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ISBN:
978-3-86867-260-2 (ebook)
978-3-86867-107-0 (print)

Quintessenz Verlags-GmbH
Ifenpfad 2–4, 12107 Berlin
www.quintessenz.de

Copyright © 2013 Quintessenz Verlags-GmbH, Berlin

Copyright © S3-Leitlinie: Deutsche Gesellschaft für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) 2012.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Deutsche Bearbeitung und Übersetzung: PD Dr. med. Dr. med. dent. Christian Walter, Mainz
Herstellung und Reproduktionen: Quintessenz Verlags-GmbH, Berlin

  Inhaltsverzeichnis

Widmung

Vorwort zur zweiten englischsprachigen Auflage

Vorwort zur ersten englischsprachigen Auflage

1Beschreibung und Geschichte der Bisphosphonat-induzierten Osteonekrose der Kiefer

2Wirkweise und Pharmakokinetik der Bisphosphonate

3Medizinische Indikationen der Bisphosphonate

4Osteopetrose: ein genetisches Analogon zur Bisphosphonat-induzierten Osteonekrose der Kiefer

5Risiko, Prävention und Management der durch intravenöse Bisphosphonate induzierten Osteonekrose

6Risiko, Prävention und Management der durch orale Bisphosphonate induzierten Osteonekrose

7Klinisch pathologische Fallsammlung

Nachwort von Christian Walter

Leitlinie „Bisphosphonat-assoziierte Kiefernekrose“

Sachregister

  Widmung

Ich widme dieses Buch meinem Vater, Nicholas A. Marx Senior, und meiner Mutter, Eva M. Marx. Als Immigranten aus dem vom Ersten Weltkrieg zerrütteten Europa gestalteten sie ihr Leben und pflegten während der Turbulenzen der großen Depression, des Zweiten Weltkrieges, des Korea- und des Vietnamkrieges in ihrer Familie gemeinsame Wertvorstellungen. Im Namen meiner Brüder Nicholas A. Marx jr. und Carl M. Marx möchte ich unsere tiefste Dankbarkeit für ihre harte Arbeit und unzähligen Aufopferungen zum Ausdruck bringen, die es uns ermöglicht haben, den großartigen amerikanischen Traum zu leben.

  Vorwort zur zweiten englischsprachigen Auflage

Es ist meine Hoffnung, dass der Leser das Vorwort zur ersten Auflage nicht überspringt, sondern zusammen mit diesem liest.

Seit der ersten Auflage ist viel Wissen hinzugekommen und die Fronten sind neu abgesteckt. Das bedeutet, dass die Novartis-Medikamente Zometa (Zoledronat), mit 4mg einmal monatlich intravenös bei Knochenmetastasen oder Hyperkalzämie verabreicht, und Aclasta, einmal jährlich mit 5 mg in der Osteoporosetherapie eingesetzt, die toxischsten intravenös zu applizierenden Substanzen darstellen, die für den Großteil der Bisphosphonat-induzierten Osteonekrosen (BIONJ) verantwortlich sind. Die Substanz Fosamax (Alendronat) der Firma Merck mit 70mg oral einmal wöchentlich ist das toxischste orale Präparat und für den überwiegenden Teil der durch orale Bisphosphonate induzierten Osteonekrosen verantwortlich. Sie wurde jetzt mit spontanen Femurfrakturen – deren Vermeidung ihre eigentliche Indikation ist – bei Langzeiteinsatz in Verbindung gebracht. Die stärkere Toxizität des Zoledronats liegt in der höheren Potenz und der intravenösen Verabreichung, wohingegen die erhöhte Toxizität des Alendronats an der Dosis liegt. Alendronat als Fosamax vertrieben, hat die doppelte Dosis (70mg/Woche) im Vergleich zur Konkurrenz mit Risedronat (Actonel, 35mg/Woche) und Ibandronat (Bonviva, 150mg/Monat, was einer wöchentlichen Dosis von 35mg/Woche entspricht).

Die Fronten sind daher zwischen diesen Firmen mit ihren bezahlten Beratern einerseits und den unabhängigen Forschern sowie den Patienten andererseits, die diese Firmen jetzt verklagen, gezogen. Das traurige Faktum ist, dass sowohl Novartis als auch Merck behaupten, ihre Präparate induzierten keine BIONJ. Dies ist merkwürdig, wenn man bedenkt, dass zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Buches über 1100 peer-reviewed Publikationen mit mehr als 4500 Autoren Beweise für die Ursache liefern, aber keine, die diese widerlegen. Selbst die ICD-9, herausgegeben von der American Medical Association, hat dieser Erkrankung einen spezifischen Code gegeben: 733.45 ist die „Medikamenten-induzierte“ Osteonekrose der Kiefer. Des Weiteren haben alle zahnmedizinischen Fachrichtungen und mindestens vier medizinische Gesellschaften Empfehlungen zum Thema Bisphosphonate und Kieferknochennekrosen veröffentlicht; und all dies für einen Zustand, der den Pharmafirmen zufolge gar nicht existiert. Das wichtigste Gegenargument dieser Firmen ist das Fehlen prospektiv randomisierter Studien, die einen Zusammenhang beweisen. Dies ist zusätzlich merkwürdig, da die Originalstudien von Novartis und Merck gerade solche randomisierten Studien waren, aber deren bezahlte Wissenschaftler niemals die Mundhöhle untersucht haben oder die Kieferbeschwerden der Studienpatienten sondiert haben. Inzwischen ist ans Licht gekommen, dass Patienten tatsächlich während der Studie und noch mehr im weiteren Verlauf eine BIONJ entwickelt haben. Zurzeit werden randomisierte Bisphosphonatstudien mit Kontrollen wegen des Sicherheitsrisikos bei unnötiger Aussetzung von Patienten gegenüber toxischen Medikamenten durch Ethikkommissionen abgelehnt.

Die Betroffenheit wächst, bedenkt man den enormen finanziellen Aufwand, den diese Firmen gegenüber vielen Gesellschaften, Journalen, einzelnen Ärzten und Zahnärzten betreiben, als Gegenleistung für das Leugnen der offensichtlichen Ursache und für die Trivialisierung der Bedeutung der BIONJ. Ein deutliches Beispiel ist, dass 19 der 24 „Experten“ einschließlich des Kommissionsvorsitzenden zum Bisphosphonatpositionsartikel der American Society of Bone and Mineral Research bezahlte Berater dieser Pharmafirmen waren. Außerdem war ein weiteres Kommissionsmitglied, ein Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurg, bezahlter Berater, gab dies aber nicht an. Darüber hinaus war zu diesem Zeitpunkt der Herausgeber des Journal of Oral and Maxillofacial Surgery bezahlter Berater und Mitglied der American Association of Oral and Maxillofacial Surgeons Task Force für Bisphosphonate.

Die Wichtigkeit dieses Buches für den Leser liegt darin begründet, dass die BIONJ eine reale Erkrankung ist, über die man nicht hinweg sehen darf, trotz ihrer Verleugnung durch die Pharmaindustrie bzw. im Rahmen von Podiumsdiskussionen durch deren bezahlte Berater. Die Patienten, die Sie und ich sehen, haben eine reelle toxische Knochenproblematik und exponierten Knochen, oft mit Schmerzen, Schwellungen, Fisteln und sekundären Infektionen, eventuell mit Kieferhöhlenbeteiligung. Diese, wie alle unsere Patienten, kommen zu uns in Erwartung einer unvoreingenommenen Untersuchung und im Glauben an die größtmöglichen Bemühungen um die beste Prävention und Behandlung von Erkrankungen. Wenn wir diesen Pharmakonzernen und ihren bezahlten Beratern glauben, dann wären 1100 Artikel sowie ein Berg an Beweisen falsch und 4500 Autoren befänden sich im Irrtum; außerdem hätte jeder von uns, der diese Patienten behandelt, nachlässig gehandelt.

Das Ziel dieser zweiten Auflage ist es, den Leser mit den neuesten Fakten und besten aktuellen Empfehlungen zur Prävention und Behandlung dieser Erkrankung auf den neuesten Stand zu bringen. Diese Auflage beinhaltet eine neuere, exaktere und vereinfachte Stadieneinteilung sowie mehr Informationen über Nutzen und Schwächen der Serum-CTX-Testung für orale Bisphosphonatfälle und Hinweise, wie diese vom Behandler am besten eingesetzt werden kann.

Einige neue Managementprinzipien und chirurgische Techniken werden sowohl im Text als auch in den Fallbeispielen diskutiert. Weitere Informationen zur Osteopenie und Osteoporose erlauben dem Leser eine bessere Abstimmung von Präventions- und Behandlungsstrategien mit behandelnden Ärzten. Abschließend wird die Osteoporosebehandlung mit Aclasta (Zoledronat 5mg i. v. einmal jährlich) aufgearbeitet, und unter dieser Therapie bereits aufgetretene BIONJ-Fälle werden präsentiert.

Es ist die Hoffnung des Autors, dass dieses Buch allen Klinikern, die Patienten behandeln, die diese Medikamente einnehmen, hilft, das Problem besser zu erfassen und hoffentlich einige Fälle zu vermeiden, und falls nicht, diese bestmöglich zu behandeln.

  Vorwort zur ersten englischsprachigen Auflage

Entdeckung einer neuen Erkrankung

„Wenn man denkt, man hätte eine neue Erkrankung entdeckt, hat man wahrscheinlich die Literatur nicht gründlich durchgesehen.“ (Anonymus)

Die drei Stadien einer wissenschaftlichen Theorie

Stadium 1:Sie wird verspottet und angezweifelt.

Stadium 2:Sie wird als wahr akzeptiert, bleibt jedoch bedeutungslos und trivial.

Stadium 3:Sie ist korrekt, vielleicht sogar revolutionär. Freilich beanspruchen nun ihre größten Kritiker, sie entdeckt zu haben und die Experten zu sein. (Anonymus)

Es ist fast unheimlich, wie die Geschichte der Bisphosphonat-induzierten Osteonekrose der Kiefer sich in diesen beiden Zitaten widerspiegelt. Als erstmalig Patienten mit exponiertem Knochen, der nicht mit einer Radiatio assoziierte war, vorstellig wurden und wir als einzigen gemeinsamen Nenner die Bisphosphonattherapie ausmachten, dachte ich, wir hätten eine neue Erkrankung entdeckt oder zumindest eine neue Medikamentennebenwirkung. Allerdings werden Sie im ersten Kapitel sehen, dass ich falsch lag. Vielmehr handelt es sich um die gleiche Erkrankung, wie die berüchtigte „phossy-jaw“-Erkrankung von Bergleuten im Phosphorabbau und Arbeitern der Streichholzproduktion des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die damals von zahlreichen Autoren beschrieben wurde.

Als ich in einer Warnung in Bezug auf Patienten mit moderner, intravenöser Bisphosphonattherapie das Auftreten von exponiertem, nicht heilendem Knochen thematisierte, der nach chirurgischem Debridement einen Befundprogress zeigte, wurde dies fast generell abgelehnt und der Report stark bezweifelt. Ich erinnere mich an Ärzte und Wissenschaftler bei Novartis, die den exponierten Knochen den Chemotherapeutika und der Gabe von Dexamethason zuschrieben, als auch an Peer Reviewer beim New England Journal of Medicine, die behaupteten, es sei unmöglich und keine richtige Entität, als meine Einreichung abgelehnt wurde. Als kurz danach allerdings mein Kollege Dr. Salvatore Ruggiero eine Fallserie publizierte, gefolgt von einer Flut weiterer kleiner Serien und Fallberichte aus der ganzen Welt, wurde eine Zahl an Fällen mit Bisphosphonat-induzierter Osteonekrose der Kiefer erreicht, die nicht länger ignoriert werden konnte.

Das zweite Stadium begann mit vereinzelter, zurückhaltender Akzeptanz und Klarstellung der Unwichtigkeit durch andere. Unterschiedlichste „Letters to the Editor“ tauchten auf, die nach einer Perspektive fragten, die das Problem einer Überreaktion zuschrieben und die die Ursachen-Wirkungs-Beziehung verleugneten. Dem folgte eine Explosion von weiteren Studien mit harten Fakten. Unsere Studie erschien im November 2005 im Journal für Oral and Maxillofacial Surgery, schnell gefolgt von vier unabhängigen Studien in der Dezemberausgabe des Journals of the American Dental Association. In den ersten zwei Monaten des Jahres 2006 wurden mehr als 200 weitere Fälle in Journalen unterschiedlicher medizinischer und zahnmedizinischer Fachrichtungen aus aller Welt beschreiben. Die Signifikanz der Erkrankung wurde offensichtlich, selbst bei stärksten Zweiflern.

Zurzeit ist Stadium drei in voller Blüte. Fast alle zahnärztlichen Gesellschaften, viele medizinische Gesellschaften und manche Pharmaunternehmen haben von sogenannten Expertengruppen erstellte, offizielle Positionspapiere herausgegeben. Hierzu gehören die American Association of Oral and Maxillofacial Surgeons, die American Dental Association, die American Academy of Oral Medicine, die American Academy of Periodontology, die American Association of Oral and Maxillofacial Pathology, die American Society of Bone and Mineral Research, die Mayo Clinic und Novartis. Offen gestanden haben manche Studien – mit wenigen Daten voreilig zusammengestellt und daher mit wenig Substanz – nur den Zweck, ein Interesse und öffentliche Besorgnis zu bekunden.

Die Absicht dieses Überblickes ist es nicht, wohlmeinende Fachgesellschaften anzugreifen, die das Mysterium vermutlich klären möchten, und auch nicht, sich auf Selbstherabwürdigung oder Selbstverherrlichung einzulassen. Es soll hingegen gezeigt werden, dass es keine wirklichen Experten, diesen Autor eingeschlossen, gibt. Fachleute der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, der medizinischen Onkologie, Parodontologie, Knochenforschung, Pharmakologie, Endokrinologie und weitere haben Expertenpanels gebildet, um sich mit diesem Problem zu befassen. Die unausweichliche Wahrheit ist allerdings, dass niemand von diesen Individuen ein Experte auf dem Gebiet der Bisphosphonat-assoziierten Osteonekrose ist. Die moderne Form dieser Erkrankung ist einfach zu jung, als dass eine Gruppe genügend Daten und Langzeiterfahrung hätte sammeln können.

Dementsprechend präsentiert dieses Werk in bescheidener Weise eine Darstellung der heutigen Wahrheit. Die relevante Geschichte, der Wirkmechanismus, der beabsichtigte Nutzen der Bisphosphonate, die klinische und ursachenbezogene Korrelation zur Osteopetrose, das Problem der Präventions- und Therapierichtlinien bei intravenöser Bisphosphonatgabe, das Problem der Präventions- und Therapierichtlinien bei oraler Bisphosphonatgabe und abschließend Fallbeispiele, die den theoretischen Teil veranschaulichen sollen, werden in dieser Reihenfolge in den Kapiteln 1 bis 7 dargelegt.

Sinn dieses Buches ist es, meine zahnärztlichen und gegebenenfalls auch ärztlichen Kollegen, basierend auf dem jetzigen Wissen und Verständnis, fortzubilden. Des Weiteren ist es meine Hoffnung, dass die in den Kapiteln 5 und 6 beschriebenen Präventionsmaßnahmen in Verbindung mit den klinischen Szenarien und Fallberichten des 7.Kapitels zum noblen Konzept der Präventionsmedizin beitragen und dass die Behandlungsrichtlinien Schmerz und Leiden von möglichst vielen Patienten mindern.

1 Beschreibung und Geschichte der Bisphosphonat-induzierten Osteonekrose der Kiefer

Was ist die Osteonekrose der Kiefer?

Die Bisphosphonat-induzierte Osteonekrose der Kiefer bezieht sich auf einen Zustand mit exponiertem Knochen im Bereich des Unter- oder Oberkiefers, der für mehr als 8Wochen bei Patienten besteht, die aktuell oder in der Vergangenheit Bisphosphonate eingenommen haben, bei fehlender Radiatio unter Einschluss der Kiefer.1 Der exponierte Knochen ist in der Tat abgestorben (Osteonekrose), wobei das Absterben des Knochens eine sekundäre Folge der Knochentoxizität der Bisphosphonate ist, ähnlich der genetisch vererbten Erkrankung der Osteopetrose, wie in Kapitel 4 beschrieben wird. Klinisch zeigt sich die Erkrankung als freiliegender Alveolarknochen, der spontan (Abb. 1-1a) oder nach invasiven chirurgischen Prozeduren, wie z.B. Zahnextraktionen (Abb. 1-1b), Parodontalchirurgie, Wurzelspitzenresektionen oder Implantationen auftritt. Die Erkrankung manifestiert sich meist in den Kiefern. Bis jetzt ist an keiner anderen Stelle des Skeletts exponierter Knochen beschrieben worden; jüngst wurden allerdings Femurfrakturen unter Langzeitbehandlung (6 oder mehr Jahre) mit Alendronat (Fosamax, Merck) beschrieben (Abb. 1-2).2,3 Die Osteonekrose der Kiefer beginnt immer im Bereich des Alveolarkamms und kann zur Basis oder zum Ramus fortschreiten (Abb. 1-3 und 1-4). Gelegentlich sind frühe subklinische radiologische Zeichen, wie Sklerosierung (Abb. 1-5) und Verlust der Lamina dura (Abb. 1-6) und/oder Weitung des Parodontalspaltes besonders im Bereich der Molaren sichtbar.

Abb. 1-1a In der Molarenregion spontan freiliegende, linguale Unterkieferkompakta als typische Manifestation der Bisphosphonat-induzierten Osteonekrose der Kiefer.

Abb. 1-1b Nicht heilender, exponierter Knochen nach Extraktion eines mittleren und des benachbarten seitlichen Schneidezahnes.

Abb. 1-2 Atypische Oberschenkelfraktur verursacht durch verlängerte Alendronateinnahme (Fosamax).

Abb. 1-3a Osteosklerose des Alveolarkammes im Bereich der Alveole des zweiten Molaren.

Abb. 1-3b Bei Persistenz der Bisphosphonat-induzierten Osteonekrose kommt es gewöhnlich zur Osteolyse und Fortschreiten der Erkrankung zur Unterkieferbasis.

Abb. 1-3c Persistenz der Bisphosphonat-induzierten Osteonekrose. Osteolyse und Osteosklerose werden deutlicher.

Abb. 1-3d Weiteres Fortschreiten der sekundär infizierten, Bisphosphonat-induzierten Osteonekrose bis an die Unterkieferbasis mit erhöhtem Risiko der Entwicklung einer pathologischen Fraktur.

Abb. 1-4 Selbst nach Resektion des halben Unterkiefers sind Anzeichen der Bisphosphonat-induzierten Osteonekrose im Bereich des Ramus und Processus condylaris erkennbar.

Abb. 1-5 Eine Sklerosierung der Lamina dura kann vor Exposition des Knochens auftreten. Dies ist ein Frühzeichen der Bisphosphonattoxizität auf den Alveolarknochen.

Abb. 1-6 In manchen Fällen kommt es zum Verlust der Lamina dura als Frühzeichen der Bisphosphonattoxitzität auf den Alveolarknochen.

Abb. 1-7 Die Erweiterung des Parodontalspaltes kann ein offensichtliches oder Frühzeichen für die Bisphosphonattoxizität auf den Alveolarknochen darstellen und kann mit signifikanter Osteolyse assoziierte sein.

Frühe Berichte zur Bisphosphonat-induzierten Osteonekrose der Kiefer

Die Bisphosphonat-induzierte Osteonekrose der Kiefer wurde erstmalig 2002 durch Marx und Stern beschrieben.4 Zu diesem Zeitpunkt war es noch ein sonderbarer Befund mit nicht heilendem Knochen, der sich nach Debridement noch verschlimmerte und zu größeren Arealen freiliegenden Knochens führte. Alle in dieser Studie beschriebenen Patienten erhielten Pamidronat (Aredia, Novartis) zur Eindämmung maligner Tumorversprengungen in den Knochen. Der Berufsstand wurde 2003 erstmalig durch den Autor formell über diese unerwünschte Medikamentenwirkung im Journal of Oral and Maxillofacial Surgery (JOMS) informiert. Es wurden 36 Fälle in Zusammenhang mit intravenös applizierten Bisphosphonaten (Pamidronat und Zoledronat [Zometa, Novartis]) beschrieben.5

Noch vor der Publikation wurden Vertreter von Novartis, dem Hersteller der intravenös zu verabreichenden Bisphosphonate (Pamidronat und Zoledronat), die die Osteonekrose verursachen, eingeladen, um zwei Patienten zu untersuchen und die anderen 34 Fälle zu diskutieren. Obwohl sie ihre Sorge gegenüber dem Leid der Patienten zum Ausdruck brachten, wurde die Möglichkeit, dass die Osteonekrosen in irgendeinem Zusammenhang zu ihren Medikamenten stünden, abgelehnt, da in ihren präklinischen Tierstudien und unter 3600 Patienten kein Fall von Knochennekrosen vorgefunden worden sei. Der freiliegende Knochen wurde der Chemotherapie und gegebenenfalls einer Dexamethasontherapie, die 55% dieser Patienten ebenfalls erhielten, zugeschrieben. Während dieses Besuches wurde dem Medical Director von Novartis, Herrn Dr. Peter Tarassoff, eine vorläufige Version der Publikation ausgehändigt. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung im JOMS lag bereits von Dr. Tarassoff und den Koautoren von Novartis eine Erwiderung vor, die einen Kausalzusammenhang zwischen den durch Novartis hergestellten, intravenös zu applizierenden Bisphosphonaten und den bei diesen Patienten aufgetretenen Nekrosen der Kiefer verneinte.6

Die Ursachenbegründung in der Toxizität der Chemotherapie war naheliegend und passend. Tatsächlich wurde in derselben Ausgabe des JOMS ein Artikel von Wang et al. veröffentlicht, der drei Fälle von Knochennekrosen im Unterkiefer beschrieb, die Chemotherapeutika zugeschrieben wurden.7 Allerdings wurde auch berichtet, dass alle drei Patienten Aredia bekamen. Um das Versäumnis zu korrigieren, wurde ein weiterer Artikel über Aredia als verursachender Faktor für den exponierten Knochen veröffentlicht.8 Kurz darauf wurden weitere schlüssige Befunde in der 2005er Novemberausgabe des JOMS und drei weitere Artikel im Journal of the American Dental Association im Dezember 2005 veröffentlicht.9–12 Seit der Originalveröffentlichung 2003 sind inzwischen mehr als 1100 Artikel von über 4500 Autoren, darunter mindestens 14Positionspapiere über das, was mittlerweile als Bisphosphonat-induzierte Osteonekrose der Kiefer (BIONJ) anerkannt ist, veröffentlicht.

Ironischerweise wird der stärkste Beleg für eine Ursachen-Wirkungs-Beziehung zwischen Bisphosphonaten und der Osteonekrose der Kiefer durch die Ergebnisse einer von Novartis durchgeführten Studie geliefert, die das Ziel hatte, die Zulassung durch die Food and Drug Administration (FDA) zu erreichen. In dieser Studie erhielten Patienten mit Knochenmetastasen entweder einzig ihre normale Chemotherapie oder eine Chemotherapie mit einem Cortisonschema und intravenösen Bisphosphonaten (entweder Aredia oder Zometa). Patienten mit derselben malignen Grunderkrankung, jedoch ohne Knochenmetastasen, erhielten ebenfalls ihre normale Chemotherapie und ein identisches Cortisonschema aber keine Bisphosphonate. Interessanterweise haben nur die Patienten, die ein Bisphosphonat erhielten, jeweils exponierten Knochen entwickelt. Dies wurde zu einer der besten randomisierten kontrollierten und wahrlich doppelblinden Studien in der Geschichte der Medizin und Zahnmedizin.

Mängel in der Originalstudie von Novartis lassen Zweifel entstehen. Die Begründung, dass in Tierstudien keine Knochennekrosen aufgetreten seien, liegt wahrscheinlich darin begründet, dass der tierische Knochenmetabolismus extrem resistent gegenüber chemischen und physischen Faktoren ist. Die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie sucht bereits seit vier Dekaden – ihre historische Nemesis – nach einem verlässlichen Tiermodell zur Osteoradionekrose. Bis jetzt gelang entweder die Exposition von Knochen nicht, oder die Strahlendosis wurde erhöht, was schließlich zum Tod des Studientieres führte. In ihren klinischen humanen Studien behauptet Novartis, dass es bei den mehr als 3600 Patienten nicht zur Exposition von Knochen gekommen sei. Dies ist falsch; die Wahrheit ist, dass niemals daran gedacht wurde, nach freiliegendem Knochen in der Mundhöhle zu suchen. Untersuchungen der Mundhöhle vor oder nach intravenöser Bisphosphonattherapie wurden weder durchgeführt, noch wurde ein Zahnarzt oder Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurg zum Untersuchungsteam hinzugezogen. Diese Fakten kamen während eines Symposiums zu Bisphosphonaten und Osteonekrose der Kiefer bei der 87. jährlichen Tagung der American Association of Oral and Maxillofacial Surgeons in Boston, im September 2005 ans Licht.13 Während des Symposiums erklärte Dr. Noopur Raje, damals Onkologe und Assistant-Professor für Chirurgie des Dana Farber Cancer Instituts von Harvard und ehemals Mitarbeiter bei Novartis, dass sechs Patienten sich über freiliegenden Knochen im Bereich der Mundhöhle beklagt hätten. Allerdings wurden diese Beschwerden nicht weiter verfolgt, da sie zuvor als Nebenwirkung im Protokoll nicht aufgenommen worden waren. Inzwischen ist bekannt, dass später weitere Patienten dieser Studie exponierten Knochen entwickelten und durch Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgen unabhängig von der Studie gesehen wurden, dies aber nicht zu den Studiendaten aufgenommen wurde.

Zur weiteren Widerlegung der Behauptung, dass Chemotherapeutika und Steroide anstatt der Bisphosphonate Ursache für die Osteonekrosen der Kiefer sind, muss man nur die wachsende Zahl an Patienten berücksichtigen, die orale Bisphosphonate wegen Osteopenie oder Osteoporose einnahmen, speziell Alendronat (Fosamax, Merck), weniger oft Risedronat (Actonel, Procter and Gamble), und die ebenfalls Osteonekrosen entwickeln. Diese Patienten haben keine malignen Erkrankungen und wurden niemals mit Chemotherapeutika oder Steroiden behandelt. In unserer Studie wurden 180 konsekutive Patienten untersucht, die an die Miller School of Medicine der Universität von Miami überwiesen worden waren und die für einen Zeitraum von 8 oder mehr Wochen exponierten Knochen aufwiesen, ohne dass eine Kopf-Hals-Radiatio vorgelegen hatte. Die Ergebnisse zeigten, dass 180 Patienten (100%) aktuell Bisphosphonate (Fosamax) erhielten oder zuvor erhalten hatten, 127 intravenös und 53 oral. Keiner dieser Patienten hatte eine vorherige Osteomyelitis und in nur 28% (51/180 Patienten) konnte ein weiteres Medikament ausgemacht werden, das potenziell mit einer Osteonekrose in Zusammenhang stehen könnte. Bisphosphonate sind in der Tat die einzige Ursache für diese Art der Osteonekrose der Kiefer. Kein anderes untersuchtes Medikament bzw. keine andere Komorbidität führte in Abwesenheit von Bisphosphonaten zur Entwicklung von exponiertem Knochen im Bereich der Kiefer.

Abb. 1-8a Die FDA verlangte 2004 die Aufnahme eines Statements unter den Medikamentennebenwirkungen bei allen intravenös zu applizierenden Bisphosphonaten.

Novartis lud im Dezember 2003 und erneut im April 2004 Zahnärzte, Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgen, Onkologen, Dentalhygieniker und andere zur Diskussion von Patientenfällen und zur Erstellung von Präventions- und Behandlungsprotokollen ein. Durch diese Konferenzen wurde die FDA auf den Zusammenhang zwischen den Osteonekrosen der Kiefer und den Medikamenten Aredia und später Zometa aufmerksam. Die FDA reagierte unverzüglich, indem sie eine sogenannte Black-Box-Warnung für diese Medikamente verhängte, die stärkste mögliche Warnung, die durch die FDA ausgesprochen werden kann (Abb. 1-8a und 1-8b). Im weiteren wurde die Osteonekrose der Kiefer in die Produktinformation für Behandler und Pharmazeuten mit aufgenommen. In einem so genannten White-Paper-Artikel wurden Diskussionen und Empfehlungen, die ebenfalls aus dieser Konferenz hervorgegangen waren, im Journal of Oncology Practice veröffentlicht.14 Leider wurde in diesem Artikel eine Ursachen-Wirkungs-Beziehung nicht mit aufgenommen und die meisten Empfehlungen waren nicht spezifisch und nicht durch Daten untermauert. Im November 2006 berief auch Merck ein Gremium von über 20 Experten ein, inklusive des Autors dieses Buches. Ein White-Paper ging hieraus nicht hervor.

Abb. 1-8b Die von der FDA verlangte Zometa-spezifische Nebenwirkungsdeklaration.

Im Januar 2005 wies die FDA die Firmen Roche (Hersteller von Boniva), Procter and Gamble (Hersteller von Actonel) und Merck (Hersteller von Fosamax) auf die der FDA am 1.Dezember 2003 zugekommenen, inadäquaten Beipackzettel hin und empfahl spezifische Änderungen und Ergänzungen bei den Sicherheitshinweisen. In den zwei durch die FDA vorgelegten Paragrafen wurde zusätzlich darauf hingewiesen, dass Osteonekrosen der Kiefer auch bei postmenopausaler Osteoporose und anderen Erkrankungen auftreten könnten. Beide, Roche sowie Procter and Gamble, akzeptierten die Empfehlungen. Merck hingegen tat dies nicht, ließ den Text zu den Osteoporosepatienten weg und implizierte dadurch, dass nur Tumorpatienten Osteonekrosen entwickelten – ein Irrglaube, der sich noch Jahre unter Ärzten halten sollte.

Abb. 1-9 Ein im British Medical Journal von 1899 publizierter Artikel berichtete über das Auftreten von freiliegendem Kieferknochen und Knochennekrosen bei Arbeitern, die weißem Phosphor ausgesetzt waren. Phossy jaw wurde diese Krankheit genannt.17

Bezüglich der steigenden Zahl an subtrochantären Femurfrakturen wies die FDA im Oktober 2010 darüber hinaus auf ein mögliches Frakturrisiko bei Osteoporosemedikamenten hin.15 Diese Warnung betraf alle in der Osteoporosetherapie eingesetzten Bisphosphonate und forderte Änderungen in der Produktbeschreibung.

Obwohl das Lehrbuch von Marx und Stern erstmalig BIONJ beschreibt, wurde genau diese Erkrankung bereits vor mehr als 100Jahren als Berufserkrankung namens phossy jaw beschrieben.4,16,17 Arbeiter in Phosphorminen und vor allem Arbeiter in Streichholzfabriken in den USA und Großbritannien, die engen Kontakt zu erhitzten Phosphordämpfen hatten, entwickelten nicht heilende Areale exponierten Knochens im Bereich des Mundes in enger Korrelation zur Zeitspanne, die sie in der Fabrik bereits gearbeitet hatten (Abb. 1-9).17,18 Kürzlich wurde gezeigt, dass diese chronische Exposition gegenüber phosphorhaltiger Luft zu einer Akkumulation von Bisphosphonatverbindungen im Knochen führte und in derselben Erkrankung resultierte, die heute durch medikamentösen Einsatz von Bisphosphonaten hervorgerufen wird.19–21

Literatur

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10.Migliorati CA, Casiglia J, Epstein J, Jacobsen PL, Siegel MA, Woo SB. Managing the care of patients with bisphosphonate-associated osteonecrosis. An American Academy of Oral Medicine position paper. J Am Dent Assoc 2005;136:1658–1668.

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2 Wirkweise und Pharmakokinetik der Bisphosphonate