Der finale Notausgang


Suizid im Showgeschäft. 28 bewegende Biografien

von Karsten Weyershausen

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Die edition kopfkiosk wird gestaltet und herausgegeben von Andreas Reiffer | Bd. 01 1. Auflage 2020 © Verlag Andreas Reiffer

ISBN 978-3-945715-00-0, Verlag Andreas Reiffer, Hauptstr. 16 b, D-38527 Meine, www.verlag-reiffer.de




»Das Mutigste, dass ich je getan habe, war weiterzuleben, obwohl ich eigentlich sterben wollte.«
Juliette Lewis


Vorwort


»Wenn sich Menschen umbringen, glauben sie damit ihren Schmerz zu beenden. Dabei hinterlassen sie ihn nur jenen, die zurückbleiben.«
Jeannette Walls

»Tut mir leid, aber ich halte es nicht länger aus.« Das waren die Worte, die meine Großmutter auf einen Zettel schrieb, bevor sie eines schönen Vormittags in den Keller ging, um sich dort an einer Wäscheleine zu erhängen. Sie war damals dreiundsiebzig Jahre alt. Es war ein traumatisches Ereignis: An diesem Tag sah ich meinen Vater zum ersten Mal in meinem Leben weinen. Davor hatte ich mir über den Tod nie Gedanken gemacht, doch nun war er mit brachialer Gewalt in meine kleine Welt eingedrungen. Es sollte nicht das letzte Mal sein.
»Keinem fehlt je ein guter Grund sich zu töten«, schrieb der italienische Schriftsteller Cesare Pavese hellsichtig. Er selbst starb 1956, nachdem er sechzehn Packungen Schlaftabletten geschluckt hatte. Besonders für die Angehörigen ist so etwas schlimm, denn neben der Trauerarbeit haben sie meist mit Schuldgefühlen zu kämpfen. Dazu kommt der Makel, der dem Freitod noch immer anhaftet. Während man im Fernen Osten im Suizid sogar etwas Ehrenhaftes sieht, ist er bei uns verpönt. Man spricht nicht darüber. Schuld daran ist wohl die Kirche. Schließlich bestimmte Thomas von Aquin bereits im Jahre 693 auf dem Konzil in Toledo, alle, die einen Selbstmordversuch unternehmen, zu exkommunizieren. Auch heute ist das Thema ein Tabu.
Nicht wenige Angehörige zogen es daher vor, den Suizid eines Familienmitglieds zu verschleiern. Die Verwandten des Bestsellerautors Ross Lockridge jr. (»Im Land des Regenbaums«, 1948) wollten seinen vier Kindern seinen Freitod vorenthalten und ließen daher einen Staubsaugerschlauch verschwinden, mit dem der Schriftsteller die Abgase seines Autos ins Wageninnere geleitet hatte – doch der Gerichtsmediziner ließ sich nicht täuschen. Oft dauert es allerdings lange, bis solche Erkenntnisse ans Tageslicht gelangen.
In vielen Fällen sind die Umstände eines Todes undurchsichtig. Marlene Dietrich beispielsweise starb im Mai 1992 offiziell an Herz- und Nierenversagen. Die langjährige Sekretärin der Diva, Norma Bosquet, behauptete 2001 jedoch, dass sich die Dietrich wahrscheinlich mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben genommen haben soll, nachdem sie zwei Tage zuvor einen Schlaganfall erlitten hatte. Bosquet: »Sie wollte die Umsiedlung in ein Altersheim verhindern.« Wahr oder unwahr?
Die Fragen, die ein Suizid aufwirft, sind fast immer unbequem. Einige Tageszeitungen und Nachrichtenmagazine berichten erst gar nicht über Selbstmorde, um Nachahmungstaten zu vermeiden. Man spricht hier vom »Werther-Effekt«, denn Goethes Roman »Die Leiden des jungen Werther« soll nach der Veröffentlichung bei Jugendlichen zu einer Welle von Selbsttötungen geführt haben.
Interessanterweise befindet sich gerade unter den Künstlern eine Vielzahl potentieller Kandidaten. Selbstzweifel und Depressionen gehören bei ihnen zum Tagesgeschäft. Geschäftsleute und Sportler sind in dieser Hinsicht offenbar weniger gefährdet.
Besonders in Hollywood hat der Freitod eine traurige Tradition. Angefangen hat es mit der Schauspielerin Peg Entwistle, die sich nach einem Karriereknick im September 1932 spektakulär vom fünfzehn Meter hohen Hollywood-Schriftzug in den Tod stürzte. Ein Ende mit Symbolcharakter.
Auch die aktuelle Fassung des Filmklassikers »A Star is Born« variiert die mittlerweile klassische Story eines abgehalfterten Stars, der edelmütig in den Tod geht, um seiner jungen Geliebten, die im Begriff ist Karriere zu machen, nicht im Weg zu stehen. Allein die Tatsache, dass der Stoff mittlerweile zum vierten Mal verfilmt wurde, spricht Bände. Wenn sich erste Falten in die Gesichter der Stars graben oder sich der Publikumsgeschmack wandelt, ist es vom Film-Olymp zur Gosse oft nur ein Katzensprung. »Daher ist das vorherrschende Gefühl in Hollywood Angst«, so Regisseur John Landis.
Das Standardwerk in Sachen Hollywood-Selbstmorde war lange Zeit Kenneth Angers zweibändige Skandalchronik »Hollywood Babylon«, in der er mit ätzendem Witz über fast vergessene Stars und deren Ende herzog. Besonders schlimm traf es die mexikanische Schönheit Lupe Vélez, die nach einer Überdosis Schlaftabletten angeblich mit dem Kopf in der Kloschüssel ihr Leben aushauchte. Das klang so bizarr, dass selbst Pulitzer-Preisträger Michael Chabon in seinem Roman »Wonder Boys« darauf einging – auch wenn Experten wie Filmhistoriker Kevin Brownlow mehrfach anprangerten, dass Angers Recherchemethoden offenbar hauptsächlich auf Telepathie zu beruhen schienen.
Wie alle Tabus scheint uns der Freitod zu faszinieren. Vor allem, wenn es die Schönen und Berühmten sind, die sich auf solch drastische Weise verabschieden. Was treibt einen Menschen dazu? Selbst wenn ein Abschiedsbrief vorliegt, kann man die Gründe oft nur schwer nachvollziehen.
Die Menschen in diesem Buch waren alle einmal berühmt. Viele sind heute, außer vielleicht bei Fans, vergessen. Was an sie erinnert, sind gelegentliche Wiederholungen im Fernsehen, vergilbte Filmplakate, etliche Kilometer brüchigen Zelluloids. Geordnet sind sie nach dem Zeitpunkt ihres Ablebens.


Max Linder

Chaplins Lehrmeister

Als Maud Linder sechzehn Monate alt war, beschlossen ihre Eltern mit einem Selbstmordpakt beider Leben zu beenden. Ihr Vater, der Stummfilmkomiker Max Linder, war zu diesem Zeitpunkt einer der berühmtesten Männer der Welt – doch als Maud volljährig war, erinnerte bereits nichts mehr an ihn. Die junge Frau machte es sich daher zum Ziel, die verschollenen Filme ihres Vaters aufzuspüren und zu restaurieren. Über das legendenumwobene Ende ihrer Eltern sprach sie ungern. Ihr 1983 in Cannes uraufgeführter Dokumentarfilm »Der Mann mit dem Seidenhut« schloss mit den Worten: »Es gab für diese Tragödie keine Erklärung. Und ich habe nie versucht, eine zu finden.«
Bereits mit siebzehn hatte Gabriel-Maximilien Leuvielle, der Sohn eines wohlhabenden Weinbauern aus Cavernes, die Schule verlassen, um Schauspieler zu werden. 1904 zog er nach Paris und trat in ersten Kurzfilmen auf, die am Anfang nichts waren als Kuriositäten. Schon bald nahm er den Namen »Max Linder« an, den er aus dem Telefonbuch ausgewählt hatte, und drehte Filme wie am Fließband. Produzent Charles Pathé versprach ihm völlige Freiheit, solange er für die Dreharbeiten eines Films nicht mehr als einen Tag veranschlagte. Nach vielen unterschiedlichen Charakteren entwickelte Linder 1909 die Figur des Dandys Max, dessen Zylinderhut zu seinem Markenzeichen wurde. In dieser Rolle wurde er zum ersten internationalen Star des Kinos.

Linder
Der Liebesbrief« (1913) zeigt Max Linder auf dem Höhepunkt seiner Karriere. »Eine typische Max Linder-Komödie, gemacht in seiner üblichen, cleveren Art und Weise – und daher gut.« (Moving Picture World, 16. August 1913).

Mit einem Einkommen von einer Million Francs war er 1912 zudem der höchstbezahlte Filmstar der Welt. Sein Produzent erklärte ihn zum »Napoleon des Kinos«, zu dessen größten Fans Zar Nicholas II. und George Bernard Shaw zählten. 1914 unternahm Linder eine PR-Tour durch ganz Europa, die von riesigen Menschenmengen begleitet wurde. In Russland musste man die Armee zu Hilfe holen, damit er den Moskauer Bahnhof verlassen konnte.
Zu Beginn des 1. Weltkriegs, auf dem Höhepunkt seines Erfolges, meldete sich Linder freiwillig zum Dienst an der Front, wo ihm das Lachen bald verging. Nach einem Gasangriff der Deutschen erlitt er einen völligen Zusammenbruch, von dem er sich nie wieder ganz erholte. Vom Kriegsdienst freigestellt, nahm er 1916 schließlich ein Angebot aus Amerika an und verließ Frankreich.
Doch nach nur drei US-Produktionen zog er sich eine Rippenfellentzündung zu, die er in einem Schweizer Sanatorium auskurierte. Seinem Bewunderer Charlie Chaplin war es zu verdanken, dass er noch weitere Filme in Amerika drehen konnte, die zwar gute Kritiken ernteten, doch nicht an die großen Erfolge der Vorkriegszeit anzuknüpfen vermochten. Komiker wie Chaplin, Fatty Arbuckle und Harold Lloyd hatten ihn in der Publikumsgunst längst überrundet. Linder wurde zunehmend depressiv.
»Ich spüre, dass ich nicht mehr komisch bin. Ich habe so viele Ablenkungen, dass ich mich nicht mehr auf meine Filmfigur konzentrieren kann (…) Bring die Leute zum Lachen, das ist leicht gesagt, doch ich fühle mich nicht mehr komisch«, klagte er dem späteren Regisseur Robert Florey.
Gesundheitlich angeschlagen, kehrte Linder 1923 nach Europa zurück, wo er die dreiundzwanzig Jahre jüngere Ninette Peters heiratete. Die Ehe stellte sich als Fehler heraus. Immer wieder beschwerte er sich über die ständige Eifersucht seiner Frau, die ihm das Leben zur Hölle machte.
Die Wiener »Arbeiter-Zeitung« berichtete am 24. Februar 1924 von einer versehentlichen Veronalvergiftung, an der das Ehepaar fast gestorben wäre. Sie wurden allerdings rechtzeitig entdeckt und in ein Sanatorium eingeliefert. Schon kurz darauf setzte der Komiker seine Arbeit fort. Er steckte gerade in den Vorbereitungen zu einem neuen Film, als die Nachricht seines Todes um die Welt ging.
Die »New York Times« schrieb am 4. November 1925: »Gabriel Louville [sic], 45, bekannt als Max Linder und seine zwanzigjährige Frau nahmen sich am Samstag in einem Pariser Hotel das Leben, indem sie Gift tranken und sich die Pulsadern aufschnitten. Das Paar wurde in ein Krankenhaus eingeliefert, wo das Mädchen sofort starb. Linder folgte ihr sechs Stunden später nach.« Die »Vossische Zeitung« konnte schon mit etwas mehr Details aufwarten: »Noch vor wenigen Tagen hatte er eine Million Franken in 45 Arbeitstagen verdient. Vor einigen Wochen war er von der Ehrenstelle eines Präsidenten des Vereins der Kinoregisseure geschieden und er hatte diesen Rücktritt mit so seltsamen Vorwänden begründet, daß bereits damals seine Freunde über seinen Nervenzustand sehr beunruhigt waren. Freilich ahnte niemand, daß er seine häufigen Äußerungen der Lebensunlust so bald und auf so grausame Weise in die Tat umsetzen würde.«
Es wurden allerdings auch Stimmen laut, die behaupteten, Linder habe seine junge Frau gegen ihren Willen umgebracht. Trotz aller Zweifel ist es die Legende vom Selbstmordpakt, die überdauerte. Als Chaplin vom Tod Linders erfuhr, legte man in seinem Studio für einen Tag die Arbeit nieder.
Erst in den 1960ern begann man die Filme des Slapstick-Genies wiederzuentdecken und seinen Platz in der Filmgeschichte zu würdigen. Von seinen über 500 Kurzfilmen wurden bis heute nur 105 wiederentdeckt.

Max Linder; eigentlich Gabriel-Maximilien Leuvielle (* 16. Dezember 1883 in Saint-Loubès, Département Gironde; † 31. Oktober 1925 in Paris) war ein französischer Filmschauspieler, Drehbuchautor und Regisseur.


Art Acord

Der sprachlose Westernpionier

Arthemus Ward Acord war einer der ersten Westernhelden des Films. Mit seinen perlenverzierten Revolvergürteln und silberbeschlagenen Stiefeln ähnelte er jedoch anfangs eher einer Zirkusattraktion. Der Sohn einer Mormonen-Familie, der stets behauptete, von Indianern abzustammen, hatte schon in jungen Jahren Kühe gehütet. Dadurch bestens geschult, schloss er sich Dick Stanleys Wild-West-Show an; was ihn jedoch nicht hinderte, sich gleichzeitig einen Namen auf Rodeos zu machen. Später wechselte er zur mittlerweile legendären Buffalo Bill Wild West-Show, mit der er ganz Europa bereiste.
1909 verschlug es Acord zum Film, wo ihm seine exzellenten Fähigkeiten als Reiter und Akrobat rasch den Titel »The Cowboy King« einbrachten. Allein seine Rollennamen Buck Parvin, Lance Lighton oder Bill Bradley versprachen Testosteron pur. Ein treues »Wunderpferd« namens Raven und ein nicht minder treuer Hund, der auf den Namen Rex hörte, vervollständigten das populäre Helden-Trio.
Obwohl es nun eine angenehmere Art gab, seine Brötchen zu verdienen, nahm er noch immer an Rodeos teil, gewann 1912 und 1916 sogar die »World Steer Wrestling Championship«. Er spielte im ersten Film des legendären Monumentalfilmers Cecil B. De Mille mit und trat an der Seite des damals berühmten Vamps Theda Bara in einer der ersten Shakespeare-Verfilmungen auf. Aus dem unbedarften Kuhjungen war ein Star geworden.
Im Umgang mit seinen Kollegen war Accord ein höflicher, zuvorkommender Mensch, doch beim geringsten Kontakt mit Alkohol änderte sich sein Wesen schlagartig. Wutausbrüche endeten nicht selten in handfesten Schlägereien. Als Regisseur Victor Fleming (»Vom Winde verweht«) eines Tages anzweifelte, dass tatsächlich Indianerblut in seinen Adern floss, brach ihm der angesäuselte »Cowboy King« prompt das Nasenbein.

Acord
»The Riding Rascal« (1926): In zwanzig Jahren trat Acord in über hundert Filmen auf. Sein Neffe, Floyd Gottfredson, der über vier Jahrzehnte als Zeichner für Walt Disney gearbeitet hatte, ließ Mickey Mouse später in vielen Wildwest-Episoden auftreten, die von Acords Streifen beeinflusst worden waren.