Titelbild

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »Alles, was sie hinter sich ließ« an empfehlungen@piper.de, und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.

Dieser Titel erschien bereits 2015 unter dem Titel »Die dunklen Mauern von Willard State«.

Für meinen Ehemann Bill, der immer an mich glaubt

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Sina Hoffmann

© 2014 by Ellen Marie Wiseman

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»What She Left Behind« Kensington, New York

Deutschsprachige Ausgabe:

»Die dunklen Mauern von Willard State«

im Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015

Published by Arrangement with

Kensington Publishing Group Corp., New York, NY, USA

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht.

KAPITEL 1

Isabelle

Willard State Asylum

1995

Schon kurz nachdem sie das Gelände des verlassenen Willard State Asylums betreten hatte, wusste die siebzehnjährige Isabelle Stone, dass es ein Fehler gewesen war. Wenn jemand sie auf dem mit Rissen und tiefen Schlaglöchern übersäten Hauptweg, der das weitläufige, von Bäumen gesäumte Grundstück durchzog, gesehen hätte, so hätte er ihr sicher nichts angemerkt. Er hätte nichts geahnt von dem schrecklichen Grauen, das sich in ihrem Kopf abspielte.

An jenem Samstag Ende August lag der Geruch von Lampenputzergras und Seetang in der heißen Luft, und gelegentliche Windböen ließen das Kiefernwäldchen auf der linken Seite des offenen Parks rascheln. Die Hitze stieg flirrend von der ausgedörrten Erde auf, und Zikaden zirpten im hohen Gras nahe des Wäldchens, ein summendes, lebendes Thermometer, dessen Klang mit jedem Grad höher und nachdrücklicher wurde. Willards gepflegte Rasenflächen fielen schräg von den Hauptgebäuden ab und verliefen sanft bis zum felsigen Uferstreifen des Seneca Lakes. Segelboote tanzten auf den Wellen, und ein langer Landungssteg reckte sich wie eine Einladung in das glitzernde Wasser.

Isabelle – ihr Vater hatte sie immer Izzy genannt – hätte eigentlich den warmen Sonnenschein und die wunderschöne Aussicht genießen sollen. Stattdessen biss sie die Zähne zusammen und versuchte krampfhaft, das Bild des blutenden Lochs im Schädel ihres Vaters zu verdrängen, das sie vor Augen hatte. Sie fühlte sich wie in der Hölle gefangen. Würde sie jemals Frieden finden, oder würde sie bis an ihr Lebensende das siebenjährige Mädchen sein, das immer wieder die schreckliche Nacht durchlebte, in der ihr Vater ermordet worden war?

Izzy trat aus dem Schatten der Chapin Hall, des wuchtigen Hauptgebäudes der Psychiatrie, und hielt das Gesicht in die Sonne. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, alle Gedanken beiseitezuschieben. Als sie sich jedoch umdrehte, um an dem dreistöckigen viktorianischen Backsteingebäude mit den großen Kirchenfenstern hochzuschauen, kehrte das Gefühlswirrwarr aus Trauer und Angst zurück. Ein riesiges, zweistöckiges Turmdach mit Rundfenstern überragte ein schwarzes Mansardendach, von dem unzählige Dachgauben, Türmchen und Kamine abgingen. Ein steinerner Portikus mit Säulen, an denen der Zahn der Zeit bereits genagt hatte, schützte die riesigen Doppeltüren des Haupteingangs. Schwarze Gitterstäbe sicherten die hohen Sprossenfenster, von denen fast alle von innen mit Brettern zugenagelt waren. Die einzige Ausnahme waren die Mansardenfenster im Dachgeschoss sowie die runden Bullaugenfenster des Turmdachs. Insgesamt wirkte alles eher wie ein Spukschloss als ein Ort, der dazu bestimmt gewesen war, Menschen zu helfen.

Izzy fragte sich, welche Gräuel das wuchtige Gebäude wohl erlebt hatte. Welche schrecklichen Erinnerungen hatten sich an die Backsteine, den Mörtel und die blinden Scheiben geheftet und gehörten nun für alle Zeiten zum Bauwerk, eingefressen und darin verschlossen mit Blut und Tränen? So wie Schmerz und Leid immer ein Teil von ihr sein würden, würden die Erinnerungen von Tausenden von gequälten Seelen in der Chapin Hall und den umliegenden Gebäuden des Willard State Asylums weiterleben. Wie sollte dieser Ort jemals etwas anderes sein als eine stete Erinnerung an die geliebten Menschen, die hier gestorben waren?

Sie schluckte und drehte sich zum Wasser um, eine Hand über den Augen zum Schutz vor der Sonne. Sie fragte sich, ob Bootsfahrer, die hier vorbeifuhren, zur ehemaligen Psychiatrie hinüberschauten in der Annahme, der Verbund von Backsteingebäuden und weitläufigen Rasenflächen gehöre zu einem Countryklub oder einem College. Aus der Ferne sah alles ordentlich und vornehm aus. Doch sie wusste es besser. Sie stellte sich die ehemaligen Patienten im Park vor, wie sie trübe vor sich hin starrten – ihre dünnen Körper mit nichts als Krankenhaushemdchen bekleidet –, während sie in Rollstühlen saßen oder über das Gras schlurften. Sie stellte sich vor, eine von ihnen zu sein, und schaute auf den blauen See hinaus. Ob die Patienten mitbekommen hatten, dass andere Leute in den kleinen Gemeinden jenseits der Bucht Bootsausflüge machten, Abendessen kochten, sich verliebten und Kinder bekamen? Hatten sie sich gefragt, ob man sie jemals entlassen würde, um wieder ein Teil der »normalen« Welt zu werden? Oder machten sie sich gar keine Vorstellung von dem Leben, das ihnen in Willard entging?

Izzy bekam Bauchweh, als eine weitere Erinnerung vor ihrem geistigen Auge aufflackerte: ihre Mutter Joyce, die mit wirrem, in alle Richtungen abstehendem Haar lang ausgestreckt auf einer Pritsche im Elmira Psychiatric Center lag und mit glasigem Blick die Decke anstarrte. Es war ein schwül-heißer Tag wie der heutige gewesen, und Izzy erinnerte sich an die verschmierte Wimperntusche und den Kajalstift, die an ihren blassen Wangen heruntergelaufen waren wie bei einem Clown im Regen. Auch wusste sie noch sehr gut, wie sie ihr Gesicht im Rock ihrer Großmutter vergraben und gefleht hatte, nach Hause zu gehen. Die endlosen weißen Korridore in der Psychiatrie, der Gestank von Urin und Bleichmittel, die dunklen Räume und die von Gummiwänden umgebenen Patienten in Rollstühlen und Betten würde sie nie vergessen. Nach diesem Besuch war sie jahrelang von Albträumen heimgesucht worden. Sie hatte ihre Großmutter angefleht, sie nicht dazu zu zwingen, noch einmal hinzugehen, und glücklicherweise hatte ihre Großmutter eingewilligt.

Izzy schlang die Arme um ihren Körper und fragte sich, während sie über den rissigen Asphalt des Hauptweges ging, warum sie bloß hergekommen war. Sie hätte Kopfschmerzen oder Bauchschmerzen vorschieben können – egal was, Hauptsache, sie hätte den Besuch hier vermieden. Es gab genügend andere Museumsangestellte, die an ihrer Stelle hätten mitgehen können. Doch sie hatte ihre neue Pflegemutter nicht enttäuschen wollen – Peg war die Kuratorin des Museums. Denn zum ersten Mal seit ihrem zehnten Lebensjahr, als ihre Großmutter gestorben war, hatte Izzy Pflegeeltern, die sich wirklich um sie zu kümmern schienen.

Gewiss, in weniger als einem Jahr würde sie achtzehn. Sie war lange genug im System, um zu wissen, dass achtzehnte Geburtstage nicht mit Partys gefeiert wurden. Wenn die Schecks ausblieben, bedeutete dies nicht nur, auf sich selbst gestellt zu sein. Der Pflegeunterbringung zu »entwachsen« bedeutete vielmehr, dass sie obdachlos würde. Sie hatte genügend Geschichten von Kindern gehört, die im Gefängnis und in Notaufnahmen von Krankenhäusern landeten, Drogen verkauften und von Sozialhilfe und Lebensmittelmarken lebten. Wie verzweifelt musste man sein, das Gesetz zu brechen, um auf diese Art und Weise überleben zu können? Im Augenblick lief alles gut, das wollte sie nicht vermasseln.

Peg hatte sie gebeten, sie zu der alten Psychiatrie zu begleiten, um noch einmal durch die Räume zu gehen, bevor die Gebäude abgerissen wurden. Vielleicht würden sie etwas finden, das aufzuheben sich lohnte. Ohne ein Wort über ihre Vorbehalte und Berührungsängste zu verlieren, hatte Izzy zugestimmt. Sie war erleichtert, als Peg sie zuerst das Außengelände erkunden ließ, anstatt sie mit den anderen nach drinnen zu schicken, in die Keller hinunterzusteigen, die Leichenhalle zu durchqueren und die verlassenen Patientenabteilungen zu besichtigen. Doch sie fragte sich, was Peg wohl denken würde, wenn sie wüsste, dass es Izzy allein schon durch die physische Nähe zu Willard übel wurde.

Sie überquerte eine Holzbrücke über ein ausgetrocknetes Flussbett und folgte dann einer einspurigen Straße in Richtung des Kiefernwäldchens. Zu ihrer Linken plünderte eine Schar Kanadagänse ein verwildertes Feld, die Köpfe über die Goldruten geneigt wie schwarzes Schilf. Wenige Schritte vom Straßenrand entfernt lagen, geschützt in einem Nest aus Lieschgras und Sternmiere, drei graugelbe Gänseküken, die ihre langen Hälse im Gras ausgestreckt hatten. Izzy blieb reglos stehen, um sie genauer anzuschauen. Die Augen der Küken waren zwar offen, doch sie rührten sich nicht. Langsam arbeitete sich Izzy zu dem Nest vor und hielt währenddessen auf dem Feld stets die Muttertiere im Blick. Doch ganz gleich, wie weit sie sich dem Nest näherte – die Küken rührten sich nicht vom Fleck; sie waren reglos wie Flusskieselsteine. Izzy musste schlucken, und ihr Hals brannte. Entweder waren die Gänseküken bereits tot oder waren im Begriff zu sterben.

Sie kniete sich hin und hob eines hoch, drehte seinen weichen, schlaffen Körper in ihren Händen und tastete unter seinen Flügeln nach Wunden. Sie bewegte seine Beine und den Hals auf der Suche nach gebrochenen Knochen. Doch es gab keinerlei Anzeichen für irgendwelche Verletzungen, und die flauschigen Daunen waren immer noch warm. Dann blinzelte das Küken. Es lebte also noch. Vielleicht waren die Kleinen ja krank, vergiftet durch unsachgemäß entsorgte Chemikalien oder Psychomedikamente aus Willard. Izzy hob auch die anderen beiden Küken hoch und legte sie wieder zurück, nachdem sie auch bei ihnen nichts hatte feststellen können.

Flüchtig dachte sie darüber nach, ob Peg ihr wohl erlauben würde, die Küken nach Hause mitzunehmen, um sie wieder aufzupäppeln. Siedend heiß fiel ihr dann jedoch wieder ein, dass man wild lebende Tiere am besten in Ruhe lassen sollte. Vielleicht würde die Mutter gleich zurückkehren und feststellen, was mit ihren Kleinen nicht stimmte. Mit Tränen in den Augen richtete Izzy sich wieder auf und lief die Straße weiter entlang. Sie warf einen Blick über die Schulter zurück in der Hoffnung, die Eltern der Küken wären aufgetaucht. Hoffentlich war ihnen nichts zugestoßen. Da sprangen die Küken plötzlich auf und trippelten eilig ins Feld, während ihre Mutter schrie und durchs Gras auf sie zugelaufen kam. Izzy grinste und wischte sich die Tränen aus den Augen, vollkommen überrascht davon, dass sich Gänse tot stellen konnten.

Erleichtert atmete sie auf und setzte ihren Weg in Richtung des Kiefernwäldchens fort. Auf der einen Straßenseite befand sich ein schiefes vierstöckiges Gebäude mitten in einem Feld. Die zerbrochenen Fensterscheiben waren mit Eisengittern versehen, der Kamin war zusammengebrochen, und die grünen Dachziegel sowie das kaputte Holz waren mit schwarzem Schimmel überzogen. Das Haus sah aus wie vom Himmel gefallen oder wie ein Schiff, das aus dem Wasser gezogen und dann Hunderte von Kilometern vom Ufer entfernt hingeschleudert worden war. Auf der anderen Straßenseite wurde eine verwilderte Wiese von gusseisernen Grabkreuzen gesäumt, die, nach links und rechts geneigt, wie schiefe, graue Zähne aussahen. Ein bitterer Geschmack breitete sich in Izzys Mund aus. Dies war der Friedhof von Willard. Sie wirbelte auf dem Absatz herum und eilte zum Hauptgebäude zurück, zu den versetzt angeordneten Reihen aus fabrikgroßen Backsteingebäuden, die mit Chapin Hall verbunden waren: die Patientenabteilungen.

Die Feuerleitern der Stationen befanden sich in Drahtkäfigen, und auch die schmutzigen Fenster waren mit dicken Eisenstäben gesichert. Von den faulenden Fensterbänken triefte schwarzer Schlamm an den Backsteinwänden hinunter. Die meisten Türen und Fenster waren von innen zugenagelt, als ob die Erinnerungen an das, was dort passiert war, niemals mehr ans Tageslicht gelangen sollten. Izzy zitterte. Wie viele Patienten hatten hier an diesem schrecklichen Ort wohl gelitten und waren gestorben?

Just in diesem Moment rief jedoch jemand ihren Namen und riss sie damit aus ihren Gedanken. Izzy drehte sich um und erblickte Peg, die mit einem breiten Lächeln die Straße entlang auf sie zugeeilt kam. Vom ersten Augenblick an, als Izzy ihrer neuen Pflegemutter begegnet war, hatte diese sie an einen Sechzigerjahrehippie erinnert. Der heutige Tag bildete da auch keine Ausnahme. Peg trug eine Jeanslatzhose sowie eine Carmenbluse mit Blumenmuster, und ihr Haar war ein chaotisches Durcheinander aus wilden Locken.

»Ist es hier nicht wunderbar?«, fragte Peg. »Ich habe gar nicht gewusst, wie riesig das Gelände ist!«

»Es ist riesig, das stimmt«, erwiderte Izzy und gab sich Mühe, liebenswürdig zu klingen.

»Hast du das Bootshaus und den Anleger gesehen?«, fragte Peg. »Im Oktober 1869 kam dort die erste Patientin für Willard mit dem Dampfschiff an. Ihr Name war Mary Rote, und sie war eine missgestaltete, demente Frau, die fast zehn Jahre lang ohne Bett und Bekleidung in einer Zelle in der Columbia County Armenanstalt angekettet gewesen war. Auch drei männliche Patienten kamen an jenem Tag an diesem Anleger an, alle in Ketten gelegt. Einer von ihnen befand sich in etwas, das wie ein Hühnerkäfig aussah.«

Izzy blickte zum Anleger hinüber. Rechts davon befand sich ein zweistöckiges Bootshaus mit zerbrochenen Fensterscheiben und fehlenden Dachschindeln, das wie ein lädiertes Gesicht mit herabhängenden Augenlidern wirkte. »Das klingt barbarisch«, stellte sie fest.

»Das war es auch«, nickte Peg. »Aber genau deshalb wurde Willard gebaut. Dies sollte ein Ort für die unheilbar Irren sein, die Plätze in Armenhäusern und Gefängnissen wegnahmen. In den ersten Tagen nach ihrer Ankunft hier in diesem Heim wurden die neuen Patienten gebadet, angezogen und verpflegt, sodass sie – in der Regel – danach in ihren Abteilungen friedlich blieben.«

»Die Leute wurden hier also gut behandelt?«

Pegs Miene verfinsterte sich. »Zuerst schon, denke ich. Aber über die Jahre hinweg kamen so viele Patienten, dass Willard schließlich überfüllt war und sich die Bedingungen sehr verschlechterten. Leider verstarb fast die Hälfte der fünfzigtausend Patienten in Willard.«

Izzy kaute auf der Innenseite ihrer Wangen herum und fragte sich, wie sie darum bitten sollte, im Auto warten zu dürfen. Dann grinste Peg jedoch und nahm Izzy an die Hand.

»Komm schon!«, rief sie, und ihre Augen leuchteten auf. »Einer der ehemaligen Angestellten will uns etwas in den verschlossenen Werkstätten zeigen. Ich halte dies für einen wichtigen Fund und will nicht, dass du das verpasst!«

Innerlich stöhnte Izzy auf, folgte aber ihrer Pflegemutter den Hauptweg entlang zu den Werkstätten. Währenddessen versuchte sie, sich einen Vorwand einfallen zu lassen, um nicht nach drinnen mitgehen zu müssen. Ihr wollte jedoch partout nichts einfallen. Jedenfalls nichts, was nicht zu dumm oder verrückt klang. Und sie wollte keinesfalls, dass Peg sie für verrückt hielt. In diesem Sommer, als sie zu Peg und Harry gekommen war, hätte sie zuerst darauf wetten können, dass die beiden sich nicht vom Rest ihrer vorherigen Pflegeeltern unterscheiden würden und nur wegen des Geldes und der kostenlosen Arbeitskraft ein Kind bei sich aufnahmen. Harry war der künstlerische Leiter des Landesmuseums, und Izzy hatte den Eindruck, dass die beiden nicht gerade viel verdienten. Doch Gott sei Dank hatte sie dieses Mal vollkommen falschgelegen. Ihre neuen Pflegeeltern waren anständige Leute und bereit, ihr sowohl in physischer als auch emotionaler Hinsicht den Raum zu lassen, den eine junge Frau brauchte. Zu Hause in Pegs und Harrys dreigeschossigem Haus in Interlaken besaß sie ein eigenes Zimmer mit Blick auf den See, mit einem Fernseher, DVD-Player und Computer. Sie vertrauten ihr, und sie meinten, es läge bei ihr, etwas daraus zu machen. Es war das erste Mal, dass jemand ihr die Chance gab, sich zu beweisen, ohne sie zuerst zu verurteilen. Daher fühlte sie sich nun – zum ersten Mal seit langer Zeit – als Teil von etwas »Normalem«.

Und dennoch erschien ihr bisweilen die neue Situation zu schön, um wahr zu sein. Im Hinterkopf hatte sie immer die Befürchtung, dass etwas passieren oder jemand vorbeikommen könnte und alles verderben würde. So hatte ihr Leben bisher immer ausgesehen. Dann fiel ihr ein, dass sie in zwei Tagen ihren ersten Tag in der neuen Schule hatte. Beim Gedanken daran drehte sich ihr der Magen um. Die Neue zu sein war immer schwer.

Je näher sie den Werkstätten kamen, desto mehr geriet Izzy ins Schwitzen. Wie ihre Mutter hatte sie silberblaue Augen, schwarzes Haar und einen schneeweißen Teint. Wenn sie nervös wurde, bildeten sich überall an ihrem Hals und auf der Brust rote Flecken. Schon merkte sie, wie sich auf ihrer Haut Quaddeln bildeten. Draußen auf dem Rasen der Psychiatrie zu stehen war eine Sache. Doch nun ging sie in eines der Gebäude hinein. Der Drang wegzulaufen wurde immer größer und sorgte dafür, dass ihr das Herz bis zum Hals klopfte. Es ist nur eine Aufgabe, redete sie sich ein. Das hat nichts mit mir oder meiner Mutter zu tun. Außerdem ist es an der Zeit, kindische Ängste zu überwinden.

Sie nahm ihr langes Haar oben auf dem Kopf zusammen und wickelte es zu einem Knoten, damit der Wind ihr den Nacken kühlen konnte.

»Ist dir in diesem langärmeligen Shirt nicht warm?«, erkundigte sich Peg.

»Nein«, erwiderte Izzy, zog die Bündchen ihrer Ärmel herunter und hielt sie in ihren Fäusten fest. »Der Stoff ist ziemlich dünn.«

»Beim Falten deiner Wäsche ist mir aufgefallen, dass du gar keine kurzärmeligen T-Shirts hast«, fuhr Peg fort. »Wir könnten zusammen einkaufen gehen und dir ein paar neue Anziehsachen besorgen.«

Izzy versuchte, ein Lächeln zustande zu bringen. »Danke. Aber ich mag lange Ärmel. Und du musst dich auch nicht um meine Wäsche kümmern.«

»Es macht mir nichts aus«, erklärte Peg lächelnd. »Ich verstehe nur nicht, warum jemand bei diesem Wetter unbedingt langärmelige Shirts tragen will.«

Izzy zuckte mit den Schultern. »Ich bin ein wenig gehemmt wegen meiner Arme«, antwortete sie. »Sie sind so dürr und blass.«

»Die meisten Mädchen hätten gern so lange, schlanke Arme und Beine wie du«, entgegnete Peg lachend.

Nicht, wenn sie die gleichen Narben hätten, dachte Izzy.

Sie blickte zum See hinüber, wo sich Menschengrüppchen am Ufer versammelt hatten, an Campingtischen saßen, spazieren gingen oder Softball und Badminton spielten. Die meisten von ihnen trugen verschlissene, verwaschene Kleidung und schlurften wie von Medikamenten betäubt durch die Gegend. Izzy hielt inne. »Wer sind diese Leute?«, fragte sie Peg.

Peg hob eine Hand an die Augen, um sie vor der Sonne zu schützen, und blinzelte zum See hinüber. »Wahrscheinlich kommen sie aus der nahe gelegenen Psychiatrie, aus dem Elmira Psychiatric Center«, antwortete Peg. »Unten am See befindet sich ein Zeltplatz. Manchmal unternimmt das Personal mit den Patienten einen Ausflug dorthin.«

Izzy kamen wieder die Tränen. Schnell ging sie weiter und starrte dabei auf den Boden.

Peg folgte ihr. »Was ist los?«, fragte sie.

»Meine Mutter war dort«, erwiderte Izzy. »In Elmira.«

Peg legte ihre Hand auf Izzys Schulter. »Tut mir leid, das wusste ich nicht.«

Izzy hob den Kopf und versuchte zu lächeln. »Schon gut. Ist lange her.«

»Ich hoffe, du weißt, dass ich immer ein offenes Ohr für dich habe. Wenn du darüber reden willst.«

»Ich weiß«, nickte Izzy. »Danke.« Aber nein danke, dachte sie insgeheim. Alles Gerede dieser Welt würde an der Tatsache nichts ändern können, dass Menschen beschädigte Ware waren. Bevor Izzys Großmutter vor sieben Jahren gestorben war, hatte Izzy drei verschiedene Ärzte aufgesucht, um von ihren wiederkehrenden Albträumen loszukommen. Doch nichts half. Außerdem hatten Ärzte keine Ahnung. Eine Handvoll von ihnen hatte beharrlich behauptet, Izzys Mutter sei zurechnungsfähig und körperlich in der Lage, sich vor Gericht zu verantworten. Jetzt befand sie sich im Gefängnis, anstatt die Hilfe zu bekommen, die sie wirklich benötigte. Denn Izzy war klar, dass Wahnsinn die einzige Erklärung sein konnte, warum ihre Mutter ihren Vater erschossen hatte, während dieser schlief.

Als sie die verriegelten Werkstätten erreichten, schloss ihnen eine ehemalige Angestellte die Tür auf und ließ Izzy, Peg sowie zwei weitere Museumsmitarbeiter herein.

»Hier haben die Patienten Füller und zusammengeklebte Papiertüten verpackt«, erklärte die ehemalige Angestellte fröhlich, als würde sie ihnen einen Stand mit Quilts auf einem Wochenmarkt präsentieren.

In dem Gebäude standen leere Werktische in kargen Räumen. Vergilbte, sich an den Enden einrollende Kalender und alte Feuerlöscher hingen an den mit Rissen übersäten, abblätternden Wänden. Der alte Lastenaufzug war schon seit Jahren außer Betrieb, weshalb Izzy und die anderen eine steile, schmale Treppe drei Etagen bis zum Dachboden hinaufgehen durften. Dabei mussten sie über eingebrochene Stufen sowie dicke, alte Brocken Putz hinwegsteigen und immer wieder Spinnweben beiseitewischen. Oben angekommen, schloss die ehemalige Angestellte die Dachbodentür auf und lehnte sich mit all ihrem Gewicht dagegen, um die Tür mit Gewalt zu öffnen. Die Tür bewegte sich jedoch keinen Millimeter. Peg kam hinzu, um zu helfen, und stemmte sich mit beiden Händen gegen das Holz. Schließlich kreischten die Scharniere, und die Tür gab nach. Die abgestandene, staubige Luft im Treppenhaus entwich zischend nach oben, als würde der Dachboden einmal unglaublich tief Luft holen. Die Angestellte führte sie nach drinnen.

Auf dem Dachboden war es heiß und stickig, und in der Luft hing der Geruch von altem Holz, Staub und Vogelkot. Hier und da lag abgestorbenes Laub auf dem Holzboden, das über Jahre hinweg durch eine kaputte Scheibe in einem der Fenster hineingeweht worden war. Ein schmuddeliger Laborkittel hing an einem Nagel an der Wand, und aus mehreren geöffneten Koffern ergoss sich deren Inhalt auf die Dielen des Dachbodens. Hausschlüssel und Fotografien, Ohrringe und Gürtel, Blusen und Lederschuhe mischten sich mit Schmutz und Blättern – wie Habseligkeiten, die man aus einem Grab ausgebuddelt hatte und die sich allmählich zersetzten. In der Mitte des weitläufigen Raumes stand eine Arzttasche, daneben lag etwas, das wie eine zerrissene Landkarte aussah. Beides war mit einer dicken Schicht Staub und getrocknetem Taubenkot bedeckt. Unter den Dachsparren nahmen reihenweise hölzerne Wandregale beinahe den gesamten Platz ein. Mit »Männer« und »Frauen« beschildert und von A bis Z auf jeder Seite sortiert, standen die überdimensionalen Regale im rechten Winkel zu den hohen Wänden, sodass sich in der Mitte ein langer Korridor bildete wie der Hauptgang in einem Lebensmittelmarkt oder einer Bücherei. Doch statt Konserven oder Büchern stapelten sich in den Regalen Hunderte staubbedeckte Koffer, Holzkisten, Schachteln, Schrankkoffer und Überseekoffer.

»Was ist das?«, fragte Peg, und in ihrer Stimme schwang Ehrfurcht.

»Hier sind die Koffer aufbewahrt worden«, erklärte die ehemalige Angestellte. »All diese Koffer und Kisten wurden von Patienten zurückgelassen, die in der Einrichtung angemeldet, aber niemals abgemeldet wurden. Seit ihre Besitzer sie vor Jahrzehnten vor ihrem Einzug in die Psychiatrie gepackt haben, sind sie nicht mehr angefasst worden.«

Izzy kaute auf der Unterlippe herum und blinzelte, um gegen die Tränen in ihren Augen anzukämpfen. Sie musste an den geöffneten Reisekoffer ihrer Mutter denken, der auf dem Tisch am Bettende gelegen hatte und in dem Unterwäsche, BHs und Nachthemden in einem wirren Durcheinander aufeinandergetürmt gewesen waren. Niemals würde sie das erste Mal vergessen, als sie das Schlafzimmer der Eltern betreten hatte, nachdem ihr Vater erschossen worden war. Ihre Großmutter hatte Hilfe dabei benötigt, die Sachen von Izzys Mutter zu finden und einzupacken. Izzy hatte wie in Zeitlupe die Kommodenschubladen geöffnet, aus denen der vertraute Parfumgeruch ihrer Mutter drang, der an ihren Miedern und ihrer Unterwäsche haftete und Izzy daran erinnerte, was sie verloren hatte. Zu diesem Zeitpunkt konnte Izzy immer noch den Geruch vom Blut ihres Vaters sowie den Hauch von Schießpulver in der Luft riechen. Sie erinnerte sich gut daran, wie sie das Elternbett angestarrt hatte, dessen Kopfende, Fußende und Seitenteile abmontiert worden waren und nun an der Schlafzimmerwand lehnten, als würden sie nun endlich in das größere Haus ziehen, das sich ihre Mutter immer gewünscht hatte. Jetzt brauchte Izzy ihre ganze Selbstbeherrschung, um nicht vom Dachboden die Treppe hinunter und hinaus an die frische Luft zu fliehen, weit weg von den Erinnerungen an verlorene und zerstörte Leben.

»Das ist ja eine wahre Fundgrube«, rief Peg. Begeistert lief sie die Gänge entlang, fuhr sanft mit der Hand über lederne Koffergriffe sowie aufrecht stehende Schrankkoffer und warf einen flüchtigen Blick auf Namensschilder und verschossene Monogramme. Dann wirbelte sie herum und sah die ehemalige Angestellte mit großen Augen an. »Was passiert hiermit?«

Die Angestellte zuckte mit den Schultern. »Das wird wohl alles entsorgt werden, denke ich.«

»O nein«, rief Peg. »Das können wir nicht zulassen. Wir müssen die Koffer ins Museumsdepot bringen.«

»Alle?«, fragte eine der Museumsangestellten verwundert.

»Ja«, nickte Peg. »Begreift ihr das denn nicht? Diese Koffer sind mindestens genauso bedeutsam wie eine archäologische Ausgrabung oder eine Reihe alter Gemälde. Diese Menschen hatten nie auch nur den Hauch einer Chance, ihre Geschichte außerhalb der Grenzen einer psychiatrischen Anstalt zu erzählen. Wir jedoch können versuchen, herauszufinden, was ihnen passiert ist, indem wir uns ihre persönlichen Habseligkeiten anschauen. Wir haben hier die seltene Chance, ihr Leben zu rekonstruieren, das sie vor ihrer Einweisung geführt haben!« Sie drehte sich zu Izzy um. »Klingt das nicht aufregend?«

Izzy gab sich Mühe, ein Lächeln zustande zu bringen, doch ein fürchterliches Grauen machte sich in ihrer Brust breit und sorgte für ein beklemmendes Gefühl.