aussähe oder so ähnlich.«

»Oh.« Emily hatte es gesagt, weil es ihr aufgefallen war. Es war auffällig. Es war die auffälligste Sache an ihrer Lehrerin. Eigentlich fand Emily die Narbe schön. Sie sah beinahe aus wie ein roter Blitz und gab der Lehrerin etwas Unverwechselbares.

Emily seufzte. Es war so schwierig, alles richtig zu machen. »Was hätte ich antworten sollen?«, fragte sie das Mädchen. »Sie hat mich gefragt, worüber ich nachgedacht habe.«

Das Mädchen zuckte mit den Schultern. »Du hättest dich einfach entschuldigen können, weil du nicht aufgepasst hast. Man muss nicht immer so schrecklich ehrlich sein.«

So etwas Ähnliches hatte Paulus auch schon gesagt.

»Ich bin übrigens Lea«, fügte das Mädchen hinzu. Ihre braunen Augen hatten grüne und goldene Sprenkel.

»Und ich bin Emily.«

»Die ehrliche Emily«, sagte Lea und lachte. »Du wolltest wohl wirklich nicht gemein sein.«

»Nein«, antwortete Emily und schüttelte erneut den Kopf. »Ich will eigentlich nie gemein sein. Es passiert mir nur.«

»Verstehe.« Lea runzelte die Stirn. »Dann hast du keine Antennen für so was?«

»Genau.« Emily hielt immer noch Paulus’ Zeichnung in der Hand und Leas Blick fiel auf das gezeichnete Pferd.

»Das ist ja süß!«