Kapitel 1

Montgomery wird kleiner und kleiner im Rückspiegel. Immer wieder hebe ich den Blick vom Freeway, um meine Stadt noch einmal zu sehen. Ein letztes Mal. Ein allerletztes Mal. Dann verschwindet sie hinter einer Kurve, und ich fühle mich endgültig elend, atemlos für ein paar Sekunden, wie abgeschnitten von meinem Leben. Von allem, was mir wichtig ist. Von Marc, der sich jetzt auf die Aufnahme seines neuen YouTube-Videos vorbereitet – bei der ich nicht dabei sein werde. Nie, kein einziges Mal im vergangenen Jahr habe ich eine Aufnahme verpasst. Immer war ich dabei.

Tränen prickeln in meinen Augen, und in meiner Brust formt sich ein Klumpen. Ein zorniges Krächzen steigt aus meiner Kehle auf, dann rollen die Tränen über meine Wangen. Ich packe das Lenkrad fester, schaue stur geradeaus, bloß nicht zur Ausfahrt, bloß nicht daran denken, einfach zurückzufahren. Das ist keine Option.

Bei der Erinnerung an Marcs Kuss werden die Tränen heißer. Ein Jahr lang habe ich auf diesen Kuss gewartet. Auf diesen Kuss, der mehr ist als die Einleitung zum Sex. Ein Kuss, mit dem wir nicht in der Kiste gelandet sind, sondern einer, mit dem er mir gesagt hat, dass er mich gernhat. Ein Abschiedskuss, beschissenerweise. Dass er mich vermissen wird, hat er mir danach ins Ohr gemurmelt, mich umarmt und versprochen, mich zu besuchen.

Mein Wunsch, nicht aus Montgomery wegzumüssen, ist total sinnlos. Ich muss, dank der Sturheit meiner Eltern und ihrem irren Glauben, mich in die brave, pflegeleichte, Einsen schreibende Tochter zurückverwandeln zu können. Also wünsche ich mir für den Moment nichts sehnlicher, als dass Marc sein Versprechen hält. Zwei Monate ohne ihn, in diesem piefigen Ferienort, umgeben von Sonnenhut-und-Selfiestick-Touristen, denen ich auch noch alles recht machen muss, würde ich nicht überleben. Ich schwöre, dass ich erst wieder lachen werde, wenn Marc bei mir ist. Und ich schwöre, dass sich Annie warm anziehen kann, wenn sie sich ihm in dieser Zeit an den Hals wirft. Nur weil ich nicht da bin und sie glaubt, freie Bahn zu haben.

Klar wird sie es versuchen, ächzt es boshaft in mir. Du bist nicht naiv, Jazz, also glaub nicht, dass sie auch nur die kleinste Chance verstreichen lässt. Gleich heute Abend wird sie sich auf die Party schmuggeln und ihm nicht mehr von der Seite weichen.

Mit einem Schnauben schiebe ich die Gedanken beiseite. Dass Annie es versucht, bedeutet schließlich nicht, dass Marc darauf hereinfällt. Kein zweites Mal. Das eine Mal, und dass er dann eine Weile Luft für mich war, war ihm eine Lehre, sich von Annie fernzuhalten. Überhaupt ist sie auch gar nicht sein Typ. Sie hat keinen Stil und keine Ahnung von Musik, zumindest nicht von solcher, wie Marc sie macht. Ehrlich und tiefgründig, so simpel wie intelligent. Nicht zu vergleichen mit dem Schranz, mit dem Annie wer werden möchte. Marc wird sich denken können, dass sie von seiner wachsenden Popularität profitieren will, um es mit ihrem unerträglichen Punk und der rotzigen Attitüde zu etwas zu bringen. Bis über beide Ohren verliebt ist sie natürlich auch, das kleine Träumerle! Aber Marc LeBlanc ist nicht der Typ für feste Beziehungen. Das war die erste Lektion, die er mir erteilt hat.

Als der Player zum nächsten Titel springt und die Anfangstöne eines meiner Lieblingssongs von Marc erklingen, drehe ich die Musik auf und surfe auf den Wellen seiner Melancholie, um sie mit meiner zu verschmelzen.

Mit den Richtungsschildern und den Werbetafeln zu beiden Seiten der Fahrbahnen rauschen meine Gedanken, die Meilen, zwei Stunden vorbei. Auf Höhe von Holly Hills, eine Stunde vor Orange Beach, werde ich so müde, dass ich eine Ausfahrt nehme und mir an einem Drive-in einen Kaffee kaufe. Ich setze den Becher in die Halterung der Mittelkonsole und reihe mich wieder in den dichter werdenden Feierabendverkehr auf dem Freeway ein. Wenige Meilen später muss ich bremsen und kullere in einen Stau, in dem es noch ein paar Meter vorwärtsgeht, bevor ich mit allen anderen zum Stehen komme. Um herauszufinden, was los ist, schalte ich von Bluetooth zu einem Radiosender und warte auf die Nachrichten. Wenig später die Ernüchterung: Komplette Fahrbahnsperrung wegen eines Unfalls mit vier Fahrzeugen.

Das ist ein Zeichen, raunt es in meinem Kopf. Du sollst nicht nach Orange Beach. Jetzt wirst du bis in die Nacht hinein auf dem Freeway verschimmeln.

Wenn jetzt gleich noch ein Blitz aus dem heiterblauen Himmel in den Asphalt vor der Motorhaube einschlägt, lasse ich das Auto stehen und trampe zurück – so wahr ich hier sitze. Und meinen Eltern sage ich, es hat nicht sein sollen. Das Schicksal wollte es nicht. Mit einem Seufzer schicke ich die allzu schöne Vorstellung dahin, von wo kein Blitz kommen wird, und stelle den Motor aus. Als ich die Schaltung in Parkposition bringe, stoße ich mit dem Arm gegen den Kaffeebecher. Er kippt aus seiner Halterung, verliert den Deckel und klatscht samt seinem dampfend heißen Inhalt in meine Handtasche auf dem Beifahrersitz.

Fassungslos starre ich auf die Misere, die dieses dämliche Auto mit seiner nicht zum ersten Mal versagenden Becherhalterung angerichtet hat, da wird mir klar, was sich alles in der Tasche befindet und im Kaffee schwimmt. Mit einem Fluchen öffne ich die Tür, schnappe die Tasche, bugsiere sie zum Straßengraben und schütte sie aus. Mit der Brühe platschen der Becher, verschiedene Kosmetika, die Nagelfeile und Kleenex heraus sowie das durchweichte Portemonnaie mit dem einzigen Schein, den mir meine lieben Eltern nach dem Einzug der Kreditkarten in die Hand gedrückt haben. Das alles trocknet wieder oder ist leicht ersetzbar. Sorgen macht mir nur mein Telefon, das nach dem ausgiebigen Kaffeebad von Resttropfen überzogen im Gras liegt. Schnell hebe ich es auf und betätige den Home-Button, der das Ding eigentlich aufwachen lässt. Nix passiert. Es blinzelt oder zwinkert nicht mal, das Display bleibt schwarz. Es ist tot. Verbrüht und ersoffen.

»So eine Scheiße!«, fluche ich und versuche es noch einmal. Nichts.

»Verflixter Mist!«

Beinahe schmettere ich das Teil auf den Asphalt, damit es wenigstens so tot aussieht, wie es ist, halte mich im letzten Moment davon ab und atme durch.

Das hat mir gerade noch gefehlt. Aber ruhig, Jazz, ganz ruhig! Schlimmer kann es nun wirklich nicht mehr kommen. Keine Kohle, kein Zuhause, keine Liebe von Marc, keine Partys, dafür ein Horrorjob im Horrorexil. Kein Handy – das macht es doch perfekt. Ab jetzt kann es nur noch bergauf gehen.

»Alles okay?«, höre ich hinter mir und drehe mich um.

»Ja!«, gebe ich genervt zurück und nehme mit der freien Hand die Sonnenbrille von der Nase. »Nein. Doch. Ach, was soll’s!«

»Was denn nun?«

Das fragt er noch? »Sieht es aus, als sei alles okay?«, schluchze ich unfreiwillig theatralisch und klimpere die Tränen weg, die meine Sicht verschwimmen lassen. »Dieser bescheuerte Kaffee, diese blöde Halterung …«

Selbst schuld, du Nuss!, höhnt es wiederum böse in mir.

»Was ist denn passiert?«, fragt er und kommt von seinem Auto, an das er sich bisher gelehnt und auf seinem beneidenswert intakten Handy herumgetippt hat, zu mir.

»Ich hab Kaffee verschüttet. Direkt in meine Handtasche«, gebe ich mit einiger Resignation zu und betrachte gemeinsam mit ihm den Trauerhaufen aus Handtasche, Portemonnaie und Co. »Der Kram ist mir egal, aber mein Handy ist hinüber.«

Kopf hoch, Jazz, mahnt meine Vernunft. Ich sehe ihn an, begegne seinem Blick, und es blitzt. Nicht aus dem heiterblauen Himmel, wie ich es mir gerade noch vorgestellt habe, sondern in mir. Der Typ hat ein Gesicht wie ein Model aus der Pour-Homme-Werbung eines Parfümherstellers. Seine Augen sind graublau und werden von dunklen Wimpern gerahmt. Da ist die leicht hochgezogene rechte Braue, der synchron dazu gehobene Mundwinkel seiner vollen Lippen. Da sind seine hohen Wangenknochen, die perfekt zu seinem schmalen Gesicht passen, zur leicht gekräuselten Denkerstirn und zur schlanken Nase, zum eigenwilligen Kinn, das in einen schönen Hals verläuft und in breite Schultern. Auf den zweiten Blick sehe ich auch das nicht so Schöne: die Piercings in den Ohren, die möglicherweise gewollt zerwühlten, dunklen Locken, das Tattoo, das auf seinem linken Arm auf Höhe des breiten Lederarmbandes beginnt und bis unter den Ärmel seines weißen Guns-n’-Roses-T-Shirts läuft. Dazu trägt er eine schwarze Jeans und abgelatscht aussehende Boots …

»Wie auch immer …«, stammele ich. »Auch schon egal, kauf ich mir halt ein neues.«

Haha, und wovon? Von dem versifften Hunderter in deinem durchweichten Portemonnaie. Der war für einen Notfall gedacht.

Es ist ein Notfall, antworte ich mir selbst und hebe das Kinn ein wenig, um mich größer wirken zu lassen und zu seinen – Wie groß mag er sein? Eins neunzig? – aufzuschließen. Mit einer Höhe von eins fünfundsiebzig kann mir das trotz meiner Absatzschuhe nicht gelingen.

»Wenn du telefonieren musst …« Er hält mir sein Handy hin. »Benutz meins.«

Ich muss telefonieren! Ich muss Marc anrufen und ihm diesen ganzen Mist berichten. Ich muss meine Eltern anrufen und sie verantwortlich machen. Allerdings fühle ich mich in meiner neuen Lebenssituation ein bisschen wie ein neu eingetroffener Häftling in einer Strafvollzugsanstalt, der heute genau einen Anruf tätigen darf. Der muss dann wohl diesem Hotel in Orange Beach gelten, wo sie auf mich warten.

Nach kurzem Zögern nehme ich sein Handy, wobei sich unsere Hände kurz berühren. Seine Haut ist warm und bitzelt auf meiner.

Easy, Jazz!, tönt meine Vernunft ein zweites Mal innerhalb kurzer Zeit. Du stehst nicht auf Typen wie ihn … vermeintlich unwiderstehliche Loser mit dreckigem Charisma. Die überlässt du getrost anderen, die vielleicht das Helfersyndrom haben und sich gern in ein emotionales Chaos stürzen.

In meinem Geist verdichtet sich das Bild von Marc. Als ich ihn zuletzt gesehen habe, trug er das hellblaue Hemd, das ich so an ihm mag, die Ärmel aufgeschlagen, der obere Knopf offen. Die Beinenden seiner Jeans waren über seine Knöchel gekrempelt. Die weißen Sneakers sahen aus wie brandneu, weil er all seine Sneakers liebt und entsprechend pflegt. Er hat auf dem Hocker oben in seinem Studio Platz genommen, die Kopfhörer auf seine Ohren gesetzt. Eine blonde Strähne fiel ihm in die Stirn. Er nahm seine Gitarre, umarmte sie beinahe liebevoll und legte seine Hände auf ihre Saiten. Dann schloss er die Augen, begann zu spielen und zu singen, mit warmer, weicher, einfach grandioser Stimme, die mir immer wieder eine Gänsehaut macht.

Mit einem Blinzeln hole ich mich ins Jetzt zurück.

Du stehst auf Typen mit Seele!, sage ich mir abschließend und werde mir bewusst, dass mich dieser ohne Zweifel seelenlose Typ mustert. Sein Blick wandert von meinem Gesicht zu meinen Ohren, in denen silberner Saphirschmuck steckt, huscht kurz über die dazu passende lange Halskette, dann über meine Kleidung – eine weiße Longbluse über einem dunkelblauen Jumpsuit. Fertig mit seiner Meinung, sieht er wieder auf.

Ich aktiviere das Display und starte den Browser. Binnen Sekunden habe ich die Telefonnummer der Rezeption und rufe an. Statt der Rufnummer wird der Name des Hotels auf dem Display angezeigt, sicher irgendeine superneue Funktion der automatischen Erkennung von Unternehmen. Es klingelt zweimal, dann meldet sich jemand.

»Hallo, Jessica Lawrence hier«, sage ich. »In einer Stunde hab ich einen Termin mit Mister Roomer und Miss Estralàs, aber ich werde mich verspäten, weil auf der I-65 wegen einer Vollsperrung gerade gar nichts mehr geht.«

»Das haben wir schon gehört« entgegnet mein Gegenüber am anderen Ende der Leitung freundlich. »Ich leite das weiter. Vielen Dank, dass Sie sich melden.«

Ich verabschiede mich und lege auf. Pflicht getan. Wenn diese Leute heute noch mit mir sprechen wollen, müssen sie sich gedulden.

Mit einem zweiten mutigen Blick gebe ich dem Typ sein Handy zurück. Sein Gesicht ist jetzt entspannt, die Braue und den Mundwinkel hat er nicht mehr hochgezogen, aber er schmunzelt, und im Graublau seiner Augen liegt ein Schimmer, der mir aus welchem Grund auch immer zusetzt. Weil ich fröstele, weil mein Herz schneller schlägt und ich gerade überhaupt nicht klarkomme mit dem, was in mir losgeht, wende ich mich ab und starre einmal mehr auf meine Handtasche und Co. Um etwas zu tun zu haben, hocke ich mich hin und werfe nach dem kaputten Handy und dem Portemonnaie die anderen Dinge in die Tasche.

»Da du keinen Kaffee abbekommen hast …«, höre ich ihn hinter mir sagen. »Ich kann dir ein Wasser anbieten.«

Wasser hab ich selbst, antworte ich ihm im Stillen. Aus meinem Mund kommen aber ganz andere Worte: »Nehm ich gern, danke.«

Was zum Teufel, Jazz!, schimpfe ich mit mir selbst und spüre, wie Hitze in meine Wangen steigt. Weil man das wegen meiner hellen Haut ganz ausgezeichnet sieht, versuche ich mich zu beruhigen und schiebe die Sonnenbrille wieder auf meine Nase. Dann beobachte ich, wie er zwei kleine Wasserflaschen aus seinem Auto holt – ein metallicblauer Mustang Shelby ist das, vermutlich aus den Siebzigern, aber in einem top Zustand. Wieder bei mir, reicht er mir ein Wasser. Dann setzt er sich ins Gras am Straßenrand, schraubt seine Flasche auf und schaut zu mir hoch, wie zur Aufforderung, mich ebenfalls zu setzen.

»Es könnte eine Weile dauern«, murmelt er zur Bekräftigung. »Mach’s dir bequem.«

»Das sieht nicht wirklich bequem aus«, gebe ich zurück. Ich würde schon gern sitzen, aber nicht dort. Ich ruinier mir ja die Klamotten. Leute pinkeln hier hin, kotzen bei voller Fahrt aus dem Auto, werfen Mist aus dem Fenster.

Er steht auf und geht noch einmal zum Auto. Aus dem Kofferraum holt er eine Decke, die er auf dem Rückweg ausschüttelt und ein paarmal faltet, bevor er sie ins Gras fallen lässt.

»Besser?« Abermals pflanzt er sich hin, direkt neben die Decke.

Denk nicht darüber nach! Setz dich einfach dazu!, befehle ich mir, überlege aber doch, was auf dieser Decke wohl schon so alles passiert ist. Bevor meine Gedanken zu bunt werden, verscheuche ich sie, überwinde mich und nehme Platz. Seine Nähe sorgt dafür, dass mein Herz erneut einen eigenwilligen Takt einschlägt, doch nach außen gebe ich mich relaxt, drehe die Kappe der Flasche ab und trinke einen Schluck.

»Ein nettes Auto hast du«, stellt er fest.

Darauf kann ich nur mit den Schultern zucken. »Ist bloß ein Auto. Bringt mich von A nach B, mehr nicht.«

Da ist sie wieder, die hochgezogene Braue. »Das würde ein Toyota Corolla auch tun, dazu braucht man kein BMW Cabrio.«

Ich sehe nicht ein, das mit ihm zu diskutieren, und schweige mit dem Blick auf seinem Mustang.

»Wohin bist du unterwegs?«, will er wissen.

»Orange Beach.« Das Grummeln kann ich nicht aus meiner Stimme bannen.

»Hm, du klingst nicht, als würdest du dich freuen. Musst du einen blöden Verwandten besuchen … oder auf eine Beerdigung?«

Ich höre sein Schmunzeln. Es verleiht seiner Stimme einen noch schöneren, wärmeren Klang und lässt mich beinahe lächeln.

»Ich werde dort arbeiten.«

»Oh.« Im Augenwinkel sehe ich, dass er mich anschaut, kann seinen Blick aber nicht erwidern. »Wo denn? In der Pathologie, einem Bestattungsinstitut oder auf einem Friedhof?«

»Nein!«, pruste ich, weil ich das Lachen nicht mehr zurückhalten kann. »Wie kommst du darauf?«

»Na ja, du wirkst so wenig begeistert.«

»Ein Friedhof wäre mir gerade recht. Da halten die Leute wenigstens die Klappe.«

Er nimmt einen Schluck von seinem Wasser.

»Ein Hotel ist es«, gebe ich zu. »Aber ich hab mir diesen Job nicht ausgesucht. Genau genommen wurde ich gezwungen.«

»Von deinen Eltern?«

»Sie drehen am Rad, weil ihnen meine Noten nicht mehr gefallen und ein paar andere Sachen auch nicht. Vor drei Wochen bin ich achtzehn geworden. Ich kann eigene Entscheidungen treffen, aber sie mischen sich immer noch in mein Leben ein und schreiben mir vor, was ich zu tun habe.« Ein genervtes Stöhnen kriecht aus meinem Mund. »Zwei Monate in diesem Nest … ich krepiere da.«

»Orange Beach ist doch ganz nett. Gibt schlimmere Plätze auf der Welt.«

Dass er so denkt, wundert mich ein bisschen. Einen kurzen Blick wage ich jetzt und bin froh, dass er nicht mich, sondern einen blinden Fleck auf der Fahrbahn betrachtet. Er sieht nicht aus wie ein Typ, dem es in Orten wie Orange Beach gefällt. Mit einem Surfbrett oder Beachvolleyball kann er sicher nichts anfangen, und schmuddelige Musikclubs, wie er sie sicher gern besucht, gibt es dort nicht.

Er nimmt die Ray Ban, die bisher im Ausschnitt seines Shirts hing, und setzt sie auf.

»Zwei Monate, sagst du, bleibst du dort. In was für einem Hotel?«

»Eines dieser Strandhotels, in denen man den Gästen sogar das Klopapier auf einem goldenen Tablett bringt.«

»Also ziemlich nobel. Was wirst du dort tun, an der Rezeption sein?«

Schön wär’s. Ich würge an den Worten, bringe sie aber nicht heraus. In dieser Art von Hotel habe ich bisher Urlaub gemacht, keine Betten aufgeschüttelt und Klos geputzt. Unfassbar, dass ich genau das tun muss.

»Service-Kram muss ich erledigen«, gebe ich zurück. »Aber ich werde mich nicht verbiegen oder herumkommandieren lassen.«

Der Ärger, der in mir aufquillt wie giftiger Teig, lässt mich zittern, und ich verschränke die Arme vor dem Bauch, damit er es nicht sieht. Mit einem Mal spüre ich aber auch Traurigkeit und eine Enttäuschung, die meine Stimmbänder noch fester spannt. Ich könnte heulen und atme tief ein, um es bloß nicht zu tun.

»Ich gehöre da nicht hin, nach Orange Beach und in dieses Hotel«, bringe ich schließlich hervor.

»Wenn du es nicht willst«, wundert er sich, »warum trittst du den Job überhaupt an?«

»Weil ich muss. Ich habe keine Wahl.«

»Was wären denn die Konsequenzen, wenn du es nicht tust?«

»Ich müsste meinen Kram packen und zu Hause ausziehen.«

Er überdenkt das eine kleine Weile. »Das ist hart«, sagt er dann und schaut mich an.

Ich erwidere seinen Blick, den ich hinter den dunklen Gläsern seiner Brille aber nicht erkenne. Er meinen ebenso wenig.

Was tust du hier, Jazz?, frage ich mich im Geiste, während die Sekunden verstreichen und das Summen der Autos auf der Gegenfahrbahn immer dumpfer klingt. Warum erzählst du ihm das alles?

Er dreht den Kopf ein wenig und sieht in die Richtung, in die wir beide wollen. »Es geht weiter. Ein Glück. Schneller als gedacht.«

Tatsächlich bewegen sich die Autos wieder. Ein eigentlich guter, aber für mich nur deprimierender Anblick, der nichts als die Traurigkeit in mir bleiben lässt. Er steht auf und hält mir die Hand hin, um mir hochzuhelfen. Abermals prickelt meine Haut bei der Berührung, und wieder schlägt mein Herz schneller. Sobald ich auf den Füßen bin, macht er zwei, drei irgendwie zögerliche Schritte rückwärts, mit dem Blick auf mir und ohne meine Hand loszulassen. Dann stehen wir zwischen unseren Autos.

»Du heißt Jessica, richtig?« Er muss jetzt lauter sprechen, um die anspringenden Motoren rundherum zu übertönen.

»Jessica, ja«, antworte ich ihm. »Aber alle nennen mich Jazz.«

»Jazz …« Er schmunzelt. »Ich bin Noah.«

Verdammt, was sag ich jetzt? Schön, dich kennengelernt zu haben, Noah? Auf Nimmerwiedersehen – leider? Meine Kehle ist wie zugeschnürt.

»Komm gut an, Jazz.« Er macht einen Schritt zu mir, lässt meine Hand los, steht aber dicht vor mir. Ich muss den Kopf heben, um ihn weiter ansehen zu können, und will das gerade zurückgeben, da küsst er mich.

Wie vom Donner gerührt bin ich, wie gebannt von den Schauern, die durch meinen Körper rauschen. Wie verzaubert von seinen Lippen, die weich und sanft sind und ein bisschen salzig schmecken. Als es mehrstimmig hupt, aus Autos, deren Weiterfahrt wir offenbar verhindern, erwache ich aus meiner Starre und küsse ihn zurück, während sein Name in meinem Kopf kursiert und mich ganz schwindelig macht.

Dann beendet Noah den Kuss. Luft streift über meine nassen Lippen.

»Was …«, stottere ich. »Wieso …«

Verdammt, Jazz, das soll ein Satz werden?

Er versteht es auch so.

»Einfach so.« Er macht einen Schritt von mir weg. »Wahrscheinlich war das die einzige Chance in meinem Leben, und ich wollte sie nicht ungenutzt verstreichen lassen.«

Wenig später öffnet er die Tür seines Wagens. Das Hupen klingt inzwischen sehr ungeduldig und aggressiv. Davon angetrieben, aber doch wie benommen tappe ich zu meinem Auto, steige ein, lege meine Tasche und die Wasserflasche auf den Beifahrersitz. Dann starte ich den Motor und fahre an. Er überholt mich und winkt. Ich winke zurück … lässig, als wäre das gerade überhaupt nichts Besonderes gewesen. Als würde ich täglich von Jungs auf dem Freeway geküsst werden. Dabei schlottere ich innerlich. Beim Gasgeben zittert mein Fuß auf dem Pedal, also mache ich langsam, behalte Noahs metallicblauen Mustang aber im Blick. Als er in der Masse der anderen Autos verschwindet, versuche ich zu verdrängen, was gerade passiert ist. Aber es geht nicht. Ich schmecke seinen Kuss noch, tauche noch im Graublau seiner Augen … und kann nicht glauben, dass ich ihn nie wiedersehen werde.

Kapitel 2

Jeff Roomer ist ein unfreundlicher, überheblicher Affe, den ich zum Teufel gewünscht habe, da hatte er gerade zwei Sätze gesagt.

»Sie haben um sieben Uhr dreißig hier zu sein und pünktlich um acht Uhr mit Ihrer Arbeit zu beginnen, wenn die ersten Gäste ihre Zimmer verlassen und zum Frühstück gehen. Sie haben freundlich zu sein, egal, wie Sie sich fühlen. Ihre Launen interessieren hier im Roomer’s nicht.«

Meine Launen! Pff!

Und dieses ständige »Sie haben«. Ich habe zu sterben, irgendwann. Sonst gar nichts.

Keine Erkundigung, wie meine Fahrt war, oder andere Förmlichkeiten, die sich einfach gehört hätten. Möglich, dass er in Eile war und das Warten auf mich leid, aber ich hatte extra angerufen. Was konnte ich für den Stau auf dem Freeway? So ein Ton ist mir fremd, und ich werde einen Teufel tun, mich daran zu gewöhnen. Wahrscheinlich war es ihm eine Genugtuung, von oben herab mit mir zu reden, als sei ich ein gewöhnliches Zimmermädchen. Wenn er so ein guter Bekannter ist, wie mein Vater behauptet, weiß er genau, wen er vor sich hatte. Anderenfalls kann ich mir auch vorstellen, dass meine Eltern ihn gebeten haben, mich nicht mit Samthandschuhen anzufassen.

Und diese Catalina Estralàs ist nicht viel besser. Kalt wie eine Hundeschnauze ist die Hausdame des Roomer’s. Zu allem Überfluss wohne ich bei ihr. Ein winziges Zimmer, in dem es nur ein schmales Bett, einen Kleiderschrank und einen nicht einmal halbhohen Spiegel gibt, hat sie mir in ihrem Haus überlassen. Das Bett musste ich gestern Abend selbst beziehen, habe mich dann daraufgelegt und an die Decke gestarrt. Catalina hat Essen gemacht, aber ich hatte keinen Hunger, hätte keinen Bissen herunterbekommen. Nur um im Bad, das ich mit ihr teile, zu duschen und mich für die Nacht fertig zu machen, bin ich aus dem Zimmer geschlichen. Nie im Leben habe ich mich einsamer gefühlt. Wie eingesperrt. Nicht nur in diesem Zimmer, sondern auch in dieser Rolle, in der ich ab sofort aufgehen soll – die absolut nicht meine ist.

Ich erkenne mich selbst nicht, als ich vor den Wandspiegel in Zimmer drei trete. In den beiden vorherigen Zimmern habe ich das auch schon gemacht, aber was ich sehe, will und kann mir einfach nicht gefallen. Ich soll kein oder nur wenig Make-up tragen, hat Catalina mir am Morgen geradezu befohlen. Neben anderem. Mascara musste sein, denn ohne das wirkt das Grün meiner Augen trübe. Von Natur aus habe ich ja schon helle Haut, aber heute sehe ich echt blass aus, und die vielen Sommersprossen sind deutlich zu erkennen. Meine fuchsroten Haare, die ich sonst frisiere, sodass sie in schönen Wellen über meine Schultern fallen, habe ich zu einem Knoten auf dem Kopf zusammengefasst. Längst haben sich einzelne Strähnen daraus gelöst und kräuseln sich um mein Gesicht. Eine puste ich aus meinem Sichtfeld, doch sie fällt wieder zurück. Auch schon egal. Was mich am meisten entstellt, sind diese weißen, billig aussehenden Stoffschnürschuhe und der schlichtweg katastrophale graue Kittel, der an mir sitzt wie ein Kartoffelsack. Das ist sicher gewollt, damit man für die Gäste möglichst uninteressant wirkt, unauffällig ist und alle Bewegungsfreiheit hat, wenn man sich beim Schrubben, Wienern und im Kampf mit Bettlaken fix und fertig macht. Gerade mal drei von insgesamt zehn auf die erste und zweite Etage des Hotels verteilte Zimmer habe ich fertig, bin aber schon jetzt total erledigt. Mein Rücken und die Arme tun mir weh, und ich habe absolut keine Lust mehr. Im ersten Zimmer war Catalina dabei und hat mir zack, zack erklärt, wie ich was zu erledigen habe. Am Ende hat sie eine baldige Kontrolle angekündigt und ist abgeschwirrt. Um die übrigen vier Zimmer und die drei Suiten des Hotels kümmert sich ein anderes Mädchen, das ich vorhin kurz kennengelernt, ihren Namen aber schon wieder vergessen habe. Alle zwei Wochen hat eine von uns zwei Tage frei, und die jeweils Arbeitende muss sich dann um alle Zimmer kümmern. Das sind immer Montage und Dienstage – angeblich ruhigere Tage, in denen viele Zimmer nicht belegt sind.

Missmutig wende ich mich von meinem deprimierenden Spiegelbild ab und schlurfe ins Bad, dessen Spiegel mit Spritzern übersät ist, als hätten die Gäste mit Propellern statt Zahnbürsten gearbeitet. Im Waschbecken liegen Kopf- und Barthaare und Speichelbatzen, bei deren Anblick ich sauer werde. Ihr Waschbecken zu Hause würden sie so nie hinterlassen, aber hier, wo es eine dumme Putzmarie gibt, benehmen sie sich wie Schweine und besitzen noch die Frechheit, milde zu lächeln, wenn sie einem im Gang begegnen. Da sind mir die, für die ich so sehr Luft bin, dass sie mein obligatorisches »Guten Morgen« überhören, hundertmal lieber. So, wie ich aussehe, und für das, was ich tue, will ich nicht gesehen werden.

Voller Ekel sprühe ich das Waschbecken ein, nehme den Lappen und wische mit spitzen Fingern los, da höre ich draußen im Schlafbereich Schritte. Die von Catalina sind es nicht, denn sie trägt Absatzschuhe. Wahrscheinlich ist es der männliche Gast dieses Zimmers, im schlimmsten Fall Jeff Roomer.

Es kommt schlimmer als das Allerschlimmste. Als er vor mir steht, lasse ich vor Schreck den Lappen fallen, weiche einen Schritt zurück und erwäge es, ihn mit Mr Dirt gegen Kalk und Schmutz einzusprühen wie einen Ganoven mit Pfefferspray.

Der ist dir gefolgt, der stalkt dich!, schrillt es in mir, und ein besonders bekloppter Teil meines Ichs freut sich auch noch darüber. Nimm dich zusammen, verdammt!, fauche ich mich innerlich an, wie ich ihn am liebsten anfauchen will. Keinen Ton bringe ich heraus. Wahrscheinlich verwechsele ich ihn. Er sieht anders aus, trägt einen grauen Dreiteiler samt Krawatte und schicke Schuhe. In seinen Ohren stecken keine Piercings.

»Miss Lawrence«, sagt er mit kühler Stimme. »Haben Sie einen Augenblick?«

»Ich … ähm …« What? »Wieso denn?«

Er macht auf dem Absatz kehrt, sagt »Kommen Sie bitte mit« und schaut nicht einmal, ob ich ihm folge.

Nicht im Traum denke ich daran! Tue es dann aber doch. Getrieben von Irritation, tappe ich ihm hinterher.

»Was soll das?«, höre ich mich wie durch einen Noise-Filter fragen, doch er reagiert nicht, geht einfach weiter.

»Hey, Moment mal!« Mit ein paar schnellen Schritten schließe ich zu ihm auf. »Was soll das? Was machst du hier?«

Er bleibt stehen, wendet sich zu mir um und zieht eine Braue hoch, wie er es gestern getan hat, nur wirkt er heute überhaupt nicht amüsiert. Jetzt, aus der Nähe, sehe ich auch die Löcher in seinen Ohren. Und das Graublau seiner Augen ist sowieso unverkennbar.

»Noah?«

»… Roomer.«

Noah … Moment! Die Erkenntnis lähmt mich, als hätte man mich im Tiefkühlfach schockgefroren. Ich starre ihn an und fröstele, weil sein Blick eisig flackert.

»Noah Roomer«, sagt er in noch distanzierterem Ton. »Miss Lawrence, können wir dann? Ich habe andere Dinge zu erledigen.«

Fuck you very much!

Unfähig, mich zu rühren, sehe ich ihn in das erste Zimmer gehen, das ich allein sauber gemacht habe, und grusele mich bei der Erinnerung an all die Worte, mit denen ich gestern auf dem Freeway so trefflich auf den Punkt gebracht habe, warum ich diesen Job hasse.

Schön blöd, Jazz, höhnt es in mir. Von wegen automatische Rufnummererkennung! Du hättest skeptisch werden sollen, als sein Telefon den Hotelnamen angezeigt hat!

Aber was für eine Frechheit! Er hat mich telefonieren lassen, meinen Namen gehört. Er wusste, wer ich bin, wohin ich fahre, hat sich verständnisvoll gegeben, mich aber im Prinzip ausgefragt. Kein Wunder, dass Jeff Roomer so reserviert war. Sein Sohn, Neffe, kleiner Bruder, oder wer auch immer dieses Arschloch ist, hat sich beeilt, vor mir im Hotel zu sein, und ihm alles brühwarm erzählt. Der Kuss war nichts anderes als Hohn.

Innerlich bebend vor Empörung, folge ich ihm ins Zimmer, wo er die Überdecke vom Bett hebt und zur Seite fleddert.

»Nennen Sie das ein gemachtes Bett?« Er klingt so sauer, wie ich selbst es bin, wenn auch aus anderem Grund.

Ich presse die Lippen aufeinander, um nicht herauszuplatzen, dass das, was ich sehe, durchaus in Ordnung und mir egal ist, wie er das nennt. Er deutet auf das Decklaken, das ich vorhin unter die Matratze gestopft habe. Nicht so, dass es ganz straff und glatt ist, aber es steckt darunter und wird heute Abend sowieso mühsam wieder hervorgezogen.

»Das ist ein Witz!«, knurrt er und zerrt das Decklaken unter der Matratze hervor. Dann geht er durchs Zimmer, schaut zu Boden und macht mich bei jedem Schritt auf ein weiteres lächerliches Versäumnis aufmerksam: »Krümel, Fluse, Haar, Krümel, Fleck.«

Mit einer Kopfbewegung gibt er mir zu verstehen, ins Bad voranzugehen. Inzwischen zittere ich vor lauter Ärger, und zornige Tränen kitzeln unter meinen Augen. Ich hebe das Kinn und spaziere ins Bad, wo mir beim Blick auf den Spiegel schon klar ist, was er mir als Nächstes vorhalten wird.

»Schlieren«, sagt er dann auch. »Wahrscheinlich konnte man noch reingucken, bevor Sie sich darum gekümmert haben, Miss Lawrence.«

Nenn mich noch ein Mal Miss Lawrence, und ich klatsch dir eine!, grolle ich in mich hinein und verschränke die Arme vor der Brust.

Er klappt den Klodeckel samt Brille hoch. »Aber das hier …« Er zeigt auf die Kloschüssel. »Das ist richtig übel.«

»Da stimme ich Ihnen absolut zu, Mister Roomer!« Mit besonderer Betonung sieze ich ihn. »Eine absolute Unverschämtheit, eine Toilette so zu hinterlassen. Da ich einen solchen Anblick nicht jeden Morgen haben möchte, habe ich es so gelassen.«

»Sie sind nicht hier, um unsere Gäste zu erziehen.«

»Ich bin auch nicht hier, um mich demütigen zu lassen.«

»Das war ganz sicher nicht die Absicht unserer Gäste, und wir werden keine Beschwerde riskieren aus Rücksicht auf Ihren Stolz.«

Ich höre wohl nicht richtig. Das ist ja lächerlich.

»Glauben Sie wirklich, Mister Roomer, diese Gäste hätten sich darüber beschwert, dass niemand ihr Klo sauber gemacht hat, das sie selbst bis unter den Rand zugeschissen haben?« Ich schnicke in Richtung des zur freien Verfügung stehenden Hilfsmittels. »Das da ist eine Klobürste und keine Dekoration, oder?«

Seine Augen funkeln vor Zorn. Er kommt zu mir, Schritt für Schritt, baut sich vor mir auf und spiegelt meine Körperhaltung, indem er seine Arme ebenfalls vor der Brust verschränkt.

»Das haben Sie gut erkannt, Sie Leuchte. Es ist keine Dekoration. Und deshalb werden Sie diese Bürste auf der Stelle benutzen und Ihre Arbeit erledigen, oder ich schwöre, ich sorge dafür, dass Sie hochkant rausfliegen. Jemand mit Ihrer Einstellung ist hier tatsächlich fehl am Platz.«

Nicht nur erpresst er mich, sondern wiederholt ganz bewusst auch meine Worte von gestern. Nur haben sie aus seinem Mund eine ganz andere Bedeutung. Ein paar sprachlose Sekunden starre ich zu ihm hoch und versuche, die in mir brodelnde Wut unter Kontrolle zu bringen. Meine Kiefer schmerzen schon, weil ich die Zähne so fest aufeinanderbeiße. Dann gebe ich mir einen Ruck, gehe zum Klo, rempele ihn dabei an – wenigstens das, wenn ich schon nicht kontern darf, schließlich steht er mir und meiner Arbeit im Weg. Das Gefühl der Erniedrigung erreicht seinen Höhepunkt, als er mir beim Kloputzen zuschaut und mir empfiehlt, die Schüssel erst mit Lysol zu putzen und anschließend mit Clorox zu desinfizieren. Auf dem Weg zu meinem Putzwagen, wo der ganze Scheiß steht, rempele ich ihn gleich noch einmal an. Als ich zurückkomme, hat er mir vorsichtshalber Platz gemacht, lehnt an einer Wand, schaut mir weiter zu und inspiziert das Ergebnis am Ende.

Nach einem »Na bitte, es geht doch« verlässt er das Bad. »Bringen Sie alles in Ordnung, Miss Lawrence, auch in dem anderen Zimmer, das Sie bereits als gereinigt gecheckt hatten. Und erledigen Sie das bitte in der Hälfte der Zeit.«

Du kannst mich mal!, rufe ich ihm gedanklich nach und pfeffere die Klobürste in die Dusche, um meiner Wut ein Ventil zu geben.

 

* * *

 

Nach neun Stunden, einem Anschiss von Catalina und einer genäselten Rüge der Gäste aus der Acht, die sich darüber ärgerten, dass ich noch in ihrem Zimmer beschäftigt war, als sie am späten Nachmittag vom Strand zurückkamen, bin ich nicht nur körperlich, sondern auch emotional am Ende. Kraft- und mutlos schiebe ich meinen Putzwagen aus dem nur vom Personal genutzten Fahrstuhl ins Untergeschoss und den Gang entlang zu dem Raum, in den er gehört. Daran angrenzend ist der Aufenthaltsbereich des Putzpersonals mit den Spinden. Während ich die Eimer und Lappen säubere, heule ich Rotz und Wasser, schleppe mich dann zum kleinen Tisch und plumpse auf einen der beiden Stühle. Als die Tür zum Bad geöffnet wird, erschrecke ich, wende mich ab und wische mir mit den Handrücken über die Wangen. Im Augenwinkel sehe ich, wie der zweite Stuhl zurückgezogen wird und sich jemand setzt. Zum Glück nicht Catalina. Es ist bloß das andere Zimmermädchen.

»Harter Tag, was?«, fragt sie und überprüft den Sitz des Badehandtuchs, das sie um ihren Körper geschlungen hat.

Ich hefte meinen Blick auf den von Sonnenlicht gefluteten Garten hinter dem Fenster, an dem der Tisch steht.

»Morgen wird’s besser sein«, sagt sie, als ich nicht antworte. »Dann weißt du ja, wie alles geht.«

Was nicht bedeutet, dass es mir dann Freude machen oder weniger anstrengend sein wird. Aber das sieht sie sicher anders. Bestimmt geht sie ganz in ihrer Aufgabe auf.

»Ich hab gehört, Lina hat gemeckert, aber sie ist eigentlich echt nett. War für alle ein bisschen stressig heute, weil du … na ja, du hast halt etwas länger gebraucht, aber wird schon.«

Trotzig zucke ich mit den Schultern. Wieso verschwindet sie nicht einfach?

»Hast keine Erfahrung als Zimmermädchen, oder?«

»Nein«, grummele ich. »Davon abgesehen ist das keine Erfahrung, auf die ich besonderen Wert lege.«

»Mach einfach das Beste draus«, zwitschert sie, als hätte ich nicht gerade echt unfreundlich reagiert. »Mit der Zeit wirst du schneller. Dann hast du einen Teil vom Nachmittag frei und kannst was Schönes unternehmen.«

Haha, was denn? Und von welchem Geld? Für diese Schufterei bekomme ich ein lächerliches Taschengeld, von dem ich gerade mal das Nötigste bezahlen kann. Aber was weiß sie schon? Ihre Ansprüche sind sicher nicht mit meinen zu vergleichen. Wahrscheinlich ist sie schon glücklich, wenn sie Eis essend am Strand hockt.

»Komm schon, Jessica, lass den Kopf nicht hängen.« Sie legt eine Hand an meine Schulter, zum Trost offenbar.

Ich sehe sie an. Sie ist etwa in meinem Alter, achtzehn oder vielleicht schon neunzehn, hat auf Kinnlänge gekürzte pechschwarze Haare, gefärbt ohne Zweifel. Der Ansatz wächst etwas heller heraus. Wahrscheinlich hat sie schon viele Nachmittage am Meer verbracht, denn ihre makellose Haut ist so schön gebräunt, wie es meine niemals sein kann. Weder sehe ich eine Sommersprosse noch einen Leberfleck. Beneidenswert. Make-up trägt sie kaum, nur ein bisschen Mascara, womit sie ihre treu dreinblickenden braunen Augen betont.

»Jazz«, sage ich endlich. »Niemand nennt mich Jessica.«

»Cool! Wie die Musik. Hörst du gern Jazz?«

»Nein.«

Sie nimmt die Hand wieder weg, zieht die fein geschwungenen, dunklen Brauen hoch. »Warum nennst du dich dann Jazz?«

»Hab ich gesagt, dass ich mich so nenne? Alle anderen machen es einfach, als Abkürzung für Jessica halt. Und ich find’s okay, hab mich daran gewöhnt.«

»Ah.« Sie grinst. »Wie bei mir. Mich nennt auch keiner Suzanne.«

»Sondern?«

»Na, Sunny.« Das sagt sie, als müsste ich es wissen, und mir dämmert, dass Catalina sie am Morgen mit diesem Namen vorgestellt hat.

»Aber ich mag auch, wenn es sonnig ist«, fügt sie fröhlich an.

»Wer nicht.« Ich seufze. Meine Güte, sie ist nicht die Hellste, und das wird langsam anstrengend.

»Du bist echt hübsch.« Sie stützt die Ellenbogen auf den Tisch und den Kopf auf beide Hände. »Das ist deine Naturhaarfarbe, stimmt’s? Ich wollte immer so rote Haare haben.«

»Warum färbst du sie dann schwarz?«

»Rot steht mir nicht. Sieht merkwürdig aus. Aber bei dir ist es top, vor allem mit den ganzen Sommersprossen.« Sunny beugt sich ein bisschen näher, um mich noch besser betrachten zu können, und kichert. »Voll süß. Wie Emma Stone in La La Land

Ich muss schmunzeln. »Na danke, das höre ich ständig.«

»Kann ich mir vorstellen. Machst du viel Sport, dass du so schlank bist? Oder eine Diät?« Mit einem missmutigen Schnaufen hebt sie die Schultern und lässt sie wieder fallen. »Ich halte keine Diät durch.«

Wird Zeit, ein Kompliment zurückzugeben. »Sieh’s positiv, du hast sehr weibliche Rundungen. Ist doch auch schön. Viele Jungs mögen das.« Ach ja, der Sport … »In Monty, wo ich lebe, gehe ich regelmäßig laufen.«

Mit wachsender Wehmut denke ich an unsere Laufrunde, Marcs und meine. Wir starten immer bei seiner Wohnung, laufen durch den Powder Magazine Park, ein ganzes Stück am Fluss entlang und zurück. Auch das werde ich hier vermissen, wobei ich bei diesem Job sicher kein schlechtes Gewissen haben muss, den Sport zu vernachlässigen.

Sunny sagt, dass Laufen nicht ihr Ding ist. Dann steht sie auf und geht zu den Spinden. Während sie einen Monolog über Catalinas angeblich ach so nettes Wesen hält, nimmt sie das Handtuch ab. Ohne Scham, nackt vor mir zu stehen, zieht sie einen Slip an, der türkisfarben ist und damit überhaupt nicht zu ihrem simplen weißen BH passt. Die Jeans, die sie bald aus dem Spind nimmt, will nicht so leicht über ihre kräftigen Oberschenkel und ihren runden Hintern. Mit ein paar Verrenkungen und Hüpfern bekommt sie das Ding schließlich an, hält die Luft an, zieht den Bauch ein und den Reißverschluss hoch. Plaudernd schlüpft sie in ein gelbes, ärmelloses Top und schiebt die Füße schließlich in Flipflops.

»Catalina ist meine kleinste Sorge«, sage ich, sobald sie wieder bei mir sitzt.

Sunny winkt ab. »Ach, Mr Roomer ist auch voll okay.«

»Gestern war er’s nicht, aber ihn meine ich auch nicht. Dieser Noah, ist das sein Sohn?«

Sie grinst. »Du bist ihm schon begegnet. Er ist heiß, stimmt’s?«

»Ist wohl Geschmackssache. Mein Typ ist er nicht.« Freundlich ausgedrückt.

»Dann bist du ja safe. Wenn er da ist, sag ich mir immer wieder …« Sie hebt den Finger und verleiht ihrer Stimme etwas Belehrendes, womit sie echt niedlich wirkt. »Sunny, verlieb dich nicht in ihn, egal, wie cool er ist. Denk an seine Freundin, gegen die du nicht den Hauch einer Chance hast.«

Interessant. Insbesondere vor der Tatsache des gestrigen Kusses. »Was ist denn so toll an seiner Freundin?«

»Cleo ist einfach …« Auf der Suche nach den passenden Worten zieht sie eine abschätzende Schnute. »Sie hat einen echt coolen Stil. Außerdem ist sie superintelligent, studiert Medizin, und dann ist sie auch noch voll hübsch.«

Bevor ich sie stoppen kann, zückt sie ihr Handy und loggt sich bei Facebook ein, wo sie offenbar mit dieser Cleo befreundet ist. Wenig später präsentiert sie mir das Bild einer attraktiven Blondine.

»Schön für Noah«, sage ich und schaue Sunny wieder an, damit sie das Telefon wegnimmt.

»Er und sie haben sich an der UA in Tuscaloosa kennengelernt. Sie ist zwei Semester weiter als er, also ein Jahr älter oder so, einundzwanzig.«

»Ist Noah oft hier?« Ich hoffe nicht. Gut wäre auch, er würde bald wieder verschwinden. Dass er mir ab sofort jeden Tag beim Kloputzen zuguckt, brauche ich wie ein Loch im Kopf.

»In den Semesterferien eigentlich immer. Cleo kommt dann auch oft her.«

»Gerade sind aber keine Ferien.«

»Nein, natürlich nicht. Momentan macht Noah ein Praktikum, das er für sein Studium braucht. Drei Monate dauert das, glaube ich, also bleibt er bis zum Ende des Semesters.«

Na klasse! Die vollen zwei Monate habe ich ihn also an der Backe.

Sunny steht auf und nimmt ihre Tasche. Sie nickt in Richtung des kleinen Bades.

»Handtücher findest du dort. Nimm eine lange, heiße Dusche. Die tut deinen Knochen gut.«

Auf mein Brummeln antwortet sie mit einem fröhlichen »Bis morgen dann« und geht.

Ich sehe wieder aus dem Fenster, bis mein Blick im Grün des Gartens verschwimmt und meine Augen trocken werden.

Ich will nach Hause. Richtig dringend.

Kapitel 3

Jedes andere Zimmermädchen hätten sie längst rausgeschmissen. An jedem der vergangenen sieben Tage hat mich Catalina Estralàs beiseitegenommen, um mich auf einen Fleck an einem Spiegel, einen Knick im Laken, ein Haar im Waschbecken oder eine andere Nachlässigkeit hinzuweisen. Sie hat verlangt, dass ich mir mehr Mühe gebe. Das könnte ich tun. Ich will aber nicht.