CHRISTIAN DÖRGE (Hrsg.)

 

 

Der Neon-Traum

 

 

 

 

 

 

Erzählungen

 

 

 

Apex Crime, Band 55

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

Christian Dörge: DER NEON-TRAUM 

Jack Ritchie: WER HAT MEINE FRAU GESEHEN? (Too Solid Mildred) 

William Bankier: DAS WEICHE HERZ (Duffy's Last Contract) 

Robert Bloch: FORTUNA IST KEINE LADY (Luck Is No Lady) 

Donald Honig: MRS: HERMAN UND MRS. KENMORE (Mrs. Herman und Mrs. Kenmore) 

Larry M. Harris: DAS ÄLTESTE MOTIV DER WELT (The World's Oldest Motive) 

Donald E. Westlake: EIN GUTER ABGANG (The Best-Fried Murder) 

C. B. Gilford: NUR EIN SIMPLER KLEINER MORD (A Simple Uncomplicated Murder) 

Andrew Benedikt: DIE RACHE IST LANG (Walkup To Death) 

Margaret Manners: ZUM TEE INS BLENHEIM (Two For Tea) 

Michael Scott Cain: EIN HÄSSLICHES INSEKT (The Custody Thing) 

Lawrence Block: GOLDENE WORTE (One Thousand Dollars A Word) 

Jon L. Breen: DER GEIST VON BLAKEMORE DOWNS (Silver Spectre) 

James McKimmey: NATURGESETZ (A Proper Environment) 

Dick Stodghill: DAS KLASSENTREFFEN (Class Reunion) 

Andrew Jully: WEG IN DIE FREIHEIT (Walk To Freedom) 

Carroll Mayers: DER AUSSTEIGER (Reform Movement) 

Dan Marlowe: EIN SALOPPER BETRUG (A Casual Crime) 

S. S. Rafferty: DAS UNFERTIGE SALMAGUNDI (The Incomplete Salmagundi) 

Pauline C. Smith: DAS ENDE DER GESCHICHTE (The Plough Horse) 

Robert Lopresti: TÖTEN IST EINFACH (Killing Is Easy) 

Ron Butler: FRÖHLICHE WEIHNACHTEN, NORIKO (Merry Christmas, Noriko) 

Edward D. Hoch: TÄUSCHUNGEN (Deceptions) 

Ennis Duling: DAS UNTERSCHLAGENE WEIHNACHTSGESCHENK  

(The Embezzler's Christmas Present) 

John Lutz: UNWISSENHEIT SCHÜTZT VOR STRAFE NICHT  

(What You Don't Know Can hurt You) 

Clark Howard: DIE LETZTE ABFAHRT (The Last Downhill) 

Ingram Meyer: SAMMLERLEIDENSCHAFT (The Hobby Fair Mystery) 

Percy Spurlark Parker: HÜTER DEINES BRUDERS (Her Brother's Keeper) 

Linda Haldemann: WEIHNACHTEN WIE BEI DICKENS ODER:  

DER FALL MARLEY (The Marley Case) 

Mina Dörge: WEISSES RAUSCHEN 

 

 

Das Buch

 

Die Anthologie Der Neon-Traum - zusammengestellt und herausgegeben von Christian Dörge - enthält dreißig ebenso erstklassige wie spannende Crime-Erzählungen internationaler Spitzenautoren des Genres: Storys von Mina Dörge, Michael Scott Cain, Lawrence Block, Jon L. Breen, James McKimmey, Dick Stodghill, Andrew Jully, Carroll Mayers, Dan Marlowe, S. S. Rafferty, Pauline C. Smith, Robert Lopresti, Jack Ritchie, William Bankier, Robert Bloch, Donald Honig, Larry M. Harris, Donald E. Westlake, C. B. Gilford, Andrew Benedikt, Margaret Manners, Ron Butler, Edward D. Hoch, Ennis Duling, John Lutz, Clark Howard, Ingram Meyer, Percy Spurlark Parker, Linda Haldemann und Christian Dörge. 

  Christian Dörge: DER NEON-TRAUM

 

 

»Heute Früh zum ersten Mal seit langer Zeit wieder

die Freude an der Vorstellung

eines in meinem Herzen gedrehten Messers.«

 

- Franz Kafka / Tagebücher 1909 - 1912

 

 

 

Das Krebsgeschwür der Eifersucht fraß mich bei lebendigem Leib.

Ich versuchte gar nicht erst, dieses unwürdige Gefühl in mir zu unterdrücken.

Und meine Erinnerung wurde nicht mehr deprogrammiert, sie blieb ein Zyklus von Vergeltungsmaßnahmen, obwohl ich mich dagegen wehrte wie ein Kind, das nicht ins Bett will. Die gepanzerte Tür in meinem Kopf öffnete sich, ohne sich jemals wieder zu schließen: Erinnerungsfetzen, Schmerzsplitter drangen ohne Umwege in mich ein und überfluteten meine Gedanken.

Eine unerbittliche Ekstase begleitete das verblassende Verschwinden der Vernunft. Sie stieg gleich einer lebenden Statue von ihrem Neon-Thron herab, Wahrheiten mit dem Geschmack von Stahl und Maschinenöl verkündend.

Flammenrot, wie von Blut überströmt, stand sie vor mir: hier in diesem von Schmutz trunkenem Zimmer, das nur von einer einzigen staubbeschlagenen Glühbirne erhellt wurde – sie, der Kristall der Eifersucht, jene Frau, die in Millionen Blasen glitzerte, sie, die am Tag fauchte und stöhnte. Eisige Kälte ging von ihr aus, und ihr Haar – wie stets an der Grenze von Dunkelbau und Schwarz -  wurde eins mit den stumpfen, im Halbdunkel lauernden Winkeln des Zimmers.

Eine Prozessmaschine strengt keinen Prozess an, dachte ich. Und: Eine Foltermaschine foltert sich nicht freiwillig.

Wir sprachen nicht. Beschuldigungen hätten die Angeklagte auch kaum beeindruckt.

Ich wiederum ahnte nichts von Gewissensfragen, von ihrer Schwierigkeit, mit einer Mehrfach-Identität zu leben. Eines Tages hatte sie mir erklärt: »Du bist nicht mehr rätselhaft. Du bist nicht mehr der einzige.«

Du bist nicht mehr der einzige wurde als Erinnerung in mein Gehirn transplantiert, die ideale Prügelstrafe, die nicht nur so armselig und unergiebig war wie die künstlerischen Beurteilungen eines Museumführers, sondern auch – unauslöschbar.

Du bist nicht mehr der einzige. Irgendwer wartete darauf, meine Nachfolge anzutreten, zum anderen Ich zu werden, und mir blieb in diesem widerlichen Spiel, in diesem nicht-endlosen Spektakel nur die Rolle eines zweitrangigen Schauspielers, der nicht von der Bühne abtreten will.

»Es ist deine Schuld«, murmelte ich in ihre Richtung.

»Natürlich«, erwiderte sie mit näselnden Stimme.

Die Dringlichkeitsprozedur hatte es erforderlich gemacht, nun doch zu sprechen – böse, lasterhafte Doppelgänger von Worten, die ich bedenkenlos dem Zorn des Gerichts überließ: Worte als Religion des Schmerzes, überdacht und chiffriert.

»Ich schlafe nicht mehr«, sagte ich.

»Doch, doch...« Sie hörte sich stottern und sah zur Decke hinauf, um meinem Blick auszuweichen. »Hast du geträumt?«

»Ich schlafe nicht. Aber ich träumte, du hättest mir einen Arm abgeschnitten.«

Sie lachte.

Und ich fragte mich, ob sie sich von meinem Traum täuschen lassen würde.

»Ich kann dich beruhigen«, spottete sie. »An Nicht-Menschen nehme ich keine Amputationen vor.«

Ja, ich weiß, so lautet dein Gesetz. Leider war diese Erfahrung nicht übertragbar.

»Du hast nichts zu befürchten«, log ich. »Hab' keine Angst.«

»Was willst du von mir? Willst du mich in die Irre führen?«

Sie erwartete keine Antwort. Mit dem Zeigefinger berührte sie ihr Geschlecht, das unter schwarzem, von Leid ins Schwanken gebrachtem Stoff verborgen war. »Komm, Libido, sei lieb und komm...«

In diesem Moment glich sie einer Mauer. Was symbolisierte sie? Welches Echo meines Lebens prallte von ihr ab? All das musste eine Bedeutung haben. Die Peinigung musste Teil einer bestimmten Strategie sein.

»Wer ist der andere?«, fragte ich.

»Deine Frage ist idiotisch.«

»Beantworte meine Frage: Wer ist der andere?«

»Ich kann mich nicht erinnern.«

Meine Wut trennte mich von meinem Körper – übergangslos, ohne Ankündigung. Auf der Leinwand meiner Erinnerung erschien eine Sequenz, die zeigte, wie mir irgendwer ins Gesicht schlug und mir eine Spritze gab. Komplizierte Worte drangen an mein Ohr. Metallene Zungen leckten mich ab. Augen, schwarz in schwarz und so groß wie gläserne Krater, untersuchten mich ohne jede Scham.

»Willst du aufgeben?« Ihre Stimme war maskiert, fürchterlich post-operativ.

Nein.

»Nein. Die Nachsicht, die ich mit dir und dem anderen übte, ist nur eine Konzession an die Höflichkeit.«

»Du hast den Mut verloren.«

»Ganz und gar nicht. Nur mein Körper verschließt sich.« Ich sagte dies in einem Tonfall, der gehässig klingen sollte.

Sie erblasste. Sie bedauerte ihren Entschluss, hierhergekommen zu sein – völlig gleich, wie hellsichtig, wie zuverlässig sie sich auch einschätzte.

»Das ist es, was in diesem Moment geschieht«, verkündete ich mit lauter Stimme...

...und ich zielte mit einem Revolver genau zwischen ihre Augen.

Schweißtropfen traten ihr auf die Stirn, liefen ihr in die Augen, brennend, beißend. Dennoch versuchte sie nicht, ausweichen oder zu entkommen.

Der Schuss dröhnte, und er war Geister und Körper und Gehirn in einem.

Sie roch Schwefel, den Geruch von verbranntem Schießpulver. Der Tod, der noch jung war.

Dann schloss sie die Augen, Tränen quollen unter ihren Lidern hervor. Auf ihrer Stirn hatte sich eine kreisrunde, blutende Unruhe geöffnet. Sie wurde von einer sekundenlangen Schmerzwelle gepackt und mitgerissen, hinein in das Zentrum des Unbegreiflichen, Unverfolgten.

Dann starb sie und fiel zu Boden.

 

*

 

Draußen, auf der nassen, von kühnem Neon-Licht erhellten Nacht-Straße sprach ich einen leisen Vers vor mich hin, den ich immer flüsterte, wenn der Dämmerschlaf mich heimsuchte; doch er hielt den Regen und den Schnee nicht fern.

Das Konzept meines Gesichtsausdrucks geriet völlig durcheinander: kindliches Lächeln, obszöne Grimasse, mörderischer Blick. Der Schauspieler wusste nicht mehr, welche Figur er verkörpern sollte (es waren zu viele Facetten für eine einzige Nacht!).

Ich bin ein Mörder, dachte ich. Meine Menschlichkeit wird schwächer werden, wird verkümmern. 

Die Entropie: mein Schicksal.

Und doch habe ich erst begonnen.

Denn sie war nicht die einzige.

Sie war nicht die einzige. Ihre Sterblichkeit war nur ein weiterer Vertrauensmissbrauch unter vielen gewesen. 

Ich sah einen Schatten, der mich auf den Mund küsste.

Ich sah einen Schatten, der auf einer Mauer saß, ein Licht, das den Sternenhimmel entflammte.

Ich sträubte mich gegen den fragmentarischen Kuss, denn ich würde in dieser Nacht noch einen weiteren Mord begehen. Wen würde ich ermorden? Den Vergessenen? Den Verlorenen?

»Ich beginne mit der Verwandlung...«

Die fatalistische Müdigkeit, bislang verdeckt von dem Leichentuch eines Phantoms, erfüllte mich mit träger Gleichgültigkeit.

War diese Nacht meine Vergangenheit? Meine Zukunft? Die Blitzlichter aus subversiver Zeit?

»Mein Gott«, flüsterte ich. »Mein Gott!«

Ich ließ Regenwasser in meinen offenen Mund rinnen, und der Schatten löste sich in der galaktischen Schwärze auf.

 

 

 

 

  Jack Ritchie: WER HAT MEINE FRAU GESEHEN?

  (Too Solid Mildred)

 

 

Ich wandte mich an den Hotelangestellten hinter der Rezeption. »Haben Sie einen Zweitschlüssel für Zimmer 4168?«

»Sie haben Ihren verloren, Sir?«

»Nein. Meine Frau hat den Schlüssel. Aber entweder ist sie weggegangen, oder sie ist im Zimmer und schläft. Vermutlich könnte ich sie aufwecken, wenn ich laut gegen die Tür klopfe, aber sie hat einen tiefen Schlaf, und ich möchte nicht, dass die anderen Gäste belästigt werden.«

Er zog das Gästebuch zu Rate. »Zimmer 4168? James Dodson?«

Ich nickte. »Mr. und Mrs. James Dodson.«

Er stülpte die Lippen vor. »Eingetragen ist aber nur ein Mr. Dodson.«

Ich blickte auf den von meiner Seite aus gesehen auf dem Kopf stehenden Namen, dann zuckte ich mit den Schultern. Offensichtlich hatte ich nur meinen Namen ins Gästebuch geschrieben, wobei der Wunsch der Vater des Gedankens gewesen sein mochte.

Mildred und ich waren morgens um halb drei hier eingetroffen. Wir hatten geplant, viel früher hier zu sein, aber ich hatte Ärger mit dem Wagen gehabt, und die Schwierigkeiten waren noch längst nicht behoben, obwohl mehrere Mechaniker an verschiedenen Tankstellen den Fehler zu finden versucht hatten.

Nachdem wir uns eingetragen hatten, waren wir auf unser Zimmer gegangen, begleitet von dem Pagen mit unserem Gepäck. Vor dem Hinlegen hatte ich meinen Reisewecker auf sieben Uhr gestellt.

Als der Wecker läutete, hatte ich Mildred schlafen lassen und war hinuntergegangen, um meinen Wagen zu einer Werkstatt zu fahren. Etwa acht Querstraßen vom Hotel entfernt hatte ich eine gefunden und den Wagen dort gelassen. Auf dem Rückweg zum Hotel war ich in ein Café gegangen, um zu frühstücken.

Alles in allem war dabei eine bis höchstens anderthalb Stunden vergangen. Als ich dann vor unserer Zimmertür stand, hatte Mildred auf mein verhaltenes Klopfen nicht reagiert.

Der Hotelangestellte reichte mir den Zweitschlüssel, und ich fuhr mit dem Lift in den vierten Stock hinauf. Ich steckte den Schlüssel ins Schloss und machte die Tür auf.

Mildred lag nicht im Bett. Die Tür zum Bad stand offen, und ich sah, dass sie auch nicht im Bad war.

Ich zuckte wieder die Achseln. Wahrscheinlich war sie ausgegangen, um zu frühstücken, in irgendein Café in der Nachbarschaft, denn das Hotel servierte kein Frühstück. Ungewöhnlich war es trotzdem, weil sie sonst immer lang schlief.

Ich setzte mich. Schon um diese frühe Stunde war es draußen heiß und schwül, und daran würde sich auch den ganzen Tag über nichts ändern. Im Zimmer jedoch herrschte angenehme Kühle. Um ehrlich zu sein, würde ich lieber den Tag im vollklimatisierten Hotel verbringen - hier im Zimmer war es ruhig, so dass ich mich würde entspannen können aber Mildred hatte anderes im Sinn. Sie hatte vor, mit mir an der Küste entlangzulaufen auf der Suche nach dem, was sie sich unter Urlaub vorstellte.

Es wurde an die Tür geklopft. Das Zimmermädchen wollte die Betten machen und im Zimmer aufräumen.

Mildred hatte sich in dem Doppelbett an die Fensterseite gelegt, und erst jetzt fiel mir auf, dass es so aussah, als ob die ganze Nacht niemand darin geschlafen hätte. Die Betttücher auf meiner Seite waren dagegen ziemlich verrutscht und verzogen.

Das Zimmermädchen war mit meinem Bett fertig und machte keine Anstalten, auch die Laken auf Mildreds Seite zu wechseln.

»Meine Frau hat darin geschlafen«, sagte ich.

Das Mädchen blickte mich kurz an, hob die Schultern und begann das Bett abzuziehen. Von der Stelle, wo ich saß, sahen die Tücher frisch und gestärkt aus. Das Zimmermädchen seufzte zwar, wechselte aber doch die Laken.

Dann begann sie hier und da abzustauben, und schließlich ließ sie sich auf Hände und Knie nieder und schaute unter die Betten.

»Suchen Sie was?«, fragte ich.

»Den zweiten Aschenbecher. In jedem Zimmer sind zwei, auf jedem Nachttisch einer. Und einer fehlt.«

Ich half ihr suchen, aber den fehlenden Aschenbecher fanden wir nicht.

Sie blickte mich misstrauisch an. »Manchmal packen die Gäste versehentlich Aschenbecher ein, bevor sie abreisen.«

Ich erwiderte ihren Blick mit eisiger Miene. »Ich reise nicht ab.

Außerdem klaue ich nur Handtücher und Seife.«

Nachdem sie fertig war und das Zimmer verlassen hatte, zog ich meine Jacke aus und öffnete den Wandschrank, um sie hineinzuhängen. Meine Sachen hingen noch drin, aber Mildreds waren verschwunden.

Ich runzelte die Stirn. Ich hatte selber gesehen, wie sie ihre Sachen ausgepackt und in den Wandschrank gehängt hatte, bevor sie sich hinlegte. Das wusste ich ganz genau, und die leeren Koffer hatte sie neben ihrem Bett liegen lassen.

Jetzt waren auch ihre Koffer verschwunden.

Seltsam. Ich öffnete die Schubladen der Kommode. Meine Hemden und die Unterwäsche lagen darin, die anderen Schubladen waren leer.

Ich ging ins Bad. Auf der Ablage über dem Becken lagen meine Zahnbürste in ihrer Plastikhülle und eine kleine Tube Zahnpasta, aber eben nur meine Zahnbürste. Mildreds fehlte. Vor dem Zubettgehen hatte sie die Zähne geputzt - das wusste ich genau, weil sie das immer machte und nie vergaß.

Nun begann ich das Zimmer sehr gründlich zu durchsuchen. Ich fand nicht einen Gegenstand, der Mildred gehörte, und der Hotelzimmerschlüssel war auch nicht da. Es war fast so, als hätte sie sich niemals in diesem Raum befunden.

Ich setzte mich wieder hin. Das war schon mehr als seltsam. Wenn sie nur weggegangen war, um zu frühstücken, hätte sie ihr ganzes Gepäck nicht mitgenommen.

Ein angenehmer Gedanke kam mir, und ich musste lächeln. Angenommen, Mildred hatte sich entschlossen, mich zu verlassen. Ich seufzte. Leider nur ein unerfüllbarer Wunsch.

Mir blieb nichts anderes übrig, als eine Weile zu warten. Jetzt schon Theater zu machen und wegen ihres Verschwindens zu lamentieren, würde nichts einbringen. Es musste eine logische Erklärung für diese Situation geben, und Mildred würde bald zurückkommen und die ganze Geschichte aufklären.

Ich schaltete den Fernseher ein und sah mir mit Interesse einen Film über die Pionierzeit unseres Landes und das Schicksal dieser Leute an. Anschließend folgte ein Beitrag über das Sammeln von antiken Bierflaschen, heilen und zerbrochenen. Auch ein Lehrfilm über Stricken und Häkeln nahm meine Aufmerksamkeit in Anspruch. Tagsüber daheim schaute sich Mildred einzig und allein Familien-Serien und Ratespiele an.

Als Sesamstraße anfing, schaltete ich ab. Ich wünschte nun, einige Bücher mitgebracht zu haben. Aber wenn man mit Mildred verreiste, blieben einem keine Zeit und Muße für anspruchsvolle Lektüre.

Ich trat ans Fenster und schaute auf die Straße hinunter. Unten schwitzten die Leute in der Sonnenhitze, zerrten lustlose und maulende Kinder hinter sich her und versuchten sich unablässig einzureden, wie schön doch die Urlaubszeit sei. Warum, zum Teufel, sahen diese Leute nicht ein, dass es viel schöner wäre, die Ferien in ihren gemütlichen, klimatisierten Wohnungen und Häusern zu verbringen, umgeben von den Annehmlichkeiten moderner Wohnkultur?

Mildred hatte es zu Hause nicht mehr ausgehalten und war schon eine Woche früher aufgebrochen. Sie war zu ihrer Schwester nach Pennsylvania gefahren und hatte von dort aus den Bus nach Harrisburg genommen, wo wir uns getroffen hatten und bis zur Küste weitergefahren waren.

Ich setzte mich wieder in den Sessel. Warum hatte ich Mildred überhaupt geheiratet? Zwischen uns hatte es wirklich keine Gemeinsamkeiten gegeben, und das war auch heute noch so. An ihr Geld kam ich nicht heran, dafür hatte sie gesorgt. Indem ich Mildred geheiratet hatte, lebte ich in finanziell gesicherten Verhältnissen, keineswegs aber in Wohlstand und häuslichem Frieden.

Könnte Mildred, nachdem sie ausgegangen war, um zu frühstücken, etwas zugestoßen sein? Ein Unfall vielleicht? Man hätte mich bestimmt benachrichtigt, oder? Zeit genug war inzwischen vergangen, und sie hatte stets ihre Ausweise bei sich und, in diesem Fall, auch den Hotelschlüssel.

Ich runzelte wieder die Stirn. Dass ihr Gepäck fehlte, hatte etwas zu bedeuten. Dahinter steckte irgendein Plan. Sie war mit ihrem Gepäck verschwunden. Also war sie nicht nur auf einen Sprung weggegangen, zum Beispiel, um zu frühstücken.

Mein Blick blieb wieder an ihrem Bett haften.

Angenommen, nur einmal angenommen, Mildred war mit einem anderen Mann abgehauen. Wie hätten die beiden sich begegnen sollen, und wie könnte sie es geschafft haben, ihn dazu zu verführen? Wir hatten vor sechs Jahren geheiratet, und während dieser Zeit war sie weder schöner, noch war sie umgänglicher geworden, ganz zu schweigen von ihrem Mundwerk. Außerdem hatte ich das Gefühl, etwas davon gemerkt haben zu müssen, wenn da ein anderer Mann gewesen wäre. Das wäre mir bestimmt nicht entgangen. Ich bin schließlich kein Dummkopf.

Um die Mittagszeit ging ich hinunter, um im Restaurant zu essen. Dann verließ ich das Hotel, um einen Spaziergang zu machen. Ich hatte zwei Schritte gemacht, als ich plötzlich stehenblieb. Draußen war es fast dreißig Grad heiß bei hoher Luftfeuchtigkeit. Es wäre der reine Schwachsinn gewesen, sich unter diesen Umständen im Freien aufzuhalten, aber auf der Straße wimmelte es von schwitzenden, missgelaunten Menschen.

Ich drehte mich um und ging wieder ins Hotel, holte mir am Bücherstand in der Halle einige Taschenbücher und fuhr zu meinem Zimmer hinauf, wo es angenehm kühl und nicht so stickig war wie im Freien. Ich rief den Etagenkellner an, bestellte eine Flasche Brandy und verbrachte den Nachmittag mit Lesen und Trinken. Um sechs Uhr war Mildred immer noch nicht da.

War sie möglicherweise doch mit irgendjemandem durchgebrannt? Sicherlich nicht mit einem Mann aus unseren Kreisen - eher schon mit einem Chauffeur, den es nach Höherem verlangte.

Ich musste lachen. Wir hatten keinen Chauffeur. Nur eine Köchin, die täglich ins Haus kam, und eine Haushälterin, die bei uns wohnte und die ständig mit ihrem sozialen Status haderte.

Ich blickte wieder zu Mildreds Bett hinüber. Hatte sie, nachdem sie aufgestanden war, ihr Bett zurechtgemacht? Wusste sie überhaupt, wie man so etwas machte? Soweit ich mich erinnerte, hatte sie, solange wir verheiratet waren, nicht ein einziges Mal ihr oder mein Bett gemacht.

Ich griff wieder zum Brandyglas.

Prescotts hatten einen Chauffeur, eine fiese Type. Die Dormans auch, aber das war ein Student, der während der Semesterferien im Sommer ihre Kinder zum Tennisclub fuhr und wieder nach Hause oder mit ähnlichen Nebensächlichkeiten beschäftigt war.

Wenn schon kein Chauffeur, dann vielleicht ein Gärtner? Wir hatten keinen, sondern überließen die Gartenarbeit einem Dienstleistungsunternehmen, das einmal in der Woche zwei Männer schickte, die während des Sommers den Rasen mähten und das Grundstück in Schuss hielten. War es einer von diesen beiden?

Ich unterdrückte den Wunsch zu lachen. Wenn schon kein Chauffeur oder Gärtner in Frage kam, dann vielleicht ein Förster oder Wildhüter? Irgendwo musste es solche Leute doch geben.

Als es auf acht Uhr zuging, fühlte ich mich glücklich, etwas schwummerig im Kopf und schläfrig. Ich gähnte und legte mich aufs Bett. Als ich wieder aufwachte, war es kurz vor halb zwölf. Mildred war immer noch nicht da.

Langsam setzte ich mich auf. Ich spürte die Auswirkungen des Alkohols, die jetzt weniger angenehm waren als vorhin. Ich trinke nur selten Alkohol - vielleicht drei- oder viermal im Jahr zu festlichen Anlässen. Mir reicht das. Ich stand auf und nahm ein Aspirin.

Wenn Mildred tatsächlich mit jemandem weggelaufen war, würde sie dann ihr Geld im Stich gelassen haben? Bestimmt nicht. Mildred war, was Geld anging, eine sehr vernünftige Person. Sie würde niemals darauf verzichten, da war ich mir ganz sicher, ganz gleichgültig, wie heftig die Leidenschaft sie heimgesucht haben mochte.

Hatte sie hinter meinem Rücken ihr Vermögen flüssig gemacht? Ich schüttelte den Kopf. Nein. Ganz ausgeschlossen. Anlagevermögen lässt sich nicht mit einem Fingerschnippen in Bargeld verwandeln. Das braucht Zeit. Außerdem war ich über ihre Geldanlagen genau informiert, und es hatten keine Transaktionen stattgefunden.

Und dennoch war Mildred weg - spurlos verschwunden samt ihrem Gepäck.

Es war noch Brandy übrig, und an den hielt ich mich jetzt. Wenn eine Ehefrau verschwindet, ohne Nachricht zu hinterlassen, neigen die Leute dazu - insbesondere die von der Polizei - das Schlimmste zu vermuten, und der erste Verdacht fällt unweigerlich auf den Ehemann, besonders dann, wenn er sich Zeit gelassen hat, das Verschwinden seiner besseren Hälfte zu melden.

Es blieb mir nichts anderes übrig, als unverzüglich zur Polizei zu gehen und zu melden, dass Mildred verschwunden war - jetzt, sofort. Ich zog meine Jacke an, trank zur Stärkung noch einen Schluck Brandy und fuhr mit dem Lift in die Halle hinunter.

Es war kurz vor Mitternacht, und die zwei Nachtportiers schienen gerade eingetroffen zu sein, um ihre Schicht zu beginnen. Den einen kannte ich. Es war der Mann, der hinter der Rezeption gestanden hatte, als Mildred und ich angekommen waren.

Ich sprach ihn an. »Entschuldigen Sie, aber was muss man tun, um das Verschwinden der Ehefrau zu melden? An wen muss ich mich wenden?«

Das ungeteilte Interesse beider Portiers war mir von dieser Sekunde an sicher, und der eine - er hieß Harnes, wie ich später erfuhr - antwortete. »Sind Sie Mr. James Dodson?«, fragte er.

Es berührte mich angenehm, dass er sich an meinen Namen erinnerte, besonders an den Vornamen. Schließlich kam es nicht jeden Tag vor, dass man auf andere Leute einen so nachhaltigen Eindruck machte.

Harnes lächelte. »Sie sagten eben etwas über Ihre Gattin?«

»Richtig. Ich habe sie seit sieben Uhr heute Morgen nicht mehr gesehen, als ich das Hotel verließ, um meinen Wagen in die Werkstatt zu fahren. Erst dachte ich, sie sei frühstücken oder einkaufen gegangen, aber sie ist noch nicht zurück, und ich beginne, offen gesagt, mir Sorgen zu machen.«

Harnes blätterte einige Seiten im Gästebuch um. »Ja, hier ist es. James Dodson. Hier steht nur dieser eine Name. Ohne Ehefrau.«

Ich lächelte. »Was in Ihrem Buch steht, kümmert mich nicht. Ich bin mit meiner Frau angereist, und jetzt ist sie weg.«

Harnes schien sich dafür entschuldigen zu wollen, dass er mir keine andere Auskunft geben konnte. »Es tut mir außerordentlich leid, Sir. Aber ich erinnere mich deutlich, dass Sie allein waren, als Sie sich ins Gästebuch eintrugen. Ohne Begleitung.«

Ich machte ein verblüfftes Gesicht.

Das tat auch der Portier, dessen Schicht gerade zu Ende gegangen war. Mulligan hieß er, wie sich im Verlauf herausstellte. Er war ein kleinwüchsiger Mann mit einem spitzen Gesicht, und er erinnerte mich entfernt an den Chauffeur der Prescotts.

Ich versuchte es auf die heitere Tour. »Als ich mich ins Gästebuch eintrug, war meine Frau bei mir. So etwas vergisst man schließlich nicht. Oder?«, fragte ich.

Harnes pflichtete mir bei. »Nein, Sir. Dennoch, Sie waren allein.« Er wandte sich an die Pagen, die in der Nähe herumlungerten und lange Ohren machten, und winkte mit einer gebieterischen Handbewegung.

Einer dieser Knaben verließ die Gruppe sogleich und kam an die Rezeption. Ich erkannte ihn. Es war derselbe, der unser Gepäck aufs Zimmer gebracht hatte.

»Dieser Gast hier«, sagte Harnes und zeigte auf mich, »behauptet, in Begleitung seiner Frau Gemahlin hier eingetroffen zu sein und sich eingetragen zu haben. Wenn ich mich nicht täusche, hast du das Gepäck hinaufgebracht.«

Der Page nickte eifrig. »Ganz recht, Sir. Aber dieser Herr hier war allein. Es war niemand bei ihm, weder seine Gattin noch sonst eine andere Frau.«

Ich starrte ihn an. »Sie ist groß, mager, eine Frau, die man nie vergisst, mit einem riesigen roten Hut.«

»Bedaure, Sir«, sagte der Page, »aber Sie waren allein.«

Ich gehöre nicht zu der Sorte von Männern, die dazu neigen, an ihrem Verstand zu zweifeln, an ihrer Intelligenz oder an ihrem Wahrnehmungsvermögen. Meine Frau war bei mir gewesen, als ich mich eingetragen hatte. Harnes hatte Dienst an der Rezeption gehabt. Und wenn ich mich richtig entsinne, dann waren Harnes und der Page die einzigen Hotelangestellten gewesen, die sich bei unserer Ankunft in den frühen Morgenstunden in der Halle befunden hatten.

Und jetzt logen die beiden. Warum? 

Mulligan mischte sich in die Unterhaltung ein. Er lächelte, und seine kleinen scharfen Zähne machten ihn mir nicht sympathischer. »Es liegt mir fern, Sie zu beunruhigen, Sir, aber haben Sie schon im Krankenhaus angerufen? Hatte Ihre Gattin Ausweispapiere bei sich?«

»Jede Menge. Wenn ihr irgendetwas zugestoßen wäre, hätte man mich längst benachrichtigt.«

Mulligan nickte. »Ich glaube, es ist besser, wenn wir jetzt die Polizei hinzuziehen, Sir. Die könnte unter anderem auch das Hotel von oben bis unten durchsuchen.«

Harnes bedachte ihn mit einem bösen Blick. »Jetzt habe ich hier Dienst. Deine Schicht ist seit fünf Minuten um. Ob die Polizei hinzugezogen werden muss, werde ich entscheiden.«

Welchen Grund mochten Harnes und der Page haben, mich anzulügen? Plötzlich kam mir ein sehr beunruhigender Gedanke. Steckte hier mehr dahinter als nur das Verschwinden einer Person? War ein Verbrechen verübt worden? Lebte vielleicht Mildred nicht mehr? Hatte man sie ermordet? Waren Harnes und der Page in ihren Tod verwickelt? Wenn dem so sein sollte, dann hatten sie sich bestimmt Schutzbehauptungen ausgedacht und ein Alibi konstruiert - nämlich die Behauptung, ich sei allein hier angekommen.

Ich merkte, dass ich zu schwitzen begann.

Wie prekär konnte die Lage sein, in der ich mich befand? Wenn es um Mord ging, konnte es sehr zu meinem Nachteil gereichen, wenn ich derjenige war, der Mildred zuletzt gesehen hatte, als sie noch lebte. Die Polizei neigt dazu, ihre Ermittlungen auf solchermaßen betroffene Personen zu konzentrieren.

Vielleicht wäre es klüger, ich behauptete, Mildred in Harrisburg am Busbahnhof nicht getroffen zu haben. Mein Wagen hätte Schwierigkeiten gemacht, wodurch ich mich verspätet hätte. Folglich hätte ich angenommen, Mildred habe sich, des Wartens überdrüssig geworden, eines anderen Verkehrsmittels bedient, um Harrisburg zu verlassen. Das würde dann bedeuten, dass ihre Schwester sie zuletzt lebend gesehen hatte und nicht ich. Sollte sie das der Polizei erklären, wenn man sie fragen würde, was aus Mildred geworden war. Schließlich hatte Mildred sie in ihrem Testament mit einem Drittel ihres Vermögens bedacht.

Im Grunde genommen brachte es mir nichts ein, wenn ich weiterhin darauf beharrte, gemeinsam mit Mildred hier angereist zu sein. Harnes und der Page würden das vehement bestreiten - wofür sie sicher gute Gründe hatten -, und wenn Aussage gegen Aussage stand, entschied immer das Kräfteverhältnis. Hierbei waren sie mir zwei zu eins überlegen.

Was immer die beiden zu verbergen haben mochten, für mich wäre es bestimmt besser, sie nicht zum Feind zu haben. Und wenn ich in ihrem Sinne handelte, taten sie es vielleicht auch in meinem.

Ich entschloss mich, die Auswirkungen des Alkohols ins Gefecht zu schicken und meinem trunkenen Lächeln einen deutlich vernehmbaren Schluckauf folgen zu lassen. »Um ganz ehrlich zu sein, ich erinnere mich überhaupt nicht mehr, mich gestern früh eingetragen zu haben.« Ich grinste und hauchte eine Alkoholfahne über das Rezeptionspult. »Ich weiß nur noch, dass ich heute Morgen hier aufgewacht bin, mehr nicht. Hat mir bei der Ankunft jemand aufs Zimmer helfen müssen?«

Harnes schaltete schnell. »Sie wirkten ein wenig unsicher auf den Beinen, Sir.« Er zeigte auf den Pagen. »Eddie hier musste Ihnen hinaufhelfen. Sie sind sofort eingeschlafen, nachdem er Sie aufs Bett gelegt hatte.«

Ich rülpste dezent. »Was ich jetzt brauche, ist ein guter Schluck, und den finde ich in meinem Zimmer.« Ich ging zu den Aufzügen, wobei ich absichtlich leicht torkelte.

Mulligan ergriff meinen Ellbogen und führte mich. »Ich bringe Sie zu Ihrem Zimmer, Sir. Aber wenn Sie mich fragen, meine ich, dass Sie trotzdem die Polizei benachrichtigen sollten.«

»Quatsch!«, fuhr ich ihn an. »Ich leide immer wieder unter Halluzinationen, in denen meine Frau vorkommt.«

»Sind Sie sicher, dass es auch diesmal eine Halluzination war, Sir?«

»Hundertprozentig sicher. Mildred trägt keine roten Hüte. Sie kann diese Farbe nicht ausstehen. Jedes Mal, wenn ich sie mit einem roten Hut sehe, weiß ich, dass ich Halluzinationen habe.«

»Aber als Sie an die Rezeption kamen, schienen Sie nicht an Halluzinationen geglaubt zu haben.«

»Manchmal brauche ich eben etwas länger, um zu merken, dass ich mir etwas einbilde.«

Mulligan begleitete mich in den Aufzug. »Haben Sie und Ihre Gattin in letzter Zeit Indien oder den Fernen Osten bereist? Als Sie ihre Gattin zum letzten Mal sahen, wirkte sie da kränklich? Gab es Anzeichen, dass sie sich an den schwarzen Blattern angesteckt haben könnte?«

Ich starrte ihn fassungslos an.

Er hatte stechende gelbe, schwarzgefleckte Augen. »Angenommen, sie hat sich eine Seuche geholt - es muss ja nicht die Beulenpest sein. Für den Ruf unseres Hotels wäre das gar nicht gut, ganz zu schweigen von den Folgen für dieses Urlaubsgebiet. Und nehmen wir an, Harnes versuche nun, die Sache zu vertuschen. Er könnte die Leiche verschwinden haben lassen und nun so tun, als sei gar nichts geschehen, wobei er so weit geht, zu behaupten, die Frau Gemahlin sei hier überhaupt nicht abgestiegen. Diesem Harnes und seinem Bruder traue ich alles zu.«

»Sein Bruder?«

»Ja. Der Page. Eddie. Der hat gesessen. Wussten Sie das? Wegen Einbruchdiebstahls.«

Nachdem wir an der Tür zu meinem Zimmer angekommen waren, blickte Mulligan angestrengt auf die Zimmernummer.

»Was suchen Sie denn?«, fragte ich ihn.

»Ach, ich wollte nur sichergehen, dass die Schilder mit den Zimmernummern nicht vertauscht worden sind. Aber das ist hier nicht der Fall. So viel Staub sammelt sich nicht in einer Nacht an. Wissen Sie genau, dass es dasselbe Stockwerk ist, in das Eddie Sie nach Ihrer Ankunft gebracht hat?«

»Bis vier konnte ich noch zählen«, antwortete ich und steckte den Schlüssel ins Schloss. Ich machte die Tür zu und ließ Mulligan draußen stehen.

Die Möglichkeit, dass Mildred davongelaufen war, konnte ich jetzt streichen. Etwas war ihr zugestoßen, und die Brüder Harnes steckten bis über die Halskrause in dieser Geschichte.

Eddie war ein entlassener Sträfling. Ein Einbrecher.

Ich hatte dieses Zimmer gegen sieben Uhr morgens verlassen. Als ich ging, hatte Mildred sich im Bett umgedreht. War sie wieder eingeschlafen, oder hatte sie sich entschlossen, aufzustehen und zu frühstücken?

Konnte Eddie beobachtet haben, wie erst ich, dann sie das Zimmer verlassen hatte? Hatte er sich mit seinem Schlüssel eingelassen und unser Gepäck durchsucht?

Mildreds Frühstück besteht in der Regel nur aus einer Tasse Kaffee. Sie konnte also früher als erwartet wieder zurückgekommen sein und Eddie bei der Arbeit überrascht haben. Es war zu einem Gerangel gekommen. Er hatte auf sie eingeschlagen. Mit dem Aschenbecher, der fehlte? So etwas ist immer zur Hand, wenn man es braucht. Und Mildred war unter den Einwirkungen des Schlages oder der Schläge gestorben.

Eddie war zu seinem Bruder gelaufen und hatte ihm gesagt, was geschehen war. Sie hatten sich überlegt, dass der Verdacht, sobald die Leiche entdeckt würde, unweigerlich auf Eddie fallen würde, den einzigen straffällig gewordenen Einbrecher im Hotel. Folglich hatten sie beschlossen, die Leiche wegzuschaffen und es so hinzustellen, als sei Mildred nie in diesem Hotel gewesen.

Die Lage, in der die beiden sich befanden, war also alles andere als beneidenswert. Ich würde darauf bestehen, mit Mildred hier angereist zu sein, und sie würden darauf beharren, das Gegenteil sei der Fall. Die Polizei würde wohl oder übel den Schiedsrichter spielen müssen.

Wäre es in dieser Situation für Harnes und seinen Bruder nicht vorteilhafter gewesen, wenn sie behauptet hätten, gesehen zu haben, wie Mildred das Hotel verließ, ob nun mit oder ohne Gepäck?

Ich goss Brandy nach und verfiel in dumpfes Grübeln. Eine halbe Stunde später klopfte es an der Tür.

Mulligan stand draußen und rieb sich die Hände. »Ich habe einen Blick ins Gästebuch werfen können, ohne dass Harnes es merkte. Seite 79 fehlt.«

»Ich begreife nicht, was daran so wichtig sein könnte.«

Mulligan lachte halblaut. »Ich glaube, jetzt durchschaue ich das Spiel, das hier getrieben wird. Als Sie und Ihre Frau Gemahlin hier eintrafen, trugen Sie sich als Mr. & Mrs. James Dodson ins Gästebuch ein, und zwar in der ersten Zeile auf Seite 79. Später riss Harnes diese Seite heraus und übertrug Ihren Namen und die Namen aller Gäste, die nach Ihnen anreisten, auf Seite 81, wobei er sich natürlich bemühte, die Handschriften nachzumachen.«

»Und was geschah mit Seite 80?«

»Seite 79 ist eine rechte Seite im Buch, und Seite 80 befindet sich auf der Rückseite dieses Blattes. Sie verschwand also ebenfalls.«

»Wie raffiniert ihr Hotelangestellten doch seid! Aber ich bin gar nicht mit meiner Frau hier eingetroffen. Und ich habe auch nur meinen Namen ins Gästebuch geschrieben. Jetzt weiß ich es wieder ganz genau. Als ich mich in meinem benebelten Zustand ins Buch eintrug, zerriss ich versehentlich die Seite. Harnes hat sie ganz herausgenommen, und ich trug mich auf der folgenden Seite ein.«

Mulligan starrte mich an. Bei seinem widerlichen Grinsen hätte einem schlecht werden können. »Wenn Sie nicht schon vorher mit den Brüdern Harnes unter einer Decke gesteckt haben sollten, dann tun Sie’s jetzt.« Seine Augen funkelten. »Ich kenne zwar nicht die Hintergründe, aber die werde ich schon noch herauskriegen. Schließlich bin ich nicht auf den Kopf gefallen.«

Ich hatte das entmutigende Gefühl, dass er die Wahrheit sagte und nicht locker lassen würde, bis er alles wusste. Ich machte die Tür vor seiner Nase zu und kehrte zurück zu meiner Flasche.

Was war mit Mildreds Leiche geschehen, einmal ganz abgesehen von ihrem Gepäck? Ist es möglich, um acht Uhr morgens eine Leiche aus einem Hotel zu schaffen, ohne damit rechnen zu müssen, dabei erwischt zu werden? Wohl kaum. Naheliegender wäre es gewesen, die Leiche in einem nicht belegten Zimmer zu verstecken und sie zu einer günstigeren Zeit fortzuschaffen. Vielleicht in den frühen Morgenstunden? Welches Zimmer mochte es sein? Bestimmt ganz in der Nähe, und je näher, desto besser.

Beflügelt von der Logik meiner Überlegungen, trat ich auf den Hotelflur hinaus. Vorsichtig näherte ich mich der Tür des Zimmers zu meiner Rechten. Langsam drehte ich den Türknopf. Die Tür war nicht versperrt, und ich schob sie einen Spalt breit auf.

Das Zimmer war belegt. Zwei Menschen verschiedenen Geschlechts befanden sich darin. Die Unterscheidung fiel nicht schwer, weil sie nichts anhatten und sehr aktiv miteinander beschäftigt waren.

Schnell machte ich die Tür wieder zu. Warum hatten die Menschen nicht so viel Anstand, die Tür abzuschließen, wenn sie es miteinander trieben?

Mir war klar, dass ich so nicht weitermachen und alle Zimmertüren auf dem Flur öffnen konnte. Wer weiß, in was ich alles hineingeraten könnte.

Mein Blick fiel auf eine Tür in der Stirnseite des Ganges, die keine Nummer hatte. Ein Abstellraum? War es möglich, dass Mildreds Leiche sich darin befand? Nicht sehr wahrscheinlich, aber für mich wäre es der geeignete Ort, mich zu verstecken und zu beobachten, falls jemand versuchen sollte, Mildred aus ihrem Versteck zu entfernen.

Ich holte die Brandyflasche aus meinem Zimmer und machte es mir im Abstellraum, zwischen Staubsaugern, Besen, Eimern und Reinigungsmitteln so bequem wie möglich. Die Tür ließ ich einen Spalt offen. Ich wartete und nippte an der Flasche. Um halb drei musste ich mich sehr zusammennehmen, um nicht zu singen anzufangen. Der alberne Text vom Lied des Kommissars ging mir ständig im Kopf herum.

Um drei war die Flasche leer, und ich überlegte, ob ich in mein Zimmer zurückkehren sollte, als ich das Quietschen von Rädern hörte. Eddie erschien in meinem Blickfeld und schob eine Schubkarre vor sich her, auf der er einen großen Schiffsreisekoffer transportierte. Er entfernte sich den Gang hinunter. Vor einer Tür hielt er an, öffnete sie und verschwand darin samt seiner Fracht.

Ich wartete. Zehn Minuten, fünfzehn, zwanzig. Wo blieb er bloß, und was machte er drinnen?

Schließlich ging die Tür wieder auf, und Eddie kam heraus samt Schubkarre und Schiffskoffer, auf dem jetzt Mildreds zwei Koffer standen.

Ich stieß die Tür des Abstellraumes auf und torkelte hinaus. »Sieh mal einer an! Wollen Sie vielleicht leugnen, dass dieser Koffer eine Leiche beherbergt?«

Eddie wurde käseweiß und seufzte. »Ich leugne es nicht, aber ich muss erst mit meinem Bruder sprechen. Er denkt für uns beide.«

»Ein schöner Zug von ihm«, sagte ich. »Sie dürfen das Telefon in meinem Zimmer benutzen.«

Eddie schob seine Karre in mein Zimmer und telefonierte. Dann wischte er sich den Schweiß von der Stirn. »Mein Bruder kommt herauf.«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Sie haben meine Frau umgebracht, als sie hinzukam, während Sie unser Zimmer plünderten.«

Diese Bemerkung kränkte ihn sehr. »Ich habe nicht geplündert, sondern mich bloß umgesehen. Seit sieben Jahren habe ich nichts mehr ausgefressen, und ich habe eine Frau und drei Kinder. Ich bin kein Dieb mehr, aber von einer Leidenschaft komme ich einfach nicht los.«

»Von welcher Leidenschaft reden Sie?«

»Ich schaue mir die Sachen unserer Gäste an und überlege, was ich mitgehen lassen könnte, wenn ich etwas stehlen wollte. Aber das ist reines Wunschdenken. Letztes Jahr hätte ich spielend leicht Wertgegenstände für vierzig Mille mitgehen lassen können, aber ich habe es nicht getan.«

»Und meine Frau hat Sie überrascht und geglaubt, Sie wollten etwas stehlen. Ist es so?«

Er nickte niedergeschlagen. »Sie kam auf mich zu und wollte mir die Handtasche auf den Kopf schlagen. Ich duckte mich. Sie stolperte und stürzte. Dabei schlug sie mit dem Kopf auf den Aschenbecher auf dem Nachttisch und zerbrach ihn in zwei Teile - den Aschenbecher. Ihrem Kopf ist das gar nicht gut bekommen. Aber es war ein schneller und schmerzloser Tod. Sie hat nicht leiden müssen, das versichere ich Ihnen.«

»Warum sind Sie nicht einfach weggegangen? Wozu das ganze Theater?«

»Wegen der Fingerabdrücke«, sagte Eddie. »Vielleicht hätte die Polizei geglaubt, dass es ein Unfall war, aber aus reiner Routine hätten sie doch nach Fingerabdrücken gesucht. Für alle Fälle. Und meine waren über den ganzen Raum verstreut. Wie hätte ich das erklären sollen? Ich, der schon gesessen hat? Ich trug keine Handschuhe, weil ich ja nichts stehlen wollte. Wozu also? Und was ich alles angefasst oder berührt hatte, daran konnte ich mich nicht mehr erinnern. Also hätte es auch keinen Zweck gehabt, sie abzuwischen. Ich erzählte meinem Bruder, was vorgefallen war, und wir entschlossen uns, dass wir nichts anderes tun konnten, als die Leiche wegzuschaffen, damit der Gedanke an Mord gar nicht erst aufkäme.«

»Aber warum auch das Gepäck?«

»Weil Blut ah die Koffer gekommen war, als sie stürzte. Sie hat nicht stark geblutet, nur ein bisschen, aber das genügte. Einer der Koffer war offen. Lins war klar, dass es sehr verdächtig aussehen würde, wenn ihre leeren Koffer verschwänden. Also räumten wir ihre Sachen aus dem Schrank und packten sie in die Koffer. Uns erschien es als das sicherste, den Eindruck entstehen zu lassen, dass sie überhaupt nicht ins Hotel gekommen sei. Dann würde unsere Aussage gegen Ihre stehen.«

»Wäre es nicht einfacher gewesen, wenn Sie und Ihr Bruder einfach behauptet hätten, dass Sie gesehen haben, wie sie das Hotel verließ - samt ihren Koffern?«

»Daran hatten wir schon gedacht. Aber jemand hätte ihre Koffer hinuntertragen müssen, und am Portier an der Tür wäre sie nicht vorbeigekommen, ohne dass er sie bemerkt haben müsste. Außerdem ist draußen an der Ecke ein Taxistand, und diese Leute haben scharfe Augen. Keiner hätte sich daran erinnern können, eine Frau aus dem Hotel kommen gesehen zu haben. Noch dazu eine so auffallende Person, wie Sie selbst schon sagten.«

»Was hatten Sie mit der Leiche meiner Frau vor?«

»Mein Bruder besitzt ein Grundstück draußen auf dem Land mit einem alten Ziehbrunnen. Dort wollten wir sie hineinwerfen und das Loch mit Erde auffüllen. Keiner hätte was gemerkt.«

Es klopfte an die Tür, und ich ließ Harnes herein.

Er sah sich im Raum um, dann blickte er auf die Koffer und dann auf seinen Bruder. »Was hast du ihm erzählt?«

Eddie räusperte sich. »So gut wie gar nichts.«

Harnes rieb seine Hände. »Mal nachdenken. Wie ist die Situation? Sie, Mr. Dodson, riefen die Rezeption an. Sie baten darum, dass man Ihnen einen Schiffsreisekoffer aufs Zimmer bringen sollte. Eddie brachte ihn. Sie wiesen ihn an, er solle zwanzig Minuten später wiederkommen. Das tat er auch. Sie sagten ihm, er solle den Koffer hinunter in die Tiefgarage schaffen, wo Sie ihn später abholen lassen würden. Eddie fielen die Blutflecken am Koffer auf.«

Harnes drehte Mildreds Koffer um, damit ich die dunklen Flecken sehen konnte. »Und nach all dem vielen Getue um eine verschwundene Ehefrau schöpfte Eddie sofort Verdacht, dass an der Sache etwas faul sein könnte und rief mich an. Ich kam sofort herauf. Jetzt bin ich also hier. Sollen wir den Schiffskoffer öffnen, oder überlassen wir es der Polizei?«

»Das ist ja der Gipfel der Frechheit«, empörte ich mich. »Sie irren sich gewaltig, wenn Sie glauben, die Sache mir anhängen zu können.«.

Harnes grinste. »Meinen Sie? Unser Wort steht gegen Ihres. Wir sind zwei, Sie sind einer.«

»Eddies Fingerabdrücke sind hier überall im Raum«, konterte ich, »und wahrscheinlich auch an den Innenwänden des Koffers. Wie wollen Sie das der Polizei erklären?«

Harnes dachte darüber nach. »Also schön, wenn Eddie und ich ins Gefängnis müssen, dann sollen Sie nicht ungeschoren davonkommen. Wir werden behaupten, Sie hätten uns beauftragt und dafür bezahlt, Ihre Frau umzubringen.«

Eddie blickte bewundernd zu seinem Bruder auf. »Das stimmt. Wenn wir untergehen, reißen wir alle mit in die Tiefe.«

Die meinten es offensichtlich ernst. Sie waren fest entschlossen, mir die Schuld aufzuhalsen. Und wenn man es nüchtern betrachtete, standen ihre Chancen gar nicht schlecht, wenn sie bei der Polizei gegen mich aussagten.

Harnes beendete die Pattsituation mit einem Lächeln. »Andererseits, Sir, gibt es eigentlich keinen zwingenden Grund, warum wir die Polizei überhaupt hinzuziehen sollten. Wir drei - Sie, Eddie und ich - könnten uns eine Menge Unannehmlichkeiten ersparen, wenn...« Er zuckte mit den Schultern.

Ich seufzte. Eine verzwickte Situation. Harnes’ Überlegungen waren gar nicht so unübel.

»Und was soll aus Eddies drei Kindern werden?«, fragte Harnes. »Ohne seine Fürsorge und Erziehung werden sie sich wahrscheinlich zu Verbrechern entwickeln.«

Eddie wischte mit dem Finger eine Träne aus dem Auge.

So dick hätten sie nun auch wieder nicht aufzutragen brauchen. Ich blickte sie kalt an. »So sei es denn. Nehmt die Leiche und beseitigt sie. Was geschehen ist, kann man nicht mehr ungeschehen machen.«

Eddie traf Anstalten, sich mit seiner Fuhre zu entfernen. »Ich schaffe nur schnell den Schiffskoffer hinunter und leere ihn aus, dann bringe ich ihn wieder herauf, um die Leiche Ihrer Frau zu holen, Mr. Dodson.«

Ich traute meinen Ohren nicht. »Dann ist die Leiche meiner Frau gar nicht in dem Koffer?«

»Nein, Sir«, antwortete Eddie. »Ich wollte sie gerade hineintun, als Mulligan aus dem Wandschrank sprang. Ich nehme an, er hatte Verdacht geschöpft und wartete auf mich. Er hatte nicht die Absicht, zur Polizei zu gehen, sondern er wollte uns erpressen. Uns drei.« Eddie hüstelte. »Schade um den Aschenbecher. Mulligan liegt im Koffer.«

Harnes seufzte. »Jetzt muss ich mir was ausdenken, um Mulligans Verschwinden zu erklären. Am besten wird sein, wir sagen, er hätte Firmengelder unterschlagen und sich aus Angst, dass die Sache auffliegen könnte, bei Nacht und Nebel davongemacht.«

Als sie hinausgingen, drückte ich Eddie fünf Dollar in die Hand. Normalerweise halte ich nichts davon, zu üppige Trinkgelder zu geben, aber es gibt eben Ausnahmen.

Dann schloss ich hinter ihnen ab und legte mich ins Bett.

 

 

 

 

  William Bankier: DAS WEICHE HERZ (Duffy's Last Contract)

 

 

Duffy saß an der Bar im Wirtshaus in der Charing Cross Road und trank Wodka mit Limonade. Er musste schnell trinken. In einer halben Stunde sollte er in dem Hotel am Park Lane sein, um sich mit Miss Groves zu treffen. Sie würde ihm Timbermans Frau zeigen, und dann würde man von Duffy erwarten, das zu tun, wofür er bezahlt wurde. Es war mehr Geld, als er in den letzten Jahren gesehen hatte, und er brauchte es; also wäre es besser, nüchtern zu bleiben, um zielen und auf den Abzug drücken zu können.

Das dralle Mädchen hinter der Bar reagierte auf seine Kopfbewegung. Sie nahm sein leeres Glas und drückte es zweimal unter den Hahn der Wodkaflasche. Er bezahlte den Doppelten, und als sie sein Wechselgeld brachte, sagte er: »Bitte, schenken Sie mir nicht mehr nach.«

Er erwartete, dass sie das erstaunen würde. Das war eine Bitte, die Duffy häufig in Bars, in denen er ein Fremder war, vorbrachte. Er fühlte, dass es ihm Glanz verlieh und ihn fast auf die Stufe des Helden in der Sage stellte, über den er vor Jahren in der Schule gelesen hatte, nämlich der, der sich an den Mast binden ließ, damit er nicht über Bord springen und zu der Insel schwimmen konnte, auf der die Sirenen sangen. Auch Duffy benötigte Hilfe gegen eine Versuchung, die ihn sonst überwältigen würde.

Entlang der Bar hoben sich die Köpfe, und er fühlte eine innere Befriedigung. »Bitte schenken Sie mir nicht mehr nach«, sagte er noch mal zu dem Mädchen und legte seine Hand auf das Glas.

 

Miss Groves ließ ihn im Hotel warten. Er rief sie über das Hoteltelefon an, und sie sagte, er solle auf die Straße hinausgehen; sie wollte nicht vom Hotelpersonal mit ihm zusammen gesehen werden. Sie fragte, welche Kleidung er trage. Er beschrieb ihr seinen blauen Anzug und die braunen Schuhe, und aus irgendeinem Grund erzählte er ihr auch noch, dass er graue Haare hatte. Etwas in ihrer Stimme ließ ihn fühlen, dass er völlig unpassend angezogen war. Er legte den Hörer auf und begab sich auf den Rückzug, nicht ohne in dem hell erleuchteten Spiegel sein beunruhigendes Ebenbild erblickt zu haben.

Draußen auf der Straße stand ein großer roter Briefkasten. Er stellte sich daneben. Auf der anderen Seite der verkehrsreichen Straße zogen sich der Rasen und die Bäume des Hyde Park hin, so weit sein Auge reichte.

Einige Minuten dachte Duffy an seine Haare. Er war der einzige von seinen Brüdern und Schwestern, der früh ergraut war. In seinen Dreißigern, während einer kurzen Periode von Wohlstand, War er stolz darauf gewesen. Ein cleverer Bursche im Friseursalon hatte sein Haar gewaschen und ihm einen guten Schnitt verpasst, so dass sich bei seiner sommerlichen Bräune die Leute nach ihm umdrehten. Nun, nahe an den Fünfzigern, konnte man nicht mehr von früh ergraut sprechen. Es war einfach weißes Haar, und das letzte Mal hatte er es selbst geschnitten.

Duffy sah durch die Hoteltür Leute aus- und eingehen. Er hatte keine Ahnung, wie Miss Groves aussah. Der Name klang nach einer vertrockneten Lehrerin in altmodischen Kleidern. Von Norris Timberman hatte Duffy gehört, dass sie sich um seine kleine Tochter kümmerte, wenn es seiner Frau nicht gut ging.