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SCHEINWERFERKINDER

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Geheimnisse

 

 

Alexandria Emilia Rawa

 

 

 

Cover: Giada Armani

Copyright: BERLINABLE UG

 

 

Berlinable lädt dich ein, alle deine Ängste hinter dir zu lassen und in eine Welt einzutauchen, in der Sex der Schlüssel zur Selbstbestimmung ist.

Unsere Mission: Die Welt verändern - Seele für Seele.

Akzeptieren Menschen ihre eigene Sexualität, formen sie eine tolerantere Gesellschaft.

Worte der Inspiration, des Mutes, der Veränderung.

Öffne deinen Geist und befreie deine tiefsten Begierden.

 

 

Alle Rechte vorbehalten. Es ist nicht erlaubt, die Inhalte dieses eBooks ohne die ausdrückliche Genehmigung durch den Verlag zu kopieren, weiter zu verbreiten öffentlich vorzutragen oder anderweitig zu publizieren. Änderungen, Satzfehler und Rechtschreibfehler vorbehalten. Die Handlung und die handelnden Personen dieses Buchs sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig.

 

Kamila // München // 09. April 2013

 

Es ist mir ein Rätsel, wie die Schönheit von Bayerns Landeshauptstadt all die Jahre so klammheimlich an mir vorbeigehen konnte. Seit Jahren betrachte ich Metropolen wie New York, Tokio und Sydney hauptsächlich aus Flugzeugen von oben und habe tatsächlich irgendwann eine Art Heimatgefühl dafür entwickelt. Der Mensch klammert sich eben immer irgendwie an das Gewohnte, und wenn das einzige Gewohnte in deinem Leben das stets Wechselnde ist, dann wird das Unterwegs irgendwann zu deinem Zuhause, und Fremde zu deiner Familie.

 

Doch heute stehe ich am offenen Fenster meiner gewohnten Suite im Palander Munich, atme die frühlingshafte, immer wärmer werdende Stadtluft ein und bin auf einmal richtig froh, mich genau jetzt genau hier zu befinden.

 

Letzte Woche war ich in Peking. Das ist auch immer famos, abgesehen davon, dass man nicht atmen kann und mir auf diesen Trips selbst die Lust auf Luckies gehörig vergeht. Aber als blondes, großes, dünnes Mädchen bin ich dort ein Ultra-Exot und werde von den Asiaten gefeiert, denen ich allen gerade herunter auf den Scheitel gucken kann. Es ist also nicht gänzlich zum Kotzen, sofern man nach ein paar Tagen wieder zurück nach Europa darf.

 

Die Tür ist für Rico wie immer nur angelehnt, und mittlerweile klopft er auch nicht mehr an.

 

Ich hingegen stehe immer noch jedes Mal am Fenster, immer mit dem Rücken zum Eingangsbereich, und bin schon fast süchtig geworden nach diesem Thrill, wenn ich einfach nur lausche. Ich höre, wie der Fahrstuhl in meiner Etage ankommt, höre Ricos Schritte gleichmäßig und leise auf dem bordeauxroten Teppich und zähle die Sekunden, die verstreichen, ehe sein markanter, unwiderstehlicher Duft aus dem Flur zu mir geweht wird und meine Geruchsnerven umgarnt. Es ist wie immer dieses eine, ganz besondere sportlich-frische Duschgel. Ich schwöre, die haben das mit Pheromonen gespickt. Mein Herz hüpft wie ein fünfjähriges Kind auf einer Hüpfburg.

 

„Schön, dich zu sehen.“, haucht er mir ins Ohr, während er von hinten beide Arme um meine Taille legt und mich ganz sanft auf die Haare küsst. In meinem Bauch schmeißen Schmetterlinge die Party ihres Lebens.

 

„Schön, dich zu riechen.“, entgegne ich mit einem Lächeln und schaue weiterhin nach draußen, wo der riesige Sonnenball langsam den Rückzug antritt.

 

„Ebenso.“, sagt er. Dann drehe ich meinen Kopf zu ihm.

 

„Oh shit, du bist ja Rico!“, gebe ich gespielt überrascht von mir und setze einen schockierten Gesichtsausdruck auf.

 

Er lacht, weil es nicht das erste Mal ist, dass ich mit diesem Scherz um die Ecke komme. Dann küsst er mich und ich drehe meinen Oberkörper so, dass wir uns gegenüber stehen, damit ich mit meinen Händen an sein Gesicht und in seine Haare fassen kann. Kurze Bartstoppeln kitzeln meine Handfläche. Ich weiß, dass er sich an Spieltagen immer rasiert, es unter der Woche aber gerne schleifen lässt.

 

„Wie war Peking?“, fragt er, als unsere Lippen sich wieder voneinander lösen.

 

„Hmm.“, mache ich und denke kurz nach. „Chinesisch. Nichts Besonderes.“

 

Ich grinse ihn an. „Aber dafür habe ich mir für heute etwas Besonderes überlegt.“

 

„Oh, okay…“ – Er grinst zurück und ich spüre die unmissverständlichen Funken zwischen uns, obwohl das, was ich für heute vorbereitet habe, überhaupt nichts mit dem zu tun hat, was wir beide in dem Augenblick denken.

 

„Mach’s dir gemütlich.“, befehle ich Rico und drehe ihn an den Schultern in Richtung unserer Lieblingssessel und der Chaise Longue. „Aber das Fenster muss offen bleiben.“

 

„Okay, okay.“, lacht Rico. „Darf ich vorher aber noch kurz die Toilette benutzen?“

 

„Du weißt ja, wo’s lang geht.“, schmunzle ich daraufhin nur.

 

Er verschwindet und ich mache es mir schon mal bequem. Aus meiner Hosentasche ziehe ich mein hauchdünnes Zigarettenetui und lege es auf das Tischchen vor mir. Es war mal irgendein Schleimscheißer-Werbegeschenk von Porsche, das ich noch kein einziges Mal für Zigaretten benutzt habe. Wenn ich schon als Werbeträger missbraucht werde, dann nach meinen eigenen Regeln.

 

Wenig später höre ich die Spülung und den Wasserhahn laufen. Doch plötzlich radaut es, als wäre irgendetwas runtergefallen.

 

„Mit was schmeißt du da wieder um dich?“, rufe ich belustigt in Richtung Badezimmer, doch es bleibt still.

 

„Rico?“, erkundige ich mich, immer noch nicht ganz ernst. „Hat dich was am Kopf getroffen?“

 

Fast hätte ich mir die Mühe gemacht und meinen kleinen süßen Popo von der Chaise Longue gehievt, um nachzusehen, was da los ist, doch gerade einen Wimpernschlag davor kommt Rico schließlich raus.

 

„Was ist das?“, fragt er argwöhnisch und hält beide Hände hoch.

 

In der einen hat er ein unscheinbares, weißes Döschen ohne Aufschrift, und in der anderen eine Handvoll kleiner weißer Pillen, die eigentlich in die Dose gehören. Und obwohl er gefragt hat, kann ich an seinem Gesichtsausdruck mühelos ablesen, dass er sich schon längst eine eigene Antwort gegeben hat und diesem Thema gegenüber sehr zwiegespalten ist.

 

„Oh Mann, Pfister.“, seufze ich und muss mir ein Lachen verkneifen. „Glaubst du, ich würde Drogen im Badezimmerregal aufbewahren? So total auffällig, in kleinen weißen Dosen?“

 

„Ich glaube gar nichts. Ich will nur wissen, was das hier ist.“

 

„Abführmittel.“, antworte ich ungerührt. „Willst du auch noch wissen, wozu ich das brauche? Oder vielleicht eine ausprobieren?“

 

Einen Moment lang guckt Rico drein wie eine Kuh wenn’s donnert. Er schenkt den Tabletten in seiner Hand noch einen letzten Blick, dann lässt er sie wieder in die Dose rieseln und bringt sie ganz schnell dorthin zurück, wo er sie gefunden hat.

 

Ich grinse kopfschüttelnd. Natürlich weiß Rico, dass ich nicht das Gänseblümchen mit der perlweißen Weste bin, als das ich mich – sehr erfolgreich – verkaufe. Aber Drogen im Badezimmerregal? Dafür hab ich andere Aufbewahrungsorte.

In meiner Welt ist es allerdings so: Hin und wieder musst du dich in der Öffentlichkeit eben auch essend zeigen, sonst wird dir sofort der essgestörte Hungerhaken angedichtet, der du bist.

Abführmittel ist da nur die galante Alternative zum Finger im Hals. Schlucken oder Spucken sozusagen, buhu.

 

„Sorry...“, murmelt Rico, als er zurückkommt und sich mir gegenüber setzt.

 

„Easy.“ – Ich zucke die Schultern. „Ich muss ja zugeben, ein bisschen sehen die Dinger schon aus wie Ex. Von weitem. Wenn man es nicht besser weiß. Aber egal, wir machen heute was anderes.“

 

Ricos schwarzteebraune Augen taxieren mich neugierig und grinsend greife ich zu dem Porsche-Zigarettenetui, das immer noch da liegt und auf uns wartet.

 

„Sesam öffne dich.“, sage ich, während ich es aufklappe.

 

„Wow. Hast du die alle selber gemacht?“, fragt Rico, während er die beiden perfekten Sechserreihen Joints bestaunt.

 

„Ja, genau.“, antworte ich ironisch. „Ich habe das Gras in China durch die Grenzkontrolle geschmuggelt und dann den ganzen Flug lang JayJays gebaut.“

 

Ich schenke Rico einen von meinen You can’t be serious-Blicken, und er lacht.

 

„Zutrauen würd ich’s dir.“

 

„Ja, ich merk’ schon, du traust mir eine Menge zu.“, lache ich ebenfalls. „Aber nee, die macht ‘n Kumpel für mich, wenn ich mal welche brauche. Ich kann noch nicht mal ‘ne Zigarette selber drehen.“

 

Noch beim Reden zünde ich mir eine der Tüten an.

 

„Ich versteh‘ die Menschen sowieso nicht, die Zigaretten selber drehen.“, stelle ich fest und entlasse den dichten Rauch durch meinen Mund nach draußen. Er gleitet zusammen mit seinem süßlichen Geruch aus dem Fenster ins Freie, verteilt sich in der Abendstimmung.

 

„Ist doch sau der Aufwand dafür, dass man das Teil eh gleich wieder abfackelt. Außerdem, wenn ich ‘ne Kippe will, dann will ich sie jetzt und nicht erst wenn ich ‘ne Zweidrittelewigkeit dran rumgedreht habe.“, rede ich weiter und schüttle verständnislos den Kopf. Dann halte ich Rico den angezündeten Joint hin.

 

Er zögert. „Ich weiß nicht. Ich bin mit dem Auto da, und… Na ja...“

 

Eigentlich hätte ich noch vor wenigen Sekunden meine Hand dafür ins Feuer legen wollen, dass er sich eher Sorgen um seine Sportlerkarriere und allfällige Dopingkontrollen machen würde, aber jetzt sitzt er hier und denkt an sein Auto. Ja, Herrgott, indirekt steht das natürlich für seine Gesundheit und sein ganzes Leben, wenn’s dumm läuft, aber wozu scheffeln wir denn die ganze Kohle?

 

„Rico, du könntest dir ‘ne verdammte Stretchlimo bestellen und über Hamburg nach Hause fahren, wenn du wolltest.“, knurre ich. „Und wenn du nicht willst, dann schick‘ ich ‘nen Fahrer vom Palander, also laber‘ jetzt nicht rum und nimm.“

 

Als er mir die weiße Tüte schließlich abnimmt und tief inhaliert, beobachte ich aufmerksam, wie er es tut. Es ist wahrscheinlich sehr, sehr lange her, aber er macht das kaum zum ersten Mal. Er hustet nicht einmal, und der Joint zwischen seinem Zeigefinger und Daumen sieht so perfekt aus, als würde er nirgendwo anders hingehören.

Ohne ein weiteres Wort zünde ich mir einen zweiten an. Alleine das Bewusstsein, Weed zu rauchen, lässt mich innerlich runterkommen.

 

Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Rico lächelt, und ich schreibe mir ein mentales Post-It, diesen Augenblick nie wieder zu vergessen. Gleich wird die Sonne ganz weg sein. Das diffuse Licht, das sie uns noch schenkt, beleuchtet Ricos Gesicht sanft und ebenmäßig, und mir gefällt der Gedanke, dass mein eigenes Gesicht gerade genauso symmetrisch und entspannt aussehen muss.

 

Der Rausch legt sich wie ein warmer, schwerer Wollmantel von hinten um mich. Ganz sanft, beruhigend, erwartet. Ich lasse mich fallen und gebe mich hundertprozentig meinen Empfindungen hin, die plötzlich alle massiv an Schönheit und Besonderheit dazugewonnen haben, obwohl ich nur einen dummen Sonnenuntergang betrachte. Natürlich werde ich mir schon morgen in den Arsch beißen wollen für diesen Overkill an Emotionen, Ehrlichkeit und Tagebuchpoesie, den ich meinem Gehirn heute erlaube. Nur, jetzt grad ist mir das egal.

 

Die wenigen Wolken liegen wie dünne Striche am Horizont und die untergehende Sonne hat den Himmel tiefrot gefärbt, wobei mich die Wolken an Schnitte erinnern.

 

„Der Himmel blutet.“, hauche ich in einem Satz aus sehr viel Rauch und wenig Stimme.

 

*

 

„Sag mal, was hast du eigentlich Markus erzählt, dass er jetzt doch die Klappe hält?“, frage ich Rico, ohne ihn dabei anzusehen.

 

Wir liegen im Dunkeln quer auf meinem King Size Bett, das in dem Moment so breit ist wie wir. Ich trage kein Oberteil und Rico auch kein T-Shirt mehr. Für alles weitere waren wir, ganz banal ausgedrückt, einfach zu faul. Aber das Bett hat uns so angelacht, wie es da stand, so bequem, weich, groß und frisch bezogen… Also liegen wir nun drauf.

 

Mein Kopf ruht auf Ricos Brust und wir starren an die Decke, obwohl ich eigentlich häufiger die Innenseite meiner Augenlider betrachte als irgendetwas anderes. Es fällt mir schwer, die Augen offen zu halten. Es ist viel schöner, sie ganz natürlich zufallen zu lassen und sich dann vom Rhythmus von Ricos Atmung sanft hoch und runter wiegen zu lassen.

Ja, der Cannabis-Rausch ist heute mein Freund.

 

„Dass das ein einmaliger Fehler war, dass ich besoffen war, dass ich es unendlich bereue und dass es meine Familie kaputt macht, wenn er es Samantha sagt.“, antwortet Rico schließlich und es fühlt sich unter meinem Kopf lustig an, wenn er redet.

 

„Wie in Filmen.“, raune ich.

 

„Ja. Ich habe sogar den Satz gesagt – ein Mal ist kein Mal.“