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Renate Günther-Greene

Tabu Abtreibung

Was Frauen fühlen und
warum sie schweigen

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Inhalt

Darum dieses Buch

Renate Günther-Greene

Vorwort

Prof. Dr. Sabine Rollberg

Gespräche mit Experten

„Was glaube ich, was das frühe Ungeborene ist? Darauf muss jeder Einzelne eine Antwort finden.“

Prof. Dr. mult. Nikolaus Knoepffler

„Es existiert eine Bestrebung, bewusst oder unbewusst, negative Folgen der Abtreibung zu verleugnen und zu verdrängen. Das kann krank machen.“

Dr. Angelika Pokropp-Hippen

Gespräche mit betroffenen Frauen

„Ich habe gedacht, du machst es weg und bist das Problem los.“

Johanna

„Ich fühle so eine Traurigkeit in meinem Bauch.“

Anna

„Mir hätten Gespräche weitergeholfen. Ganz viele Gespräche und ein bisschen mehr Wärme.“

Alexandra

„Ich habe schon etwas empfunden. Es war kein Zellklumpen für mich.“

Nina

„Das Problem war die Schuld. Ich hatte ein Kind getötet.“

Claudia

„Mich hätte es zweimal geben können.“

Anne

„Die Zwangsberatung ist eine Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts. Ganz klar.“

Antje

„Ich weiß, es wäre ein Mädchen geworden. Da bin ich mir ganz sicher.“

Ilona

„Wir wollten mit ihm vorher noch in den Himmel steigen.“

Christiane und Andreas

„Der Schrei aus der Seele war immer da. Und er ist es immer noch.“

Monika

„Ich liebe Menschen. Aber auch mich.“

Rita

Dankeschön

Viten

Darum dieses Buch

November 1969. Wien. Die Stadt, in der ich aufgewachsen bin. Ein Kollege fährt mich zu der Adresse, wo meine Abtreibung stattfinden soll. Ich bin vierundzwanzig. Abtreibungen sind gesetzlich noch verboten.

Wir stehen vor dem angegebenen Haus. Ein typisches graues Wiener Mietshaus aus der Gründerzeit. Ein Geflügelladen beherrscht die Fassade. Was soll ich in einem Geflügelladen? Beherzt treten wir ein. Nackte Hühner hängen ausgenommen vor der weißen Kachelwand. In der Theke Hühnerleber und Mägen. Dahinter eine Frau im weißen Kittel. Ich gerate in Panik. Sie spürt meine Angst: „Ich bin Ärztin.“ Offensichtlich wurde ihr wegen Abtreibungen die ärztliche Zulassung entzogen.

Mit weichen Knien folge ich ihr in ein kleines Zimmer hinter dem Laden. Darin ein Resopal-Nierentisch, ein Fauteuil, ein kleiner Wohnzimmerschrank. Ich liege auf dem Nierentisch und halte still wie eine Marmorstatue. Spüre nichts. Doch plötzlich: eine dumpfe Welle. Ein wütender Stoß. „Jetzt ist es tot“, denke ich. Dieses unbeschreibliche Gefühl habe ich bis heute nicht vergessen. In meiner Naivität frage ich die Ärztin, ob es ein Junge oder Mädchen geworden wäre. Sie zeigt nur auf den Eimer.

Im darauffolgenden Jahr verlasse ich meine Heimatstadt und ziehe nach Deutschland. Der Karriere wegen, die dann auch rasche Fahrt aufnimmt. Ich verliebe mich, gründe eine Familie. So viel Leben verdrängt die unangenehme Erinnerung.

Vier Jahrzehnte später. Drei Jahre nach dem Tod meiner Mutter traue ich mich zum ersten Mal wieder in meine mutterlose Kindheitsstadt. Am ersten Morgen wache ich im Hotel auf und werde von einem Tsunami gepackt. Einem Tsunami aus Schuld und Trauer. Die Abtreibung wird lebendig, als wäre sie gerade erst geschehen. Zum ersten Mal realisiere ich das schreckliche Gefühl: „Ich habe ein Kind getötet. Mein Kind.“

Ich versuche, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Tränen fließen ununterbrochen über mein Gesicht. Ich zwinge mich, auf die Straße zu gehen, um in einer Kirche Ruhe zu finden. Doch Touristen quellen aus jedem Gotteshaus in der Innenstadt. Ich suche die Stille in den engen, krummen Gässchen und stehe plötzlich vor einem kleinen Spielzeugladen. Aus der Auslage lacht mich ein Stoffpüppchen an. Etwa zwanzig Zentimeter klein, mit karottenroten Haaren, bekleidet mit einem blauen Frottee-Jäckchen und Baumwollhosen. Auf seinem Gesicht prangen sieben Sommersprossen auf jeder Seite. „Das bist du“, sage ich. Es soll das Abbild meines ungeborenen Kindes sein. Ich nenne es Helmut Maria, weil ich nicht weiß, ob es ein Junge oder Mädchen geworden wäre. Helmut Maria sitzt seitdem neben den Fotos meiner lebenden Kinder.

Heute weiß ich, dass dies ein erster gesunder Schritt zur Verarbeitung war: Das Ritual der Namensgebung vollziehen viele Frauen, um dem anonymen Kind eine Persönlichkeit zu verleihen.

Zurück in Deutschland versuche ich, Kontakt mit anderen Betroffenen aufzunehmen – und stoße auf eine Mauer des Schweigens. „Lass mich in Ruh.“ „Ich will das nicht wieder aufwühlen.“ Nicht eine Frau, ob jung oder alt, ist bereit, sich auf ein Gespräch einzulassen.

Eine neue Erfahrung für mich, denn bei Recherchen für meine Dokumentationen finde ich meist leicht Kontakt zu Protagonisten. Warum ist es diesmal so schwer? Über vierzig Jahre nachdem Abtreibungen rechtlich geregelt sind? Wir haben doch erreicht, was wir wollten. „Mein Bauch gehört mir“, warum dann dieses Verweigern?

Ich mache mich weiter auf die Suche nach Frauen, die reden wollen. Die Gespräche öffnen mir die Tür zur geheimen Welt der Schuld, der Scham, Ängsten und Konflikten. Geheim, denn sie werden mit ihrer Entscheidung oft allein gelassen. „Das ist dein Körper, es ist deine Entscheidung“, lässt sie sich zu Recht verlassen fühlen. Dann besser schweigen. Frauen werden in der Entscheidungsphase oft unter Druck gesetzt, vom Partner oder der Familie. Sie überhören die zarte Stimme in ihnen, die sich dieses Kind eigentlich wünscht.

Oft höre ich: „Ich hatte nicht genug Zeit, die Entscheidung in Ruhe zu durchdenken. Für und Wider auszumalen. Den Gedanken zuzulassen: Warum eigentlich nicht?“ Mir begegnen aber auch Frauen, die mit ihrer Abtreibung gut leben können.

Ich möchte das alles besser verstehen. Viele Fragen treiben mich weiter: Wann beginnt das Leben? Wie entsteht Moral? Warum leiden manche Frauen unter Folgen der Abtreibung und andere nicht? Ist der religiöse Einfluss wichtig? Warum brechen Schuldgefühle oft erst nach Jahren oder sogar nach Jahrzehnten aus? Warum schämen wir uns, wenn doch das Recht uns unter den bekannten Bedingungen eine Abtreibung erlaubt? Warum sprechen häufig Schwangerschaftsberatungen von einem Zellklumpen und nicht von einem Embryo? Von Schwangerschaftsunterbrechung und nicht -abbruch? Warum diese Banalisierung? Warum finden immer noch jährlich durchschnittlich 110 000 Abtreibungen statt (die Dunkelziffer wird deutlich höher eingeschätzt), obwohl es sichere Verhütungsmittel gibt?

Ich führe meine Gespräche fort. Mit Betroffenen, Hebammen, Psychologen, Abtreibungsärzten, Wissenschaftlern, mit einem Ethik- und Moral-Professor und Professoren von gynäkologischen Universitätskliniken. Sie alle wollen mir helfen. Alle motivieren mich, durchzuhalten. „Es wird nicht leicht für Sie, aber geben Sie nicht auf. Es ist wichtig, was Sie tun“, so Prof. Dr. Nikolaus Knoepffler.

Auf manche Fragen finde ich eine Antwort. Neue Fragen tauchen auf. Ich lerne, dass es keine einzige Wahrheit gibt. Kein Gut oder Böse. Kein Richtig oder Falsch.

Ich habe auch das Wünschen gelernt: Ich wünsche mir, dass die neue Generation nicht in solch eine Situation kommt, weil sie verantwortungsbewusst mit ihrem Körper umgeht und sachgemäß verhütet. Verhüten ist immer besser als abtreiben.

Aus den vielen Gesprächen habe ich für dieses Buch die ausgewählt, die die Probleme am deutlichsten aufzeigen, ihre möglichen Ursachen, aber auch Wege, aus dem Schweigen herauszukommen, neue Hoffnung zu gewinnen.

Ich hoffe, dass Sie in diesem Buch zumindest einige Antworten auf Ihre persönlichen Fragen finden.

Allen Gesprächspartnern, die mich bei diesem Projekt begleitet haben, danke ich für ihre Leidenschaft, ihr Interesse, ihre Offenheit. Ohne sie gäbe es weder dieses Buch noch den Film.

Renate Günther-Greene

Vorwort

Menschen stülpen in der Öffentlichkeit ihr Innenleben nach außen, reden in der U-Bahn mit Handys laut über Intimstes, offenbaren in Talkshows private Geheimnisse. Unsere Gesellschaft scheint tabufrei. Würde aber eine Frau beim Abendessen mit Freunden offen bekennen, abgetrieben zu haben? Würde sie nicht sogar davor zurückscheuen, einer guten, langjährigen Freundin darüber zu berichten? Denn sie könnte bei diesem Thema, falls unterschiedliche Meinungen aufbrechen, die Freundschaft riskieren. Das selbst gewählte Ende einer Schwangerschaft tangiert sehr persönliche Gefühle. Kann es sein, dass dieses Thema eines unserer letzten Tabus ist?

Als die Filmemacherin Renate Günther-Greene mir vor einigen Jahren einen Film zum Thema Abtreibung vorschlug, war auch ich anfänglich sehr zögerlich. Was sollte man zu diesem Thema Neues sagen? Die juristische Schlacht um den Schwangerschaftsabbruch war doch in Europa weitgehend geschlagen. Warum sollte sich eine Frau mit diesem Thema befassen, wenn sie nicht zur Front der Lebensschützer gehörte und die bestehende Rechtslage zu revidieren wünschte? Renate Günther-Greene erzählte mir ihre persönliche Geschichte: dass sie viele Jahre nach einem Schwangerschaftsabbruch mit diesem Erlebnis wieder schmerzhaft konfrontiert worden war. Wir Frauen hatten mit viel Mut dafür gekämpft, das Thema aus der Illegalität herauszubringen. Ist es möglich, dass wir heute nicht über eine Abtreibung sprechen wollen aus Angst vor einer möglichen Traumatisierung, die ein erneutes Beschäftigen mit den Erfahrungen und Gefühlen für uns bedeuten könnte? Schweigen wir aus Sorge, von Gruppen vereinnahmt werden zu können, die das Recht der Frauen, über ihr Leben zu bestimmen, wieder einschränken wollen?

Um einen Themenabend für arte einzubringen, musste ich viele Hindernisse überspringen, und bei jeder Genehmigungsinstanz stieß ich erneut auf eine Front des Widerstands. Alle zeigten sich irritiert und fragten, ob ich zu den Rechtsradikalen übergelaufen sei. Zur Agenda der Front National und anderer rechtspopulistischer Parteien in Europa gehört nämlich das Thema Abtreibung. Bei einer Regierungsbeteiligung von Marine Le Pen würde die Gesetzgebung in Frankreich zum Thema Abtreibung ganz sicher als eine der ersten Maßnahmen revidiert werden. Ich fragte beharrlich zurück, ob es nicht auch an der Zeit sei, das Schweigen über den Schmerz zu brechen, das Schweigen über einen Verlust, der viele Frauen trotz allen gesellschaftspolitischen Fortschritten oft noch Jahre belastet.

Ich hatte offenbar doch andere aufhorchen lassen, und man ermutigte mich, ein Konzept für das Thema zu erarbeiten. In Europa sind in vielen Ländern konservative, rechte bis rechtsradikale Parteien im Aufwind. In einem Punkt gleichen sich von Polen bis Spanien alle: Auf ihrer Agenda steht die Revision der bestehenden Gesetzeslage zum Schwangerschaftsabbruch ganz oben. Warum diese Leidenschaftlichkeit unter Männern in einer Frage, die das Leben von Frauen berührt? Geht es um die Angst, die Dominanz über sie zu verlieren?

Papst Franziskus, mit dem so viele die Hoffnung auf einen Aufbruch verbinden, hat gleich zu Beginn seiner Amtszeit verkündet: über Abtreibung könne man mit ihm nicht diskutieren. Das bleibe für ihn Mord. Ein Rechtsanwalt aus streng katholischer Familie hat mir aus der Kirchengeschichte erzählt, dass der Vatikan bis ins 19. Jahrhundert zwischen beseeltem und unbeseeltem Fötus unterschieden habe. Das Thema Abtreibung galt also offenbar bis dahin für die Kirche nicht als Sünde. Eine befruchtete Eizelle wurde nur mit dem Hauch der Seele zum Menschen. Wann dies geschah, war unklar. Erst der nervenkranke Papst Pius IX. nahm 1869 die sogenannte Simultantheorie ins Kirchenrecht auf. Diese besagt, dass der Mensch mit der Zeugung entsteht. Aber selbst unter Theologen ist die Frage der Menschwerdung noch immer umstritten. Der Theologe Karl Rahner schrieb: „Auch aus dogmatischen Definitionen der Kirche ist nicht zu entnehmen, dass es gegen den Glauben wäre, wenn man annähme, dass der Sprung in die Geist-Person erst im Lauf der Entwicklung des Embryos geschieht. Kein Theologe wird behaupten, den Nachweis führen zu können, dass Schwangerschaftsunterbrechung in jedem Fall ein Menschenmord ist.“

Moderne Screeningverfahren lassen heute viel früher und deutlicher die Entwicklung eines Fötus verfolgen – so weiß man, dass ab dem 21. Tag ein Herz schlägt. Eine Gynäkologin hat im Magazin der ZEIT darüber geschrieben, dass sie es nicht mehr ertragen wolle, Föten zu entfernen. Das kann man nachvollziehen, denn natürlich ist es viel beglückender, Menschen zur Geburt zu verhelfen. Politik, Kirche und Medizin fahren Argumente auf, den Frauen wieder das Recht auf Selbstbestimmung zu nehmen. Man unterstellt den Frauen Leichtfertigkeit und Egoismus. Aber wie viel Selbst- und Fremdhass entsteht, weil Menschen sich als Kinder ungewünscht, ungeliebt oder vernachlässigt gefühlt haben, weil sie in eine Situation hineingeboren wurden, in der die Mütter, Eltern überfordert, überlastet oder verarmt waren. Wie viel Leid entsteht, weil Menschen diesen Hass dann weiter in die Welt tragen?

Frauen sollten sich das Recht zu entscheiden, wann sie die Verantwortung für ein Kind übernehmen können, nicht wieder nehmen lassen. Frauen sollten aber auch über den Schmerz sprechen dürfen, den die Entscheidung, eine Schwangerschaft abzubrechen, auslösen kann.

Auch ich gehöre zu den Frauen, die abgetrieben haben, sogar zwei Mal. Das erste Mal war in Wien, wie bei Renate Günther-Greene, in der Fleischgasse. Ich war achtundzwanzig, erfüllt von beruflichem Elan. 1980 war das Leben einer Vollblutjournalistin in meiner Wahrnehmung nicht mit dem einer Mutter vereinbar. Erst der zweite Abbruch fünf Jahre später hat mich ins Mark getroffen, nicht nur die Abtreibung selbst, bei der der Arzt wohl absichtlich die Narkose zu leicht gewählt hatte, um mich zu strafen. Ich erinnere mich vor allem an unendliche seelische Schmerzen, an Autofahrten, bei denen ich allein am Steuer saß und unentwegt schrie, ein Schutzengel muss auf mich aufgepasst haben, dass andere und ich ohne Unfall davongekommen sind. Ich habe die Pein damals aus mir herausgebrüllt, und mich auf diese Weise davon entlastet. Bis zum Anruf von Renate Günther-Greene hatte ich nicht mehr an diese Schmerzen gedacht. Ich hätte sie sicher nicht vergessen, wenn ich nicht die Gnade der späten Geburt einer wundervollen Tochter erfahren hätte.

Ich wünsche dieser Generation, dass sie mit dem Thema Abtreibung nicht in Berührung kommt, nicht weil es ihnen nicht möglich ist, sondern weil sie verantwortungsvoll mit ihren Partnern verhüten. Und ich hoffe, dass der Impuls von Renate Günther-Greene – ihrem eigenen viele Jahre nach der Abtreibung wieder aufgeflammten Schmerz nachzugehen und zu prüfen, ob sie alleine damit steht oder ob andere Frauen ähnlich empfinden – anderen Frauen Mut macht, über ihre Erfahrung zu sprechen. Renate Günther-Greene ist es gelungen, das Vertrauen geschenkt zu bekommen, dass Frauen ihre Geschichte erzählt haben, erst in einem Dokumentarfilm und nun auch in diesem Buch. Es möge ein lang gehegtes Tabu brechen und uns Frauen die Angst nehmen, über diese Entscheidung in unserem Leben offen zu sprechen.

Prof. Dr. Sabine Rollberg

Gespräche mit Experten

„Was glaube ich, was das frühe Ungeborene ist? Darauf muss jeder Einzelne eine Antwort finden.“

Im Laufe meiner mehrjährigen Recherche tauchten immer wieder Themen auf, die mit grundsätzlichen Fragen zu unserer Moral zu tun hatten. Ich stieß dabei auf Prof. Dr. Nikolaus Knoepffler, Leiter des Ethikzentrums für angewandte Ethik, Universität Jena.

Er war meinen Fragen gegenüber aufgeschlossen und half mir mehrfach in Telefongesprächen weiter. Er munterte mich immer wieder auf: „Geben Sie nicht auf, dieses wichtige Thema weiter zu verfolgen. Aber es wird nicht leicht sein.“ Damals war noch nicht sicher, dass arte sich des Themas annehmen und dass daraus ein ganzes Projekt mit Film, DVD, Buch und medialen Aktionen erwachsen würde.

Gespannt fahre ich zu einem Interview mit Prof. Dr. Knoepffler vor Ort in Jena. Es kommt mir ein schlanker, mittelgroßer Mann entgegen. Er begrüßt mich mit einem herzlichen Willkommen – nicht nur auf seinen Lippen, sondern in seinem ganzen Habitus.

In seinem Arbeitszimmer hören uns viele Bücher zu, aber auch eine Büste von Hegel mit Hut. Sie begleitet wohlwollend unser Gespräch von einem hohen Regal.

Lieber Herr Professor Knoepffler, wie entsteht Moral?

Moralische Einstellungen werden vor allem von drei Ebenen geprägt: Auf der ersten Ebene von der Familie, die einem moralische Einstellungen lehrt. Dann natürlich von der Gesellschaft, in der man sich befindet. Dazu gehört auch, ob sie von Religionen geprägt ist. Die dritte Ebene ist die der Gesetze, die einem etwas verbieten oder gebieten. Sie prägen ebenfalls die moralischen Überzeugungen.

Woher kommt die stärkste Prägung?

Wenn ich den Psychologen glauben darf, ist die stärkste Prägung die, die man frühkindlich übers Elternhaus bzw. durch die Erziehung mitbekommt.

Ist das auch so beim Thema Abtreibung?

Die Moral zum Thema Abtreibung ist vor allem davon geprägt, in welcher Kultur jemand groß wird. Im semitischen Kulturkreis, dem Judentum und Islam, gilt das frühe Ungeborene noch nicht als Mensch. In einer eher christlich geprägten Kultur besteht die Annahme, der Mensch existiere von Anfang an, wenn Ei und Samenzelle sich vereinigen.

Aber wesentlich ist natürlich auch, was man selbst, was die eigene Familie unter menschlichem Leben versteht. Und das jeweilige geltende Recht spielt eine große Rolle. Der Straftatbestand der Abtreibung als rechtswidrig mag für viele immer noch ein Problem sein, hat aber die starke gesellschaftliche Ächtung verloren.

Das Handeln gegen die eigene Moral führt bei manchen Frauen zu tiefen Schuldgefühlen und Bestrafungsängsten.

Wenn ich moralisch überzeugt bin, etwas tun oder unterlassen zu müssen, und ich handle dem zuwider, entstehen Schuldgefühle. Das lernt man in einer frühen Phase, etwa im dritten, vierten Jahr der Entwicklung.

Gespräche mit Frauen aus der ehemaligen DDR, aus Russland und dem freizügigen Dänemark haben mir gezeigt, dass auch sie ohne religiöse Prägung leiden.

Die Frauen, die zur Empfindung kommen, sie haben einen Menschen oder einen werdenden Menschen getötet – anders als jene, die der Meinung sind, das wäre eine Verhütung nach der Zeugung –, entwickeln tatsächlich Schuldgefühle. Das ist nicht religiös abhängig, sondern eine weltanschauliche Überzeugung. Was glaube ich, was das Ungeborene ist? Religionen geben natürlich darüber Aufschluss, aber jeder Einzelne muss für sich eine Antwort finden.

Überraschend finde ich die Bestrafungsängste: Wenn man schwer erkrankt, kein weiteres Kind mehr bekommt, eine Fehlgeburt erleidet, wenn die Ehe auseinandergeht, ein späteres Kind behindert geboren wird – das alles kann in den Augen der Frauen die Strafe für die Abtreibung bedeuten.

Menschen bekommen Bestrafungsängste, wenn ihr Wertegerüst, das sie ganz tief im Herzen tragen, durch ihre eigenen Handlungen verletzt wird. Wenn ich etwas getan habe, das ich moralisch für verwerflich halte, und es passiert mir im Leben ein Unglück oder ein Schicksalsschlag, ziehe ich eine Verbindung zu dieser Schuld. Es ist eine Tendenz im Menschen, sehr schnell Schlüsse zu ziehen, obwohl diese möglicherweise falsch sind.

Die Frage wäre, ob diesen Schuldgefühlen tatsächlich ein echtes Schuldhaben entspricht. Ob man Schuld auf sich lädt, hängt damit zusammen, welche Überzeugung man im Hinblick auf den frühen Embryo und welche auf die Bestrafungsängste hat. Wer bestraft hier? Bestraft irgendein Schicksal? Oder bestraft ein Gott? Welcher Gott? Das ist dann eine ganz schwierige Frage.

Die Gesellschaft banalisiert die Abtreibung und deren mögliche Folgen. Aus einem Embryo wird zum Beispiel ein Zellklumpen. Das mag den Frauen die Entscheidung erleichtern, sich langfristig aber gegen sie kehren.

Was kann passiert sein, dass Frauen später, wenn sie eine Abtreibung vorgenommen haben, Schuld empfinden? Man kann es dadurch bewirken, dass – wie manche Schwangerschaftsberatungen es tun – davon geredet wird, es würde nur ein Schwangerschaftsgewebe vernichtet oder ein Zellklumpen beseitigt. Oder dass man beschönigend von einer Schwangerschaftsunterbrechung spricht, obwohl etwas ganz klar abgebrochen wird. Wenn einer Frau später bewusst wird, dass so ein Ausdruck für etwas, das sich entwickelt, bei dem sich schon nach vier Wochen ein schlagendes Herz zeigt, nicht zutrifft, merkt sie, dass sie unter falschen Voraussetzungen eine Abtreibung hat vornehmen lassen.

Deswegen war die Bestimmung so wichtig – das war damals der eigentliche Sinn der deutschen Gesetzgebung vom Bundesverfassungsgericht –, man sollte zuerst Richtung Lebensschutz beraten und die Frauen sensibilisieren. Nur wenn sie dann die Empfindung haben, es ginge nicht anders, sieht der Gesetzgeber von einer Strafe ab. Es gibt aber leider einen erheblichen Teil von Beratungen, die das Ganze banalisieren.

Ist diese Art der Beratung amoralisch?