Cover

Matías Martínez
Michael Scheffel

Einführung in die
Erzähltheorie

C.H.Beck

Zum Buch

Die Erzähltheorie gehört zu den Grundlagendisziplinen der Literatur- und Kulturwissenschaften. Das Standardwerk von Matías Martínez und Michael Scheffel stellt unter Verwendung von Beispielen aus verschiedenen Literaturen und Epochen ein umfassendes, praktisch anwendbares Modell zur Analyse von erzählenden Texten vor. Der Band orientiert über den aktuellen Stand der internationalen Erzählforschung und bezieht auch die Erkenntnisse anderer Disziplinen wie der Psychologie und der Geschichtswissenschaft ein. Zugleich finden etliche Aspekte des literarischen Erzählens Berücksichtigung, die in anderen Einführungen vernachlässigt werden. Durch sein Glossar mit Kurzdefinitionen ist der Band auch zum Nachschlagen einzelner Begriffe geeignet.

Für die 11. Auflage wurde der Band von den Autoren überarbeitet und aktualisiert.

Über die Autoren

Matías Martínez und Michael Scheffel sind Professoren für Neuere Deutsche Literaturgeschichte und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Bergischen Universität Wuppertal.

Inhalt

Vorwort

Zur neunten Auflage

Zur zehnten Auflage

Zur elften Auflage

I. Merkmale fiktionalen Erzählens

1. Faktuales und fiktionales Erzählen

2. Das Erzählen und das Erzählte

II. Das ‹Wie›: Darstellung

1. Zeit

a) Ordnung (In welcher Reihenfolge?)

b) Dauer (Wie lange?)

c) Frequenz (Wie oft?)

2. Modus

a) Distanz (Wie mittelbar wird das Erzählte präsentiert?)

Erzählung von Ereignissen

Erzählung von Worten und Gedanken

b) Fokalisierung (Aus welcher Sicht wird erzählt?)

3. Stimme

a) Zeitpunkt des Erzählens (Wann wird erzählt?)

b) Ort des Erzählens (Auf welcher Ebene wird erzählt?)

c) Stellung des Erzählers zum Geschehen (In welchem Maße ist der Erzähler am Geschehen beteiligt?)

d) Subjekt und Adressat des Erzählens (Wer erzählt wem?)

4. Franz K. Stanzels Typologie von ‹Erzählsituationen›

5. Unzuverlässiges Erzählen

III. Das ‹Was›: Handlung und erzählte Welt

1. Handlung

a) Ereignis – Geschehen – Geschichte

b) Motivierung

c) Die doppelte Zeitperspektive des Erzählens

d) Handlungsschema

2. Erzählte Welt

3. Figur

4. Raum

a) Diegetischer Raum

b) Semantisierung des Raums
(Lotmans Konzept der Grenzüberschreitung)

IV. Ausblick: Kontexte des Erzählens

a) Soziolinguistik (Erzählen im Alltag)

b) Kognitionspsychologie (‹Scripts› und Affektlenkung)

c) Anthropologie (Das Handlungsschema der Suche)

d) Geschichtswissenschaft (Erklärung durch ‹emplotment›)

Hinweise zur Forschungsliteratur

Allgemeine Darstellungen der Erzähltheorie

I. Merkmale fiktionalen Erzählens

1. Faktuales und fiktionales Erzählen

2. Das Erzählen und das Erzählte

II. Das ‹Wie›: Darstellung

1. Zeit

2. Modus

3. Stimme

4. Franz K. Stanzels Typologie von ‹Erzählsituationen‹

5. Unzuverlässiges Erzählen

III. Das ‹Was›: Handlung und erzählte Welt

1. Elemente der Handlung

2. Erzählte Welt

3. Figur

4. Raum

a) Diegetischer Raum

b) Semantisierung des Raums

IV. Ausblick: Kontexte des Erzählens

a) Soziolinguistik (Erzählen im Alltag)

b) Kognitionspsychologie (‹Scripts› und Affektstrukturen)

c) Anthropologie (Das Handlungsmodell der Suche)

d) Geschichtswissenschaft (Erklärung durch ‹emplotment›)

Narratologische Websites

Literaturverzeichnis

Fiktionale Texte

Theoretische Texte

Lexikon und Register erzähltheoretischer Begriffe

Personen- und Werkregister

Vorwort

Die Erzähltheorie gehört seit den frühen sechziger Jahren zu den zentralen Anliegen der internationalen Literaturwissenschaft. Damals entstanden die maßgeblichen Entwürfe im Rahmen des Strukturalismus und der Semiotik. Zur selben Zeit wurden wichtige ältere Arbeiten (von Michail Bachtin, Vladimir Propp, den Russischen Formalisten) durch erste Übersetzungen in die westliche Diskussion eingeführt. In den folgenden Jahren kamen zahlreiche Termini und Systeme für die Analyse erzählender Texte auf, die eine schwer überschaubare Konkurrenz alternativer Methoden, Begriffe und Nomenklaturen entstehen ließen – auch wenn sich die zugrundeliegenden Einsichten der Sache nach häufig ähnelten. Viele Beiträge stützten sich zudem auf Modelle und Paradigmen, die inzwischen in den Hintergrund der literaturwissenschaftlichen Diskussion gerückt sind. Diese Entwicklung führte zu der unbefriedigenden Situation, dass sich die Erzähltheorie zwar im Bewusstsein des Faches und in den Lehrplänen der philologischen Studiengänge und der gymnasialen Oberstufe als eine der wenigen Grundlagendisziplinen der Literaturwissenschaft – neben der Metrik, Rhetorik und Stilistik – etablieren konnte, sie aber bis heute weder eine einheitliche Begrifflichkeit noch eine überzeugende Systematik hervorgebracht hat. In den letzten Jahren ist nun zu beobachten, dass sich die Forschungsdiskussion im Zuge der allgemeinen Hinwendung der Philologien zu kulturgeschichtlichen Fragestellungen verlangsamt hat. Das scheint uns ein geeigneter Moment zu sein, um die vorgelegten Ansätze für eine möglichst umfassende und relevante Theorie des literarischen Erzählens kritisch auszuwerten und dabei auf Einsichten aufmerksam zu machen, die bislang nicht zum narratologischen Mainstream gehören. Auch die Öffnung der Literaturwissenschaften gegenüber anderen Disziplinen soll in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden, denn einige der interessantesten Beiträge der letzten Jahre zum Phänomen des Erzählens sind in der Soziolinguistik, der Kognitionspsychologie, der Anthropologie und der Geschichtswissenschaft zu finden.

Der Aufbau des Buches ist systematisch. Im Gegensatz zu anderen Überblicksdarstellungen der Erzähltheorie leitet es zentrale Komponenten literarischen Erzählens aus dem Grundphänomen der Fiktionalität ab und umfasst sowohl das ‹Wie› als auch das ‹Was› von Erzählungen. Unter Verwendung zahlreicher Beispiele aus verschiedenen Literaturen und Epochen führt es in Begriffe und Beschreibungsformen ein, die eine differenzierte Analyse von Erzähltexten ermöglichen. Dabei finden auch solche Aspekte Berücksichtigung, die in anderen Einführungen vernachlässigt werden (u.a. ‹Selbstreflexion›, ‹unzuverlässiges Erzählen›, ‹Handlung›, ‹Motivation des Geschehens›, ‹erzählte Welt›, ‹Erzählschema›). Im letzten Kapitel werden Ergebnisse der literaturwissenschaftlichen Erzählforschung mit entsprechenden Untersuchungen aus anderen Disziplinen in Verbindung gebracht.

Unsere Darstellung ist in manchen Teilen eklektisch, aber nicht kompilatorisch. Dass sie nicht einem einzigen wissenschaftlichen Paradigma folgt, sondern Einsichten aus unterschiedlichen Traditionen zusammenfasst, um ein möglichst nützliches Analysemodell fiktionalen Erzählens zu entwickeln, werden unsere Leserinnen und Leser hoffentlich als Vorteil empfinden.

Ein letztes Wort zur Benutzung des Buches: Um den Haupttext weitgehend von Fußnoten und bibliographischen Angaben zu entlasten, weisen wir Titel und Zitate dort nur in Kurzform nach. Die kommentierten Hinweise zur Forschungsliteratur geben, ebenfalls in Kurzform, weiterführende Literatur an. Ausführliche bibliographische Angaben enthält das Literaturverzeichnis. Das Register ist mit Definitionen der wichtigsten Termini versehen und dient so auch als Lexikon erzähltheoretischer Begriffe.

München und Göttingen,

Matías Martínez

im Januar 1999

Michael Scheffel

Zur neunten Auflage

Unsere Einführung hat sich erfreulicherweise als eine Art Standardwerk etabliert, das in der akademischen Lehre unterschiedlicher Fächer Verwendung findet. Zugleich hat sich die Erzähltheorie seit dem Erscheinen der ersten Auflage weiterentwickelt und bildet inzwischen in den Literatur- und Kulturwissenschaften eine eigenständige Forschungsdisziplin. Die neunte Auflage versucht, der aktuellen Entwicklung Rechnung zu tragen, ohne das offensichtlich bewährte Konzept unseres Buches grundlegend zu verändern. Wir haben den Text an einigen Stellen leicht überarbeitet und um neue Abschnitte zu den Themen ‹Figur› und ‹Raum› ergänzt. Im Übrigen wurden vor allem die Hinweise zur Forschungsliteratur aktualisiert.

Wuppertal,

Matías Martínez

im März 2012

Michael Scheffel

Zur zehnten Auflage

Für die zehnte Auflage wurden kleinere Versehen korrigiert und in gegebenem Ausmaß die Angaben zur Forschungsliteratur aktualisiert. Frau Maria Blechmann-Antweiler und Frau Gabriella Paterson danken wir für hilfreiche Verbesserungshinweise.

Wuppertal,

Matías Martínez

im Januar 2016

Michael Scheffel

Zur elften Auflage

In der elften Auflage wurden im Haupttext kleinere Korrekturen sowie eine Erweiterung in Kapitel II,5 über Unzuverlässiges Erzählen vorgenommen. Zudem wurden die Hinweise zur Forschungsliteratur aktualisiert.

Wuppertal,

Matías Martínez

im Juni 2019

Michael Scheffel

I. Merkmale fiktionalen Erzählens

1. Faktuales und fiktionales Erzählen

Wie lässt sich der Gegenstand der Erzähltheorie aus literaturwissenschaftlicher Sicht bestimmen? Der Blick in ein neueres Wörterbuch der deutschen Sprache zeigt, in wie vielen unterschiedlichen Bedeutungen und Zusammenhängen wir das Wort ‹Erzählen› in der alltäglichen Sprache benutzen:

1 ein Geschehnis, etwas Erfundenes erzählen ausführlich, auf unterhaltsame Weise in Worten weitergeben; ein Erlebnis, Geschichten, Märchen, einen Traum erzählen; den Hergang, Verlauf von etwas erzählen; (…) 1.0.1. davon kann ich etwas erzählen (fig.; umg.) darüber weiß ich Bescheid, die Sache kenne ich 1.0.2. er kann von seiner Reise etwas erzählen er hat viel dabei erlebt 1.0.3. man erzählt sich, daß … es geht das Gerücht, daß … 1.1. jmdm. etwas erzählen im Vertrauen mitteilen, sagen; ihm kann man wirklich alles erzählen; sie erzählte ihrer Freundin alles, was sie bedrückte; sie erzählten sich ihre Sorgen, Kümmernisse 2 jmdm. etwas erzählen (umg.) weismachen, vortäuschen; das kannst du anderen erzählen!; das kannst du deiner Großmutter erzählen!; erzähl mir doch keine Märchen!; mir kannst du nichts, viel erzählen! 3 (Lit) 3.1. Erzählende Dichtung, Dichtung, die in Versen oder Prosa eine abgeschlossene Begebenheit schildert, z.B. Roman, Novelle, Fabel, Märchen; Sy epische Dichtung 3.2. erzählte Zeit Zeitraum, über den sich die erzählte Handlung erstreckt; Ggs Erzählzeit [< mhd. erzeln, erzellen ‹der Zahl nach darlegen, aufzählen›;  Zahl] (Brockhaus Wahrig, Bd. 2, S. 593)

Versucht man, die Bedeutung des Wortes ‹Erzählen› im Sinne eines größten gemeinsamen Nenners seiner im Wörterbuch dokumentierten Verwendungsweisen zu ermitteln, so lässt sich aus dem zitierten Artikel etwa folgendes Vorverständnis gewinnen: Als ‹Erzählen› bezeichnet man eine Art von mündlicher oder schriftlicher Rede, in der jemand jemandem etwas Besonderes mitteilt; sieht man von einer Bedeutung im weiteren Sinne von «im Vertrauen mitteilen, sagen» (1.1.) und einigen Wendungen im übertragenen und umgangssprachlichen Sinne ab (1.0.1. und 2), so heißt eine Rede offenbar eine ‹Erzählung›, wenn diese Rede einen ihr zeitlich vorausliegenden Vorgang vergegenwärtigt, der als ‹Geschehnis› oder ‹Begebenheit› bestimmt werden kann.

Neben einer allgemein gültigen Definition des ‹Erzählens› ermöglicht es der Wörterbucheintrag aber auch, Unterschiede in der Verwendung des Wortes zu benennen, die für eine Theorie des literarischen Erzählens offenbar von Bedeutung sind. Diese Unterschiede betreffen einerseits den Realitätscharakter dessen, was erzählt wird, und andererseits die Redesituation, in der eine Erzählung erfolgt. Hier wie dort weist das Wörterbuch zwei grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten der Verwendung nach:

  1. Erzählt werden kann von realen oder erfundenen Vorgängen.

  2. Erzählt werden kann im Rahmen von alltäglicher Rede oder aber im Rahmen von dichterischer Rede.

Erzählungen lassen sich demnach mit Hilfe der Merkmalspaare ‹real vs. fiktiv› und ‹dichterisch vs. nichtdichterisch› spezifizieren, sodass vier verschiedene Kombinationen denkbar sind.

Für den Fall der nichtdichterischen Erzählung sind beide Möglichkeiten leicht nachvollziehbar und scheinen keiner weiteren Erläuterung zu bedürfen. Da ist zum einen der Normalfall der nichtdichterischen Erzählung, die den Anspruch erhebt, von realen Vorgängen zu berichten, also z.B. die im Wörterbuch genannte Erzählung von einer Reise, der Zeitungsbericht über einen Verkehrsunfall oder die Biographie einer historischen Person. Diese Form der authentischen Erzählung von historischen Ereignissen und Personen sei hier als faktuale Erzählung bezeichnet (Genette, Fiktion, S. 66). Und da ist zum anderen die nichtdichterische Erzählung erfundener Vorgänge, also die Lüge oder Täuschung, die hier als ein Sonderfall der faktualen Erzählung verstanden sei.

Von dem Normalfall der faktualen Erzählung deutlich zu unterscheiden ist z.B. die Erzählung im Rahmen eines Märchens oder einer Fabel, in denen in dichterischer Rede von eindeutig erfundenen Vorgängen berichtet wird. Wie aber ist die Erzählung in einem Roman wie etwa der Blechtrommel (1959) von Günter Grass zu werten, in dem eine offensichtlich erfundene Figur namens Oskar Matzerath die Geschichte ihres Lebens erzählt, die an historischen Orten, u.a. in Danzig, spielt und eng verflochten ist mit zahlreichen historischen Ereignissen wie z.B. der ‹Reichskristallnacht› oder der Belagerung und Eroberung der Danziger Polnischen Post im September 1939? Dass der Roman Die Blechtrommel ein Werk der «erzählenden Dichtung» darstellt, ist wohl unumstritten. Was aber bedeutet das im Hinblick auf unsere zwei Merkmalspaare? Stellt der Lebensbericht, den Oskar der Trommler in einer Heil- und Pflegeanstalt auf «unschuldigem Papier» (Blechtrommel, S. 11) niederschreibt, einen Fall von dichterischer oder nichtdichterischer Erzählung dar, und handelt etwa Oskars Geschichte vom Kampf um die Polnische Post, bei dem Oskars mutmaßlicher Erzeuger Jan Bronski getötet wird, von realen oder erfundenen Vorgängen? Berücksichtigt man, dass das zitierte Wörterbuch als Spezifikum des Erzählens in der Dichtung allein das «Schildern» einer «abgeschlossenen Begebenheit» verzeichnet, so steht hier zumindest eines fest: Mit solchen Fragen überfordern wir die Kompetenz des alltagssprachlichen Wissens und sind demnach auf Hilfe aus fachsprachlicher Sicht angewiesen.

Um die besonderen Eigenschaften und Möglichkeiten des Erzählens in der Dichtung in einem theoretischen Modell angemessen erfassen und von denen des faktualen Erzählens unterscheiden zu können, sei zunächst ermittelt, was wir gemeinhin als die Voraussetzung aller Formen von ‹Dichtung› betrachten. Werfen wir zu diesem Zweck einen kurzen Blick auf die Geschichte der Dichtungstheorie und rekapitulieren wir, mit welchen Überlegungen das abendländische Verständnis von Dichtung begründet wurde.

In seiner Poetik (4. Jh. v. Chr.) reflektiert Aristoteles die besonderen Aufgaben der Dichtung erstmals auf der Basis einer folgenreichen Unterscheidung. Nicht ihre sprachliche Form, sondern das, wovon sie spricht, zeichnet die Dichtung nach Aristoteles aus. So heißt es im berühmten 9. Kapitel der Poetik:

Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt (…); sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. (Poetik, 1451b)

Aristoteles’ systematische Differenzierung zwischen Autoren, die «das wirklich Geschehene» erzählen, und solchen, die erzählen, «was geschehen könnte», ist das Ergebnis eines über mehrere Jahrhunderte reichenden kulturhistorischen Prozesses, in dessen Folge man eine Welt des Glaubens und der Dichtung von einer Welt der Wirklichkeit unterschied und für fiktiv erklärte. Diesem Prozess entsprechen zwei gegensätzliche Beurteilungen des Geschäftes der Dichter. Innerhalb der abendländischen Kultur lässt sich ihr Einfluss bis in die Gegenwart hinein beobachten. Auf der einen Seite steht der auf Platon zurückgehende Vorwurf, dass Dichtung nichts als Täuschung und insofern überflüssig, wenn nicht gar schädlich sei – konsequenterweise wollte Platon die Dichtung aus dem in seiner Schrift Der Staat (Politeia, um 370 v. Chr.) entworfenen Idealstaat ausschließen (s. 2., 3. u. 10. Buch, bes. 398a u. 595a-607b). Auf der anderen Seite gibt es die erstmals von Aristoteles vertretene These, dass die Dichtung nützlich und notwendig sei: Sie kultiviere den Trieb zur Nachahmung – den Aristoteles als einen Urtrieb des Menschen ansieht (Poetik, 1448b) –, und sie sei «etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung», weil sie nicht, wie der Geschichtsschreiber, «das Besondere» (also diesen oder jenen kontingenten historischen Einzelfall), sondern «mehr das Allgemeine» mitteile, indem ihre Geschichten «nach der Wahrscheinlichkeit» und «nach der Notwendigkeit» gebaut seien und damit allgemeine Prinzipien menschlichen Handelns zu erkennen erlaubten (Poetik, 1451b).

Die Frage nach dem Wert der Dichtung, die, wie man wiederholt behauptet hat, zwar nichts Wirkliches darstelle, wohl aber eine besondere ‹Wahrheit› kundtue, wollen wir hier nicht weiter untersuchen. Für unsere Zwecke sei allein das Verhältnis von ‹Dichten› und ‹Lügen› näher betrachtet und verfolgt, mit welchen Argumenten sich die Dichter gegen den Vorwurf der Lüge verteidigt haben. Schon die griechischen Dichter haben diesem Vorwurf den Boden zu entziehen versucht, indem sie den Fiktionscharakter ihrer Werke in diesen selbst offen eingestanden. So beginnt z.B. Lukian das erste Buch seiner Wahren Geschichten (um 180 n. Chr.) mit einer Vorrede, in der er sich wie folgt von den Erzählungen seiner Kollegen abzugrenzen versucht:

Da ich nun der Eitelkeit nicht widerstehen kann, der Nachwelt auch ein Werkchen von meiner Fasson zu hinterlassen, und wiewohl ich nichts wahres zu erzählen habe, (denn mir ist in meinem Leben nichts denkwürdiges begegnet) nicht sehe warum ich nicht eben so viel Recht zum Fabeln haben sollte als ein andrer: so habe ich mich wenigstens zu einer ehrenfestern Art zu lügen entschlossen als die meiner Herrn Mitbrüder ist; denn ich sage doch wenigstens Eine Wahrheit, indem ich sage daß ich lüge; und hoffe also um so getroster, wegen alles übrigen unangefochten zu bleiben, da mein eignes freywilliges Geständniß ein hinlänglicher Beweis ist, daß ich niemanden zu hintergehen verlange. Ich urkunde also hiemit, daß ich mich hinsetze um Dinge zu erzählen, die mir nicht begegnet sind; Dinge, die ich weder selbst gesehen noch von andern gehört habe, ja, was noch mehr ist, die nicht nur nicht sind, sondern auch nie seyn werden, weil sie – mit Einem Worte – gar nicht möglich sind, und denen also meine Leser (wenn ich anders welche bekommen sollte) nicht den geringsten Glauben beyzumessen haben. (S. 88 f.)

Aristoteles’ Bestimmung der Tätigkeit des Dichters ist hier deutlich radikalisiert. Nach Lukian lügen alle Dichter, denn sie erzählen von etwas, das nicht ist und nie sein wird. Mit dem Geständnis, die folgende «wahre Geschichte» frei erfunden zu haben, spricht Lukian sich selbst jedoch davon frei, seine Leser täuschen zu wollen.

Dass das Geschäft der Dichter mit dem Begriff der Lüge grundsätzlich nicht zu erfassen sei, diese – im Vergleich zu Lukian – zugespitzte und vom Einzelfall ins Allgemeine gewendete These wird dann viele Jahrhunderte später von dem englischen Dichter Sir Philip Sidney vertreten. Scharfsinnig schlägt dieser in seiner Defence of Poesy (1595) den Vertretern des Täuschungsvorwurfs die Argumente aus der Hand, indem er sich, anders als Aristoteles, weniger auf den Inhalt als auf den besonderen Status der Rede des Dichters beruft:

(…) I think truly, that of all writers under the sun the Poet is the least liar, and though he would, as a poet can scarcely be a liar. (…) the Poet, he nothing affirms, and therefore never lieth. For, as I take it, to lie, is to affirme that to be true, which is false. So as the other artists, and especially the historian, affirming many things, can, in the cloudy knowledge of mankind, hardly escape from many lies. But the Poet (as I said before) never affirmeth, the Poet never maketh any circles about your imagination, to conjure you to believe for true what he writes: he citeth not authorities of other histories, but even for his entry, calleth the sweete Muses to inspire into him a good invention; In truth, not labouring to tell you what is or is not, but what should or should not be. And therefore, though he recount things not true, yet because he telleth them not for true, he lieth not (…). (Defence, S. 52 f.)

Unter allen möglichen Verfassern von Texten, so Sidneys vielzitierte These, lügen die Dichter am allerwenigsten, weil sie – im Gegensatz zu den Geschichtsschreibern – in ihren Werken erklärtermaßen nichts behaupten, sondern von mehr oder minder frei erfundenen Gegenständen handeln. Der Dichter erzählt von etwas, das nicht ist (aber sein oder nicht sein sollte); sein Geschäft ist das Erfinden, nicht aber das Lügen oder Täuschen. Mit modernen Worten: Die Werke der Dichter sind fiktional in dem Sinne, dass sie grundsätzlich keinen Anspruch auf unmittelbare Referenzialisierbarkeit, d.h. Verwurzelung in einem empirisch-wirklichen Geschehen erheben; wovon sie handeln, das ist – mehr oder minder – fiktiv, aber nicht fingiert. (Wir unterscheiden die verwandten Begriffe ‹fingiert›, ‹fiktional› und ‹fiktiv› folgendermaßen: Fingieren verwenden wir im Sinne von ‹[vor]täuschen›. Fiktional steht im Gegensatz zu ‹faktual› bzw. ‹authentisch› und bezeichnet den pragmatischen Status einer Rede. Fiktiv steht im Gegensatz zu ‹real› und bezeichnet den ontologischen Status des in dieser Rede Ausgesagten.)

Sidneys These, dass Dichtung die Rede eines Dichters und die Rede des Dichters in der Dichtung eine besondere, nämlich nicht-behauptende Rede ohne unmittelbare Referenz in der Wirklichkeit sei, haben neuzeitliche Theoretiker in verschiedenen Kontexten aufgegriffen und ihre Implikationen auf der Grundlage aussagentheoretischer, semantischer und pragmatischer Ansätze begrifflich differenzierter zu formulieren versucht. In diesem Zusammenhang hat man auch den alten aristotelischen Gedanken, dass das in der Dichtung Dargestellte ‹fiktiv› und die Dichtung selbst ‹Nachahmung› von Handlungen sei, neu interpretiert. So hat z.B. die amerikanische Literaturtheoretikerin Barbara Herrnstein Smith die vielbeachtete These aufgestellt, dass Dichtung in erster Linie nicht Nachahmung (d.h. Mimesis) von Welt, sondern von Rede darstelle. «The essential fictiveness of novels», schreibt Smith,

is not to be discovered in the unreality of the characters, objects, and events alluded to, but in the unreality of the alludings themselves. In other words, in a novel or tale, it is the act of reporting events, the act of describing persons and referring to places, that is fictive. The novel represents the verbal action of a man reporting, describing, and referring. (Smith, Margins, S. 29)

Dichtung wäre demnach als die Fiktion einer sprachlichen Äußerung anzusehen, d.h. als Repräsentation einer Rede ohne empirischen Objektbezug und ohne Verankerung in einem realen Situationskontext. Am Beispiel der Blechtrommel verdeutlicht, hieße das zweierlei: zum einen, dass der reale Autor Günter Grass in seinem Roman nicht spricht (und hier schon deshalb weder der Lüge noch irgendwelcher falscher Behauptungen bezichtigt werden kann); zum anderen, dass Oskars mit dem Satz «Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt (…)» (S. 9) beginnende Erzählung als eine Rede zu verstehen ist, die niemand je geäußert hat und die sich auf keine außersprachliche Wirklichkeit bezieht. Eine solche Sichtweise scheint einleuchtend, erfasst jedoch nur die halbe Wahrheit, denn sie unterschlägt, was ganz offensichtlich zur adäquaten Rezeption nicht nur dieses Romans, sondern von Dichtung überhaupt gehört: Soll sie ihre Wirkung entfalten können, müssen wir ihre Rede als die authentische (wenn auch fiktive) Rede eines bestimmten (wenn auch fiktiven) Sprechers verstehen, die nicht auf nichts, sondern auf bestimmte (wenn auch z. T. fiktive) Dinge referiert. In diesem Sinne bedeutet etwa die klassische Eingangsformel ‹Es war einmal› am Beginn eines Märchens wie «Es war einmal ein Müller, der war arm, aber er hatte eine schöne Tochter» für uns als Rezipienten eben nicht nur ‹Glauben Sie nichts von dem, was Sie im Folgenden hören bzw. lesen›, sondern immer auch so viel wie die Aufforderung: ‹Stellen Sie sich bitte vor, dass einmal ein Müller war, etc.› Wer die Sätze der Blechtrommel als die Erinnerungen einer realen Person versteht, nach Oskars Geburtshaus in einer Straße mit dem historischen Namen Labesweg in Danzig sucht und Oskars Erzählung als Ganzes oder auch nur in Teilen (wie z.B. die Geschichte von der vergeblichen Verteidigung der Polnischen Post) auf ihre historische Wahrhaftigkeit hin überprüft, verwechselt die Geschäftsgrundlage und liest einen Roman nach den pragmatischen Regeln einer realen Autobiographie. Wer sich aber in keinerlei Hinsicht die Existenz eines Trommlers namens Oskar und die Echtheit seiner Erzählung vorstellt, kommt nicht ins Spiel und bringt sich selbst um sein Lesevergnügen.

Bevor wir nun darauf zu sprechen kommen, welche Konsequenzen die dargelegten Spezifika fiktionaler Rede für eine literaturwissenschaftliche Theorie des Erzählens haben, sei noch eine letzte wichtige Frage geklärt: Wie erkennt man, dass eine Rede in dem oben skizzierten Sinne rezipiert werden soll?

Sidneys These, dass die Rede des Dichters in der Dichtung eine besondere Form von Rede sei, hat unterdessen auch insofern eine Spezifizierung erfahren, als der Begriff der literarischen Fiktion (samt seiner Ableitungen) heute gemeinhin als ein relativer oder auch relationaler verstanden wird (z.B. Gabriel, Fiktion, bes.S. 30). Fiktional ist ein Text demnach nicht an und für sich, sondern in einem bestimmten historischen und sozialen Kontext, d.h. er ist fiktional für ein Individuum, eine Gruppe, eine Gesellschaft, in einer bestimmten Situation, in einer bestimmten Epoche. Erst als einem pragmatisch als fiktional bestimmten und rezipierten Text kommen ihm die Eigenschaften zu, die bereits Sidney im Ansatz ermittelte und deren Implikationen unterdessen präziser formuliert worden sind. Damit eine Rede als fiktional aufgefasst wird, bedarf sie der Kontextmarkierung. Mögen die Fiktionssignale im Einzelfall auch unterschiedlich sein, so ist die Existenz metakommunikativer, für den Rezipienten erkennbarer Signale, «welche das normale Wirken der Regeln, die illokutionäre Akte und die Welt zueinander in Beziehung setzen, aufheben» (Searle, Status, S. 88), für das Spiel der Fiktion doch unerlässlich. Ihre Existenz allein begründet, warum im Fall der fiktionalen Rede anders als im Fall der Lüge von einem Sprachspiel nach besonderen Regeln (statt von einem bloßen Regelverstoß) gesprochen werden kann.[1]

Eine radikal relativistische Position in dem Sinne, dass «es keine Eigenschaft des Texts» gibt, «die einen Diskurs als fiktionales Werk ausweist» (Searle, Status, S. 90), erscheint uns jedoch übertrieben. Über eine jeweils situationsspezifische Kontextmarkierung hinaus (z.B. ganz schlicht durch bestimmte konventionelle Signale paratextueller und kontextueller Art, wie z.B. das Wort ‹Roman›, ‹Drama› oder ‹Novelle› im Untertitel oder die Publikation eines Textes in einer bestimmten Verlagsreihe) gibt es durchaus – in einem vielleicht nicht absolut gültigen, aber doch viele Epochen und Nationalliteraturen übergreifenden Zusammenhang – Textsignale, die die Rezeption eines Textes als fiktional wenn nicht erzwingen, so doch jedenfalls nahelegen. An erster Stelle anzuführen sind hier bestimmte Eingangsformeln (‹Es war einmal› u.ä.) oder auch Textschlüsse (‹Und wenn sie nicht gestorben sind …›; das Wort ‹Ende› am Schluss u.ä.), die es, jedenfalls innerhalb der abendländischen Kulturtradition, nahelegen, einen bestimmten Text als fiktional zu rezipieren. Zu nennen wären außerdem textinterne Merkmale, die in systematischer Form erstmals Käte Hamburger in ihrer Logik der Dichtung (S. 65 ff.) vorgestellt hat. Anders als der reale Sprecher einer faktualen Rede ist das fiktive Aussagesubjekt der fiktionalen Rede als eine nicht-empirische Person nicht an ‹natürliche› Beschränkungen menschlicher Rede gebunden. So gehören zu den textinternen Fiktionssignalen die Anwendung von Verben innerer Vorgänge auf dritte Personen (‹sie fühlte, dass er kommen würde›) sowie eine Erweiterung des Tempussystems der Sprache, zu der z.B. die Kombination von Zeitadverbien, die auf die Zukunft verweisen, mit Verben in der Zeitform des Präteritums gehört (‹morgen war Weihnachten, und sie hatte immer noch kein Geschenk›).

Schließlich kann die fiktionale Rede – und das wird in den entsprechenden Auflistungen von Fiktionssignalen zumeist übersehen – noch auf eine weitere Weise auf ihre Besonderheit aufmerksam machen: Indem sie nämlich durch verschiedene Formen der Selbstreflexion ihren besonderen Status in Form und Inhalt reflektiert und sowohl die Grundlagen ihrer Produktion explizit macht als auch Anweisungen für ihre Rezeption enthält. Für die Literatur im (post)modernen «Zeitalter der Simulation» (Baudrillard, Agonie, z.B. S. 15), in dem Realität und Fiktion angeblich nur noch als «Legierung» vorkommen (Marquard, Kunst, S. 82), hat diese von Autoren fast aller Epochen in jeweils zeitspezifischer Form genutzte Technik der Metafiktion besondere Bedeutung gewonnen (s. Scheffel, Formen).

Eine Erzählung stellt eine Form der Rede dar, dank derer jemand jemandem ein Geschehen vergegenwärtigt – dieses Vorverständnis vom Gegenstand einer Theorie des Erzählens hatten wir mit Hilfe eines Wörterbuchs der deutschen Sprache formuliert. Wir wollen nun dieses Vorverständnis mit Bezug auf die Besonderheit des fiktionalen Erzählens präzisieren.

Faktuale Texte sind Teil einer realen Kommunikation, in der das reale Schreiben eines realen Autors einen Text produziert, der aus Sätzen besteht, die von einem realen Leser gelesen und als tatsächliche Behauptungen des Autors verstanden werden. Fiktionale Texte sind ebenfalls Teil einer realen Kommunikationssituation, in der ein realer Autor Sätze produziert, die von einem realen Leser gelesen werden. Fiktionale Texte sind jedoch komplexer als faktuale, weil sie außer der realen auch noch einer zweiten, imaginären Kommunikationssituation angehören. Die fiktionale Erzählung richtet sich sowohl im imaginären als auch im realen Kontext an einen Leser und stellt daher eine «kommunizierte Kommunikation» dar (Janik, Kommunikationsstruktur, S. 12). Wie wir oben gesehen haben, traf bereits vor vier Jahrhunderten Sir Philip Sidney die Feststellung, dass der Autor eines fiktionalen Textes nicht für den Wahrheitsgehalt der in seinem Text aufgestellten Behauptungen verantwortlich gemacht werden kann, weil er diese zwar produziert, aber nicht behauptet – vielmehr ist es der fiktive Erzähler, der diese Sätze mit Wahrheitsanspruch behauptet. Die reale Kommunikation zwischen Autor und Leser ist hier nur indirekt und ähnelt dem Zitieren der Rede eines anderen. Denn auch beim Zitieren übermittelt man dem Leser Sätze, die jemand anders behauptet hat, die aber nun, im Akt des Zitierens, ohne behauptende Kraft weitergegeben werden. Der Autor produziert also Sätze, die zwar real, aber inauthentisch sind – denn sie sind nicht als Behauptungen des Autors zu verstehen. Dem fiktiven Erzähler hingegen sind dieselben Sätze als authentische Sätze zuzuschreiben, die aber imaginär sind – denn sie werden vom Erzähler behauptet, jedoch nur im Rahmen einer imaginären Kommunikationssituation. Durch das reale Schreiben eines realen Autors entsteht so ein Text, dessen imaginär authentische Sätze eine imaginäre Objektivität schaffen, die eine fiktive Kommunikationssituation, ein fiktives Erzählen und eine fiktive erzählte Geschichte umfasst. Die fiktionale Erzählung ist zugleich Teil einer realen wie einer imaginären Kommunikation und besteht deshalb je nach Sichtweise aus real-inauthentischen oder aus imaginär-authentischen Sätzen.

Aus der doppelten Kommunikationssituation der fiktionalen Rede ergeben sich zwei Konsequenzen:

1. In einer (wahren) faktualen Erzählung lässt sich das Verhältnis zwischen dem Erzählen und dem Geschehen, von dem erzählt wird, im Sinne einer zeitlichen Folge verstehen: Einer Reihe von Ereignissen (z.B. Caesars Feldzug in Gallien) folgt das Erzählen dieser Ereignisse (Caesars Niederschrift der Commentarii de bello Gallico) und, als Produkt des Erzählens, die Erzählung, die als Text, Tonbandaufzeichnung o.ä. den Vorgang des Erzählens überdauern und in das kulturelle Gedächtnis eingehen kann (die – ohne die Fortsetzung von Aulus Hirtius – sieben Bücher von De bello Gallico). Wie wir gesehen haben, gehört zur adäquaten Rezeption von fiktionaler Dichtung, dass wir sie als die reale (wenn auch fiktive) Rede eines bestimmten (wenn auch fiktiven) Sprechers verstehen, die nicht auf nichts, sondern auf bestimmte (wenn auch in der Regel fiktive) Dinge und Sachverhalte referiert. Erzähltes und Erzählen erscheint hier nur von einem fiktionsexternen Standpunkt aus als Funktion der Erzählung, während die zeitliche Folge von erzählten Ereignissen, Erzählen und Erzählung, an die das faktuale Erzählen gebunden ist, fiktionsintern Gültigkeit besitzt. Wie für das faktuale Erzählen gilt im Idealfall auch im Rahmen der durch die imaginär-authentischen Sätze entworfenen imaginären Kommunikationssituation, dass hier von einem Erzähler in einer Erzählrede einem Hörer/Leser von Ereignissen erzählt wird, die der aktuellen Erzählsituation normalerweise zeitlich vorausliegen und die von dem Erzählakt, der sie hervorbringt, logisch zu unterscheiden sind.[2] Die Fiktion, dass die erzählte Geschichte dem Erzählen zeitlich vorausliegt, gilt bezeichnenderweise auch für Geschichten, die – von einem fiktionsexternen Standpunkt aus gesehen – in der Zukunft spielen (Geschichten in der Form zukunftsgewisser Vorausdeutungen ausgenommen, s.u. S. 39 f.). Auch erzählte Utopien sind im Präteritum verfasst.

2. Mit dem Entwurf einer imaginären Kommunikationssituation entsteht – im Unterschied zur faktualen Erzählung, deren Sätze unmittelbar an einen realen Sprecher und eine reale Sprechsituation gebunden sind – durch den Wegfall jeder unmittelbaren Einbindung in einen realen raum-zeitlichen Zusammenhang ein Freiraum, dessen Ausgestaltung im Wesentlichen der Imagination des Autors überlassen bleibt. Dieser Freiraum betrifft grundsätzlich alle Teile der Erzählung. Sowohl die für die ‹Vertextung› der Geschichte grundlegenden Aspekte der Erzählung (die Sprache, in der erzählt wird, der Standpunkt und die Perspektive des Erzählens, die Gestaltung des Verhältnisses von Erzähler und Leser usw.) als auch das Erzählte (das Realitätssystem der erzählten Welt, die Handlung, die Figuren usw.) lassen sich nach Regeln formen, die nur bedingt vorgegeben sind.[3] Zu diesem Freiraum gehört, dass die Sätze der fiktionalen Erzählrede die Illusion einer faktualen Erzählung fördern (z.B. im realistischen Roman), mehr oder minder konsequent verletzen (z.B. in bestimmten Erzähltexten der Romantik) oder aber nahezu vollkommen aufheben (z.B. im französischen nouveau roman und in Texten der sogenannten Postmoderne) können. Schon deshalb erfordert ein Beschreibungsmodell des fiktionalen Erzählens neben einer Theorie des Erzählens immer auch eine Theorie der Fiktionalität.

2. Das Erzählen und das Erzählte

Wir wenden uns nun dem fundamentalen Gegensatz zwischen dem ‹Wie› und dem ‹Was› von Erzählungen zu und unterscheiden zwischen dem erzählerischen Medium mitsamt den jeweils verwendeten Verfahren der Präsentation einerseits und dem Erzählten (die Geschichte, die erzählte Welt) andererseits. Beim Lesen eines narrativen Textes können wir eine bestimmte Einstellung gegenüber dem Text einnehmen, in der wir von den Worten, dem Stil oder den Erzählverfahren absehen, mit denen uns die Geschichte vermittelt wird. Die Umstände der Vermittlung treten dann in der Wahrnehmung zurück zugunsten der erzählten Welt, die der Text beschreibt. In dieser Einstellung identifizieren wir uns mit bestimmten Figuren und nehmen Anteil an ihrem Schicksal, wir erklären und beurteilen ihr Verhalten nach Maßstäben unserer lebensweltlichen Praxis. Wenn und solange wir eine solche Lesehaltung einnehmen, konzentrieren wir uns auf das, was uns erzählt wird, und blenden die Art und Weise, wie die Geschichte vermittelt wird, aus dem Bereich unserer Aufmerksamkeit aus.

Aber ist denn im Falle fiktionaler Texte eine solche Unterscheidung zwischen dem Inhalt und seiner Darstellung sinnvoll? Verwechseln wir sie dann nicht mit faktualen Texten, die auf reale Ereignisse referieren? In welchem Sinne lässt sich in fiktionalen Texten das dargestellte ‹Was› – das außerhalb der Erzählung per definitionem keinen Bestand hat – vom ‹Wie› seiner Darstellung abtrennen? Anders als bei faktualen Berichten haben wir ja bei fiktionalen Werken nur über den Text selbst Zugang zur erzählten Welt. Wenn wir etwas über Goethes Protagonisten Werther wissen wollen, können wir uns nur an das halten, was in den Leiden des jungen Werthers (1774) geschrieben steht. Über den Braunschweiger Legationssekretär Carl Wilhelm Jerusalem hingegen, dessen Suizid Goethe in seinem Briefroman verarbeitete, können wir uns auf ganz verschiedenen Wegen (etwa durch Aufzeichnungen, Zeugenberichte, Geburts- und Todesurkunden) informieren. Der Inhalt eines fiktionalen Textes ist uns eben nur in der Form seiner abgeschlossenen, andere Zugänge ausschließenden literarischen Vermittlung gegeben. Zudem wird ja auch unsere Leseerfahrung entscheidend von der Präsentationsweise beeinflusst. Goethes Entscheidung, Werthers Schicksal nicht im distanzierten Bericht eines ironischen allwissenden Erzählers, sondern in der identifikationsfördernden Ich-Perspektive der Briefform zu gestalten, dürfte großen Anteil am ‹Werther-Fieber› der zeitgenössischen Leser gehabt haben, von denen manche bekanntlich ihren Helden bis in den Suizid hinein nachahmten.

Dennoch: Dass wir die erzählte Welt fiktionaler Werke nur aufgrund von Informationen, die in den Sätzen des Textes gegeben werden, konstruieren können, und dass die ästhetisch-emotionale Wirkung des Werkes von Eigenschaften der Vermittlung beeinflusst wird, ändert nichts daran, dass die erzählte Geschichte und ihre Welt von der Art und Weise ihrer Darstellung zu unterscheiden sind. Die Geschichte von Werthers Leiden könnte auch in Form eines inneren Monologes, durch die Rede eines auktorialen Erzählers usw. dargestellt werden. Franz Kafkas Roman Das Schloß (1922) beginnt in der ersten Fassung mit dem Satz: «Es war spät abend als ich ankam»; in der zweiten Fassung ersetzte Kafka die Ich-Erzählform durch die Er-Erzählform, sodass der Anfangssatz nun heißt: «Es war spät abend als K. ankam» (s. Kafka, Schloß/Apparatband, S. 120). Die erzähllogischen Implikationen und ästhetischen Wirkungen dieser Erzählformen sind sehr verschieden. Doch in beiden Sätzen erhalten wir dieselbe Information über eine Tatsache der erzählten Welt: Es wird uns mitgeteilt, dass es spät abends war, als der Protagonist ankam. Eine Geschichte, die wir als dieselbe Geschichte wiedererkennen, kann auf unzählige verschiedene Weisen präsentiert werden.

Wenn wir zwischen der Darstellung und dem dargestellten Inhalt narrativer Texte unterscheiden, wollen wir damit nicht auch behaupten, dass der Leser fiktionaler Texte vom Fiktionscharakter des jeweiligen Textes absieht und für die Dauer der Lektüre der Täuschung unterliegt, das Erzählte sei tatsächlich geschehen. Das Problem der ästhetischen Illusionsbildung, das damit berührt ist, hat im Laufe der Jahrhunderte viele Theorien hervorgerufen, die sich nicht erst in der Erklärung, sondern bereits in der Beschreibung des Phänomens sehr voneinander unterscheiden. So wurde die Meinung vertreten, der Leser müsse sich in die erzählte Welt imaginativ hineinversetzen und das Erzählte vorübergehend für real annehmen, um den Text überhaupt verstehen zu können. In diesem Sinne erklärt der französische Kritiker Nicolas Boileau in seinem einflussreichen L’Art Poétique (1674): «Den Verstand beschäftigt nichts, was er nicht glaubt» (III, V. 50). Andere Autoren hingegen halten die Annahme, der Fiktionscharakter werde im Akt der Lektüre zeitweise ausgeblendet, für eine falsche, fiktionale mit faktualen Texten verwechselnde Beschreibung; die ästhetische Erfahrung fiktionaler Literatur beruhe vielmehr gerade darauf, dass der Leser sich des fiktiven Status der erzählten Welt stets bewusst sei. Diese Auffassung findet sich implizit etwa bei Aristoteles, wenn er das Vergnügen an der Dichtkunst darin begründet sieht, dass wir dort Nachahmungen von Dingen, keineswegs aber diesen Dingen selbst begegnen: «Denn von Dingen, die wir in der Wirklichkeit nur ungern erblicken, sehen wir mit Freude möglichst getreue Abbildungen, z.B. Darstellungen von äußerst unansehnlichen Tieren und von Leichen» (Poetik, 1448b). Wieder andere versuchen, beide Einstellungen zu verbinden, indem sie, wie Roman Ingarden, von einem «Schillern des in die Welt Versetztseins und doch nur irgendwo im Schweben Bleibens und in der Realität nicht wirklich Fußfassenkönnens» (Kunstwerk, S. 178) oder, wie Wolfgang Iser, von einer «Dialektik von Illusionsbildung und Illusionsdurchbrechung» (Akt, S. 208) sprechen.

Eine befriedigende Antwort auf die Frage nach der psychischen Distanz des Lesers zu fiktiven Welten hat die Literaturwissenschaft bislang nicht gegeben. Vielleicht ist sie auch mit Bezug auf bestimmte Textsorten, Epochen und Rezipientengruppen unterschiedlich zu beantworten. Wie dem auch sei: Fiktionale Behauptungssätze enthalten eine Referenz auf Tatsachen der durch sie erzählten Welt, unabhängig davon, ob der Leser diese zeitweise für Gegebenheiten seiner objektiven Wirklichkeit nimmt oder nicht. Wenn wir zwischen der Art und Weise der Vermittlung und dem vermittelten Inhalt unterscheiden, so meinen wir mit der Rede vom vermittelten Inhalt die ‹Realität› der erzählten Welt – unabhängig von der Frage, ob der Leser glaubt, dass diesem Inhalt Tatsachen in der Wirklichkeit entsprechen. Die Unterscheidung zwischen Vermittlung und Inhalt ermöglicht und legitimiert die Analyse der dargestellten Handlung und der Welt, in der sie stattfindet, als eigenständiger Bedeutungsschicht von Erzähltexten mit spezifischen Elementen und Strukturen.

Die Unterscheidung zwischen dem ‹Was› und dem ‹Wie› eines Erzähltextes wird häufig mit dem im Russischen Formalismus formulierten Gegensatz von ‹fabula› und ‹sjužet› in Zusammenhang gebracht. In seiner Theorie der Literatur (1925) bestimmte Boris Tomaševskij ‹fabula› als «die Gesamtheit der Motive in ihrer logischen, kausaltemporalen Verknüpfung» und ‹sjužet› als «die Gesamtheit derselben Motive in derjenigen Reihenfolge und Verknüpfung, in der sie im Werk vorliegen» (S. 218). In den sechziger Jahren griff der strukturalistische Erzähltheoretiker Tzvetan Todorov in Frankreich das Begriffspaar der Formalisten auf und übersetzte es mit ‹histoire vs. discours›. Durch diese Namengebung verknüpfte Todorov die formalistischen Begriffe mit einer Unterscheidung des französischen Linguisten Émile Benveniste, der damit den im Tempussystem der französischen Sprache aufweisbaren Gegensatz zwischen Formen des Erzählens ohne (‹histoire›) und mit (‹discours›) deutlich hervortretender Sprecherinstanz beschrieben hatte (Benveniste, Relations, bes.S. 238–242). In Todorovs Definition evoziert die in einem Text erzählte Geschichte (‹histoire›)

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