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Konzept Okklusionsschiene

Hans Jürgen Schindler • Jens Christoph Türp

Hans Jürgen Schindler • Jens Christoph Türp

Konzept Okklusionsschiene

Basistherapie bei schmerzhaften kraniomandibulären Dysfunktionen

Mit Beiträgen von: Lydia Eberhard, Nikolaos Nikitas Giannakopoulos, Daniel Hellmann, Alfons Hugger, Bernd Kordaß, Martin Lotze und Marc Schmitter

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Berlin, Barcelona, Chicago, Istanbul, London, Mailand, Moskau, Neu-Delhi, Paris, Prag, São Paulo, Seoul, Singapur, Tokio, Warschau

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Layout und Herstellung: Jens Girke, Quintessenz Verlags-GmbH, Berlin

Lektorat: Anita Hattenbach, Quintessenz Verlags-GmbH, Berlin

ISBN:
9783868673753 (epub)
978-3-86867-344-9 (print)

Grußwort

Ein Buch zu verfassen, um ein klinisches Fachgebiet in Theorie und Praxis darzustellen, ist für jeden Lehrenden eine große Herausforderung. Umfassende klinische Erfahrungen und eine sehr gute Kenntnis der wissenschaftlichen Grundlagen sind unabdingbare Voraussetzungen für die erfolgreiche Bewältigung dieser Aufgabe. Wer sich auf eine solche Anstrengung einlässt, hat – wie auch die Herausgeber und Autoren des hier vorliegenden Buches – meist ein klares Ziel vor Augen: Die zahnmedizinische Versorgung soll besser werden, das heißt, Innovationen in Diagnostik und Therapie sollen für die zahnmedizinische Praxis erschlossen werden.

Dieses Ziel ist im Hinblick auf das Thema des Buches eine ganz besondere Herausforderung. Die „Basistherapie bei schmerzhaften kraniomandibulären Dysfunktionen“ ist ein Gebiet der Zahnheilkunde, das unzweifelhaft ganz erhebliche Unterschiede aufweist zu tradierten Fächern der Zahnmedizin, wie die restaurative Zahnheilkunde, die Parodontologie oder die orale Chirurgie. In diesen Fächern bedeutet Innovation nämlich im Wesentlichen die Adaptation der klinischen Vorgehensweise an neue Technologien, wie z. B. den Einsatz von digitalen Arbeitsmitteln. Das Ziel entsprechender Adaptationsprozesse hat sich in den letzten 100 Jahren kaum geändert: Die mechanische Perfektion der Therapieverfahren soll gesteigert werden bei gleichzeitig steigender Effizienz und Sicherheit der eingesetzten Arbeitsmittel. Generationen von Zahnärzten in Lehre, Forschung und Praxis haben sich diesem Ziel verschrieben – zum Teil mit großem Erfolg. Dies ging einher mit einer Konzentration auf die Ergebnisse von mechanischen Arbeitsprozessen. Jeder Schritt in Richtung Perfektion galt als klinischer Fortschritt. Michael Heners prägte für diese Ausrichtung der Zahnmedizin den Begriff des „technomorphen Modells der Zahnheilkunde“. Das mechanisch definierte Handeln des Zahnarztes bestimmt nach diesem Modell die Qualität der zahnmedizinischen Therapie. Eine bessere Versorgung wäre demnach nur durch die technische Optimierung des Eingriffs zu erreichen.

Das „technomorphe Modell“ hat in den vergangenen 20 Jahren in allen Gebieten der Zahnheilkunde starke Relativierungen erfahren, da die biologischen Grundlagen des zahnärztlichen Handelns immer mehr in den Focus von Wissenschaft und Praxis gelangten. Dennoch setzen viele Zahnärzte nach wie vor eine bessere Versorgung mit besserer Technik gleich.

Die Autoren dieses Buches treten solchen Vorstellungen schon in den ersten Zeilen entgegen. Eine bessere Basistherapie von CMD-Fällen erreicht man nicht durch bessere Technik, sondern durch ein neues Denken – ein Denken, das den Patienten, sein Leiden und seine Aussagen hierüber in den Mittelpunkt stellt. Der Einstieg in ein neues und anderes Denken gelingt nur dem, der sich von überkommenen Handlungsmustern lösen kann. Das vorliegende Buch lädt hierzu ein. Es gibt dem fachlich interessierten Leser einen klaren Leitfaden an die Hand, um im Denken und Handeln der Problematik der CMD-Erkrankung gerecht zu werden und den betroffenen Patienten die bestmögliche Therapie zukommen zu lassen. Die Bedeutung der Anamnese wird hierbei besonders herausgestrichen. Diese zu erkennen und die erforderlichen Schlussfolgerungen für Diagnostik und Therapie zu ziehen, ist der Schlüssel zu dem neuen Denken, das adäquate klinische Entscheidungen in CMD-Fällen möglich macht.

Das Buch gliedert sich in zwei Teile. Im ersten wird eine praktische Leitlinie zur Basistherapie des CMD-Patienten vorgestellt, im zweiten wird das Wissen um die wissenschaftlich-theoretischen Grundlagen vertieft. Beide Teile ergänzen sich zu einem „runden“ und vollständigen Bild vom Stand der Wissenschaft. Dem Leser seien deswegen beide Teile ans Herz gelegt. Im zweiten Teil eröffnet sich dem interessierten Praktiker die Perspektive der Wissenschaft, was ihm nicht nur weitere Handlungsoptionen erschließt, sondern ihn auch dabei unterstützt, seine eigenen Erfahrungen kritisch zu bewerten.

Eine bessere Versorgung der Patienten mit kraniomandibulären Dysfunktionen ist möglich. Dieses Buch dokumentiert die klinischen Pfade, die zu einer zielgerichteten und evidenzbasierten Behandlung führen. Es liegt an uns allen – den Mitgliedern des zahnärztlichen Berufsstandes – diesen Impuls aufzunehmen und die aufgezeigten Pfade zu begehen.

Prof. Dr. Winfried Walther

Akademie für Zahnärztliche Fortbildung Karlsruhe

Vorwort

Liebe Leser*,

dem einen oder anderen wird beim Erscheinen dieses Buches der Gedanke „Bitte nicht schon wieder ein Buch über kraniomandibuläre Dysfunktionen!“ in den Sinn gekommen sein. Obwohl dies auf den ersten Blick eine gerechtfertigte Reaktion sein mag, so ist den Autoren dennoch nicht bekannt, dass sich im letzten Jahrzehnt ein ganzes Buch mit dem Thema Okklusionsschiene beschäftigt hätte.

Die Zeiten schreiten jedoch unaufhörlich voran und mit ihnen der wissenschaftliche Fortschritt, der zwangsläufig zu neuen Erkenntnissen führt. Dies trifft im Bereich der Funktionstherapie in besonderem Maße auf den Einsatz von Okklusionsschienen bei der Behandlung von schmerzhaften kraniomandibulären Dysfunktionen (sCMD) des Kausystems zu. Allerdings ist es oft ein weiter Weg mit viel Zeitverzug, bis neue Wissensinhalte in den Praxen angekommen sind. Der beklagenswerte Umstand des (zu) lang dauernden Wissenstransfers wird durch mehrere Aspekte befördert und negativ verstärkt. Drei Faktoren für diese Verzögerung seien beispielhaft genannt:

1.die Bevorzugung persönlicher (aber unkontrollierter) Erfahrung gegenüber nachweisgestützten Erkenntnissen aus wissenschaftlichen Studien;

2.die trotz des uneingeschränkten Zugangs zumindest zu den Abstracts hochrangiger Fachpublikationen noch zu wenig genutzte Möglichkeit der Wissenserweiterung über offene elektronische Bibliotheken (z. B. bedingt durch fehlende Kenntnisse, wie man nach relevanten Zeitschriftenartikeln recherchiert und wie diese beschafft werden können, sowie durch die Tatsache, dass wichtige Veröffentlichungen nur gegen Gebühr zugänglich sind);

3.der oftmals unklar definierte Begriff der „Patientenzufriedenheit“ als praxisspezifisches Hauptkriterium für „Erfolg“.

Dabei sollte klar sein, dass patientenbezogene klinische Entscheidungen nicht länger allein auf der individuellen klinischen Erfahrung des Zahnarztes beruhen dürfen. Erfahrung ist zweifellos wichtig, reicht aber für wissenschaftsbasiertes, nachweisgestütztes Handeln nicht aus. Vielmehr sind zusätzlich zu der persönlichen Erfahrung Kenntnisse über den aktuellen Stand der klinischen Forschung (in Form von publizierten Studienergebnissen) unabdingbar. Und als dritte gleichberechtigte Säule sind die Werte, Wünsche und Sorgen des Patienten zu berücksichtigen. Nur wenn diese drei Bereiche gleichermaßen in die individuelle Handlungsentscheidung einfließen, kann von einer wissenschaftsgestützten, vulgo evidenzbasierten Zahnmedizin gesprochen werden. Eine evidenzbasierte Zahnmedizin schließt also automatisch den Aspekt der partizipativen Entscheidungsfindung ein. Sie hat damit den Anspruch einer zugleich nutzbringenden wie eigenbestimmten Medizin. Demgegenüber bedeutet evidenzbasierte Zahnmedizin nicht die bloße Befolgung der Empfehlungen aus wissenschaftlichen Leitlinien oder systematischen Übersichten; dies wäre eine Kochbuchmedizin, die dem Einzelfall vielfach nicht gerecht würde.

Soweit zum Prinzip, nun zur „Realität“: Kürzlich hielt einer der Herausgeber dieses Buches im Rahmen einer Fortbildungsveranstaltung einen etwas längeren Vortrag zum Thema sCMD. Nach etwa einer Stunde erhob sich aus dem Publikum die Stimme eines Zuhörers, der erzürnt reklamierte, dass das, was er gehört habe, für seine praktische Tätigkeit kaum von Nutzen sei (nebenbei sei bemerkt, dass er darüber hinaus einen beträchtlichen Teil des Vortrags selig schlafend verbrachte). Dieser erboste Kommentar des Zuhörers einerseits und die Jahrzehnte umfassenden Lehrtätigkeiten der Herausgeber andererseits regte zu intensivem Nachdenken an und führte zu folgenden – im Wesentlichen nicht unbedingt brandneuen – Schlussfolgerungen:

Die klassische Struktur der Wissensvermittlung, insbesondere in Printmedien, lässt gravierende didaktische Defizite erkennen. Die an klinischen Einrichtungen entwickelten diagnostischen Routinen und Therapiemodelle werden gemäß üblicher Gepflogenheit wenig an die Wirklichkeit in den zahnärztlichen Praxen angepasst. Darüber hinaus reduzieren sich Therapie- und Ko-Therapieempfehlungen häufig auf lapidare Hinweise, wie „Schienentherapie“, „Heimübungen“ oder „Aufklärung“, ohne dezidiert Hilfestellung zu leisten, wo, wann und wie diese auszuführen sind.

Dem geneigten Leser wurde bis hierher vermutlich ersichtlich, dass sich das Autorenteam nicht scheut, (auch eigene) Unzulänglichkeiten zu thematisieren, und bemüht sein wird, diese – wenn immer möglich – im vorliegenden Buch zu beheben. Nachfolgend sollen die wesentlichen Defizite im Einzelnen benannt werden, die für die oft unfruchtbare Wissensvermittlung verantwortlich zeichnen.

Wissenschaft und daraus erwachsender (möglicher) klinischer Nutzen für die Praxis ist offensichtlich nicht unmittelbar zu vermitteln, zumal der Rückgriff auf die wissenschaftliche Fachliteratur im Rahmen der klinischen Entscheidungsfindung nur von wenigen Zahnärzten (man möchte es nicht glauben: selbst an Universitäten!) genutzt wird. Dazu kommt, dass, um aus veröffentlichten Forschungsergebnissen Nutzen ziehen zu können, Erfahrung und Expertise von „Profis“ erforderlich ist, die diese Daten auch für Nichtwissenschaftler „leicht verdaulich“ aufbereiten. Handlungsanweisungen, wie sie in der Humanmedizin im Sinne von Richtlinien, Leitlinien oder klinischen Empfehlungen bekannt sind (in absteigendem Maße verpflichtend sind dies Standards der regelrechten ärztlichen Behandlung), haben hinsichtlich der sCMD-Behandlung kaum eine Entsprechung. Zudem bilden die in wissenschaftlichen Studien untersuchten Patienten meist nicht das in den Praxen behandelte Klientel ab, welches aber rund 80 % des allgemeinen Behandlungsbedarfs repräsentiert. Diese Verzerrungen der Patientenpopulationen führen naturgemäß zu Missverständnissen zwischen universitär angesiedelten Klinikern und niedergelassenen Praktikern (dieser Sachverhalt wird noch eingehender am Begriff „chronische CMD“ behandelt werden), was einer erfolgreichen Versorgung der überwiegend gut behandelbaren sCMD-Patienten im Wege steht. Zahnärztliche Routinen, wie Mindestdiagnostik, therapeutische Kieferrelationsbestimmungen, kostengünstige Herstellung von Okklusionsschienen, Physiotherapie und Verhaltensmodifikationen, werden nur begrenzt praxisgerecht thematisiert und sind allzu häufig mit unangemessenen Handlungsanweisungen überfrachtet, die im schlimmsten Falle jeglicher wissenschaftlichen Grundlage entbehren und ansonsten häufig unnötigen Zeitaufwand in der Praxis beinhalten. Als besonders gravierender Gesichtspunkt taucht der Begriff der Rehabilitation im praktischen Behandlungsalltag so gut wie nicht auf. Vergessen wir nicht: Schmerzreduktion oder Schmerzbeseitigung ist das ursprüngliche und vordergründige Ziel zahnärztlicher Behandlungen.

Motiviert durch die geschilderten Defizite und Unzulänglichkeiten möchte das vorliegende Buch den Versuch wagen, diese Mängel zu korrigieren. Hierzu wollen die Autoren ein Konzept in Ansatz bringen, das entgegen üblicher Strukturierung von Fachbüchern das Pferd gewissermaßen vom Schwanz her aufzuzäumen versucht.

Explizit soll dies folgendermaßen bewerkstelligt werden: Der erste Teil des Werkes (A) wird nach einem kurz gehaltenen Übersichtskapitel zum Thema sCMD direktiv klinische Handlungsanweisungen auf einfachstem Level, aber von hoher externer Evidenz getragen, vermitteln (erklärungsarme „To-Do“-Kochrezepte). Diese Empfehlungen werden von einem Mindestmaß an Diagnostik gestützt und lassen eine direkte kostengünstige labortechnische Umsetzung der erforderlichen Schienentherapie anschließen. Notwendige und nützliche Ko-Therapien werden mit kurzem „Wann?“ und „Warum?“ thematisiert. Auf die erweiterten wissenschaftlichen Grundlagen des Vorgehens wird mit sog. „Binnenbelegen“ zu den entsprechenden Kapiteln des zweiten Buchteils (B) verwiesen. Auf alle Hintergrunddaten zur Ätiologie, erweiterten diagnostischen Verfahren, Neurobiologie und Pathophysiologie wird ausschließlich in Teil B des Buches eingegangen. Hinweise auf Kapitel im ersten Teil werden durch „A“ gekennzeichnet.

Die Autoren sind der Überzeugung, dass sich auf dieser primär pragmatisch ausgerichteten Konzeption die Kenntnisse zur Behandlung von sCMD-Patienten, gewissermaßen selbstorganisierend, vom reinen regelrechten Handeln bis zum Expertentum auf hohem Niveau entwickeln können. Wir wünschen eine spannende und lehrreiche Lektüre. Für Kommentare und Anregungen haben wir stets ein offenes Ohr.

„Bene docet, qui bene distinguit“

Horaz

Hans J. Schindler und Jens C. Türp

Karlsruhe/Heidelberg und Basel, im Oktober 2016

Besonderer Dank der Autoren gilt Tine Ade, Karlsruhe,

für die Entwicklung der Grafiken in diesem Buch.

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*Im gesamten Buchtext verwenden die Autoren das generische Maskulinum, also das grammatische Geschlecht (Genus). Auf das biologische Geschlecht (Sexus) wird rekurriert, wenn dies inhaltlich sinnvoll ist.

Inhaltsverzeichnis

Teil A

Praxis der Okklusionsschienentherapie

1EINFÜHRUNG

Jens C. Türp

1.1Kraniomandibuläre Dysfunktionen

2STRUKTURIERTES VORGEHEN IN DER PRAXIS

Hans J. Schindler

2.1Diagnostik

2.2Therapie der sCMD

2.3Typische sCMD-Kasuistiken von Anamnese bis Therapie

3PRAXIS DER SCHIENENTHERAPIE

Daniel Hellmann, Jens C. Türp

3.1Kieferrelationsbestimmung in der Schienentherapie

Daniel Hellmann

3.2Methode der Schließbewegung auf ein Frontplateau

Jens C. Türp

4PRAXIS DER SCHIENENHERSTELLUNG

Daniel Hellmann

4.1Modellherstellung

4.2Modellmontage

4.3Das System der Modularen Rehabilitationsschiene (MRS)

4.4Die MRS-Basisschiene (MRS 0)

4.5Modulare Modifikation der MRS 0

5KOORDINATIVES TRAINING ZUR FUNKTIONELLEN REHABILITATION DES KRANIOMANDIBULÄREN SYSTEMS

Daniel Hellmann

5.1Schmerz und motorische Adaptation

5.2Schmerzadaptation und Rehabilitation

5.3Rehabilitation des kraniomandibulären Systems

5.4Praxis des koordinativen Trainings in der funktionellen Rehabilitation

5.5Feedbacktraining

Teil B

Vertiefung von Themen zu sCMD

6RISIKEN

Jens C. Türp, Hans J. Schindler, Alfons Hugger, Marc Schmitter

6.1Terminologie

Jens C. Türp

6.2Risikodefinition

Jens C. Türp

6.3Definition, Berechnung und Interpretation von Odds Ratio

Jens C. Türp

6.4Myoarthopathien des Kausystems

Jens C. Türp

6.5Okklusion und kraniomandibuläre Dysfunktionen

Jens C. Türp

6.6Kiefergelenkkompression und -distraktion

Jens C. Türp, Hans J. Schindler, Alfons Hugger

6.7Bruxismus

Marc Schmitter

7DIAGNOSTIK

Lydia Eberhard, Nikolaos Nikitas Giannakopoulos, Hans J. Schindler

7.1Stufenmodel der CMD-Diagnostik

Hans J. Schindler

7.2Differenzialdiagnosen

Hans J. Schindler

7.3Kritik klassischer Taxonomien

Nikolaos N. Giannakopoulos

7.4Quantitative sensorische Testung und ihre Praxisrelevanz

Lydia Eberhard

7.5Kritik an den in Therapiestudien eingeschlossenen Stichproben

Nikolaos N. Giannakopoulos

8THERAPIE

Hans J. Schindler, Alfons Hugger

8.1Behandlungsoptionen

Hans J. Schindler

8.2Ergebnisse von Übersichtsarbeiten zur Wirkung von Behandlungsoptionen bei sCMD

8.3Mögliche Wirkungsmechanismen der Physiotherapie bei sCMD

8.4Therapieergebnisse aus Praxen

8.5Rehabilitation in der Funktionstherapie

Alfons Hugger

9NEUROBIOLOGISCHE HINTERGRÜNDE DER OKKLUSIONSSCHIENENTHERAPIE

Hans J. Schindler

9.1Muskelphysiologie

9.2Kiefergelenke

9.3Kiefermuskelschmerzen

9.4Kiefergelenkschmerzen

9.5Erklärungsmodelle zur Chronifizierung von Schmerzen

9.6Motorische Adaptation an den Schmerz

9.7Regenerationspotenzial der Muskeln

10NEUROBIOLOGIE UND BIOMECHANIK DER OKKLUSIONSSCHIENENTHERAPIE

Hans J. Schindler

10.1Klassische Hypothesen

10.2Aktuelle Hypothesen

10.3Die Okklusionsschiene als segmentübergreifendes Therapiemittel?

11ZENTRALNERVÖSE REPRÄSENTATION DER OKKLUSIONSSCHIENENTHERAPIE

UNTERSUCHUNGEN MITTELS FUNKTIONELLER MRT

Martin Lotze, Bernd Kordaß, Hans J. Schindler

11.1Zerebrale Repräsentation neuromuskulärer Aktivität

11.2Beeinflussung zerebraler Aktivierungsmuster durch Okklusionsschienen

11.3Zerebrale Aktivierungsmuster und Schmerz

STICHWORTVERZEICHNIS

Teil A

Praxis der Okklusionsschienentherapie

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EINFÜHRUNG

Jens C. Türp

1.1Kraniomandibuläre Dysfunktionen

1.1.1Terminologie

Grundlegende Voraussetzung für die Vermeidung von Fehlauffassungen und Missverständnissen bei der Beschreibung von Sachverhalten rund um das Thema „Funktion“ – und nicht nur dort – ist der Gebrauch klar definierter Fachbegriffe. Insbesondere ist zu unterscheiden zwischen den Ausdrücken „Funktionsstörung des Kausystems“, „kraniomandibuläre Dysfunktion“ und „Myoarthropathie des Kausystems“, welche keineswegs synonym zu verwenden sind. Daher veröffentlichte die Deutsche Gesellschaft für Funktionsdiagnostik und -therapie im Jahre 2016 erstmals Definitionsvorschläge für diese und andere wichtige Begriffe14:

Funktionsstörung des Kausystems:

Hierbei handelt es sich um eine „kurz- oder langfristige Störung der Homöostase oder Ökonomie des Kausystems durch jedwede strukturell oder funktionell zu begründende Abweichung von der Normfunktion, wie funktionelle Defizite aufgrund von Trauma, Verletzung der strukturellen Integrität sowie funktioneller/parafunktioneller Belastung inklusive derjenigen Abweichungen, die prothetische, kieferorthopädische oder chirurgische Maßnahmen rechtfertigen“.

Kraniomandibuläre Dysfunktion (CMD):

Sie ist „als spezifische Funktionsstörung zu werten, welche die Kaumuskulatur, die Kiefergelenke und/oder die Okklusion betrifft. In der zahnärztlichen deutschen Terminologie wird sie allgemein als kraniomandibuläre Dysfunktion (CMD) bezeichnet“.

Klinisch umfasst der Begriff „CMD“ die Bereiche Schmerz und/oder Dysfunktion.

Schmerz tritt in Erscheinung als

Kaumuskelschmerz,

Kiefergelenkschmerz und/oder

(para)funktionell bedingter Zahnschmerz.

Dysfunktion kann in Erscheinung treten in Form von

schmerzhafter oder nicht schmerzhafter Bewegungseinschränkung (Limitation) des Unterkiefers (auf Unterkieferbewegungen zielender Aspekt),

Hypermobilität oder Koordinationsstörung des Unterkiefers (auf Unterkieferbewegungen zielender Aspekt),

schmerzhafter oder nicht schmerzhafter intraartikulärer Störung (auf das Kiefergelenk zielender Aspekt),

die Funktion störenden Vorkontakten und Gleithindernissen (auf die Okklusion zielender Aspekt).

CMD ist ein Oberbegriff, der sowohl nicht behandlungsbedürftige als auch behandlungsbedürftige Symptome beinhaltet. Eine Behandlungsbedürftigkeit ist bei Vorliegen von Schmerz prinzipiell immer, bei Dysfunktion in Abhängigkeit von der Schwere derselben indiziert.

Myoarthropathie des Kausystems (MAP):

Dieser im Jahre 1970 vom Tübinger Zahnmediziner Willi Schulte29 eingeführte Begriff stellt eine Untergruppe der kraniomandibulären Dysfunktion dar. Es handelt sich um Beschwerden und Befunde, die die Kaumuskulatur, die Kiefergelenke bzw. damit in Verbindung stehende Gewebestrukturen betreffen; die Betrachtung der Okklusion ist hier nicht eingeschlossen. Dieser Begriff entspricht dem englischen „Temporomandibular Disorder“ (TMD). Wenn es sich bei den Beschwerden um Schmerzen handelt, so kann man diese unter dem Begriff „myoarthropathische Schmerzen“ zusammenfassen.

Um den folgenden Kapiteln des Buches eine einheitliche Nomenklatur zugrunde zu legen, wird die Abkürzung „sCMD“ („schmerzhafte CMD“) im Sinne von und synonym mit „schmerzhafte Myoarthropathie“ verwendet.

1.1.2Ätiologie

Zahlreiche Mechanismen wurden in der Vergangenheit für die Entstehung von myofaszialen Kaumuskelschmerzen und Schmerzen in den Kiefergelenken verantwortlich gemacht. Die heutige Basis für die Modellvorstellungen dieser muskuloskelettalen Beschwerden ist der Nozizeptorschmerz, der durch Überlastung der Gewebe ausgelöst und durch eine Vielzahl von disponierenden Faktoren begünstigt werden kann. Als übergreifende pathophysiologische Erklärungsmodelle dienen im Wesentlichen das Mikrotrauma und die lokale Ischämie30 sowie ihre strukturellen und funktionellen Entsprechungen, wie die aktivierte Arthrose27, der myofasziale Triggerpunkt31, lokale Muskelerschöpfung sowie Muskelkater8. Den Hypothesen ist gemeinsam, dass am Ende der Kausalkette die Freisetzung von Protonen12 und anderen endogenen algetischen Substanzen (z. B. Glutamat, Substanz P, Bradykinin, Histamin, Prostaglandin E, Serotonin, Kaliumionen, Adenosintriphosphat) aus afferenten Nervenfasern und Gewebezellen sowie die über sie vermittelte Erregung und Sensibilisierung von Nozizeptoren (Gruppe III- und IV-Afferenzen) steht.

Moderne Konzepte3,27 unterscheiden

prädisponierende (z. B. genetische, strukturelle, systemische, psychische),

initiierende (z. B. Mikro-, Makrotraumen und Überlastungen) und

unterhaltende/perpetuierende (z. B. psychosoziale) Einflussfaktoren.

Die Zuordnungen zu den einzelnen Kategorien sind nicht statisch konzipiert. Vielmehr können bei einem Patienten zum Beispiel eine Überlastung der unterhaltende und die psychosozialen Rahmenbedingungen der prädisponierende Faktor sein, während in einem anderen Fall das umgekehrte Muster zutrifft. Wichtig ist es, diesen konzeptionellen Rahmen richtig zu interpretieren, nämlich in dem Sinne, dass ein einzelner Einflussfaktor in der Regel nicht in der Lage ist, muskuloskelettale Schmerzen zu verursachen.

Inzwischen liegen Hinweise dafür vor, dass endogene oder exogen zugeführte Substanzen, wie Östrogen22, Nervenwachstumsfaktor (NGF: nerve growth factor)33 und Glutamat21, eine wichtige Rolle bei der Genese von sCMD spielen können. Von außerordentlicher Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der Umstand, dass Glutamat eine periphere Sensibilisierung ohne nachweisbare Entzündungszeichen hervorrufen kann21. Diese neuen und in der zahnmedizinischen Literatur bislang kaum diskutierten Erkenntnisse bieten unter anderem eine einleuchtende Erklärung für die seit Langem bekannte und durch epidemiologische Studien belegte Beobachtung, dass Frauen, und insbesondere solche im gebärfähigen Alter, häufiger von myoarthropathischen Schmerzen betroffen sind als Männer13,34.

1.1.3Epidemiologie

Der typische sCMD-Patient ist eine Frau im gebärfähigen Alter mit Kaumuskelschmerzen. Unter denjenigen Personen, die wegen Ihrer Beschwerden professionelle Hilfe aufsuchen, stellen Frauen die übergroße Mehrheit. Je spezieller die Einrichtung, desto höher ist der Frauenanteil. In Universitätskliniken beträgt das Verhältnis bis zu 9:1.

1.1.4Individueller Behandlungsbedarf

Aus den bisherigen Ausführungen folgt automatisch die Frage nach der individuellen Behandlungsbedürftigkeit. Traditionell wurde in der Zahnmedizin der Bereich der Dysfunktion recht weit gefasst. Überspitzt formuliert kann man sagen, dass früher jeder Mensch, der nicht funktionierte wie ein symmetrische, geräuschfreie Bewegungen ausführender Artikulator, mit dem Risiko behaftet war, von einem Zahnarzt potenziell als „dysfunktionell“ angesehen zu werden. Erfreulicherweise hat sich diese Einstellung inzwischen weitgehend geändert. Nach heutigem Stand der Wissenschaft bedürfen bei ansonsten beschwerdefreien Personen die nachfolgend aufgeführten Symptome in der Regel keiner besonderen (weiteren) Diagnostik und keiner Therapie:

Nicht behandlungsbedürftige CMD

Knackgeräusche in den Kiefergelenken*. Die häufigste Ursache von Kiefergelenkknacken ist eine anteriore Lage des Discus articularis. Knackgeräusche ohne weitere Symptome (Schmerzen) sind auch in der Orthopädie weder eine Indikation für eine weitergehende Diagnostik noch für eine Therapie. Die Anfertigung von Magnetresonanztomogrammen bei Kiefergelenkknacken kann daher als eine Form der Überdiagnostik gewertet werden. Geben Patienten neben Kiefergelenkgeräuschen Kiefergelenkschmerzen an – liegt also ein schmerzhaftes Gelenkknacken vor –, so bedarf die Schmerzsymptomatik, nicht aber das Geräusch, einer weitergehenden Befundung und (meist) einer Behandlung.

Reibegeräusche in den Kiefergelenken. Reibegeräusche in den Kiefergelenken sind meistens ein klinisches Zeichen eines Kontaktes zweier Knochenflächen. Reiben ohne weitere Symptome (Schmerzen) ist allerdings keine Indikation für eine Therapie.

Deviation (korrigierte Seitenabweichung) des Unterkiefers bei Kieferöffnung.

Unterschiede im Ausmaß des maximalen Seitschubs nach links und rechts. Diese sind eher die Regel als die Ausnahme36 und reflektieren die den Säugetieren eigene fluktuierende Asymmetrie.

Palpationsempfindlichkeit von Kiefermuskeln und/oder Kiefergelenken im Rahmen einer routinemäßigen Funktionsdiagnostik, wobei diese Bereiche im Rahmen der täglichen Unterkieferfunktion des Patienten nicht schmerzen.

„Arthrose“-Zeichen im Röntgenbild (Panoramaschichtaufnahme).

*Eine Ausnahme von der Regel, dass Kiefergelenkgeräusche eine Variation des Normalen darstellen, ist ein sehr lautes, von dem Patienten und seinem sozialen Umfeld nicht tolerierbares Kiefergelenkknacken. In diesem Fall ist eine genaue Aufklärung über die zur Verfügung stehenden indizierten Behandlungsmittel unter Berücksichtigung ihres jeweiligen Nutzen-Risiko-Verhältnisses erforderlich.

All diese Symptome, die früher als „Dysfunktion“ gewertet wurden, werden heute als Variation der Normalität angesehen. Der Bereich der Normal- oder Eufunktion ist dadurch stark erweitert worden. Albert Gerber9 (Zürich) mahnte bereits im Jahre 1964, „dass nicht jedes Kiefergelenk, das Beschwerden macht, eo ipso auch erkrankt sein muss” und, so kann man hinzufügen, therapiert werden muss.

Demgegenüber ist in folgenden klinischen Situationen eine (weitere) Diagnostik und Therapie dringend anzuraten:

Behandlungsbedürftige CMD

1.Patienten erscheinen in der Praxis mit der Klage über schmerzhafte Beschwerden im Bereich der Kiefermuskulatur und/oder Kiefergelenke. Vom Patienten angegebene Schmerzen müssen immer ernst genommen werden. Als Regel gilt: Schmerzbezogene Patientenangaben dürfen bezüglich ihres Wahrheitsgehaltes nicht angezweifelt werden. Dies trifft in besonderem Maße für den Kiefer-Gesichtsbereich zu, zumal hier – im Gegensatz beispielsweise zu Rückenschmerzen – praktisch keine Möglichkeit einer Frühberentung besteht. Schmerzen im Bereich der Kiefermuskeln bzw. in einem oder beiden Kiefergelenken sind bei über 90 % aller in einer Zahnarztpraxis oder Zahnklinik erscheinenden sCMD-Patienten das ausschlaggebende Symptom – und nicht etwa eine eingeschränkte Unterkieferbeweglichkeit oder Kiefergelenkgeräusche. Ein großer Teil von Patienten mit myoarthropathischen Schmerzen sucht allerdings keinen Behandler auf. Offenbar ist eine gewisse Beunruhigung über die vorhandenen Beschwerden eine wichtige Voraussetzung für die Entscheidung, eine Abklärung der Symptomatik durchführen zu lassen und gegebenenfalls therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Schmerzen in Kaumuskeln und/oder Kiefergelenken gehen in eher seltenen Fällen mit markanten Einschränkungen der Unterkieferbeweglichkeit einher. Aufgrund schmerzbedingter Neupositionierung des Unterkiefers (Schonhaltung) kann es zu Veränderungen bei der Okklusion der Zähne kommen (Vorkontakte), die der Patient besonders im Falle einer akuten Malokklusion als sehr störend empfinden kann.

2.Patienten berichten über eine eingeschränkte Unterkieferbeweglichkeit, wobei hier meist die maximale Kieferöffnung betroffen ist. Bewegungseinschränkungen machen sich zum Teil auch beim Seit- und Vorschub des Unterkiefers bemerkbar, aber deutlich weniger häufig als bei der Kieferöffnung. Bei sCMD-Patienten gibt es prinzipiell zwei Gründe für eine limitierte Beweglichkeit der Kondylen des Unterkiefers:

a)Mechanisches Hindernis in einem oder beiden Kiefergelenken aufgrund eines nach anterior, medial oder lateral verlagerten Discus articularis oder aufgrund von Adhäsionen im Gelenk.

b)Reflektorische Bewegungsanpassung des Unterkiefers („Schienungseffekt“) aufgrund von Schmerzen im Bereich der Kiefermuskeln und/oder Kiefergelenke: Je weiter der Kiefer geöffnet wird, umso mehr nimmt die Stärke der Schmerzen zu. Die „freiwilligen“ Bewegungseinschränkungen im Sinne einer Schonhaltung des Unterkiefers können als ein reflektorisch gesteuerter Anpassungsmechanismus zur Verminderung der vorhandenen Schmerzen und zum Schutz der betroffenen anatomischen Strukturen gedeutet werden.

Es gibt keinen allgemein anerkannten Schwellenwert, ab dem man von einer eingeschränkten Kieferöffnung (= Summe von vertikalem Überbiss und maximaler Schneidekantendistanz) sprechen kann. Der häufig genannte Wert von 40 mm (oder 38 mm bei Frauen) ist als Grenzwert zwischen „eingeschränkt“ und „nicht eingeschränkt“ keineswegs allgemeingültig. Weil die maximal mögliche Kieferöffnung bei identischer Rotation in den Kondylen von der Länge des Unterkieferkörpers abhängt, sollte grundsätzlich jeglichem Schwellenwert eine gewisse Toleranz zugestanden werden. Jedoch muss ein Zahnarzt in folgenden Fällen weitere diagnostische Maßnahmen durchführen:

vom Patienten bemerkte und berichtete Einschränkungen der Unterkieferbeweglichkeit;

über einen Zeitraum von wenigen Tagen, Wochen oder Monaten erfolgte kontinuierliche Verminderung der maximal möglichen Kieferöffnung;

gemessene Kieferöffnung von unter 35 mm (klinischer Erfahrungswert).

In diesen Fällen müssen durch eine sorgfältige (auch bildgebende) Diagnostik andere Ursachen als eine sCMD ausgeschlossen werden, insbesondere Tumoren. Ein Tumorverdacht gilt solange, bis dieser zweifelsfrei entkräftet worden ist. Darüber hinaus ist zu beachten, dass auch nicht neoplastische Veränderungen, wie Sklerodermie und nicht erkannte Unterkieferfrakturen, Ursache einer eingeschränkten Kieferöffnung sein können.

Gradmesser für einen Diagnose- und Behandlungsbedarf bei sCMD ist in erster Linie der Patient, nicht der Behandler. Dies ist bei Patienten mit Karies oder Parodontopathien grundsätzlich anders, weil dort in der Regel der Zahnarzt den Behandlungsbedarf bestimmt. Daher sind sog. Screening-Untersuchungen, die bei subjektiv beschwerdefreien Menschen das Ziel verfolgen, „subklinische“, „präpathologische“ Funktionsstörungen zu erkennen und zu behandeln, als nicht gerechtfertigte Überdiagnostik zu werten. Von dieser Aussage ist die Sinnhaftigkeit unberührt, vor größeren therapeutischen Maßnahmen aus zahnerhalterischen, prothetischen, oralchirurgischen oder kieferorthopädischen Gründen eine (einfache) Funktionsdiagnostik durchzuführen.

Während und/oder nach der Untersuchung muss der Patient über festgestellte bzw. ihn beunruhigende Symptome in einem persönlichen Gespräch auf der Grundlage aktueller, vertrauenswürdiger und verständlicher Informationen aufgeklärt werden. Dies gilt in jedem Fall auch für nicht behandlungsbedürftige Symptome. Der Patient ist über die wahrscheinliche Ursache der Beschwerden und die Notwendigkeit oder Nichtnotwendigkeit einer weitergehenden Diagnostik und einer Behandlung zu informieren. Dabei hat es sich als vorteilhaft erwiesen, gegenüber dem Patienten eine Analogie zu bilden zwischen Kau- und Rückenmuskulatur sowie zwischen Kiefergelenken und (Lenden-)Wirbelsäule. Bei Normvarianten sollte der Patient auch erfahren, welche diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen, die nach heutigem Stand der Wissenschaft überflüssig sind, er alio loco vorgeschlagen bekommen und erhalten könnte, damit er mit diesem Wissen solchen Vorhaben argumentativ entgegentreten kann.

1.1.5Diagnosen und Klassifikationen

Um dem Mangel an standardisierten diagnostischen und klassifikatorischen Kriterien zur Differenzierung der Myoarthropathien zu begegnen, wurde im Jahre 1992 von international anerkannten Experten ein neues Diagnostik- und Klassifikationssystem vorgestellt5, das trotz einiger Unzulänglichkeiten in kurzer Zeit weltweit eine hohe Anerkennung erfuhr. Sein Name – Research Diagnostic Criteria for Temporomandibular Disorders, kurz: RDC/TMD – weist darauf hin, dass es ursprünglich für klinische Studien zu Forschungszwecken entwickelt wurde. Bald wurde es – oft in einer weniger stringenten Form – aber auch in der täglichen Praxis angewandt. Die RDC/TMD erlauben eine Vereinheitlichung diagnostischer Maßnahmen und Diagnosen in einem Bereich, der bislang weitgehend durch ungenaue Angaben und nicht miteinander vergleichbare Systeme gekennzeichnet war. Im Jahre 2014 wurden als Weiterentwicklung die Diagnostic Criteria for Temporomandibular Disorders, kurz: DC/TMD, veröffentlicht, die noch im selben Jahr auf Deutsch vorgestellt wurden35. Diagnostik und Klassifikation beider Systeme erstrecken sich auf zwei Bereiche, die mit Achse I und Achse II bezeichnet werden.

Achse I

Achse I erfasst die somatischen Diagnosen (Tab. 1-1). Diese beruhen zum einen auf den Angaben des Patienten, der den Zahnarzt mit Beschwerden im Kauorgan aufsucht, und zum anderen auf den Ergebnissen der klinischen Untersuchung. Zum Stellen der somatischen Diagnosen reicht der Befund einer klinischen Untersuchung nicht aus. Ausschlaggebend ist vielmehr der Bericht des Patienten, der über Schmerzen, eine eingeschränkte Kieferöffnung oder laute Kiefergelenkgeräusche klagt. Die DC/TMD unterscheiden, wie zuvor die RDC/TMD, schmerzbezogene und schmerzunabhängige Diagnosen, die sich im Zuge der Patientenbefundung ergeben.

Aufgrund der mangelnden Auswirkungen der kategoriebezogenen Diagnosen auf die Therapie reicht es für die Tätigkeit in der Praxis aber meistens aus, folgende diagnostischen Unterscheidungen zu treffen:

Myalgie (des oder der entsprechenden Muskeln);

Arthralgie (eines oder beider Kiefergelenke);

(anteriore) Lage („Verlagerung“) des Discus articularis (mit oder ohne Reposition);

Einschränkung der Unterbeweglichkeit (maximale Kieferöffnung).

Tab. 1-1 Die (miteinander nicht kompatiblen) somatischen Diagnosen der Research Diagnostic Criteria for Temporomandibular Disorders (RDC/TMD) und der Diagnostic Criteria for Temporomandibular Disorders (DC/TMD).

  RDC/TMD (1992) DC/TMD (2014)
Schmerzdiagnosen Myofaszialer Schmerz Myalgie
Myofaszialer Schmerz mit eingeschränkter Kieferöffnung Lokale Myalgie
Arthralgie Myofaszialer Schmerz
Aktivierte Kiefergelenkarthrose Myofaszialer Schmerz mit Schmerzübertragung
  Arthralgie
  auf CMD zurückgeführte Kopfschmerzen
Nicht schmerzbezogene Diagnosen Diskusverlagerung mit Reposition Diskusverlagerung mit Reposition
Diskusverlagerung ohne Reposition bei Kieferöffnung, mit eingeschränkter Kieferöffnung Diskusverlagerung mit Reposition und intermittierender Kieferklemme
Diskusverlagerung ohne Reposition, ohne eingeschränkte Kieferöffnung Diskusverlagerung ohne Reposition mit eingeschränkter Kieferöffnung
Kiefergelenkarthrose Diskusverlagerung ohne Reposition und ohne eingeschränkte Kieferöffnung
  degenerative Kiefergelenkerkrankung
  Subluxation

Es ist hervorzuheben, dass ein Patient, der im Rahmen einer routinemäßigen Funktionsbefundung bei der Palpation von Kaumuskeln beispielsweise druckdolente Mm. masseteres aufweist, die ihm in der täglichen Funktion aber nie weh tun, nicht die Diagnose „Myalgie beider Masseteren“, sondern lediglich den Befund „Palpationsempfindlichkeit beider Masseteren“ erhalten würde (vgl. S. 6: „Nicht behandlungsbedürftige CMD“).

Achse II

Achse II beinhaltet (meist schmerzbezogene) psychosoziale Parameter, wie Depressivität, Ängstlichkeit, Disstress, negative Stressverarbeitungsstrategien, Somatisierungsneigung, Katastrophisieren und Einschränkungen bei der Verrichtung von Alltagstätigkeiten. Die Berücksichtigung des schmerzassoziierten psychosozialen Befindens des Patienten gilt heute als diagnostischer Standard. Vorteilhaft erfolgt die Erfassung unter Verwendung validierter Filterfragebögen (Tab. 1-2). Die psychosozialen Befunde haben wie die somatischen Diagnosen direkte und differenzierte Auswirkungen auf die Behandlung.

1.1.6Diagnostik

Anamnese

Die CMD-bezogene Anamnese ist die entscheidende Grundlage der Diagnostik. Sie stellt eine eigene, in sich abgeschlossene zahnärztliche Leistung dar und wird als wichtiger angesehen als die nachfolgende klinische Untersuchung des Patienten26. Die Anamnese besteht zum einen aus einem fallbezogenen anamnestischen ärztlichen Gespräch. Zur Standardisierung der Patientenangaben ist darüber hinaus die Verwendung von validierten Filterfragebögen zur Beurteilung der psychosozialen Beeinträchtigung der Schmerzpatienten ratsam (Tab. 1-2).

Es empfiehlt sich, dass der (potenzielle) CMD-Patient bereits unmittelbar vor seinem ersten Kontakt mit dem Behandler einen Fragebogen über etwaige funktionelle Beeinträchtigungen im Kausystem ausfüllt, der auch Fragen zu nicht schmerzhaften Befunden enthält. Bei den meisten Patienten aber wird der Schmerz eine wichtige, wenn nicht die Hauptrolle einnehmen. Die „offizielle“ Definition von Schmerz der Internationalen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (International Association for the Study of Pain, IASP) lautet23:

„Schmerz ist eine unangenehme Sinnes- und Gefühlsempfindung, die mit einer aktuellen oder potenziellen Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird.“

Das darauf folgende schmerzanamnestische Gespräch nimmt auf relevante Antworten des Fragebogens Bezug und sollte folgende Bereiche abdecken:

Spezielle Schmerzanamnese:

Hauptbeschwerden,

Schmerzlokalisation,

Schmerzbeginn,

Schmerzdauer,

Schmerzhäufigkeit,

Schmerzqualität,

Schmerzstärke,

schmerzbeeinflussende Faktoren,

Begleiterscheinungen,

bisherige Behandlungen,

Behandlungserwartung des Patienten.

Zu erfragen sind auch psychosoziale Belastungsfaktoren vor und zum Zeitpunkt des Schmerzbeginns. Um das Ausmaß der seelischen Belastung einzuschätzen, ist oft der Weg über den „imaginären Dritten“ geeignet, um dem Patienten diesen (zumindest beim Zahnarzt) unerwarteten Gesprächsverlauf zu erleichtern: „Viele Patienten, die solche Beschwerden haben, berichten, dass ... Ist das bei Ihnen auch so?“

Für die Diagnostik von Patienten mit anhaltenden orofazialen Schmerzen eignet sich die Verwendung weiterer Befundbögen, die der Patient vor oder nach dem ersten Arzt-Patient-Kontakt in der Praxis oder daheim ausfüllt. Bei solchen Schmerzen handelt es sich nicht um lang anhaltende akute Schmerzen, sondern sie gehorchen eigenen Gesetzmäßigkeiten, weshalb eine intensivere Diagnostik angezeigt ist. Bewährt haben sich folgende Instrumente (Tab. 1-2):

Schmerz-Fragebogen;

Graduierung chronischer Schmerzen (GCS)38;

Depressions-Angst-Stress-Skalen (DASS)25;

Beschwerden-Liste ‒ revidiert39.

Eine besondere Bedeutung kommt der Erfragung etwaiger Schmerzlokalisationen außerhalb des Gesichtsbereichs zu. Normalerweise wird ein Patient, der einen Zahnarzt aufsucht, Schmerzregionen außerhalb der Kieferregion nicht ungefragt erwähnen. Es macht aber sowohl für die Therapiestrategie als auch für die Prognose einen großen Unterschied, ob nur lokale oder aber weit ausgebreitete Schmerzen vorhanden sind. Man kann dem Patienten diesen Teil des Bogens auch bereits vor dem Erstgespräch zum Ausfüllen geben. Für ihre Erfassung stehen im Schmerz-Fragebogen die Umrisse eines Menschen in den Ansichten von vorne, hinten und den Seiten zur Verfügung. Der Patient wird gebeten, alle topografischen Bereiche, in denen er typischerweise Schmerzen empfindet, mit einem Stift zu markieren. In ihrer klinischen Konsequenz übersteigen die Schmerzzeichnungen oft die Informationen, die man bei MAP-Patienten mittels einer Panoramaschichtaufnahme erhält. Im Gegenteil besteht bei der Bildgebung die Gefahr, dass Normvarianten irrtümlicherweise als an die klinischen Beschwerden anknüpfend interpretiert werden.

Tab. 1-2 Empfehlenswerte Fragebögen für die Diagnostik von sCMD-Patienten.

Bogen Merkmale Link
Schmerz-Fragebogen 14-seitiger Fragebogen zur Erfassung wichtiger anamnestischer Informationen bei persistierenden Schmerzen (u. a. Ganzkörperzeichnung) http://qos.quintessenz.de/qos/downloads/schmerzfragebogen.pdf
Hintergrund:
http://qos.quintessenz.de/index.php?doc=html&abstractID=13166
Graduierung chronischer Schmerzen (GCS) 7 Fragen zur Abschätzung des Ausmaßes der Chronifizierung von Schmerzen http://www.dentaconcept.de/Formblaetter/Chronische-Schmerzen.shtml
Depressions-Angst-Stress-Skalen (DASS) 21 Fragen zur subjektiven Erfassung der subjektiven Beeinträchtigung durch Depression, Angst und/oder körperliche Anspannung („Stress“) www.dentaconcept.de/Formblaetter/Belastungsfaktoren.shtml
Hintergrund:
Nilges & Essau25 sowie
www.dgss.org/fileadmin/pdf/Auswertung-DASS.pdf
Beschwerden-Liste ‒ revidierte Fassung (B-LR) 20 Fragen zur Erfassung der subjektiven Beeinträchtigung durch körperliche bzw. Allgemeinbeschwerden (Gesundheitsbelastungsindex) www.testzentrale.de/programm/beschwerden-liste-revidierte-Fassung.html

Die Schmerzanamnese erlaubt das Stellen einer Arbeitsdiagnose, die im Zuge der anschließenden Befundung in vielen Fällen bestätigt, teilweise aber auch modifiziert wird.

Aufgrund des subjektiven Charakters von Schmerzen und schmerzbegleitenden Variablen, die von Betroffenen lediglich verbal und/oder schriftlich, meist mithilfe von Fragebögen, beschrieben werden können, gehen einige Therapeuten bisweilen davon aus, bei Patientenbeschreibungen handle es sich um „weiche“ Daten, die bezüglich ihrer Qualität und Aussagekraft gegenüber „harten“, aus der klinischen, bildgebenden und instrumentellen Befundung gewonnenen Informationen zurückstehen. Diese Auffassung ist ein Irrtum, denn das Gegenteil trifft oftmals zu: Im Idealfall dienen die Untersuchungen, die sich an eine Schmerzanamnese anschließen, nur noch der Diagnosebestätigung oder -modifizierung.

Klinische Befundung

Bestandteile der klinischen Untersuchung

1.Messung der Unterkieferbeweglichkeit (Kondylenbeweglichkeit mit gleichzeitiger Beurteilung des Vorhandenseins von Kiefergelenkgeräuschen; maximale Kieferöffnung; maximaler Seit- und Vorschub des Unterkiefers). Für die numerische Erfassung des Ausmaßes der Unterkieferbeweglichkeit empfiehlt sich die Verwendung eines Lineals mit Millimeterskalierung, wobei das Lineal an einem Ende unmittelbar mit der 0-mm-Markierung beginnen muss.

2.Palpation der palpierbaren Kaumuskeln (M. temporalis, M. masseter) und der Kiefergelenke. Die Verwendung eines Druckalgometers (z. B. Palpeter) erlaubt eine Standardisierung dieser Untersuchung.

3.Okklusale Befundung, bei der vor allem das Vorhandensein von Okklusionskontakten in maximaler Interkuspidation und eingetretene Veränderungen der Zahnhartsubstanzen (Attritionen und Abfraktionen) als Hinweise für Zähneknirschen bzw. Kieferpressen überprüft werden.

Die erhaltenen Befunde werden in einem standardisierten Befundbogen dokumentiert.

Bildgebung

Im Rahmen der Diagnostik von Patienten mit sCMD-Beschwerden ist grundsätzlich eine Panoramaschichtaufnahme (Orthopantomogramm; Abkürzung: OPG oder OPT) anzufertigen. Vor allem angesichts der häufig geäußerten Sorge einer hohen Patientenexposition in der Strahlendiagnostik erscheint das günstige Nutzen-Risiko-Verhältnis von Panoramaschichtaufnahmen erwähnenswert: Bei vergleichsweise geringer Strahlenbelastung des Patienten ist der Informationsgehalt hoch. Der Hauptzweck eines OPTs liegt in der Differenzialdiagnostik. Darüber hinaus sind grobe morphologische Veränderungen in den Kiefergelenken erkennbar, die aber häufig keinen Krankheitswert besitzen. Für die Diagnosestellung und die Entscheidung eines Behandlungsbedarfs bei CMD-Patienten spielen die aus dem OPT gewonnenen Befunde allgemein eine weitaus geringere Rolle als die Ergebnisse der klinischen Untersuchung.

Der Einsatz der erweiterten Bildgebung ‒ heute sind damit in erster Linie die digitale Volumentomografie und die Magnetresonanztomografie genannt ‒ ist nach schmerzbezogener Anamneseerhebung, klinischer Untersuchung und Vorliegen einer zeitnah erstellten Panoramaschichtaufnahme denjenigen Fällen vorbehalten, in denen die Anwendung weiterer bildgebender Verfahren eine klare Relevanz der erwarteten Befunde für die Präzisierung der Diagnose und der sich daraus ergebenden Therapie bzw. Prognose erwarten lässt. Eine solche Relevanz liegt vor, wenn die individuelle Beschwerdesymptomatik bzw. Befundsituation dazu Anlass gibt, Diagnosen differenzialdiagnostisch – im Sinne des Ausschlusses oder der Abgrenzung – zu berücksichtigen, die spezifische, zum Teil auch nicht umkehrbare therapeutische Konsequenzen zur Folge haben können. Relevanz kann auch vorliegen, wenn die Beschwerdesymptomatik bzw. Befundsituation trotz eingeleiteter, konservativer reversibler Therapiemaßnahmen nicht zufriedenstellend beeinflussbar ist. Eine klare Relevanz liegt demgegenüber nicht vor, wenn die Befunde der erweiterten Bildgebung keine Auswirkungen auf die zu stellende Diagnose und die einzuschlagende Therapie haben, sondern lediglich im Sinne eines „Gesamtscreenings“ zusammen mit anderen Daten gesammelt werden.

1.1.7Therapie

Für Patienten mit den unterschiedlichen Facetten der sCMD wird eine Vielzahl von Behandlungmethoden angeboten. Allerdings stehen nicht alle auf einer hohen Evidenzstufe. Im Zeitalter der evidenzbasierten Medizin reichen unkontrollierte persönliche Erfahrungen und ohne Belege gegebene Ratschläge anerkannter Autoritäten für eine patientenbezogene Entscheidungsfindung jedoch nicht mehr aus. Vielmehr werden heute Nachweise für den Nutzen der jeweils in Aussicht genommenen Maßnahme(n) gefordert. Die Belege stammen vorwiegend aus in Fachzeitschriften veröffentlichten Ergebnissen und Erkenntnissen, die in klinischen Studien gewonnen wurden.

Eine moderne sCMD-Therapie zeichnet sich durch Interdisziplinarität und Multimodalität aus, die sich jeweils am individuellen Ausmaß der Beschwerden orientiert. So ist beispielsweise klar zwischen akuten, akut-persistierenden und chronischen Schmerzen zu unterscheiden. Bei sCMD handelt es sich um eine regionale Variante muskuloskelettaler Beschwerden, wie sie auch in anderen Körperregionen zu finden sind. Zeitgemäße Diagnostik und Behandlung der sCMD orientiert sich daher an bewährten medizinischen Konzepten.

Behandlungsempfehlungen bekannter Fachgesellschaften legen nahe, dass reversible Therapien invasiven Eingriffen vorzuziehen sind4,10,15,28. Dabei ist stets das Nutzen-Risiko-Verhältnis der zur Verfügung stehenden Behandlungsmittel zu beachten.

Das am häufigsten angewandte zahnärztliche Mittel sind orale Schienen. Ihre schmerzreduzierende Wirkung ist gut belegt, und zwar unabhängig von Konfiguration und Material6. Wegen ihres günstigen Nutzen-Risiko-Verhältnisses gilt die Michigan-Schiene international als Goldstandard7; sie ist zudem weltweit der am weitesten verbreitete Schienentyp18.

Hohe externe Evidenz existiert ferner für physiotherapeutische Selbstbehandlung24 und medikamentöse Therapie (z. B. wenige Tage dauernde Gabe von nicht steroidalen Antiphlogistika bei Kiefergelenkschmerzen; einige Monate dauernde Gabe niedrig dosierter trizyklischer Antidepressiva bei persistierenden Schmerzen)16,32. Weiterhin werden physikalische Therapie und professionelle Physiotherapie19, muskelentspannende Techniken (einschließlich Biofeedback und Verhaltenstherapie)11,17 sowie Akupunktur1,20 empfohlen, auch wenn in neueren Studien das Ausmaß der Wirksamkeit dieser Methoden teilweise relativiert wurde2,40. Die genannten Therapiemittel sind nicht im Sinne einer Entweder-Oder-Entscheidung auszuwählen, sondern sie sollten je nach Patientenfall multimodal eingesetzt werden, insbesondere bei komplexen Fällen37.