Über das Buch

Kinder und Tiere retten gemeinsam die Welt. Tier-Fantasy, Action und Höchstspannung — Band 3 der mitreißenden Reihe von Ali Sparkes

Elena, Matt und Tima sind Nachtflüsterer, sie können alle Sprachen verstehen. Auch die der Tiere. Gemeinsam mit ihren tierischen Freunden konnten sie schon viele Gefahren für Mensch und Tier abwenden. Doch als plötzlich im städtischen Krankenhaus Kinder auf mysteriöse Weise verschwinden, stehen die Nachtflüsterer vor einem Rätsel. Ihre Nachforschungen laufen allesamt ins Leere. Diesmal brauchen sie die Hilfe von Spin. Spin, der Junge, der das Licht scheut und immer genau dann auftaucht, wenn man am wenigsten mit ihm gerechnet hat. Was ist sein Geheimnis? Und wer ist er überhaupt? Ein Vampir? Das dritte Abenteuer in der spannenden Nachtflüsterer-Serie hält den Leser bis zur letzten Seite in Atem.

Ali Sparkes

Die Nachtflüsterer

Die Verschwörung

Aus dem Englischen von Manuela Knetsch

Carl Hanser Verlag

1

SIEBEN JAHRE ZUVOR

Niemand wusste so recht, wer Cris Taylor überhaupt war. Bis zu dem Tag, an dem er im Bus zu schreien begann.

Er war ein dünner, blasser Junge, der nie viel sagte. Seine Lese- Rechtschreib-Schwäche hinderte ihn daran, im Unterricht zu glänzen, und aufgrund einer Entwicklungsstörung würde er auch beim Sport niemals Bestleistungen vollbringen. Die Lehrer an der Harcourt-Grundschule schrieben seinen Namen meist mit einem h — Chris — und vergaßen manchmal sogar, dass er im Klassenraum saß.

Hätte man einen von ihnen gebeten, Cris Taylor zu beschreiben, hätten sie lange überlegen müssen und die Stirn gerunzelt. Ziemlich dünn …? Helle Haare …?

Bis zu jenem Moment im Bus. Seit jenem Tag wusste jeder, wer Cris Taylor war.

Es war ein heißer, sonniger Freitag — ideale Bedingungen für einen Schulausflug in den arten. Crisʼ Klassenkameraden schienen Spaß zu haben. Wenn auch nicht gerade unheimlich viel Spaß. Es gab nur wenige Schüler, die wirklich an der Sammlung von Pflanzen und Bäumen aus der ganzen Welt interessiert waren. Und einige Kinder hatten sich darüber beschwert, dass es dort keine Tiere gab.

»Was soll man mit einem Affenschwanzbaum anfangen, wenn keine Affen darauf rumturnen?«, nölte Kyle Ryman. Zum wiederholten Mal schlug er seine Spider-Man-Brotdose gegen den Stamm des 15 Meter hohen immergrünen Baums, bis Mr Crosby ihm androhte, dass er ihn zurück zum Bus bringen würde, damit er dort allein auf das Ende des Ausflugs wartete.

Cris lief ein Schauer über den Rücken. Der Bus hatte zwar eine Klimaanlage, doch die funktionierte nicht. Auf der Hinfahrt war es mit offenen Fenstern gerade noch auszuhalten gewesen — doch nun, in der Mittagshitze, im Bus sitzen zu müssen, wäre unerträglich. Kyle würde vermutlich einfach schmelzen. Und wenn sie um 14:30 Uhr zum Bus zurückkämen, würden sie nur noch seine Schuluniform vorfinden sowie eine Pfütze aus Haut, Knochen, Fett und Eingeweiden, die sich unter den Sitzen ausbreitete.

»Geht’s dir gut?«, fragte ihn Catriona Wild. Catriona war nett. Sie hatte braunes Haar, blaue Augen und unzählige Sommersprossen. Catriona bekam immer sehr viel Aufmerksamkeit — und wollte sie gar nicht. Vielleicht war das der Grund, weshalb sie ihn mochte. Mit Cris herumzuhängen war so, als ob man eine Tarnkappe aufhatte. Er war derart unauffällig, dass er jeden Menschen in seiner Nähe mit in diese Unauffälligkeit hineinsaugte wie ein schwarzes Loch.

»Mir … mir ist etwas heiß«, sagte er, als sie das Gebäude der gemäßigten Klimazonen verließen und auf den Pfad einbogen, der zu den beschlagenen Scheiben des Regenwaldhauses führte. Von Kyles schmelzender Haut und den Innereien erzählte er Catriona nichts. Er hatte oft solche seltsamen, düsteren Gedanken, und die Leute reagierten nicht immer wie erhofft, wenn er diese Gedanken mit ihnen teilte.

»Dein Gesicht ist tatsächlich ziemlich rosa«, meinte Catriona.

Sein Gesicht fühlte sich nicht rosa an. Eher tiefrot und wund. Seine Haut prickelte und schmerzte. Seit sie aus dem Bus gestiegen waren, hatte er bereits zwei Extraschichten Sonnencreme aufgetragen, doch das schien nicht zu helfen.

Abrupt drehte er sich von den anderen weg und steuerte auf einen schattigen Fleck unter einer riesigen, ausladenden Zeder zu. »Cris!« Catriona rannte ihm hinterher. »Wir sollen doch alle zusammenbleiben! Nicht, dass du Ärger bekommst.«

Doch Cris pfiff auf die Regeln. Er wollte sich nur noch in der Dunkelheit unterhalb des dichten Astwerks verkriechen. Wenn er nur noch fünf Sekunden länger in der Sonne bliebe, würde er augenblicklich in Flammen aufgehen.

Mit einem Seufzer der Erleichterung warf er sich auf die weiche, mit braunen Zedernnadeln übersäte Erde und lehnte den Kopf gegen eine der knorrigen Baumwurzeln. Er hechelte wie ein Hund. Noch immer prickelte seine Haut, doch die Panik, die mit dem Schmerz über ihn gekommen war, schien sich hier, im Dunkeln, zu verflüchtigen. Am Rand des Schattens, den die Zeder warf, stand Catriona und blickte sich immer wieder unsicher um. »Wir dürfen nicht auf eigene Faust loslaufen!«, sagte sie. »Das ist nicht erlaubt!«

»Ist mir egal«, keuchte er. »Ich gehe hier nicht mehr weg. Meine Haut tut so weh.«

Besorgt kam sie näher, kauerte sich neben ihn und schielte auf seine Arme. »Deine Adern sind ganz deutlich zu sehen«, sagte sie. »Tut dir auch der Kopf weh? Vielleicht hast du einen Hitzschlag bekommen?«

»Ja, vielleicht«, japste Cris. Er schloss die Augen. Bei dem Gedanken daran, diese Oase wieder verlassen zu müssen, spürte er erneut Panik in sich aufsteigen. Die Schmerzen waren noch immer übel, aber hier im Schatten konnte er gerade noch Ruhe bewahren. Sich gerade noch zusammenreißen. Er wusste, dass Catriona recht hatte: Sie würden beide Ärger bekommen, wenn sie nicht augenblicklich zum Rest der Klasse zurückkehrten, der in diesem Moment das Regenwaldhaus betrat.

Doch er schaffte es nicht. Er schaffte es einfach nicht. Schon jetzt hatte er das Gefühl, ganz dicht vor einem Lagerfeuer zu stehen. Wenn er nun auch noch aus dem Schatten trat, wäre es so, als würde er sich mitten in die Flammen werfen.

»TAYLOR!«

Erschrocken sprang er auf. Catriona stieß einen kleinen Schrei aus.

»WILD!«

Das konnte nur Mr Crosby sein. Kein anderer Lehrer nannte die Sechstklässler beim Nachnamen. Mr Crosby wirkte wie einer dieser überzeichneten Lehrer aus irgendeinem Comic. Manchmal ballte er sogar die Faust und knurrte. Grrr!

»Kommt hier rüber, SOFORT!«

»Ich hab’s dir doch gesagt«, zischte Catriona und rannte zurück.

Cris jedoch kam nur bis zum Rand des Baumschattens. Dort blieb er stehen, zitternd und schwitzend, und streckte den Unterarm hinaus ins Sonnenlicht. Im nächsten Moment brannte es schlimmer als je zuvor. Er schrie auf und zog den Arm zurück. Jetzt kam Mr Crosby auf ihn zu. Der wütende Blick hinter seinem Brillengestell aus dünnem Metall verhieß nichts Gutes.

»TAYLOR! Was machst du da? Ich habe dir gerade gesagt, dass du WIEDER RÜBERKOMMEN SOLLST!«

»Sir … Das kann ich nicht«, sagte Chris. »Es … es tut weh.«

»Wovon redest du da bitte?!« Mr Crosby hatte die Zeder erreicht. Er war derart verschwitzt, dass sein hellblaues T-Shirt ganz durchsichtig aussah. Auf seiner beginnenden Glatze standen Schweißperlen.

»Es ist zu heiß«, sagte Cris. »Meine Haut brennt.«

»Du meine Güte, Junge — uns allen ist heiß! Hast du dich eingecremt?«

»Ja, Sir. Schon dreimal.« Cris streckte die Arme aus, die von der Sonnenmilch mit Lichtschutzfaktor 50 weiß verschmiert waren.

»Und du hast ja auch einen Sonnenhut auf, also hör auf mit dem Theater«, sagte Mr Crosby. »Ein bisschen Sonne wird dich schon nicht umbringen.«

»Aber —«

»Es reicht. Los, komm mit. SOFORT.« Mr Crosby drehte sich um und ging zurück zu den anderen. Ganz offensichtlich erwartete er, dass Cris ihm folgte.

Cris holte tief Luft, zog sich die Krempe des Sonnenhuts tief ins Gesicht und rannte los. Er musste rennen. Langsam zu gehen war sehr viel schlimmer. Aber selbst als er rannte, fühlte es sich an, als ob es Nadeln vom blauen, wolkenlosen Himmel regnete. Er lief an seinem Lehrer vorbei und holte Catriona ein, die gerade dem Rest der Klasse in das Regenwaldhaus folgte. Er torkelte in den hohen Glastempel voller Grünzeug, suchte Schutz unter den riesigen Blättern eines Regenschirmbaumes, schluckte die schwere, feuchte Luft hinunter und bemühte sich, nicht zu wimmern.

Die nächsten zehn Minuten verbrachte er damit, von einer Pflanze zur nächsten zu flitzen und dabei allen Dolchen aus Sonnenlicht auszuweichen, die zwischen den Blättern hinabstießen. Noch immer hatte er starke Schmerzen, doch die Panik in ihm ebbte ab. Er würde es schaffen. Solange er sich im Schatten aufhielte, würde er es schaffen.

Dann war es Mittag.

»Okay, Leute — wir gehen jetzt nach draußen, wo ihr eure Sandwiches essen könnt«, sagte Miss Barnes. »Bitte bleibt alle im Picknickbereich beieinander.«

Der Picknickbereich des Botanischen Gartens bestand aus einem grünen Grasteppich, auf dem hölzerne Bänke und Tische standen — und nicht ein einziger Baum. Cris fühlte sich elend. Während er aus dem Regenwaldhaus hinaus ins Freie trat, holte er noch einmal tief Luft. Ihm war, als hätte er gerade die Wüste Sahara betreten. Sekunden später rannte er wieder — geradewegs auf den nächsten Baum zu, der etwa zehn Meter hinter dem Picknickbereich lag. Angst pulsierte in ihm, wodurch der Schmerz schlimmer wurde als je zuvor.

Mr Crosby hatte ihn eingeholt, noch bevor er seine Sandwiches auspacken konnte. »Beweg deinen Hintern da rüber zu den anderen, Taylor! Und zwar AUGENBLICKLICH!«, presste der Lehrer zwischen zusammengekniffenen Lippen hervor.

»Bitte, Sir … Kann ich nicht einfach eine Weile hierbleiben? Ich rühr mich auch nicht von der Stelle. Bitte …«

»Nein, Taylor — das kannst du NICHT! Ich werde es dir nur noch ein mal sagen: Marsch, rüber zu den anderen! Du gibst mir heute besser keinen Grund mehr, mich mit dir beschäftigen zu müssen, verstanden?«

Cris lief zu den anderen. Er aß nicht viel von seinen Sandwiches. Der Schmerz war jetzt so stark, dass er in kochend heißen, schlingernden Wellen blitzartig über seine Haut zuckte. Tränen quollen ihm aus den Augen, aber er hielt den Kopf gesenkt und verbarg das Gesicht unter der Krempe des Sonnenhuts. Catriona war zu Rebecca Marsh hinübergegangen und stellte deshalb keine Fragen. Worüber er ziemlich froh war. Er musste sich darauf konzentrieren, nicht laut loszuheulen.

Als sie alle zurück zum Bus liefen, atmete Cris wieder flach und hechelte wie ein erschöpfter Hund. Er fand einen Sitzplatz auf der schattigen Seite des Busses und kauerte sich hin. Als sein nackter Arm die warme Fensterscheibe berührte, zuckte er zusammen. Jetzt versuchte er, tiefer Luft zu holen und sich zu beruhigen, so, wie seine Mum es ihm beigebracht hatte, wann immer er aufgeregt gewesen war. Tiefe — langsame — Atemzüge. Bleib — ruhig. Es — geht — vorbei …

Über Cris sprang ratternd die Lüftung an und kühlte sie alle etwas ab, was ihm vermutlich dabei half, noch ein klein wenig länger zu leben — tief und langsam atmend und mit geschlossenen Augen. Eine kühle Brise aus der Luftdüse über seinem Kopf verminderte die Qualen um vielleicht drei Prozent. Dann fuhr der Bus vor der Harcourt-Grundschule vor, und sobald er geparkt hatte, schaltete der Fahrer den Motor — und damit auch die Lüftung — ab. Die Schule war jetzt aus, und die Eltern der Kinder, die mit auf dem Ausflug gewesen waren, standen bereits am Schultor. Cris konnte es kaum erwarten, zu seiner Mutter zu rennen und sie zu bitten, ihn in ihrem dunklen, kühlen Renault nach Hause zu bringen.

Doch vorne im Bus stand Mr Crosby an der offenen Tür und ging eine alphabetische Namensliste durch, nach der er die Kinder, eins nach dem anderen, aussteigen ließ. »BLEIBT AUF EUREN SITZEN!«, brüllte er Kyle Ryman und Ben Jenkins an, die ihre Taschen genommen und sich in den Gang gestellt hatten. Die beiden Jungen setzten sich wieder auf ihre Plätze, verdrehten die Augen und schimpften vor sich hin.

Auch Cris blieb, wo er war — eingequetscht von Jonas Lane, geflutet von einem warmen, goldenen Sonnenstrahl. Und aus der Düse über ihm strömte keine kühle Luft mehr.

Es war nicht auszuhalten. Er rutschte auf seinem Sitz hinunter bis in den Fußraum und wimmerte nun hörbar, sodass Jonas sich zu ihm umdrehte und ihn anstarrte. Und Mr Crosby war erst beim Buchstaben H. Er ließ jedes Kind so lange auf der Bustreppe warten, bis ein Elternteil oder eine andere Betreuungsperson kam, um es abzuholen. Mit der Aussicht, noch ein Dutzend Buchstaben lang auf seine Erlösung zu warten, ging Cris in Flammen auf.

Ein Schrei drang aus seiner Kehle. Er klang entsetzlich. Ein weiterer Schrei folgte. Und noch einer.

Mr Crosby ließ sein Klemmbrett sinken.

Später erinnerte sich Cris kaum noch an etwas. Es hatte ein Durcheinander gegeben, hektische Bewegungen, jemanden, der ihn in seinen Sitz drückte und sein Gesicht dadurch komplett der Sonne aussetzte, der seinen Puls fühlte und nach dem Erste-Hilfe-Set schrie. Dann war glücklicherweise Mum gekommen, die alle von ihm weggescheucht, ihn hochgezogen, ihre Jacke über ihn geworfen und ihn aus dem Bus hinüber zum Wagen mit den getönten Scheiben getragen hatte.

Schließlich hatte er zu Hause in einem abgedunkelten Zimmer gelegen. Kühle Gurkenscheiben auf seiner Haut. Eine Antihistamin-Tablette. Wasser. Der voll aufgedrehte Ventilator. Schlafen, schlafen, dunkel, dunkel, schlafen.

Doch zuvor hatte er sie noch wispern hören: »Es tut mir leid. Es tut mir so unendlich leid.«

Da hatte er begriffen.

Es kam von ihr.

2

JETZT

Spin lag auf dem Rücken, die Arme vor der Brust gekreuzt wie eine aufgebahrte Leiche. Nur seine offenen Augen verrieten durch gelegentliches Blinzeln, dass er noch am Leben war.

Über ihm baumelte Blut. Blut in Beuteln. Ziemlich viel davon. Das Blut in dem einen Beutel leuchtete rubinrot. Das Blut in dem anderen Beutel hatte die Farbe dunkler Kastanien, sodass es fast schwarz wirkte.

»Hey, du«, sagte der Junge im Nachbarbett. »Ich hoffe, dieses schwarze Zeug ist das, was aus dir rauskommt — nicht das, was in dich reinläuft.«

Spin seufzte und drehte den Kopf in seine Richtung. »Wird Zeit, dass sie zurückkommen und wieder an deinen Schrauben drehen.«

Der Junge warf ihm einen mürrischen Blick zu. »Besten Dank, dass du mich daran erinnerst, Dracula.«

Wenn der Junge glaubte, er könnte ihn damit aus der Reserve locken, lag er falsch. Spin lächelte nur und konzentrierte sich wieder auf die Blutbeutel über seinem Bett. Es würde noch Stunden dauern, bevor das neue Blut in ihn hineingelaufen war. Jedes böse Blutkörperchen floss buchstäblich aus seinen Adern heraus und wurde durch eine der leuchtend roten, fröhlichen Blutkörperchen ersetzt, die normale Menschen gespendet hatten.

24 weitere Stunden würde er sicher hier verbringen; genug Zeit, um noch mindestens zweimal dem Schreikonzert des Käfigkämpfers im Bett nebenan zu lauschen. Der Junge hieß Alistair und war mit einem Klumpfuß zur Welt gekommen. Die Muskeln seines rechten Beines zerrten seine Knochen permanent in eine Art Spirale des Grauens. Alle paar Monate musste er ins Krankenhaus, wo er in einen Metallkäfig voller Drähte und Schrauben gespannt wurde. Um das Bein dazu anzuhalten, sein schlechtes Benehmen aufzugeben, mussten die Schrauben regelmäßig von Hand nachgezogen werden. Das erledigte ein Orthopäde. Als Spin hier angekommen war, hatte Alistair hinter dem Vorhang, der die Betten voneinander trennte, vor Schmerzen gejault — der Spezialist hatte zum ersten Mal an jenem Tag an den Schrauben gedreht. Warum er solche Schmerzen hatte, das hatte Alistair Spin erst eine halbe Stunde später erzählen können, als die Medikamente zu wirken begannen und er wieder in der Lage war, sich zu unterhalten.

Nur selten traf Spin auf jemanden, der so viel Erfahrung mit Schmerz hatte wie er selbst. Spin war sich bewusst, wie sehr der Junge litt. Dennoch hatte Alistair gute Chancen, dass seine Qualen eines Tages ein Ende hätten — entweder weil die Schraubengeschichte erfolgreich verlaufen würde oder weil man ihm den Fuß abgenommen hätte. Alistair schien mehr als bereit für die Fuß-ab-Lösung. Heutzutage gab es coole Prothesen, mit denen man sogar an den Olympischen Spielen teilnehmen konnte.

Ein Junge wie Spin hatte keine Aussicht auf eine solche Karriere. Und es war auch nicht abzusehen, ob und wann sein Zustand einmal enden würde.

Zustand: Vampir.

Hmmm. Wer hätte geglaubt, dass es überhaupt jemals eine Therapie dagegen geben würde? Und dass ihm all die roten Blutkörperchen, die er durch die Beutel hindurch leuchten sah und die durch einen Plastikschlauch in ihn hineinliefen, freiwillig überlassen wurden. Auch er gab freiwillig her, was da dickflüssig und dunkel aus ihm herauslief. Er wollte es nicht mehr.

»Wenn du nach draußen in die Sonne gehst …«, fuhr Alistair jetzt fort und legte sein grellbuntes Wrestler-Magazin neben sich aufs Bett, »… schrumpelst du dann zusammen und stirbst?«

»Ja«, erwiderte Spin, die Augen immer noch auf die Beutel gerichtet.

»Und brauchst du menschliches Blut, um zu überleben?«

»Wir alle brauchen menschliches Blut, um zu überleben«, erwiderte Spin. Er stützte sich auf einem Ellbogen ab, grinste zu Alistair hinüber und ließ dabei seine spitzen Eckzähne unter der Oberlippe hervorblitzen. »Oder war das etwa gerade ein Angebot von dir?«

Alistair griff wieder nach seinem Wrestler-Magazin und tauchte dahinter ab. »Freak«, hörte Spin ihn noch murmeln. Er entschied sich, nichts mehr zu erwidern. Durch den Blutaustausch war er ziemlich schlapp. Zwei Schläuche liefen an seinem Bein entlang und endeten direkt in seiner Oberschenkelvene — einer für rein, einer für raus. Es tat weh. Und juckte. Fesselte ihn für Stunden ans Bett. Er war gezwungen, in eine Bettpfanne zu pinkeln, und wusste nicht, was schlimmer war: seine Erythropoetische Protoporphyrie oder diese Demütigung.

Sie hatten versucht, den Blutaustausch über die Armvenen durchzuführen — keine Chance. Sein Körper war nicht bereit gewesen, seine eigene seltsame Flüssigkeit, die gerade mal so als Blut durchging, herauszurücken. Die Armvenen hatten die Zusammenarbeit so lange verweigert, bis die Ärzte entschieden hatten, es am Oberschenkel zu versuchen. Den Blutfluss durch eine Oberschenkelvene hält so schnell nichts auf.

Das Licht, das aus dem blank geputzten Krankenhausflur zu ihm hineindrang, nervte. Es tat nicht wirklich weh, aber es kitzelte ihn. Sie hatten eine Art Plane aus schwarzer Gaze über sein Bett gehängt und die Lampen über ihm ausgeschaltet. Energiesparlampen und Leuchtstoffröhren waren in diesem Krankenhaus allgegenwärtig — und beinahe ebenso schlimm wie das Sonnenlicht. Er schloss die Augen und atmete tief ein und aus. Etwas Schlaf würde ihm guttun.

Im Bett neben Alistair, dem Käfigkämpfer, lag ein rothaariges Mädchen mit Herzproblemen. Sie war sehr ruhig und nickte immer wieder ein. Auf einem Monitor wurden ihre Vitalzeichen überwacht, und sie bekam Sauerstoff durch einen zweigeteilten Plastikschlauch, der in ihren Nasenlöchern steckte. Jünger als Elena, dachte Spin, aber vermutlich älter als Tima. Vielleicht zwölf. Sie war seit zwei Tagen hier, genau wie er. Und in dieser Zeit hatte das Mädchen lediglich einmal Besuch von einer abwesend wirkenden Sozialarbeiterin bekommen. Gestern um die Mittagszeit hatte die Frau eine Zeitschrift und ein paar kümmerliche Weintrauben auf ihren Nachttisch gelegt, zehn Minuten auf dem Handy herumgetippt und dann wieder das Weite gesucht.

Seitdem war niemand mehr gekommen, niemand außer den Ärzten. Und es standen auch keine Karten mit Genesungswünschen auf ihrem Nachttisch.

Keine Familie, schloss Spin daraus. Was für ein Pech.

In diesem Moment ging sein Blutdruck auf Tauchgang, und sein Monitor schlug Alarm. Spin wurde schwächer, fühlte sich immer verlorener. Sein letzter Gedanke war, dass seine Atome es wohl schlichtweg aufgegeben hatten, einen Körper zu formen, und er allmählich in die Matratze sickerte.

Doch nein. Hallihallo, da war er wieder. Sie hatten seinen Kreislauf stabilisiert. Der Käfigkämpfer starrte gespannt zu ihm hinüber, während das Klinikpersonal immer und immer wieder seinen Blutdruck kontrollierte. Irgendwann begann der Monitor des rothaarigen Mädchens zu piepen, woraufhin sie von Spin abließen und stattdessen an das hintere Bett eilten.

Für den Käfigkämpfer war es ein recht unterhaltsamer Nachmittag.

Für das rothaarige Mädchen hingegen endete er übel.

Sie starb.

3

»Sir! Sir! Er blutet, Sir!«

Mr Makepeace stand auf, nahm ein kleines Handtuch von den Bänken und lief durch die Turnhalle. Er wirkte eher müde als besorgt. Matt lehnte an der Kletterstange und drückte mit den Fingern gegen sein Nasenloch, um die Blutung zu stoppen. Er hätte das lieber mit sich allein ausgemacht. Vielleicht hatte Ahmed ihm nur helfen wollen, indem er den Sportlehrer gerufen hatte, aber Matt kam ganz gut ohne diese Art von Hilfe zurecht. Besonders wenn sie von Ahmed kam, einem Versager auf ganzer Linie.

»Was ist passiert, Wheeler?«, fragte Mr Makepeace seufzend.

»Nichts«, sagte Matt leichthin, obwohl mehr als deutlich war, dass etwas passiert war. Er nahm das Handtuch entgegen und presste es gegen seine Nase.

Der Sportlehrer sah sich in der Halle um, in der etwa 60 Jungen in quietschenden Turnschuhen über den glänzenden Linoleumboden sprangen, rannten und rutschten — einige beim Basketballspiel, andere beim Zirkeltraining. »Hast wohl einen Ball abbekommen?«, fragte er Matt. Er suchte auf dem Basketballfeld nach einem Schuldigen, fand aber keinen.

»In nir nich sicher«, nuschelte Matt unter dem Handtuch. »Hab’s nich ehsehen.«

Mr Makepeace verschränkte die Arme und blickte Matt skeptisch an. »Du willst mir also erzählen, dass du keine Ahnung hast, weshalb du mir hier den ganzen Hallenboden vollblutest, ja?«

Der Lehrer sah sich noch einmal in der Halle um. Liam Bassiters Grinsen und den hellroten Fleck auf seiner Stirn bemerkte er nicht. Liam war schnell gewesen — und clever, das musste Matt ihm lassen. Beim Zirkeltraining hatte er so lange gewartet, bis Matt, der auf dem Weg zur Kletterstange gewesen war, genau hinter ihm gestanden hatte. Liam hatte sich gebückt, um seinen Schnürsenkel zu binden, war dann abrupt hochgeschnellt und hatte seine Stirn gegen Matts Gesicht gehauen. Fast hätte man es für einen Unfall halten können — wäre da nicht das Funkeln in Liams Augen gewesen und seine atemlos hervorgestoßenen Worte: »Hier drin hilft dir keiner, Feder-Freak.« In Matts Nase hatte sich der Schmerz wie eine Feuerwerksrakete explosionsartig ausgebreitet, eine Sekunde später war Blut herausgeschossen.

Als er mit Mr Makepeace am Waschbecken im Umkleideraum ankam, hatte er aufgehört zu bluten. Matt knüllte ein Papiertaschentuch zusammen, steckte es sich in die Nase und versicherte dem Lehrer, dass sein Nasenbein nicht gebrochen sei. Er war sich zwar nicht ganz sicher, hatte aber absolut keine Lust, seine Mittagspause im Erste-Hilfe-Bereich hinter dem Sekretariat zu verbringen.

»Nir eht’s uut«, ließ er Mr Makepeace, immer noch nuschelnd, wissen. »Ich eerd nich einfach ne eile auf ie aank setzen.« Der Lehrer nickte, und Matt setzte sich hin, das rot verschmierte Handtuch in der Hand, während in seinen wunden Nasenlöchern langsam das Blut gerann. Mit dem Schmerz wusste Matt umzugehen, genau wie mit dem metallischen Geschmack im Mund und dem unangenehmen Gefühl, einen dicken Klumpen in der Nase zu haben, während er vorsichtig durch den Mund atmete. Das alles war keine große Sache für ihn. Mit seiner Wut sah das schon anders aus — sie blubberte wie Lava in ihm. Der Drang, auf Liam zuzustürzen und ihn mit dem Gesicht gegen das Sprungpferd zu knallen, war so stark, dass er zu zittern begann.

Jetzt sah Liam direkt zu ihm herüber. Da war es wieder — das breite Grinsen auf seiner fiesen, schmalen Visage. Liam machte ein paar flatternde Bewegungen mit den Armen, schüttelte den Kopf und zog eine traurige Grimasse. Keine Hilfe von den Vögelchen!, formten seine Lippen.

Matt sah hinauf zu den zwölf hohen Fenstern, vor denen sich ein klar blauer Winterhimmel zeigte. Nur in einem von ihnen war ein Vogel zu sehen. Die kleine schwarze Gestalt flatterte kurz gegen die Glasscheibe. Matt schüttelte den Kopf, woraufhin der Vogel davonflog.

Liam hatte gerade eine Rolle vorwärts gemacht, folgte beim Aufstehen jedoch Matts Blick nach oben und wurde Zeuge des kurzen Austauschs zwischen Junge und Vogel. Für den Bruchteil einer Sekunde huschte so etwas wie Fassungslosigkeit über sein Gesicht und brachte ihn aus dem Konzept. Dann schüttelte er den Kopf, grinste wieder, strich sich über den verschwitzten dunkelroten Buzzcut und lief zum Barren. Liam liebte den Barren. Sein Oberkörper war beeindruckend muskulös. Matt und er hatten schon einige Prügeleien hinter sich, die Matt gezeigt hatten, welche Boxhiebe diese Muskeln zustande brachten. Liam absolvierte einige Stützübungen, indem er sein gesamtes Körpergewicht nach oben stemmte, dann machte er eine Drehung und kam auf der Matte auf. Er sah wieder hinüber zu Matt und spannte die Bauchmuskeln an.

Matt schnaubte. Ein Fehler. Das Taschentuch fiel ihm aus der Nase, und er blutete erneut. Dieses Mal schickte Mr Makepeace ihn ins Sekretariat. »Lass das Blut nicht auf den Korridorboden tropfen«, sagte er. »Darauf kann man leicht ausrutschen.«

»Danke für Ihr Mitgefühl, Sir«, murmelte Matt. »Bin gerührt.«

Doch Mr Makepeace hatte keinerlei Sinn für Humor und kehrte zurück in die Turnhalle, wo unter den Jungen, die er zu beaufsichtigen hatte, plötzlich Geschrei ausgebrochen war. »Was ist denn jetzt schon wieder?«, rief er und stöhnte genervt auf.

Die Sekretärin zeigte schon mehr Anteilnahme. Sie führte Matt zu einem Sessel, gab ihm einen Eisbeutel und sagte, er solle eine halbe Stunde ruhig sitzen bleiben. Die Müdigkeit holte ihn ein, wie so oft nachmittags. Er schloss die Augen und döste, eingelullt vom Klacken der Computertastatur, an der die Sekretärin saß und tippte.

Letzte Nacht hatte er vielleicht vier Stunden geschlafen. Seit die Uhren wieder auf Winterzeit zurückgestellt worden waren, hatte er — genau wie Elena und Tima — mit besonderen Herausforderungen zu kämpfen. Es war nicht leicht, die zermürbende Angewohnheit zu haben, jede Nacht um exakt dieselbe Uhrzeit aufzuwachen. Aber er und seine Freunde aus dem Hellwach-Klub hatten sich nicht vorstellen können, dass die Stunden, in denen es ihnen tatsächlich vergönnt war zu schlafen, noch mehr zusammenschrumpfen könnten. Durch Thornleigh schoss ein kosmischer Strahl, der sie alle drei während der Sommerzeit jede Nacht um exakt 1:34 Uhr geweckt hatte. Erst im Morgengrauen hatten sie mit etwas Glück noch ein, zwei Stunden Schlaf bekommen, bevor es Zeit zum Frühstücken gewesen war.

Jetzt, nach der Zeitumstellung, kam der Strahl genauso pünktlich wie in jeder anderen Nacht. Nur dass er sie während der Wintermonate bereits um 0:34 Uhr weckte.

»Du siehst so aus, wie ich mich fühle«, sagte eine vertraute Stimme.

Matt war schlagartig hellwach. Die Sekretärin saß hinten im Büro und telefonierte, und vorne, an dem hohen Empfangstresen, stand Elena und füllte ein Formular aus. Während sie schrieb, fiel ihr das goldblonde Haar ins Gesicht. Matt wusste, dass die blauen Augen hinter diesem Vorhang tiefe Schatten der Erschöpfung zeigten.

»Ich wette, soooo fühlst du dich nicht …« Er lüftete das Handtuch und zeigte ihr die malträtierte Nase. Seine müde Leidensgenossin zuckte zusammen.

»Was ist passiert?«

»Liam Bassiter hat mir in der Turnhalle einen mitgegeben«, sagte Matt leise.

Elena warf ihre Haare zurück. »Er lässt dich einfach nicht in Ruhe, oder? Sicher fängt er sich bald wieder eine Suspendierung ein. Pass nur auf, dass er dich nicht mit reinreißt.«

Matt verdrehte die Augen. »Das war ein hinterhältiger Angriff. Keiner hat’s gesehen.«

Sie runzelte die Stirn. »Und du wirst ihn nicht verpetzen?«

»Nope.« Vorsichtig berührte Matt seinen Nasenrücken. Er fühlte sich noch immer geschwollen an, doch die Blutung schien endgültig gestoppt.

Elena sah zum Fenster. »Du weißt, dass du nicht —«

»Das hab ich nicht gemeint«, fauchte Matt. »Ich bin nicht blöd. So was mache ich kein zweites Mal.«

Elena atmete erleichtert auf. »Gut. Obwohl …«, sie unterdrückte ein Grinsen. »Es wäre bestimmt cool gewesen, wenn Liam Bassiter von ein paar Schnäbeln ausgeknockt worden wäre.« Dann schüttelte sie den Kopf. »Aber du weißt ja, was man über Superkräfte sagt …«

»Ja ja, spar dir die Spider-Man-Predigt«, sagte Matt. »Ich werd einen anderen Weg finden, um mich an ihm zu rächen. Dieser miese —«

In diesem Moment stürmte Mrs Grace mit besorgter Miene ins Sekretariat und rief: »Sharon! Hol einen Krankenwagen! Und schick alle Ersthelfer in die Turnhalle.«

Sharon tippte bereits die Notrufnummer ein. »Was ist denn passiert?«

»Das wissen wir noch nicht genau«, rief Mrs Grace, während sie bereits wieder den Korridor hinunterlief. »Liam Bassiter ist gerade ohnmächtig geworden.«

4

»Tima! Wo bist du? Was machst du denn?«

Spencer blickte Tima an. Beide kamen überein, dass es besser für ihn wäre, sich zu verstecken.

»Mum wird nicht begeistert sein, wenn sie dich hier entdeckt«, sagte Tima.

»TIMA! Muss ich zu dir raufkommen und dich holen?«, rief ihre Mutter von unten.

»NEEEIIIN — ich bin gleich unten!«, rief sie zurück. Sie wollte Spencer nicht allein lassen, da sie ihm gerade näher gekommen war, als sie es sich jemals hätte vorstellen können. Noch einige Monate zuvor hätte sie nicht geglaubt, dass so etwas überhaupt möglich war.

In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen, und Mum stand im Zimmer. Spencer erstarrte. Mum erstarrte. Spencer nahm seine zahlreichen Beine in die Hand und machte, dass er über den Teppich kam, während ihre Mutter auf ihn zu treten versuchte.

»MUM! NICHT!«, schrie Tima und warf sich zwischen die beiden.

Tima war sich sicher, dass ihre Mutter Spencer gekillt hätte, wenn sie ihn erwischt hätte. Nun drehte sie sich um, starrte ihre Tochter an und schüttelte den Kopf.

Tima stand vom Teppich auf und vergrub ihre Hände in den Jeanstaschen. Sie sah sich in ihrem Zimmer um. Darcey Bussell, Adele, Francesca Hayward, Ella Fitzgerald, Maddie Ziegler — überall hingen Poster von Tänzerinnen und Sängerinnen an den Wänden. Über ihrem Bett baumelten Mini-Ballettschläppchen. Ihr Lampenschirm war pink, ihr Bettbezug lila. Auf dem Regal stand eine Ballerina-Barbie. Sie musste sich selbst eingestehen, dass dieses Zimmer nicht mehr zu dem Mädchen passte, zu dem sie geworden war.

»Mum«, murmelte sie. »Es ist nicht das, wonach es aussieht.« Sie entdeckte eines von Spencers Beinen hinter dem Heizkörper und riet ihm, sich nicht von der Stelle zu rühren.

Mum schüttelte den Kopf. »Du bist allein in deinem Zimmer … und spielst mit einer Spinne. Ich denke, es ist genau das, wonach es aussieht.«

»Sein Name ist Spencer«, sagte Tima und setzte sich wieder aufs Bett. »Und er ist nicht irgendeine Spinne. Er ist … mein Freund.«

Ihre Mutter schloss kurz die Augen. »Tima … Ich weiß ja, dass du dieses … Ding mit den Insekten hast. Und das ist auch in Ordnung.«

»Spencer ist kein Insekt, er gehört zu den —«

»Spinnentieren — Arachnida! Ja, ich weiß!«, blaffte Mum. »Ich hab nicht umsonst sieben Jahre Tiermedizin studiert und bin mir durchaus im Klaren darüber, zu welcher Klasse Spinnen gehören!«

Tima verschränkte die Arme und schwieg.

»Was ich eigentlich sagen wollte, ist: Du solltest dich mit Menschen anfreunden.« Ihre Mutter setzte sich neben sie aufs Bett und nahm ihre Hand. »Mit Mädchen aus deiner Schule zum Beispiel.«

Tima zuckte zusammen. In der Schule hatte sie keine Freunde … keine richtigen. Und sie wollte auch keine. »Ich habe doch eine Freundin«, warf sie ein. »Elena ist meine Freundin.«

»Ja, ich weiß, und sie ist wunderbar. Aber Elena ist etwas älter als du, und sie geht nicht auf deine Schule und …«

»Okay, Mum, ich hab’s kapiert.« Tima stand auf und nahm ihr Handy und die glitzernde Strickjacke vom Stuhl. »Du willst, dass ich mir eine nette, piekfeine Freundin von meiner netten, piekfeinen Privatschule suche.«

Mum sah zu ihr hoch, sie wirkte verletzt. Tima fühlte sich schuldig. Sie wusste, dass ihre Mutter etwas anderes damit gemeint hatte, aber es war eine willkommene Möglichkeit gewesen, das Thema zu wechseln. »Du weißt, dass ich es anders gemeint habe«, sprach Mum in diesem Moment Timas Gedanken aus. »Ich wünschte mir einfach, du würdest weniger Zeit in deinem Zimmer verbringen, um dort mit … Arachnida zu sprechen, und dich in deiner Freizeit stattdessen mit Mädchen deines Alters treffen — oder mit Jungs! Ich hab nichts gegen Jungs … Aber dein Dad vermutlich.«

»Ist schon gut, Mum«, sagte Tima. »Ich weiß, dass ich seltsam bin. Aber ich bemühe mich, es nicht zu sein. Deswegen gehen wir heute zu Lilys Paaaaaarty.« Sie verdrehte die Augen. Glücklicherweise hellte sich die Miene ihrer Mutter auf — lachend folgte sie Tima nach draußen in den Flur und die Treppe hinunter.

»Du hast selbst gesagt, dass du wohl oder übel versuchen musst, besser mit Lily klarzukommen«, sagte Mum, während sie ihre Mäntel anzogen und das hübsch verpackte Geburtstagsgeschenk und die Karte holten. »Ihr beide harmoniert beim Singen so wunderbar miteinander. Und jetzt bittet man euch auch noch um all diese Auftritte. Ihr müsst da einfach …«

»… professionell rangehen. Ich weiß, ich weiß«, sagte Tima. »Dann bring mich mal zu Lilys Party, damit ich dir zeigen kann, wie professionell ich sein kann.«

Mum zog die Haustür hinter sich zu und ging hinüber zu ihrem Auto. Dabei warf sie ihrer Tochter einen Blick zu. »Bist du tatsächlich erst elf? Manchmal klingst du genau wie meine ältere Schwester!« Sie stiegen in den Wagen, schlossen die Türen und legten die Gurte an. »Du solltest wirklich … einfach elf Jahre alt sein«, fuhr Mum fort. »Hab Spaß. Nimm das Leben nicht so ernst.«

»Ich hab doch Spaß«, entgegnete Tima. »Es ist nur so, dass ich hin und wieder den Planeten retten muss.«

Ihre Mutter lachte. Auch Tima lachte, obwohl es nichts als die reine Wahrheit war. In den letzten Monaten hatten sie, Elena und Matt gemeinsam mit ihren Insekten- und Spinnentierfreunden die Stadt Thornleigh, sehr wahrscheinlich sogar den gesamten Planeten Erde gerettet — und das gleich zwei Mal. Manchmal fiel es ihr extrem schwer, Mum nichts von alldem zu erzählen … Doch es war unmöglich, sie einzuweihen. Ganz und gar unmöglich. Ab und zu, besonders wenn sie nachts wach lag, stellte sie es sich dennoch vor.

»Mum, Dad«, würde sie sagen und ihre Eltern bitten, sich an den Küchentisch zu setzen. »Ich weiß, dass ihr es kaum glauben werdet, aber ich habe eine Art … Superkraft.« Geduldig würden die beiden ihre Tochter anlächeln, dabei kichernd die Augen verdrehen und sich fragen, welches Spiel sie wohl gerade spielte. Dann würde Tima sagen: »Nein, ernsthaft. Ihr wisst ja, dass ich mich für Insekten und Spinnentiere interessiere … aber es ist mehr als bloßes Interesse. Es ist eine Superkraft. Ich kann mit ihnen reden. Und sie können mit mir reden. Ich bitte sie, etwas für mich zu tun — und sie tun es.« Anschließend würde Tima die Hände heben und über ihre Handflächen pusten, woraufhin 200 Schmetterlinge und Motten durch das Dachfenster hereinströmen und an der Decke akrobatische Kunststückchen vollführen würden. Mum und Dad würden dasitzen und mit offenem Mund das Geschehen verfolgen, während die Insekten wie Zirkusartisten umherwirbeln, sich in farbigen Bändern drehen und schließlich schwebend eine Reihe von Buchstaben bilden würden, bis in der Luft zu lesen wäre:

HALLO, TIMAS

MUM UND DAD!

Auf das darauf folgende verblüffte Schweigen würde Tima mit dieser Erklärung reagieren: »Seit Mai bin ich in der Lage, solche Dinge zu tun. Seit damals wache ich auch immer um 1:34 Uhr auf und treffe mich mit Elena und Matt draußen in der Dunkelheit, weil ich es nicht mehr ertragen habe, jede Nacht allein in meinem Zimmer zu liegen. Deshalb bin ich so seltsam geworden … Und übrigens: Wir drei haben zusammen die Welt gerettet. Zwei Mal.«

Das Problem war nur: Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es nach dieser Offenbarung auf irgendeine Art und Weise gut für sie weitergehen würde.

»Deiner Kleidung nach zu urteilen, hast du dir heute jedenfalls fest vorgenommen, Spaß zu haben«, sagte Mum, als sie aus der Auffahrt hinaus auf die Straße fuhren. »Du siehst bezaubernd aus.«

Tima sah an sich hinunter. Sie trug eine rote Tunika mit dazu passenden roten Strumpfhosen sowie ihre glitzernde schwarze Strickjacke und rote, glänzende Lackleder-Boots. Die Haare hatte sie zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden. Was für ein Party-Outfit! Seit einiger Zeit fühlte sie sich wohler in ihrer schwarzen Stretchjeans, einem Sweatshirt und den schwarzen Jazzschuhen — dem Look, in dem sie laut Elena aussah wie eine »professionelle Einbrecherin«. Wenn sie nachts in der Dunkelheit unterwegs waren, blieb sie darin beinahe unsichtbar. Trotzdem war es schön, sich für eine Party aufzustylen, selbst wenn es Lily Frys Party war. Und es war nett von Lily, dass sie Tima eingeladen hatte. Noch vor ein paar Monaten wäre so etwas völlig undenkbar gewesen. Erstaunlich, wie Musik es vermochte, Menschen zusammenzubringen. Vielleicht konnten sie sich nicht sonderlich leiden, aber wenn sie in der Schule zusammen sangen, klang das richtig toll. Und offensichtlich dachte Lily, dass es einen Versuch wert wäre, also: Warum nicht?

Als sie das imposante Haus erreichten, in dem Lily wohnte, war die Geburtstagsparty bereits in vollem Gang. Das Haus war riesig und von hohen Ziegelmauern umgeben, eine weitläufige Auffahrt führte zu der mit Ballons geschmückten Haustür. Im Eingangsbereich, über dem schwarz-weiß gekachelten Boden, hing ein funkelnder Kristallleuchter von der Decke. Und in einem Rahmen an der Wand, auf halber Höhe der elegant geschwungenen Marmortreppe, prangte eine stark vergrößerte Fotografie von Lily, auf der sie noch viel jünger war und unfassbar süß aussah.

»TIMA!« Lily kam durch den Flur auf sie zugelaufen, Clara und Keira, ihre besten Freundinnen, im Schlepptau. Theatralisch schlang sie die Arme um Tima. Ihr blondes Haar war mit winzigen, glitzernden Glassternchen übersät, die zu den Sternen auf ihrem rosa Kleid passten. Lily sah perfekt aus — wie eine teure Puppe. »Ich bin so froh, dass du gekommen bist! Oh, danke schön!« Sie nahm Timas Geschenk mit der Geburtstagskarte entgegen und legte es zu den anderen Präsenten, die sich bereits auf dem kunstvoll verzierten Flurtisch mit Marmorplatte türmten. »Mummy sagt, ich darf sie erst nach dem Tee öffnen«, sagte Lily. »Komm mit! Die Show fängt gleich an, danach gibt es eine Piñata und anschließend Tee und ein Buffet …«

Tima sah sich nach ihrer Mum um, die an der Haustür mit Lilys Mutter plauderte. »Nun geh schon!«, sagte Mum.

Die »Show« entsprach nicht ganz dem, was Tima erwartet hatte. Sie hatte sich einen Alleinunterhalter vorgestellt, einen Zauberer vielleicht, der Kaninchen aus einem Zylinder zog, oder einen Puppenspieler, der hinter einer aufgehängten Decke in der Zimmerecke stand. In Wahrheit war das gesamte Wohnzimmer — das zwei- oder dreimal so groß war wie bei einer normalen Familie — in ein Theater verwandelt worden. Es gab mehrere Reihen mit Zuschauerplätzen und sogar Stative mit Bühnenscheinwerfern. An einem Ende des Raumes hingen Seidenvorhänge von der Decke herab — am gegenüberliegenden Ende stand ein kleines Licht- und Tonsteuerpult.

Tima setzte sich in die Reihe hinter Lily, inmitten von etwa 40 anderen Kindern, die teils Schulfreunde, teils Verwandte des Geburtstagskindes zu sein schienen. Gerade begannen sich die Vorhänge per Fernsteuerung zu öffnen und wurden langsam und leise brummend entlang der Schienen auseinandergezogen. Als das Publikum ruhig wurde und gespannt lauschte, setzte die Musik ein. Es war die Titelmelodie von König der Löwen. Als die Vorhänge den Blick auf die Bühne vollends freigaben, blitzten plötzlich die Scheinwerfer auf. Auf der Bühne stand der vermeintliche »Alleinunterhalter« — und war genauso kostümiert und geschminkt wie Simba aus der Musicalshow König der Löwen. Tima blieb vor Staunen der Mund offen stehen, als der Mann zu den Klängen von »Der ewige Kreis« vor ein fantastisches Hintergrundbild mit aufgemalten Bäumen, Gräsern und Tieren trat. Nach der Hälfte des Liedes kamen zwei Darstellerinnen dazu, die ihn — als junge Löwinnen verkleidet — tanzend und singend unterstützten.

Tima hörte eine der Mütter flüstern: »Ja … direkt von der Musicalbühne im Londoner West End. Sie hat sie engagiert und ihre Reisekosten übernommen. Unglaublich!«

Ungläubig starrte Tima auf Lilys perfekt frisierten blonden Hinterkopf. Tatsächlich. Lilys Mutter hatte drei Darsteller der Londoner Musicaltruppe an einem Sonntagnachmittag nach Thornleigh, East Anglia, verfrachtet, damit sie auf der Geburtstagsparty ihrer elfjährigen Tochter einige Stücke aus der original West-End-Show zum Besten gaben. Was würde an Lilys zwölftem Geburtstag folgen? Würde sie eine Eislaufarena im Garten bauen lassen und dort eine Schlittschuhversion von Die Schneekönigin präsentieren?

Die Vorstellung dauerte eine halbe Stunde und war großartig. Danach ließen sich die Darsteller mit jedem, der wollte, für ein Foto ablichten. Am liebsten hätte Tima sich mit ihnen darüber unterhalten, wie ihre Karriere begonnen hatte, doch dafür blieb keine Zeit. Jetzt nämlich mussten alle Gäste für die Piñata nach draußen gehen. Lily und ihre Freundinnen hüpften wild in der Luft herum und schlugen mit Stöcken auf einen lebensgroßen Papieresel ein, der an einem Baum hing. Hin und wieder riss das Piñata-Papier auf, woraufhin ein Süßigkeitenregen auf die Kinder niederging. Dabei wurde viel gebrüllt und gestöhnt. Ganz schön rabiat für so eine coole Party, dachte Tima. Sie lief zum Haus zurück und sah Mum mit Keiras Mutter neben dem Buffet stehen. Die beiden unterhielten sich gerade.

»Wie soll ich das bloß toppen, wenn Keira elf wird«, murmelte Keiras Mum. »Das ist zweifellos alles fantastisch hier, aber …«

»… es gibt einem auch das Gefühl, nicht genug bieten zu können, nicht wahr?«, sagte Mum leise. »Bislang war ich davon ausgegangen, dass ein Schokokuss-Wettessen aufregend genug ist.«

»Über die Mitgebsel-Tüten mache ich mir am meisten Sorgen«, fuhr Keiras Mutter fort. »Ich glaube kaum, dass sie die Geburtstagsgäste hier mit einem Luftballon, einer Trillerpfeife und einem Stück Kuchen abspeisen, was meinen Sie?«

»Wohl kaum. Vermutlich haben sie eher eine Gucci-Uhr, belgische Trüffel und ein Fabergé-Ei hineingesteckt«, erwiderte Timas Mum kichernd. »Das lässt sich ganz sicher nicht toppen!«