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Alle Tragödien basieren auf einem

Mißverständnis. Wenn die Dinge sich

schließlich klären, sind alle tot.

 

Die sechste Laterne, Pablo De Santis

1

Gibt es Perfektion in der Welt?

Am wahrscheinlichsten dort, wo Symbiosen stattfinden. Wo Lebewesen sich ergänzen, Algen und Pilze, Clownfische und Seeanemonen, Ameisen und Blattläuse, manchmal Hund und Mensch, eher selten Mann und Frau. Sehr wohl aber – und das ist in keiner Weise spaßig gemeint – die Verbindung zwischen einem Kneipenwirt und seinem Gast. Diese Paarung hat etwas von der scharfen Logik der Herr-Knecht-Beziehung, ist aber konfliktfreier, weil die Position des Beherrschten und des Beherrschenden, beziehungsweise das Vertauschen der Positionen, weniger stark wahrgenommen wird. Dazu kommt, daß im Falle von Herr und Knecht eine latente, ungemütliche Sexualität besteht. Niemals aber zwischen Wirt und Gast. Wenn denn Erotik, dann funktioniert sie nicht direkt, sondern nur mittels des Objekts, das die Verbindung besiegelt. Man könnte das gewagterweise eine unbefleckte Empfängnis nennen, nämlich das Glas Wein, das Glas Bier et cetera, das von einem zum anderen wandert.

Um es aber gleich von Anfang an klar auszusprechen, die »unbefleckte Empfängnis« soll hier nicht im Zentrum stehen. Das Thema ist vielmehr die Beziehung zwischen einem Wirt und seinem Gast, die perfekte Beziehung. Der Alkohol, der dabei ins Spiel kommt, ist weder Teufelszeug noch Medizin. Und selbst wenn er dem Körper des einen, des Gastes, Schaden zufügt, ist auch dies nicht der Punkt. Denn der Schaden wird durch so manches aufgehoben. Ja, der Alkohol, den der Wirt dem Gast serviert, nutzt dem einen wie dem anderen. Sonst wäre es ja auch keine Symbiose im strengen Sinn, also ein für beide Personen nützliches Zusammengehen.

Das Lokal, das den Namen POW! trug, befand sich im Vorbau eines zweistöckigen Hotels. Das Hotel hieß nach dem Ort, an dessen östlicher Einfahrt es lag, Hotel Hiltroff. Früher hatte das Restaurant ebenfalls diesen Namen geführt, war dann aber im Zuge einer Renovierung umbenannt worden. Beziehungsweise hatte es seine Funktion als Eßlokal eingebüßt und war zum reinen Trinklokal mutiert. Manche sagten dazu Bar, andere Kneipe, und es war wohl beides, je nachdem, wer das POW! betrat. Auch das ist so eine Wahrheit in der Welt, daß nämlich die Dinge die reinsten Chamäleons sind und sich vollkommen nach ihren Benutzern richten. Wenn der Benutzer ein Mensch mit Würde ist, wird ein jeder Gegenstand, dessen er sich bedient, diese Würde annehmen. In der Hand von Drecksäuen wiederum gewinnt alles und jedes eine drecksäuische Note. So einfach ist das.

Das POW! war nicht gerade eine Goldgrube. Es kamen wenige Leute aus der Ortschaft hierher. Zudem ging das Hotel schlecht, sodaß auch die Fremden fehlten. Obwohl es die durchaus gab. Trotz exponierter Lage des Ortes. Beziehungsweise genau darum. Hiltroff lag hoch oben in einer stark verkarsteten Gegend, in der es häufig regnete und sich ständig der Nebel verfing, ein hellgrauer Nebel, durch den die Lichtstrahlen wie Suchscheinwerfer fielen. Als sei eine fremde Intelligenz auf der Suche nach Leben. Um dann wieder einmal zu erklären, der betreffende Planet sei deprimierend ungastlich, selbst Mikroben dort undenkbar.

Oberhalb von Hiltroff, zwischen Hügeln aus rissigem Kalkstein, befand sich ein mittelgroßer Bergsee. Sein Wasser war schwarz. Niemand hatte je so schwarzes Wasser gesehen, obgleich dieses Schwarz nicht teerig wirkte, sondern die Durchsichtigkeit einer glasklaren Flüssigkeit besaß – komprimiertes Wasser, dicht gedrängt, ein geschrumpfter Ozean. Manche im Ort sagten dazu »intelligentes Wasser«, ohne das aber näher zu erklären. Andere wiederum fanden, daß sich in diesem See nicht der Himmel, sondern – durch den Nebel hindurch – das Weltall spiegele, ein im Prinzip leeres Weltall. Über die Tiefe dieses Gewässers, des Mariensees, gab es sehr widersprüchliche Angaben. Die letzten Tauchgänge lagen lange zurück. Es hieß, der See sei tot, wie es heißt, das Essen sei verbrannt. Und tatsächlich waren an den wenigen Stellen, die seicht genug waren, den Grund zu sehen, weder Pflanzen noch Fische zu erkennen. Aber es war ein schöner toter See, an dessen felsigem Ufer die Leute von außerhalb gerne saßen. Bei diesen Leuten von außerhalb handelte es sich zumeist um Teilnehmer an Symposien. Auf halbem Weg zwischen dem See und der Ortschaft war ein auf kurzen Stelen aufgesetzter, nach drei Seiten fensterloser Kubus errichtet worden, dessen Oberfläche aus schneeweiß glasierten Backsteinen bestand. Allerdings wirkte die weiße Fläche kunststoffartig, beinahe transparent, wie gewässerte Milch. Milch für Katzen und Igel, damit sie keinen Durchfall bekamen. So sah es aus. Aber wie gesagt, der Backstein war lückenlos. Nur die eine Seite, die in eine kleine Schlucht hinunterwies, an deren Rand der Kubus aufragte wie ein strammstehender Junge auf einem Sprungbrett, verfügte über eine durchgehende, getönte Glasfront, deren Farbe mit den Lichtverhältnissen wechselte, ganz in der Art einer modernen Sonnenbrille. Im Inneren waren drei Etagen untergebracht, die maximal fünfzig Leuten großzügig Raum boten. Es waren schon ausgesprochen elitäre Veranstaltungen, die hier stattfanden, keine von den Apothekerkongressen. Eher… Die Hiltroffer Bürger vermuteten Physikalisches, Experimentalphysikalisches, Mathematisches, also Religiöses. Allerdings wurde im Dorf selten wirklich bekannt, welche Themen im Kubus jeweils für ein Wochenende oder eine Woche behandelt wurden. Unter den Einheimischen sprach man vom Kubus immer nur als vom Götz, denn der Mann, der diese »Hütte für gescheite Leute« hatte errichten lassen, war ein Sohn des Ortes. Und sein Vorname war eben Götz. Er hatte lange Zeit im Ausland zugebracht, ohne daß darüber viel durchgedrungen wäre. Dann war er vierzigjährig zurückgekehrt, hatte das Haus seiner verstorbenen Eltern bezogen und alsbald den Kubus errichten lassen. Wie er zu einer Baugenehmigung an solch exponierter Stelle gekommen war, blieb ein Rätsel. Aber Rätsel waren nun mal ein fester Bestandteil der Ortsgeschichte. Und man kann ja sagen, einer jeden Ortsgeschichte. Um so kleiner ein Ort, um so größer seine Rätselanfälligkeit. In den Metropolen aber löst sich das Rätsel auf, es fehlt ihm die Basis, der Humus, es fehlt ihm die Lust.

Neben den Leuten, die im Götz einquartiert waren und dort einen hochintimen Meinungsaustausch pflegten, gab es natürlich auch die Gruppe diverser Naturfreunde, die nach Hiltroff kamen, teils einer endemischen Flechte wegen, teils um von hier aus Wanderungen über die von Trichtern und Höhlen durchlöcherte Karstlandschaft zu unternehmen. Die eigentliche Attraktion aber blieb der Mariensee, der auf Grund seiner Farbe auch als Schwarzsee, Schwarze Maria oder Mariaschwarz bezeichnet wurde. Seine Fläche hatte die Form zweier sich überschneidender Ellipsen in der Größe von Fußballfeldern. Aus der Höhe sah es nach Mengenlehre aus.

Im See zu schwimmen oder zu tauchen war verboten. Aus Gründen des Naturschutzes. Woran sich sogar die Dorfjugend hielt. Das Wasser erschien ihnen wohl zu schwarz. Es war ein See zum Anschauen, nicht zum Angreifen.

Leider – leider für das Hotel Hiltroff und das POW! – hatte der Mann, der den Namen Götz trug, auch das alte Rathaus gekauft und es in ein Hotel umbauen lassen. Ein komfortables Hotel mit einem kleinen, aber sehr edlen Restaurant, in welchem ein pensionierter Haubenkoch sein Alterswerk vollbrachte und noch so manchen Gourmet nach Hiltroff lockte. Hotel und Restaurant trugen den einheimischen Namen des örtlichen Sees: Mariaschwarz. Die Zimmer waren so gut wie immer ausgebucht, und um im Restaurant einen Tisch zu ergattern, mußte man lange vorbestellen oder mit dem Mann, der sich von allen nur mit »Herr Götz« ansprechen ließ, befreundet sein. Dabei trat Herr Götz nicht etwa wie ein Machtmensch auf. Zumindest nicht in der polternden oder arroganten Weise. Auch nicht geschleckt, wie man das sonst von Hotels kannte. Er gab sich nicht einmal volkstümlich. Nein, seine Haltung war eine sachliche. Er behandelte jedermann mit einer schlichten Freundlichkeit und schien in erster Linie Erfüllung darin zu finden, seinen Weinkeller zu pflegen. Es hieß, er sei in Berlin verheiratet. Was sich anhörte, als verdächtige man Herrn Götz einer bizarren Schweinerei. Welche man ihm aber gerne nachsah, weil er die mit Abstand höchsten Abgaben im Ort bezahlte.

Dem Erfolg von Hotel und Restaurant Mariaschwarz stand der Mißerfolg des Hotel Hiltroff und des POW! gegenüber, wobei niemals eine echte Konkurrenz bestanden hatte. Das Faktum von Erfolg und Mißerfolg wurde von beiden Seiten wie etwas Naturgegebenes hingenommen. Nicht, daß man miteinander verkehrte, aber keiner der Betreiber oder auch nur deren Mitarbeiter hatte sich je zu einem häßlichen oder abfälligen Wort gegen die andere Seite hinreißen lassen.

Das Hotel Hiltroff und seine Bar gehörten einem Ehepaar namens Grong, Job und Lisbeth Grong. Zwei ungemein beherrschte Leute. Daß sie über Emotionen verfügten, blieb der Phantasie ihrer Gesprächspartner überlassen. Auch ihr Alter war unklar, da sie nie ihre Geburtstage feierten. Zumindest nicht mit Freunden oder Bekannten. Sie gingen wohl beide auf die Siebzig zu, arbeitende Pensionäre, gut in Schuß, schlank, großgewachsen, jedoch nicht riesig. Sie lächelten zu keiner Zeit, waren aber zuvorkommende Menschen, wobei sie selten jemand die Hand reichten, sondern durch eine angedeutete Verbeugung oder ein Nicken und einen klar ausgesprochenen Gruß eine höfliche Distanz schufen. Einen warmen Block zwischen sich und die anderen stellten. Warm, aber massiv. Die Grongs vermieden Mißverständnisse. Wenn nötig, konnten sie auch deutlich werden. Deutlich und scharf. Doch der Schärfe fehlte das übliche Zittern. Fehlte die Nervosität, der Anschein von Bluthochdruck. Die Schärfe erfolgte in der Weise, wie man ein Radio lauter stellt, damit auch wirklich alle die Nachrichten hören können.

Frau Grong kümmerte sich um das Hotel und die wenigen Gäste, Herr Grong um die Kneipe und die nicht minder wenigen Gäste. Und so kam es, daß sich beide Grongs um einen gewissen Vinzent Olander kümmerten, welcher seit drei Jahren im Hotel lebte und seit ebenso vielen Jahren als Stammgast das von Herrn Grong geführte Lokal besuchte. Gleich morgens, um dort seinen Kaffee zu trinken. Vormittags nahm er nie mehr zu sich, als die zwei Tassen leicht gesüßten Espressos. Man sah ihn aber auch den Rest des Tages nichts essen, ohne daß er darum einen abgemagerten Eindruck machte. Er war wohl eher ein Mann, der einfach aufs Essen vergaß. Und in dieser Hinsicht unverwundbar geworden war. Zumindest schrumpfte er nicht.

Mittags begab er sich häufig in ein kleines Bistro am Hauptplatz, um dort ein, zwei Gläser eines billigen Rotweins zu konsumieren, am Fenster zu stehen oder an einem der Tische im Freien zu sitzen. Wobei man es im hochgelegenen Hiltroff selten ohne Jacke aushielt. Irgendein Regen oder kühler Wind oder parasitär in alles und jeden schlüpfender und kriechender Nebel herrschte immer vor. Dafür fehlten selbst im Hochsommer die Stechmücken, trotz des Sees in der Nähe. Aber wie gesagt, es schien ein toter See zu sein. Also auch kein See für Mücken.

Nachmittags dann, ausnahmslos zwischen drei und vier, kehrte Olander ins POW! zurück und verließ das Lokal erst, wenn es Zeit war, sich schlafen zu legen. Denn in dem Zustand, in dem er sich abends jeweils befand, kam etwas anderes als ein rasch eintretender Schlaf gar nicht in Frage. Womit gesagt sein soll, daß Vinzent Olander nie derart betrunken war, daß etwa Übelkeit und Schwindel ihn wieder aus seiner waagrechten Position getrieben hätten, er andererseits aber stets so viel an Alkohol zu sich genommen hatte, um nur noch in sein Bett und in seinen Schlaf zu finden, einen sehr frühen Schlaf, meistens schon vor acht. Und nicht etwa ein Buch zur Hand nahm oder den Fernseher einschaltete. Das war noch nie geschehen und würde auch nicht geschehen. Obgleich Olander Bücher liebte, ja sogar das Fernsehen liebte. Doch der Alkohol stand dazwischen. Der Alkohol war das Nest, in dem Olander es sich gemütlich machte, in dem er sicher war. In dieses Nest paßten keine Bücher und paßte kein Fernsehgerät. In dieses Nest paßte eigentlich gar nichts. Außer natürlich Vinzent. Das Nest war ein Nest für einen Mann.

Wenn einer dieser berüchtigten Fragesteller aus dem Reich der Feen oder des Journalismus bei Vinzent Olander aufgekreuzt wäre und ihn gefragt hätte, welche drei Dinge er auf eine einsame Insel würde mitnehmen wollen, dann hätte er gesagt: »Vier Dinge!« Und wäre natürlich sofort darauf aufmerksam gemacht worden, daß nun mal nur drei möglich seien. Aber Olander wäre stur geblieben und hätte erklärt: »Entweder vier Dinge oder ich pfeife auf die Insel.« »Also, in Gottes Namen, was für vier Dinge?« Olander hätte geantwortet: »Portwein, Fernet Branca Menta, Quittenschnaps und Whisky von der Insel Holyhead.«

Das waren die vier Getränke, die er genau in dieser Reihenfolge nachmittags zu sich nahm, je zwei kleine Gläser, selten mehr. Wenn er einmal darüber hinausging, war er hinterher deprimiert, schien enttäuscht von sich selbst. Behielt er jedoch seinen Rhythmus bei, und das war meistens der Fall, so verließ er das POW! als ein in sich ruhender, als ein in seinem Alkoholnest geborgener Mann.

Drei Jahre war es also her, daß Olander nach Hiltroff gekommen war. Er hatte einen etwas vernachlässigten Eindruck gemacht, Bartstoppeln, angegraute Haut, Augen aus mattem Glas, das Haar fettig, der Anzug verdrückt, dazu einen Wagen, auf dem der Matsch verschiedener Länder klebte. Doch genau dieser verdreckte Wagen hatte einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen und die Annahme genährt, daß es sich bei Olander um keinen ganz armen Mann handeln konnte. Daß er zumindest einmal bessere Zeiten gesehen haben mußte. Es war schließlich keine Kleinigkeit, einen legendären BMW M1 zu besitzen, einen Wagen, der sich zunächst einmal dadurch auszeichnete, nicht wie ein BMW auszusehen, eher wie ein Lamborghini, und tatsächlich waren die Italiener an der Konstruktion beteiligt gewesen. Das 1978 produzierte Modell besaß die Farbe von Vanillecreme – oder von zu lange stehengelassenem Joghurt, ganz wie man es sehen wollte. Die Form war flach und eckig, aber auch nicht zu flach und zu eckig. Im Inneren saß man wie in einer ewigen Nacht, so schwarz war es darin. Wenn die ausklappbaren Scheinwerfer hochgingen, war alles gut, weil man dann wußte, daß Prinzen sich auch in sympathischere Dinge als glitschige Frösche verwandeln konnten. Und wäre da nicht der für einen BMW typische Kühlergrill gewesen – gleich viel zu eng stehenden Nasenlöchern –, es wäre ein richtig schönes Auto gewesen.

Obgleich es sich hier um die kraftstrotzende Straßenversion eines Rennsportwagens handelte, vermittelte dieser Zweisitzer auch eine gewisse Gelassenheit, in der Art eines Tiers, das gelegentlich auf Jagd geht, aber dennoch die Vorteile eines Allesfressers auf sich vereint. Ein Allesfresser weiß um den Nutzen einer saftigen Wiese, die nicht davonlaufen kann. Pure Jäger hingegen sind bei aller Popularität traurige Gestalten, beschränkt. Anders gesagt, mit diesem Wagen konnte man auch langsam fahren oder gar stillstehen, ohne deshalb lächerlich zu wirken. Selbiger BMW war einzig und allein darum traurig zu nennen, weil sein Besitzer sich nicht die Mühe machte, ihn endlich einmal reinigen zu lassen.

Der solcherart gegen seinen Wagen rücksichtslose Vinzent Olander quartierte sich im Hotel der Grongs ein, streifte umher, machte aber nicht wirklich den Eindruck, an einheimischen Flechten oder ähnlichem interessiert zu sein. Es war nicht so, als suche er etwas, eher schien er selbst der Gesuchte zu sein. Ein Gesuchter, der gefunden werden wollte. Er bewegte sich weniger, als daß er herumstand, offenkundig herumstand, sich auf den Plätzen der Ortschaft und der Umgebung präsentierend. Hätte jemand zu dieser Zeit vorgehabt, aus dem Hinterhalt heraus eine beliebige Person zu erschießen, dann wäre niemand so leicht zu treffen gewesen wie Vinzent Olander. Einige Wochen lang schien er nichts anderes darzustellen als eine Zielscheibe. Eine Zielscheibe aus freien Stücken.

Nach und nach aber dürfte ihn diese Zielscheibenexistenz erschöpft haben, und er kam immer öfter ins POW!, wo er sich an ein auf die Straße weisendes Fenster setzte, Portwein bestellte und Zigarillos inhalierte, als handle es sich um eine Medizin, die nur bei andauernder Einnahme ihre volle Wirkung entfaltete. Und so war es ja wohl auch. Die Leute, die vom Rauchen krank werden, werden es von den Rauchpausen oder vom ständigen Aufhören und wieder Anfangen. Sie verwirren ihren Körper zu Tode.

Selbst jetzt noch, da Olander viel Zeit in Herrn Grongs Kneipe verbrachte, hatte man das Gefühl, er stelle sich zur Schau, plaziere sich so, daß jeder Vorbeigehende ihn durch das Fenster sehen konnte. Offensichtlich war er es bloß müde geworden, sich im Freien darzubieten, im Naßkalten und Nebeligen. Überhaupt war dieser Mann schwer von Müdigkeit gezeichnet. Er wirkte im wahrsten Sinne geknickt, als hätte er einen Schlag in den Magen erhalten und sei nie wieder aus der vom Nabel aufwärts vorgebeugten Haltung herausgekommen. Darum auch schien er kleiner, als er war. Im Grunde sah er ja gut aus, männlich, ein geschnitzter, ein geschälter Typ, kantig, aber nicht grob, holzig, elegant holzig, oder, wenn man so will, kartoffelig, elegant kartoffelig, mit weißblondem Haar und Geheimratsecken, die immer ein wenig feucht glänzten, aber als einzige Stelle über etwas Farbe verfügten, leicht angebrannt, als habe soeben der Sommer begonnen. Olander erinnerte an den Maler Francis Picabia, allerdings in einer blassen Ausgabe. Picabia war es gewesen, der gesagt hatte, der Kopf sei rund, damit das Denken die Richtung wechseln könne. So gesehen war Olander nicht nur ein fahlhäutiger Picabia, sondern auch einer, der die Möglichkeiten eines runden Kopfes ignorierte. Sein Denken ging ganz offensichtlich in die immer gleiche zwanghafte Richtung.

Doch worin diese Zwanghaftigkeit bestand und aus welchem Grund Olander nach Hiltroff gekommen war, blieb vorerst sein Geheimnis. Olander sprach wenig, nur das nötigste. Und nie etwas Persönliches. Wenn andere Gäste ihn anredeten, so gab er unverbindliche Antworten. Politik, Sport, der übliche Klatsch, das alles schien ihn nicht groß zu interessieren. Wobei er sich aber selten abweisend verhielt, eher abwesend. Die Leute empfanden ihn als einen Spinner. Aber als einen Spinner mit Geld, immerhin konnte er es sich leisten, ohne einer sichtbaren Arbeit nachzugehen, seit drei Jahren in Hiltroff herumzuhängen, ein Hotelzimmer zu bezahlen, seine tägliche Zeche im POW! sowie einen bereits historisch zu nennenden Sportwagen vor der Türe stehen zu haben, den er selten benutzte, bloß stundenweise in der nahen Umgebung herumfuhr, ausgesprochen langsam, auch in solchen Momenten eine Zielscheibe abgebend.

Die symbiotische Beziehung zwischen dem Wirt und seinem Gast ergab sich nun aus der Einfachheit der Handlungen. Job Grong und Vinzent Olander waren vom ersten Augenblick, da sie sich begegnet waren, eine kommentarlose Zweckgemeinschaft eingegangen, in der sich der eine auf das Einschenken der Gläser und der andere auf das Leeren und Bezahlen dieser Gläser beschränkte. Das ist alles andere als selbstverständlich. In vielen Fällen ist der Kontakt zwischen Wirt und Gast stark von Nebensächlichkeiten oder Ablenkungen belastet, von politischen Debatten, von Wehleidigkeiten, von Unzufriedenheit, von Schnüffeleien. Job Grong aber schnüffelte nicht, und Vinzent Olander ging bei aller Traurigkeit, die ihm anhing, niemals soweit, seinen Wirt damit belästigen zu wollen, was für ein armes Schwein er sei et cetera. Während eigentlich die meisten der anderen Gäste, die ins POW! kamen und so gut wie immer Einheimische waren, sich ständig in irgendeiner Jammerei oder Klage verloren. Auch darüber, daß es im POW! keine Fußballübertragungen gab, nicht einmal Musik, auch keinen Spielautomaten. Dafür aber einige Zeitungen, die jedoch selten jemand zur Hand nahm. Und es gab einen Lichtenstein. Einen Roy Lichtenstein. Sprich, es gab ein Bild des amerikanischen Popart-Künstlers, welches neben der kleinen, geradezu improvisiert anmutenden, aus alten, furnierten Regalen gezimmerten Bar hing. Vor dieser Bar hatten gerade mal drei Hocker Platz. Die Spirituosen standen in zwei gläsernen, an die Rückwand geschraubten Küchenschränken, die innen mit blaßtürkisenen Tapeten ausgekleidet waren. Ja, es muß gesagt werden, daß dieses Lokal im Zuge seiner sogenannten Renovierung eher einen Abstieg ins Vergilbte und Schäbige genommen hatte. Die Renovierung war eine umgekehrte gewesen. Wie bei schlecht eingestellten Zeitmaschinen, die nicht vor oder nach einem Krieg landen, sondern mitten im Schlachtfeld.

Der Roy-Lichtenstein-Siebdruck hatte bereits hier gehangen, als noch das Restaurant existiert hatte. In den wirtschaftlich gesehen besseren Zeiten. Herr Grong hatte die Graphik während seiner Jahre in New York erstanden, 1965, als sie in einer Auflage von zweihundert Stück ediert worden war. Heute mochte sie, wie jemand behauptet hatte, dreißigtausend Dollar wert sein. Aber selbst, wenn das stimmte, hätte Herr Grong dieses Bild nicht hergegeben. Es war ein Teil seiner selbst, es kam eigentlich gleich nach seiner Frau, die er allerdings noch länger kannte. Wobei er weder seine Frau noch den Siebdruck in einer hirnrissig abgöttischen Weise liebte. Aber beide standen für die Konstanz in seinem Leben. Herr Grong gehörte nämlich zu den Männern, die meinten, daß eine Frau im Leben und ein Kunstwerk im Leben ausreichten. Es darf also nicht verwundern, daß Job Grong, nachdem er sein Restaurant in eine Bar umfunktioniert und eine entgegengesetzte Renovation vorgenommen hatte, nicht nur dieses Roy-Lichtenstein-Bild wieder aufgehängt, sondern auch das »neue« Lokal danach benannt hatte, nämlich POW!. Obgleich exakterweise der Bildtitel Sweet Dreams Baby lautete, was eigentlich auch ein recht hübscher Name für ein Trinklokal gewesen wäre.

Auf diesem Bild ist in der für Lichtenstein typischen Comic-Manier der Kopf eines Mannes zu sehen, der soeben von einer Faust getroffen wird. An der Stelle, wo der Schlag erfolgt, sieht man eine explosionsartig ausgefranste Form, einen platzenden Ballon, und darin die lautmalerische Buchstabenfolge POW!, in dickem Rot, schwarz umrandet. Am oberen linken Bildrand, eingefügt in eine Sprechblase, ist die Empfehlung des Zuschlagenden an sein Opfer zu lesen: SWEET DREAMS, BABY!

Job Grong hätte nicht sagen können, warum er ausgerechnet dieses Bild erstanden hatte, damals vor vierzig Jahren. Er war ja weder ein Anhänger dieser speziellen Kunstrichtung noch dieses Künstlers gewesen. Auch kein ausgesprochener Comic-Fan. Aber es war 1965 wohl an der Zeit gewesen – für einen Dreißigjährigen an der Zeit gewesen –, sich ein Kunstwerk fürs Leben anzuschaffen. Und ewig hatte Job Grong nicht warten wollen. Wie er ja auch nicht ewig gewartet hatte, eine Frau fürs Leben auszuerwählen. Die Frau und das Bild waren ein Kompromiß gewesen, ein guter Kompromiß. Grong hatte darauf verzichtet, auf ein Wunder zu hoffen, also auf das Bild aller Bilder und die Frau aller Frauen. Ohne aber ins andere Extrem zu fallen und sich mit etwas Schlechtem zu begnügen. Das galt für die Roy-Lichtenstein-Graphik genauso wie für Lisbeth. Alle beide, die Frau wie der Gegenstand, bewegten sich in einer goldenen Mitte. Mehr als dieses Bild und diese Frau hatte Job Grong vom Leben nicht verlangen dürfen. Und mehr verlangte er auch nicht.

Im Grunde hatte sich Vinzent Olander in diese bescheidene Perfektion eingefügt, indem er seit drei Jahren als der Gast im Leben des Wirts Grong fungierte, Tag für Tag zwei mal vier Gläser bestellend. Die Liebe zum Portwein und zu der süßlichen, leicht cremigen Variante des Fernet Branca, dem Menta, diese Liebe hatte Olander bereits mitgebracht. Aus seinem alten, verborgenen Leben mitgebracht. Neu hingegen war für ihn der Zauber des Quittenschnapses, vor allem aber der Zauber eines Whiskys, der von einer mysteriösen Destille auf Holy Island stammte, einer Insel vor der Westküste von Anglesey in Wales. Mysteriös, weil besagte Brennerei nicht wirklich zu existieren schien, sehr wohl aber die einfach gestalteten, farblosen Flaschen mit dem Namen THE HOLYHEAD, in denen ein zwölf Jahre alter Single Malt eingeschlossen war. Er besaß eine ausgesprochen dunkle Farbe, ein wenig rötlich, wie von eingelegten Kirschen. Um jetzt nicht von etwas anderem Eingelegten zu sprechen. Aber das Zeug schmeckte ganz hervorragend, gar nicht kirschig, sondern ausgesprochen unterirdisch, eingedenk von Wasser, das nur widerwillig an die Oberfläche tritt. Wasser, das sich vor der Sonne scheut, vor dem Verdunstetwerden. Jedenfalls konnte auch Job Grong nicht sagen, was es mit diesem Getränk genau auf sich hatte, woher es wirklich stammte, wenn eben nicht von der Holyhead Distillery, wie das Etikett vorgab. Er selbst bestellte die Flaschen bei einem Händler, der sie bei einem anderen Händler bestellte…und weiß Gott noch wie viele Händler sich daranreihten. Die Europäische Union war ein wirklich hübsches Labyrinth geworden, in welchem die Leute nur winzige Strecken hinauf- und hinunterliefen, gleichzeitig aber behaupteten, jederzeit in der Lage zu sein, den Ausgang zu finden. Dabei kannten sie nicht einmal die Herkunft einer bestimmten Flasche Whisky.

Vinzent Olander hatte also zu Anfang recht unkoordiniert Portwein und Branca Menta geordert und konsumiert, bis Grong nach der zweiten oder dritten Woche sich erlaubt hatte– und zwar nur aus Anlaß einer Lieferung seines Spirituosenhändlers –, einen schwäbischen Quittenschnaps und jenen walisischen Single Malt zur Kostprobe an seinen neuen Stammgast auszugeben. Geschmacklich stand dies eigentlich im deutlichen Gegensatz zu Olanders Leibgetränken. Aber wenigstens in dieser Hinsicht schien Olanders blasser Picabia-Kopf rund genug, um die Denkrichtung zu wechseln, somit den Abend in zwei Hälften zu unterteilen und von dunkler Süße zu süddeutscher Rustikalität sowie der öligen Strenge lichtscheuen Wassers zu wechseln. Und dabei blieb es. Die neu gewordene Ordnung, nicht zuletzt die Regel von vier mal zwei Gläsern, gefiel Olander.

Äußerst bezeichnend für dieses Ritual war es, daß bei aller Selbstverständlichkeit und stillen Würde, mit welcher Wirt und Gast einander begegneten, Grong es niemals unternahm, Olander eins dieser acht Gläser ungefragt auf den Tisch zu stellen. Nein, es erfolgte jedes Mal eine ausdrückliche Bestellung durch den Gast, die der Wirt mit einem kleinen Nicken quittierte, und erst danach nahm er die Einfüllung vor. Denn bei aller Routine und Systematik, die sich in diesen drei Jahren gebildet und immer stärker verfestigt hatte, behielt Grong das Prinzip aufrecht, nach welchem es einem Gast erlaubt sein mußte, es sich einmal anders zu überlegen. Auch wenn dies nie und nimmer geschehen würde.

Die wenigen und kurzen Gespräche, die der Wirt und sein Gast geführt hatten, waren nie in eine private oder anekdotische Richtung gegangen. Meistens war vom Wetter die Rede gewesen, durchaus in einer ernsthaften Art, etwa die Konsistenz des Nebels behandelnd oder inwieweit an nebelfreien und wolkenlosen Tagen, wenn die Sonne ungehindert auf den Mariensee traf, das schwarze Wasser einen rötlichen Ton annahm, der in etwas gruseliger Weise an ein gegen das Licht gehaltenes volles Glas Holyhead erinnerte. Das war natürlich eine sehr gewollte Interpretation, aber die beiden Männer waren sich darin einig. Man hielt das Glas in die Höhe und sagte: »Erstaunlich, nicht wahr?«

Der Tag, an dem Olander und Grong sich dann doch näher kamen, gezwungenermaßen, war nun in keiner Weise einer, der den Blick auf das Holyhead-Rot des Mariensees ermöglichte. Unter einer dicken, tief hängenden, dicht gedrängten Staffel von Wolken lag der See so schwarz da, wie etwas nur schwarz sein konnte. Olander saß auf einem Felsen und fror sich den Hintern ab. Am gegenüberliegenden Ufer erblickte er ein paar Leute mit paarigen Stöcken. Sie sahen aus wie Schifahrer ohne Schnee, also ein bißchen sinnlos. Wahrscheinlich handelte es sich um Teilnehmer eines Symposiums, die sich hier die Beine vertraten. Olander kannte das Innere des Kubus, er kannte den Mann, der Götz war. Im Grunde kannte Olander jedermann in Hiltroff, er hatte sich jedermann vorgestellt, niemals aufdringlich, sondern einfach auf seine Anwesenheit hindeutend. Als wollte er sagen: Schaut her, da steh ich. Verfügt über mich. Darum bin ich doch gekommen. – Aber die Leute im Ort, und auch Herr Götz, fragten sich nur, ob dieser Olander verrückt war. Nicht richtig verrückt, aber doch ein wenig psychotisch. Niemand wollte über Olander verfügen, niemand hatte ihm etwas zu mitzuteilen. Das einzige, was die Hiltroffer interessierte, war die Frage, ob Olander seinen BMW verkaufen würde, wo er doch so selten damit fuhr. Anders gesagt, man hoffte, daß Olander bald das Geld ausging und er gezwungen war, sich von diesem Wunderwagen zu trennen.

Olander erhob sich. Die Leute mit den Stöcken waren verschwunden. Er war jetzt allein. Er beschloß, wie er das immer tat, wenn er hier heraufkam, den See einmal zu umrunden und dann in die Ortschaft zurückzukehren. Einen richtigen Pfad gab es nicht, ein richtiger Pfad hatte sich auf dem Kalkstein nicht gebildet, nur ein ungefährer. Und auf diesem ungefähren bewegte sich Olander dahin, ein klein wenig hinkend. Sein Hinken war kaum zu bemerken, aber es existierte. Es stammte von einer Muskelverletzung des rechten Beins, welche er sich vor vier Jahren zugezogen hatte. Damals in Italien, als er in einem Unfallwagen eingeklemmt gewesen war und mittels Schneidbrennern aus den stark verbogenen Teilen eines Vordersitzes hatte herausgeholt werden müssen. Der Schmerz im Bein erinnerte ihn ständig an diesen Tag. Aber noch viel mehr ein ganz anderer Schmerz.

Der ungefähre Weg um den Mariensee führte an einigen Stellen über kurze, aber steile Felswände, weshalb Olander klettern mußte. Dabei geschah es nun, daß er seinen rechten Fuß in eine Kerbe fügte, wo keine Kerbe war, nur glatte Fläche. Es war wie bei diesen Autofahrern, die behaupten, eine Strecke auswendig zu kennen, und dann mit hundert Sachen in eine Kurve fahren, wo keine ist. Olander rechtes Bein, sein Unfallbein, spielte ihm immer wieder solche Streiche. Das Bein war sein Feind. Jedenfalls rutschte Olander weg, verlor den Halt und schlitterte abwärts. Praktisch als Ersatz für die Kerbe, die da gar nicht gewesen war, öffnete sich eine Spalte im Fels, die Olander zuvor übersehen hatte. Eine von den zahlreichen Öffnungen, in die der häufige Regen abströmte. Nur, daß diese eine Spalte groß genug war, einen Mann zu verschlucken. Und das tat sie auch, die Spalte. Olander glitt ungebremst über den blanken Rand und fiel in einen röhrenförmigen Hohlraum. Ohne aufzuschreien, viel zu verblüfft, stürzte er gute zwei Meter abwärts, wobei der Aufprall anders ausfiel als erwartet und befürchtet. Kein harter Stein, sondern weiches Wasser, in das er tief eintauchte, nicht aber dessen Grund erreichte. Einen Moment trat Olander auf der bodenlosen Stelle, dann strampelte er nach oben. Als er auftauchte und den Kopf zurückwarf, sah er bloß die Öffnung über sich, in der das trübe Licht dieses Nachmittags eingefaßt war. Viel zu hoch, als daß er die Chance gehabt hätte, hinaufzugelangen.

Es dauerte eine Weile, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und er die nahen Wände vage erkannte. Wände ohne Vorsprünge, glattgewaschen, keine Möglichkeit, sich irgendwo festzuhalten und diesem Gefängnis im Stil einer insektenschluckenden Kannenpflanze zu entfliehen. Immerhin war das Wasser nicht ganz so kalt, wie man es hätte erwarten dürfen, wenn man um die Kälte des Mariensees wußte. Aber richtig warm war es auch wieder nicht.

Olander bemühte sich gar nicht erst zu schreien. Wer sollte ihn hier unten hören? Natürlich konnte der Zufall es gut mit ihm meinen und einen Wanderer vorbeischicken. Aber wie lange würde sich dieser Zufall denn Zeit lassen? Wie lange würde Olander schreien müssen? Eine Stunde? Zwei Stunden? Nun, vorher würde ihn die Kraft verlassen. Nein, er wollte nicht schreien, nicht auf gut Glück. Bloß weil ihm nichts Besseres einfiel. Er war allein und würde absaufen. Er stellte sich vor, daß dies die Strafe war, die ihm zustand. Die Strafe für sein Versagen, die Strafe dafür, etwas nur halb richtig getan zu haben.

Halb richtig war das Schlimmste. Halb richtig, das war, wie wenn man jemand das passende Medikament in einer tödlichen Dosis verabreichte. Und genau so etwas hatte Olander getan – fand er. Und fand darum, daß alles hier seine Richtigkeit hatte. In einem mit Wasser gefüllten dunklen Loch zu schwimmen, in einem von der Natur geformten Plumpsklo. Und es versteht sich, daß er, Olander, das Stück Scheiße war, das in dieser Latrine trieb und irgendwann untergehen würde.

Aber so einfach, wie er sich das vorstellte, lief es nicht ab. Sich simplerweise als Kot denken und dadurch aus der Verantwortung nehmen. Bloß noch sterben, als wäre man bereits auf der letzten Seite eines Romans angekommen, wo dann in Gottes Namen sterben durfte, wer wollte. Nein, das war nicht die letzte Seite. Das war nicht das Echo auf einen schlechten Anfang.

Olander dachte an Clara. Natürlich dachte er an sie, an sein kleines Mädchen, sein Kind, sein Alles. Darum war er hier, wegen Clara, um sie zu finden. Also konnte er sich nicht einfach gehenlassen und in einem gewässerten Loch krepieren. Absolut nein! Olander schlug mit der Faust auf die Wasseroberfläche, was sich anfühlte, als breche er durch einen Glastisch. Auf diese Weise schüttelte er die aufkeimende Bewußtlosigkeit ab, schwamm an den Rand und fuhr mit seiner Hand über die vom Regenwasser polierte Fläche. Auch mit den Beinen suchte er die Wand ab, suchte nach einer Stelle, die sich eignete…und fand sie endlich auch, fand einen Spalt, der sich knapp unterhalb der Wasserscheide abwärts zog. Der Spalt war gerade so breit, daß Olander seinen kräftigeren, seinen linken Fuß mitsamt dem Unterbein einklemmen konnte. Dies ermöglichte ihm, sich mit sparsamster Bewegung der Arme über Wasser zu halten.

Das Absurde daran war nun, daß er sein zunächst schmerzendes, bald aber so gut wie gefühlloses Bein dermaßen energisch in den Fels hineingedrückt hatte, daß er nicht wieder herauskam. Was er vorerst gar nicht bemerkte, zu perfekt war diese Verankerung, ja, die Erschöpfung trieb ihn sogar in den Schlaf, ohne daß er dabei unterging. Vinzent Olander funktionierte wie ein Regal, das von dieser Höhlenwand abstand. Aber das Dumme an fix montierten Regalen ist natürlich ihre Immobilität. Denn das Wasser stieg. Ganz klar, Wasser pflegen in solchen Situationen immer zu steigen. Davon erwachte Olander, vom steigenden Wasser, das in Bewegung geraten war und über sein Gesicht schwappte. Und nun bemerkte er auch, daß er mit seinem Bein nicht loskam, nicht zuletzt, da ihm die Kraft fehlte, sich mit dem anderen, freien Fuß wirkungsvoll abzustoßen. Wie sehr Olander sich auch bemühte, er blieb gefangen, steckte im Stein fest.

Er hatte sich soweit als möglich, das Knie durchdrückend, in eine aufrechte Position befördert. Dennoch erreichte das Wasser bald seine Brust. Woher es eigentlich kam, konnte Olander nicht sagen. Es hätte es so oder so nicht stoppen können. Und weil er nun gar nicht mehr wußte, was zu tun war, und sein Körper deutlich nachgab, begann er doch noch zu schreien. Und während er schrie, schlug das Wasser gegen sein Kinn.

Ertrinken ist eine dumme Sache, dachte er. Aber nichts im Vergleich zu dem, was er in den letzten Jahren durchgemacht hatte. Denn ertrinken würde er nur selbst müssen. Es war alles leichter, was man bloß am eigenen Leib durchzumachen hatte.

Auch erschlagen zu werden. Erschlagen zu werden war sowieso die bessere Lösung. Auch die schnellere.

Etwas kippte herunter, von der Öffnung her. Olander meinte noch, ein Stück des Felsens habe sich gelöst, und indem dieses Ding jetzt auf seine Schulter prallte, drückte es ihn unter Wasser. Sein Mund füllte sich. Seine Nase. Alles füllte sich. Mit einem Mal aber schob ihn ein fester Griff nach oben, sein Schädel schoß über die Oberfläche, und er spuckte aus, was er noch nicht hatte schlucken müssen. Jemand hielt ihn fest. Dieser jemand war offensichtlich heruntergesprungen und hatte mit dem Eintauchen ins Wasser Olander gepackt und ihn ein Stück mit in die Tiefe gezogen. Auf diese Weise war das festgeklemmte Bein aus der Spalte herausgebrochen, nicht ohne selbst einen Bruch zu erleiden. Doch diesen Bruch brauchte Olander nicht mehr zu spüren, obgleich er bei Bewußtsein blieb, aber eben bloß noch halsaufwärts, mit dem Teil also, der sich jetzt glücklicherweise wieder an der Luft befand und dort auch verblieb.

Das Wasser stieg weiter, allerdings war dies nun ein Vorteil. Dank dessen Olander und sein Retter nach oben gelangten. Das Wasser trug sie. Der Mann, der Olander von hinten umklammert hielt, erwies sich als ein guter Schwimmer. Ein sportlicher, ausdauernder Mensch. Trotz seiner siebzig Jahre. Aber was waren schon siebzig Jahre, wenn man ein Stück Holz war. Als ein solches hatte sich Job Grong einmal charakterisiert, wohl diese gewisse Knorrigkeit und Sprödheit seines Wesens bezeichnend. Aber sicher meinte er damit auch die eigene Beständigkeit. Wie gut jedenfalls, wenn man ein Stück Holz war, das nicht unterging.

Das glucksende, geradezu sprudelnde Wasser trieb die beiden Körper bis an den Rand der Öffnung, wo es überlief und Richtung des Mariensees abfloß. Job Grong stemmte sich über die Kante, dann zog er seinen Stammgast heraus und beförderte ihn auf ein kleines ebenes Felsstück. Er kontrollierte umgehend die wichtigsten Lebensfunktionen und griff dann nach einem Handy, welches er in weiser Voraussicht in einer Nische plaziert hatte, während ja die meisten Menschen, wenn sie zwecks Lebensrettung in ein Wasser springen, dies mitsamt all ihrem Zubehör tun. Nicht so Grong, der nun einen Notarzt anforderte.

»Ich bin…okay«, stammelte Olander. Er sprach in diesem leicht blubbernden Ton, wie Fische, die gerade reden lernen.

»Ja, Sie sind okay«, sagte Grong und betrachtete das zur Seite gedrehte, astartig geknickte Unterbein Olanders.

Im Grunde ging alles gut aus. Auch wenn der Bruch kompliziert war. Aber es gab Schlimmeres. Denn selbst wenn ein kleines Hinken zurückblieb, würde es gewissermaßen das Hinken des anderen Beins ausgleichen. Wie ein Gebäude, das einmal rechts abrutscht und dann links und schlußendlich wieder gerade dasteht.

Nach einer Woche im Spital konnte Vinzent Olander in häusliche Pflege entlassen werden, was in seinem Fall bedeutete, mitsamt seinem Gipsbein ins Hotel Hiltroff und ins POW! zurückzukehren und in der nächsten Zeit ausschließlich zwischen diesen beiden Plätzen zu pendeln, wobei er den Wechsel vom ersten Stock in die ebenerdig gelegene Bar nur mit Hilfe eines der beiden Grongs bewerkstelligen konnte. Besser wäre gewesen, in einem Rollstuhl zu sitzen. Aber erstens fehlte ein Lift. Und außerdem scheute Olander solche Geräte, welche die Gefahr bargen, nie wieder aus ihnen herauszufinden, in der Bequemlichkeit der Invalidität zu versinken. Und das wollte Olander keinesfalls. Er glaubte jetzt mehr denn je – nachdem er diese Wassergeschichte überlebt hatte –, nur darum in Hiltroff zu sein, um Clara wiederzufinden. Auch wenn während dieser drei Jahre Warterei sich nicht der geringste Hinweis auf den Verbleib des Kindes ergeben hatte.

»Ich würde Ihnen gerne etwas erzählen, Herr Grong, wenn Sie Zeit haben«, sagte Vinzent, als er gegen sieben Uhr abends, der einzige Gast, sein eingepupptes Bein auf der ledernen Bank hochgelagert, bei seinem zweiten Quittenschnaps saß, somit noch zwei Holyheads vor sich hatte.

Das perfekte Verhältnis zwischen Wirt und Gast hatte eine Trübung erfahren. Das versteht sich. Denn es kann nicht einfach ein Leben gerettet werden, und danach bleibt alles beim alten. Eine Lebensrettung ist auch irgendwie peinlich, in einer ungehörigen Weise intim, in der Regel eben auch viel zu körperlich. Als betaste man jemandes Po. Und entschuldige sich hinterher mit dem Argument, eine Fliege verjagt zu haben. Gewissermaßen die Fliege des Todes. Aber berührt ist nun mal berührt. Olander und Grong waren sich auf eine Art nahe gekommen, wie es beide gerne vermieden hätten. Andererseits war es nur normal gewesen, daß Herr Grong an diesem Nachmittag, da sein Stammgast Olander in einen gefluteten Hohlraum gestürzt war, sich über dessen Ausbleiben gewundert hatte. In drei Jahren war Olander niemals nach vier Uhr im POW! aufgetaucht, kein einziges Mal. Und weil Grong ja selbst ein Mann der Ordnung und der Prinzipien war, konnte er sich nur ein grobes Problem vorstellen, das seinen Stammgast davon abhielt, pünktlich zu sein. Also schloß Grong das ohnehin leere Lokal und setzte sich in sein Auto, um ins Zentrum der Ortschaft zu fahren und nach Olander zu fragen. Glücklicherweise hatte einer von den Alten, die bei jedem Wetter auf den Parkbänken vor dem Kriegerdenkmal saßen und Schachfiguren von der Art versteinerter Putzfrauen und sich totstellender Zwerge über den Platz schoben, gesehen, wie »der Mann, dem der BMW gehört« hinauf zum See marschiert war. Vielleicht auch zum Götz, jedenfalls den einzigen Fußweg gegangen war, der von der Mitte des Ortes bergauf führte.

Und so war Job Grong an den Mariensee gelangt, hatte jenen ungefähren Weg um das opale schwarze Gewässer genommen und schließlich die Schreie seines Stammgastes vernommen. Um rasch zu der Spalte abzusteigen und mit einem Blick in das Loch festzustellen, daß es auf Sekunden ankam. Keine Zeit, die Feuerwehr zu rufen oder ein Seil herbeizuschaffen. Also legte er sein Handy auf die Seite und sprang. Durchaus im Bewußtsein, daß auf diese Weise die ideale Beziehung zwischen ihm und seinem Gast ein Ende haben würde. – Das ist kein Witz, er dachte das wirklich, als er sich abstieß und in das Dunkel dieses felsigen Gefäßes eindrang. Er dachte: »Wie schade!« Und dachte, daß man aber darum einen Menschen nicht ersaufen lassen konnte.

Und so kam es, daß Tage später Vinzent Olander den Wirt Grong bat, sich doch bitte zu ihm ans Fenster zu setzen. Er wolle ihm etwas erzählen.

»Wenn es sein muß«, sagte Grong. Es war nicht unfreundlich gemeint, sondern resignierend. Die Symbiose war dahin. Denn wenn einer einem anderen eine Geschichte erzählte, diese Geschichte praktisch auf seinem Gegenüber ablud, war dies eine einseitige Belastung für den, der zuhören mußte. Und einseitige Belastungen sind natürlich der Tod jeder Symbiose.

»Sie werden sich fragen«, eröffnete Olander, »wieso ich seit drei Jahren an diesem Ort hier ausharre.«

»Ich harre schon viel länger aus«, entgegnete Grong.

»Sie sind aber freiwillig hier.«

»Sie nicht?«

»Nein«, erklärte Olander und berichtete, wie alles begonnen hatte.

Wie es begonnen hatte, sein Unglück.

2

Vor jedem Unglück steht natürlich ein Glück, sonst ergäbe sich in der Folge ja kein Unglück. Dauerndes Pech ist etwas anderes. Dauerndes Pech ist eine Laune der Natur, die ohne Hintergrund auskommt, ohne Zweck bleibt. Unglück aber, also der Antikörper des Glücks, ist höchstwahrscheinlich eine übernatürliche Regung. Eine mutwillige Reaktion. Etwas in der Art eines göttlichen Beweises, nur daß solche Beweise von Theologen ungern zur Kenntnis genommen werden. Sie angeln lieber in fischlosen Teichen, gewissermaßen in Marienseen der Glaubenslehre, als sich den Gefahren der großen Meere auszuliefern.

Das trügerische Glück des Vinzent Olander hatte traditionellerweise darin bestanden, eine Frau kennengelernt zu haben. Nicht sehr originell. Aber es handelte sich um eine wirklich tolle Frau, wie es allgemein hieß, eine sehr viel jüngere, ausgesprochen hübsche Person, deren Jugend und Schönheit auf Grund einer gewissen engelsgleichen Ausstrahlung niemand, schon gar nicht Olander, mit einem trügerischen, sondern nur mit einem absoluten Glück in Verbindung brachte. Anfangs.

Komischerweise fürchten sich Männer eher vor schlangenhaften Wesen als vor engelsgleichen. So sehr sie etwa Netzstrümpfe mögen, würden sie einer Frau mit Netzstrümpfen niemals trauen. Dabei kann man Frauen mit Netzstrümpfen damit gleichsetzen, daß jemand für alle sichtbar eine Pistole trägt. Das schafft natürlich Unbehagen, aber wieviel gefährlicher sind Personen, die Pistolen tragen, die sie verbergen. Man wird das Ding immer erst zu Gesicht bekommen, wenn daraus geschossen wird.

Als Vinzent Olander in der Lobby eines Wiener Hotels dieser jungen Frau über den Weg lief – genauer gesagt über sie stolperte –, da hatte er gerade sein fünfundvierzigstes Lebensjahr erreicht. Allerdings fühlte er sich zu diesem Zeitpunkt sehr viel älter. Was man ihm nicht ansah, eingedenk seines damals etwas farbigeren Picabia-Gesichts und der noch nicht weißblonden, sondern goldblonden Haare. Aber die meisten Menschen, die gesund aussehen, sind es nicht. Olander jedenfalls erwischte in dieser Phase eine Verkühlung nach der anderen, selbst während des Sommers. Und Sommer war es auch, als er schniefend durch das Hotel marschierte, um einen Kunden zu treffen, der nach Wien gekommen war, um in eine von Olanders Firmen zu investieren. Olander war kein richtiger Wiener, er lebte hier bloß, ohne die Stadt eigentlich zu mögen. Noch sie zu hassen. Sie war ihm weder ein süßer Traum noch eine finstre Hölle. Er hielt sie für überschätzt, von allen überschätzt, von ihren Freunden wie Feinden. Das beste an Wien waren die Banken beziehungsweise die Art und Weise, wie hier Geld-geschäfte abgewickelt wurden. Es war diese Mischung aus Schweiz, Philippinen, Cayman-Inseln und Laientheater, die viele Transaktionen erleichterte. Wenn man denn wußte, mit den zuständigen Leuten umzugehen. Und Olander wußte es. Er kannte sich aus, kannte die Regeln, die Umgangsformen, die Notwendigkeit diverser Zierde. Bei alldem war er jedoch leidenschaftslos. Er war kein Geschäftsmann aus Passion, er war ein Geschäftsmann aus Not. Wie jemand, der erklärt, nichts Besseres gelernt zu haben.

Und da ging er also, einen Blumenstrauß in der Hand, durch die Lobby eines der besseren Hotels dieser Stadt. Der Blumenstrauß war für die Gattin seines Geschäftspartners. Daß die Blumen nicht die waren, die Olander bestellt hatte, empfand er als ein schweres Übel. Er fühlte sich unsicher. Falsche Blumen waren wie falsche Zahlen. Am Ende, wenn zusammengerechnet wurde, gab es meistens Ärger.

Solcherart abgelenkt, eigentlich nur noch auf die Blumen schauend und in diesbezügliche Gedanken vertieft, lief Olander in eine junge Frau hinein, rannte sie geradezu um, sodaß er gemeinsam mit ihr stürzte, während der Blumenstrauß sich selbständig machte und davonflog. So konnte Olander, während er auf dem Boden landete, das Gesicht der Frau sehen, die er mit sich gerissen hatte. Er half ihr auf, war natürlich untröstlich und so weiter.

»Ist ja nichts geschehen«, sagte sie. Sie sprach weder laut noch leise, weder erregt noch betont gelassen. Sie sprach einen geraden Satz durch einen geraden Mund. Und das ist eine Seltenheit. Häufig ist der Satz schief, oder der Mund ist schief. Meistens beides. Hier aber war alles gerade, das ganze Gesicht, der ganze Körper, die Haltung, die Mimik, ohne daß aber der Eindruck einer trickreichen Modellierung entstand. Die Geradheit dieser jungen Frau kam nicht konstruiert daher, nicht wie aus dem Windkanal der Modejournale. Ihre Beine waren nicht länger als lang, ihre Figur nicht schlanker als schlank. Die Reinheit ihres Gesichtes schien frei von schwerwiegenden Manipulationen. Der Eindruck des Zierlichen frei von Drogen und Schwermut. Dem Engelsgleichen ihrer Erscheinung wiederum fehlte der Heiligenschein. Hier stand ein Mensch. Ein Mensch ohne Flügel. Zumindest konnte man die Flügel nicht sehen.

»Ich würde gerne…« Olander stockte. Ja, was würde er denn gerne?