Über das Buch

Hundertstundenwoche, sexistische Chefs aus der Hölle und Patienten wie tickende Zeitbomben — willkommen im Klinikalltag einer Unfallchirurgin

Wie fühlt es sich an, seine Hände in den Brustkorb eines Mannes zu stecken? Wann sprechen Mediziner eigentlich von einer kleinen Hafenrundfahrt? Warum macht es süchtig, bis zum Umfallen zu arbeiten? Als Dr. Müller den Dienst in der Notaufnahme antritt, wird ihr Leben zur Hölle. Erschöpft wankt sie durch die Flure zwischen abgetrennten Extremitäten, Körperflüssigkeiten und Beschimpfungen. Ihre männlichen Kollegen mobben fröhlich, sofern sie nicht gerade versuchen, sie anzumachen. Mit Herz und Humor zeigt sie die irrsinnige Realität einer Ärztin in Ausbildung. »Eines habe ich gelernt als Ärztin im Klinikalltag: Knochen, Kinder und Beziehungen zerbrechen unter zu viel Druck.«


Dr. Lieschen Müller

Oha, können Sie denn auch operieren?

Eine Unfallchirurgin erzählt aus ihrem Klinikalltag

hanserblau

1 The first cut is the deepest

In meinem Studium verbrachte ich viel Zeit mit Ärzteserien. Auf eine Lerneinheit Physiologie folgte eine Episode Emergency Room, und nach dem Beantworten von Prüfungsfragen zur Pathologie gönnte ich mir eine Folge Grey’s Anatomy. Selbst die Professoren griffen den Hype auf und diskutierten mit uns die mutmaßlichen Krankheitsbilder aus Dr. House. Das Zusammenspiel von großen Emotionen und medizinischer Korrektheit faszinierte mich.

In einer der ersten Szenen bei Grey’s Anatomy bereitet der chirurgische Chefarzt seine Ärzte in Weiterbildung auf das Spiel ihres Lebens vor. Er erzählt ihnen, dass sie in ihren folgenden Jahren bis zum Facharzt an die Grenzen ihrer Belastbarkeit getrieben werden und darüber hinaus. Die Ärzte sollen sich auf die schlimmste und beste Zeit ihres Lebens gefasst machen. Die Kollegen werden als Konkurrenten vorgestellt. Er prophezeit einigen von ihnen, dieser Belastung nicht standhalten zu können.

Obwohl ich noch nie eine Bombe im Körper eines Menschen gefunden habe und glücklicherweise nicht alle meine Kollegen bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen sind, trifft diese Szene aus der Fernsehserie meine Erfahrungen der letzten acht Jahre auf den Punkt.

Von meiner Vorstellung, als gut ausgebildete Unfallchirurgin in einer Klinik zu arbeiten, ist nach den Jahren der Assistenzarzthölle nur noch ein verkohlter Rest übrig. Meine Ideale, meine Liebe zur Medizin, mein unbändiges Interesse an der Naturwissenschaft, mein Talent für ärztliches Handwerk und meine Menschlichkeit liegen in Fetzen auf dem Boden des Gesundheitssystems.

Wahrscheinlich ist das meiner grundsätzlich viel zu positiven Einstellung zum Leben geschuldet. Nur wenn man eigentlich davon ausgeht, dass ein Mensch gut, freundlich, liebevoll, fürsorgend und gutmütig ist, kann man davon enttäuscht werden, dass die Welt von Teufeln regiert wird. Bei mir kommen zusätzlich zur grenzenlosen Naivität noch Realitätsverlust, Schlafmangel, Diskriminierungen und zu viele tote Patienten hinzu.

Warum ich immer noch Unfallchirurgin bin, kann ich mir nur durch meine antrainierte Leidensfähigkeit und meinen ungebrochenen Willen, etwas zu verändern, erklären. Vielleicht sind es auch die sechseinhalb Jahre Studium und die acht Jahre Arbeit in der Klinik, die ich bereits investiert habe.

Hier erzähle ich von dem Schock, den ich erlebte, als ich zum ersten Mal in meinem Leben vierundzwanzig Stunden am Stück arbeitete und süchtig danach wurde. Es erzählt von dem unglaublich guten Gefühl, Patienten erfolgreich zu operieren, und dem schrecklichen Gefühl, als Ärztin zu versagen. Dazu gehört nicht nur, Menschen nicht das Leben zu retten, sondern auch, ihnen nicht den würdevollen Tod ermöglichen zu können, den sie verdient hätten. Und von dem irrsinnig hohen Druck, dem Assistenzärztinnen und Assistenzärzte in ihrer Weiterbildungszeit ausgesetzt sind sowie von der Tatsache, dass sich keiner dagegen wehrt.

Als Klinikärztin wandelst du über glühende Kohlen, alles andere wäre in der Hölle auch nicht zu erwarten. Was dich darüber hinwegträgt? Die Liebe zu den Patienten eher nicht. Sie heizen das Feuer oft noch weiter an. Ich bin mittlerweile dazu übergegangen, Patienten, Ärztinnen und Ärzte in Tierkategorien einzuteilen, um effizienter durch meinen Arbeitsalltag zu kommen. Eine typisch unfallchirurgische Eigenschaft, alles klassifizieren zu müssen. Ich habe Tiere gewählt, um Menschen in einem System zu kategorisieren. Das sagt eigentlich alles. Schlimmer kann es nicht werden. Wobei ich in meinen Jahren als Ärztin gelernt habe: Es geht immer noch schlimmer.

So begegne ich Dinosauriern, Bären, Panthern, Hyänen und Mäusen. Obwohl eigentlich allen klar sein müsste, dass die Mäuse in der Unfallchirurgie meist nur auf der Durchreise sind. Meine Patienten hingegen sind Unglücksraben, manche kämpferische Löwinnen und wieder andere farbenfrohe Chamäleons. Eines wird auf diesem wilden Trip jedenfalls sehr schnell klar. Ohne Schweiß kein Preis. Ohne Schlaf in geduckter Körperhaltung, mit ausgefahrenen Ellenbogen, einige Jahre durch die Klinikflure zu hetzen, um Patienten zu behandeln, die sich auch wirklich behandeln lassen wollen, hat Konsequenzen. Am besten überlebt man diesen Dschungel, indem man sich mit Gleichgesinnten zusammenrottet, kämpft, und am Ende gewinnt der Stärkste. Natürliche Selektion, da bleibe ich als Naturwissenschaftlerin der darwinistischen Theorie ganz treu.

Als ich nach einigen Jahren ohne Sonne anfange, meine Patienten zu hassen, nachdem ich den Chef, die Verwaltung, die Krankenkassen und einige Kollegen schon längst als Voodoo-Puppen im Spind erhängt habe, hasse ich auch mich. Hilfesuchende dafür zu hassen, dass sie auf meinen Rat als ausgebildete Ärztin angewiesen sind, kann ich mir nicht verzeihen. Ohne Empathie, Moral und Ethik ist man vielleicht eine Medizinerin, aber keine gute Ärztin. Als ich mich selber nicht mehr im Spiegel wiedererkenne, gelange ich an einen Wendepunkt.

Mein Buch ist aber nicht nur die Geschichte eines Leidens- und letztendlich Triumphweges, sondern auch eine Sammlung wunderbarer und verrückter Erfahrungen. Wie fühlt es sich an, wenn du deine Hände in den Thorax eines Mannes steckst, während dir dein Baby gegen die Bauchwand klopft? Was ist die große Hafenrundfahrt? Welche Erfahrungen macht man als Frau in einem überwiegend von Männern dominierten Beruf, wie verändern sie den Blick auf das Leben?

Einerseits habe ich eine Liebeserklärung an die Menschlichkeit geschrieben, um Patientinnen und Patienten, Leserinnen und Leser für die dringend erforderliche Humanität in unserem Gesundheitssystem zu sensibilisieren. Dafür werden sie aber zunächst einen Blick auf die brutale Realität werfen müssen. Das kann zu Augenrollen, Bluthochdruck und innerlicher Unruhe führen. Deshalb ist ein Sinn für Humor und Sarkasmus zwingend notwendig. Bei Nebenwirkungen empfehle ich das intensive Gespräch mit Kollegen, Freunden, Partnern und Nachbarn. Auch Politiker bieten sich als Ansprechpartner an. Außerdem habe ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass irgendwann einmal die Tatsache, dass ich einen Busen habe, nicht mehr von Nachteil für mich sein wird.

Aus Respekt gegenüber meinen Patienten, Angehörigen und Kollegen sind die wahren Identitäten der beschriebenen Personen verändert, Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Geschehnissen wären rein zufällig.

Heute sehe ich mir übrigens keine Ärzteserien mehr an. Meine freie Zeit verbringe ich lieber in der Wirklichkeit und bestärke andere Mitstreiter*innen darin, eigene Wege zu gehen, zu kämpfen, und versuche sie daran zu erinnern, warum sie ursprünglich ihr Kreuzchen bei »Humanmedizin« gesetzt haben.

2 Die Rolle meiner Brüste —
ein Opus in 70 C

Die Fledermaushöhlen in Borneo sind wunderschöne Orte. Mächtige Naturschauspiele spielen sich dort ab. Die Erinnerungen an die unglaublichen Töne des Dschungels helfen mir noch heute bei Einschlafstörungen. Laute, faszinierende Geräusche, die sich in die Seele einbrennen — bis auf den Lärm der nervtötenden Moskitos natürlich, der einen die ganze Nacht am Schlafen hindert. Nach meiner Approbation tauchte ich ein in diese fremde Welt. Die lange Schutzkleidung klebte mir vierundzwanzig Stunden am Tag am Körper, die Haare am Kopf, und meist hatte sich irgendwo unter den Socken ein Blutegel eingeschlichen.

Einige Tage nach meinem Urlaub im prallen Leben mit der Natur saß ich entspannt in einem Büro in einer großen Klinik in Deutschland und wartete auf den Chefarzt der Abteilung für Orthopädie und Unfallchirurgie. Ich hatte die Baumwollkleidung gegen eine saubere Hose und eine gebügelte Bluse getauscht. Meine Zeugnisse waren gut, meine Empfehlungsschreiben sehr gut. Noch einige andere Abteilungen hatten mich zum Vorstellungsgespräch als Ärztin in Weiterbildung eingeladen. Bei vielen freien Stellen und wenigen Bewerbern in meinem Fachgebiet hatte ich freie Auswahl.

Zunächst wollte ich mir bei einem Hospitationstag einen Eindruck von der Struktur verschaffen, bevor ich irgendwo zusagte. Da ich mein chirurgisches PJ-Tertial in der Schweiz absolviert hatte, hatte ich keine Erfahrungen in Deutschland gemacht. PJ ist das Praktische Jahr, das letzte Jahr des Medizinstudiums vor der Approbation. Es wird vollständig in einer Klinik absolviert, vier Monate Innere Medizin und vier Monate Chirurgie sind Pflichtfächer. Die letzten vier Monate darf man sich ein Wahlfach aussuchen. In der Schweiz hatte ich nach einer exzellenten Phase der Einarbeitung als Unterassistentin weitestgehend unabhängig gearbeitet. Am Ende führte ich die kleine Notaufnahme selbstständig, lediglich für Rückfragen stand ein Arzt zur Verfügung. Auch im OP hatte ich viele Eingriffe durchführen dürfen und fühlte mich bereit für den nächsten Schritt. Nun wollte ich Unfallchirurgin werden.

Meine Motivation bekam einen ersten Dämpfer, als der Chefarzt mit einer Stunde Verspätung das Zimmer betrat. Er ließ sich auf den Stuhl vor mir fallen und betrachtete mich. »Und Sie wollen jetzt Unfallchirurgin werden? Als Frau? Sind Sie vielleicht auch anderweitig an Frauen interessiert?« Ich war ratlos. Nicht einmal Verärgerung oder Wut hätte ich in diesem Moment empfinden können. Zu unvorbereitet und naiv, blieb ich erstarrt sitzen und bejahte schließlich, dass ich gerne Unfallchirurgin werden würde. Niemals hätte ich mit dieser Frage gerechnet. Nicht nur, dass es in einem Vorstellungsgespräch unzulässig ist, nach der sexuellen Orientierung zu fragen — juristisch gesehen muss man diese Art der Fragen nicht beantworten, oder zumindest nicht wahrheitsgemäß. Nein. Warum hätte ihn das interessieren sollen?

Bis heute weiß ich nicht, ob er mich nur testen wollte, die Fragen ernst meinte oder ob es ihn einfach interessierte. Wollte er mich nur unter Stress setzen, so war ihm das gelungen. Anstatt mir seine Abteilung zu zeigen und mir das Weiterbildungskonzept vorzustellen, reduzierte er mich auf meine Brüste. Mein Interesse verflog. Eine Stunde auf einen Chefarzt warten zu müssen, erschien mir angesichts seines vollen Tagesprogramms noch einleuchtend, eine solide Begrüßung hatte ich mir aber anders vorgestellt.

Vielleicht hätte ich gleich nachfragen sollen: »Was hat meine geschlechtliche Orientierung mit dem Job hier zu tun?« Oder schlicht: »Ich glaube nicht, dass diese Frage etwas mit der Arbeitsstelle zu tun hat.« Zumindest steht das in den üblichen Ratgebern für schwierige Jobinterviews. Hätte ich mir das bloß einmal vorher durchgelesen. Wobei ich diesen Job auch mit dem Wissen aus den Ratgebern niemals angenommen hätte.

Auf meine sexuelle Orientierung folgten die Fragen zu meiner Familienplanung. »Sie werden irgendwann Kinder bekommen wollen, oder? Wie haben Sie sich das denn vorgestellt? In der Weiterbildung, oder schieben Sie das auf? Vielleicht möchten Sie ja auch gar keine Kinder bekommen?«

Das ähnelte keinem Vorstellungsgespräch, sondern eher einem Speed-Dating-Interview. Leider fehlte die Klingel, die den Wechsel des Gegenübers ankündigte. Einen rettenden Anruf einer Freundin hatte ich nicht vorbereitet und für das vorzeitige, abrupte Verlassen des Gesprächs fehlte mir der Mut. Schon als Kind und Jugendliche hatte ich beigebracht bekommen, in solchen Situationen die emotionale Komponente beiseitezustellen und mich auf die Inhalte zu konzentrieren (es funktioniert bis heute eigentlich nie, schon gar nicht, Tränen zurückzuhalten …).

Zunächst versuchte ich also, die Fragen locker zu umgehen. »Ich denke, dass ich mich mit diesem Thema beschäftige, wenn es für mich eine Rolle spielt.« — »Wann spielt es denn eine Rolle für Sie?« Er gab sich nicht so einfach zufrieden.

In dieser Situation lernte ich zum ersten Mal einen Dinosaurier kennen; ich erzähle Ihnen noch mehr dazu in Kapitel vier und, warum ich so manchen Dinosaurier dennoch vermisse. Ein Dinosaurier ist eine erhabene, riesige Persönlichkeit, die selten die kleinen Tiere am Boden hören kann. Dazu schwebt sein Kopf zu weit über der Erde. Heutzutage gibt es nur noch Überbleibsel, die meisten sind längst ausgestorben. Dieser Chefarzt jedoch war einer. Hatte er sich ein Objekt ausgesucht, würde er nicht lockerlassen, bis er den Fraß genüsslich vernichten konnte. Er biss sich fest und hakte nach. »Können Sie sich eine Schwangerschaft in der Weiterbildungszeit vorstellen?«

Mit Abstand glaube ich, dass er zu diesem Zeitpunkt, persönlich betroffen war. Möglicherweise war eine seiner angestellten Ärztinnen in Weiterbildung schwanger, oder er hatte schlechte Erfahrungen gemacht. Im besten Falle wollte er mich für das Thema sensibilisieren oder meine Ziele in Erfahrung bringen. Ob ein Vorstellungsgespräch dafür der richtige Zeitpunkt ist, bezweifle ich.

Auf solch eine Frage ehrlich zu antworten, ist schwierig. War der Dinosaurier vor mir ein interessiertes Wesen, das seinen Kopf senkte, um mich besser kennenzulernen? Oder war er einer der Flugsaurier, die nur einen kurzen Blick nach unten warfen, um das Essbare vom Ungenießbaren zu unterscheiden? Die Erfahrungen meiner bisherigen universitären Ausbildung und mein Bauchgefühl vermittelten mir eher den Eindruck eines fleischfressenden Dinos.

Davon hatte ich schon einige während meiner klinischen Semester kennengelernt. Einer dieser Herren begrüßte nur die männlichen Medizinstudenten bei der Einführungsveranstaltung. Die Frauen könne er sich sparen, die würden sowieso nur Kinder bekommen, und seine kostbare Ausbildungszeit sei an sie vollkommen verschwendet. Ein anderer fragte unsere Gruppe Studentinnen bei einer chirurgischen Lehrveranstaltung, ob wir uns verirrt hätten, und erklärte uns den Weg zur Vorlesungsreihe der Lehramtsstudierenden. Tragen Lehrerinnen heutzutage etwa weiße Kittel und die chirurgischen Leitfäden unter dem Arm? Eben.

Meine ehrliche Antwort war: »Ich weiß es nicht.« Ich bin kein Mensch der langfristigen Pläne. Aber selbst wenn, meine Antwort wäre nicht anders ausgefallen. Die Familienplanung fällt in das Gebiet meines Herzens und nicht des Kopfes. Viele Medizinerinnen entscheiden sich gleich zu Beginn ihrer Weiterbildungszeit ganz bewusst dafür, die Familienplanung auf die Zeit nach dem Facharzt aufzuschieben. Die sechs Jahre der Weiterbildung in der Orthopädie und Unfallchirurgie werden in Vollzeit absolviert, Familienplanung ist kein Thema. Einige Ärztinnen haben sogar noch konkretere Vorstellungen und wissen schon zu Beginn ihrer Assistenzarztzeit, wo und wann sie in welcher Position sein möchten. Tatsächlich lernte ich Ärzte kennen, die auf DIN-A1-Blättern ihren Weg in unterschiedlichen Farben vorgezeichnet hatten und diese Zielvereinbarungen übers Bett hefteten. Ich habe selten etwas so Deprimierendes gesehen. Jedes Mal verspürte ich einen innerlichen Zwang, irgendwo eine Abzweigung einzuzeichnen.

Diese Lebensplanungen haben in unserem System aber ihre absolute Berechtigung. Sich in Vollzeit zu hundert Prozent auf den Beruf zu konzentrieren, ist ein Vorteil. Zumindest wenn man schnell und sicher auf einen Oberarztposten kommen möchte. Der Nachteil an Hundert-Stunden-Wochen: Am Ende dieser Phase musst du dich umsehen, ob du noch Privatleben übrig hast. Aber auch das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Meine Lebensplanung war völlig offen. Ich freute mich einfach auf den Job als Ärztin in Weiterbildung.

Meine Antwort gefiel dem Dinosaurier ganz und gar nicht. Er witterte das schnelle Opfer und setzte zum letzten Mal an: »Aber Sie wollen doch Kinder haben, oder nicht?«

Seit zehn Minuten saß ich jetzt also in einem Vorstellungsgespräch für eine Stelle als Ärztin im Fach Orthopädie und Unfallchirurgie, und bisher hatte der Chefarzt mir nur unzulässige Fragen gestellt.

»Warum? Wollen Sie der Vater der Kinder werden?«

Der Dinosaurier lief rot an, und ich suchte das Weite.

Zum jetzigen Zeitpunkt meiner Ausbildung kann ich seine Fragen nachvollziehen, halte aber ein Bewerbungsgespräch nach wie vor nicht für den geeigneten Rahmen. Vielleicht bei einem Abendessen mit guten Freunden? Oder bei einem Treffen mit einem beruflichen Mentor? Unterhalte ich mich heute mit Ärztinnen, die ihre Weiterbildung gerade erst beginnen, empfehle ich ihnen, sich frühzeitig damit auseinanderzusetzen, wohin sie wollen. Allerdings setzt das voraus, dass man sich selbst kennt und weiß, was man will. Diese Entscheidungen nur mit dem Kopf zu treffen, ist möglich. Aber es macht keinen Spaß. Entscheidungen hingegen mit dem Herzen zu treffen, macht glücklich. (Ja, auch dieses Buch ist eine Herzensentscheidung. Es macht mir Freude, und es macht mich glücklich. Auch wenn es bedeutet, dass ich noch weniger schlafe als sonst.) Niemals würde ich dazu raten, DIN-A1-Plakate zu malen, auf denen die nächsten dreißig Jahre eingezeichnet sind, die keine Umwege oder Abzweigungen möglich machen.

Ärzte in Weiterbildung kennen Sie übrigens vielleicht noch als Assistenzärzte. Diese veraltete Bezeichnung ist noch häufig anzutreffen. Arzt in Weiterbildung erklärt unseren Berufsstand aber besser. Wir sind Ärzte in der Weiterbildung zum Facharzt. Dieser kleine, aber feine Unterschied bietet häufig Anlass für Diskussionen. Entweder musste ich erklären, dass ich tatsächlich Ärztin bin und nicht nur die Assistentin des »richtigen« Arztes, oder ich wurde gleich zu einer schriftlichen Stellungnahme gezwungen, warum ich denn als Assistentin ärztliche Tätigkeiten ausführen durfte. Nicht nur muss ich als Frau ohnehin schon ständig meine Kompetenzen erklären, auf dem Weg zum Facharzt ging es dann eben auch häufig noch zusätzlich um meine Berufsbezeichnung.

Arzt ist man nach einem sechsjährigen Studium, früher zwei, heute drei, Staatsexamen und der ausgestellten Approbation. Die Weiterbildungszeit beträgt je nach Art des Facharztes fünf bis sechs Jahre in Vollzeit. Innerhalb dieser Zeit sollte man die Fertigkeiten eines Facharztes erworben haben. Es gibt Ärzte in Weiterbildung, die nach vier Jahren eigentlich schon facharztreif sind, weil sie optimal weitergebildet werden, talentiert und fleißig sind. Dann müssen sie natürlich trotzdem warten, bis die offizielle Weiterbildungszeit beendet ist, um in einer Prüfung bei der zuständigen Landesärztekammer die Qualifikation des Facharztes zu erwerben. Das ist zugegebenermaßen ein sehr kleiner Anteil der Ärzte in Weiterbildung. Andere wiederum sind nach sieben oder acht Jahren noch nicht facharztreif.

Ich kenne Ärzte, die ihr Leben lang ohne Facharztqualifikation in Kliniken arbeiten. Meist wechseln langjährige Ärzte in Weiterbildung mehrere Male die Fachrichtung, arbeiten in unterschiedlichen Fachabteilungen und verlieren irgendwann den Ehrgeiz, in einem Fach die Prüfung abzulegen. Manche scheuen sich auch vor der Verantwortung. Im Zuge der immer schlechter werdenden Weiterbildung ist das gar nicht so selten. Viele Ärzte in meinem Fachgebiet fühlen sich nach sechs Jahren nicht ausreichend vorbereitet, um als Facharzt zu arbeiten. Dann nämlich bist du selbst verantwortlich und kannst dich nicht auf die Verantwortlichkeit eines Oberarztes verlassen. Unter uns Ärzten in den chirurgischen Fächern heißt es umgangssprachlich ohnehin »Operieren lernst du erst als Facharzt«.

Ohne Oberarzt am OP-Tisch zu stehen, ohne Back-up und ohne jemanden zu operieren, der schon alles wieder richten wird, ist eine ganz andere Sache, als als Arzt in Weiterbildung zu operieren. Als Arzt in Weiterbildung hat man mindestens sechs Jahre eine helfende Hand, einen Facharzt, der zwischendurch eingreift oder Operationsschritte übernimmt, mitdenkt oder sogar die Operation leitet. Als Facharzt ist man der Verantwortliche und muss selbst die helfende Hand sein. Man muss anleiten und leiten, wissen und sicher sein. Gut operieren kann man nur, wenn man viel operiert und eigene Erfahrungen macht. Hilft einem in jeder Situation ein erfahrener Facharzt am OP-Tisch, ist das sicherlich schneller und angenehm. Aber ab einem gewissen Zeitpunkt muss man selbst schwimmen lernen.

Im Prinzip ist dieser Schritt gar nicht anders als der vom Medizinstudent zum Arzt. Als Studentin im praktischen Jahr, dem letzten Abschnitt des Studiums, ging es mir ähnlich wie in der Zeit kurz vor dem Facharzt. Irgendwann wollte ich nicht immer einen Arzt um die Bestätigung meiner Diagnose bitten und rückfragen müssen, ob mein Therapievorschlag passt. Als Ärztin in Weiterbildung kurz vor der Facharztprüfung möchte ich nicht für jede Indikationsstellung einer OP einen Facharzt hinzuziehen. Als Kind hatte ich Angst vor Wasser. Es war mir etwas unheimlich, dorthin zu gehen, wo ich nicht mehr stehen konnte, aber mit den Schwimmflügeln ging es ganz gut. Aber den Schwimmring unter Wasser konnte ich erst dann holen, als ich die Schwimmflügel auszog und schwimmen lernte.

Dieses erste Vorstellungsgespräch veränderte mich. Es holte mich von meiner medizinischen Euphorie — und Motivationswolke zurück auf den Boden der menschlichen Tatsachen.

61 Prozent der Medizinstudierenden sind Frauen. Nur 23 Prozent der Ärztinnen in Weiterbildung in der Unfallchirurgie sind Frauen. Bei den ausgebildeten Fachärztinnen sind es nur noch 14 Prozent. Ich stand bis heute noch nie mit einer unfallchirurgischen Oberärztin am OP-Tisch. Es war also unmöglich zu ignorieren, dass ich als Frau in diesem Fachgebiet in der Minderheit war.

Auf dem Heimweg des Vorstellungsgesprächs betrachtete ich mich im Autospiegel. Meine Wangen waren vor Wut rot angelaufen. Ansonsten sah ich aus wie immer. Ich bin durchschnittlich hübsch, habe eine durchschnittlich gute Figur und durchschnittlich große Brüste, die ganz unspektakulär hauptsächlich aus Fett bestehen und meist gut eingepackt sind. Ich habe sie meinen X-Chromosomen zu verdanken. Natürlich kannte ich die großen Ausschnitte einiger Kommilitoninnen bei den Prüfungen an der Uni. An ein Anatomietestat erinnere ich mich noch, als ob es gestern gewesen wäre. Der Blick des Anatomiedozenten versenkte sich während der Stunde unwiederbringlich im Ausschnitt der Kommilitonin. Ihre Antworten waren alle »fast« richtig und führten zu einer »notwendigen« Nachholstunde unter vier Augen. Während der Famulaturen hatte ich immer wieder Ärztinnen in Weiterbildung getroffen, die ihre Weiblichkeit offen für ein berufliches Vorankommen einsetzten. Mit Weiblichkeit meine ich allerdings die Brüste und nicht die hervorragenden Kompetenzen von Frauen in der Medizinerwelt. Aber das sollte ich erst in ein paar Jahren lernen (mehr dazu im Epilog).

Nach diesem Vorstellungsgespräch war klar für mich: Damit musste ich in einem Männerberuf umgehen lernen, wenn ich meinen Traum der Unfallchirurgie verwirklichen wollte. War es mir möglich, über solche Fragen hinwegzusehen? Konnte ich die Sprüche ertragen? Musste ich nun meine Weiblichkeit verstecken und männliches Verhalten imitieren? Oder vorgeben, lesbisch zu sein? Bis heute habe ich noch keinen Kollegen kennengelernt, der jemals in einem Vorstellungsgespräch gefragt wurde, ob er einmal Kinder haben möchte. Aber meine weibliche Seite gehört nun mal zu mir, und heute weiß ich, dass ich daraus eine große Stärke ziehe.

Für das nächste Vorstellungsgespräch bereitete ich mich besser vor. Die Frage nach meiner Familienplanung kam nicht auf. Auch sonst war es ein angenehmer Gesprächsrahmen. In der Abteilung waren ein Chefarzt, vier Oberärzte, zwei Funktionsoberärzte — die haben die gleichen Aufgaben wie Oberärzte, aber keine Planstellen — und vierzehn Ärzte in Weiterbildung angestellt. Immerhin sollte ich auch zwei Kolleginnen haben.

Während des Hospitationstags lernte ich Kollegin Schönauge kennen. Eine sympathische, freundliche Frau, die nur wenige Jahre älter als ich war. Sie begrüßte mich erfreut und zeigte mir die Räumlichkeiten. Gleich fühlte ich mich aufgehoben und nicht mehr ganz so allein in diesem männerdominierten Fach. Außerdem erzählte sie mir, vor welchem Oberarzt ich mich in Acht nehmen musste: Oberarzt Superwichtig. Nichts geht ohne ihn. Gar nichts. Schon allein der Gedanke daran, dass er etwas nicht kontrollieren könnte, verursacht bei ihm Juckreiz und Bluthochdruck. Am besten bewegt man sich unter seinem Radar, was ich natürlich praktisch nie schaffe, weil er gerne ausflippte. Und welchem Kollegen ich auf die Finger klopfen musste: Kollege McSexy, dessen Gehirn meist in der Hose und nicht im Kopf zu finden war.

Tatsächlich hatte ich in meiner Anfangszeit mit Kollege McSexy meine Probleme. Da es keine getrennten Personalumkleiden gab, zogen wir uns morgens alle im Arztzimmer um. McSexy konnte sich seine Kommentare zu meiner Unterwäsche selten verkneifen. Egal in welcher Farbe hatte er einen passenden Spruch parat (»Hast du heute noch etwas vor? Das Schwarz steht dir.« — »Blümchen? Bist du unter die Romantikerinnen gegangen?« — »Weiß heute? Wirklich? Bist du so unschuldig, oder tust du nur so?«).

Stand ich den ganzen Tag im Operationssaal zog ich mir an manchen Tagen Stützstrümpfe gegen die Krampfadern an, wie übrigens viele Kollegen. Selbst die braune Farbe hinderte ihn nicht daran, lustvoll im Hintergrund zu stöhnen. Die anderen Frauen in meiner Abteilung rollten stets mit den Augen und ignorierten die Kommentare. Es brachte auch nichts, ihn auf seine Unterwäsche anzusprechen. Allein Kollege Oberfeldwebel, der mal Soldat war, sorgte mit »Lass den Scheiß« oder »Halt die Klappe« meist für ein schnelles Ende dieser einseitigen Unterhaltungen. Als eines Morgens Oberarzt Superwichtig in das Arztzimmer stürmte, verstörte ihn der Anblick zweier halb angezogener Ärztinnen so sehr, dass es urplötzlich doch noch einen Raum im Krankenhaus gab, der ab sofort uns Frauen zur Verfügung gestellt wurde. Nicht, dass wir nicht bereits Telefonate, E-Mails und Briefe geschrieben hätten. Tonnenweise.

McSexy erlebte seine verstörende Epiphanie übrigens erst einige Jahre später. Die neue Damenumkleide war gleichzeitig das Dienstzimmer für die Rufbereitschaft, die dort entweder im Anschluss schlafen konnte — oder ohnehin, weil die Person zu weit weg vom Krankenhaus wohnte. Als ich mich dort eines Morgens umzog, in der 30. Woche schwanger mit mütterlichem Vorbau, der die 70 C weit übertraf, und einer riesigen Schwangerschaftskugel, öffnete McSexy die Tür. Er erstarrte, lief rot an und suchte schleunigst das Weite.

Auch ansonsten mühten sich meine Kollegen ab, meine Brüste zu thematisieren. In meinen ersten Vierundzwanzig-Stunden-Diensten hatte ich leider häufiger mit einem Kollegen der Allgemeinchirurgie Dienst, der anscheinend schon länger keinen sexy Spaß mehr gehabt hatte. Nach Hundert-Stunden-Wochen ist es tatsächlich sehr wahrscheinlich, dass er einzig mit sich selbst Spaß hatte, aber das ist ein anderes Thema. Innerhalb der ersten Wochen wurde ich überzufällig häufig zu Patienten gerufen, die einen »Unfall« gehabt hatten. Wer auf einen Dildo, eine mit Kondom überzogene Karotte oder Aubergine stürzt, hat zumeist kein unfallchirurgisches Problem. Es ist ganz typischerweise ein Fall für die Proktologie oder Allgemeinchirurgie, sofern der Fremdkörper sich nicht einfach wieder entfernen lässt. Die Anamnese ist allerdings gar nicht so einfach. Viele Patienten können nicht mehr richtig laufen und scheinen ihre Sprache verloren zu haben. Manche finden ihre Sprache auch erst dann wieder, wenn man die Angehörigen aus dem Untersuchungszimmer herauskomplimentiert. Andere Patienten finden es in dieser Situation noch unangenehmer, sich einer Frau offenbaren zu müssen als einem männlichen Arzt. Nicht selten führt das zu allerlei überflüssiger Diagnostik, bis wir die Ursache gefunden haben. Nachdem ich zum dritten Mal zu einem solchen »Unfall« gerufen wurde und der Allgemeinchirurg zusammen mit dem Gefäßchirurgen feixend in der Ecke der Notaufnahme herumlungerte, suchte ich mir eine Packung Vaseline und marschierte auf die Herren zu.

»Du scheinst ja einen außerordentlich großen Spaß daran zu haben, mich mit Herren bekannt zu machen, die ein Sexspielzeug in ihren Körperöffnungen vergessen haben. Hast du vielleicht selbst Interesse daran? Ich hätte hier eine große Packung Vaseline. Dann rutscht es leichter. Nicht, dass du nachher noch meine Hilfe brauchst, nicht wahr? Aber du kannst dir gerne ein paar Tipps von dem Herren in Kabine eins holen.« Es kam nicht wieder vor.

Das Eintreffen einer neuen Unfallchirurgin scheint bei einigen Kollegen einfach den Jagdinstinkt auszulösen. Nach wenigen Wochen fing ich bei jeder Gelegenheit an, die Fotos meines groß gewachsenen Freundes zu präsentieren. Überraschenderweise wurde ich bald deutlich weniger in der Cafeteria angequatscht. Schnell stellte ich fest, dass dieser arbeitswütige Haufen Ärzte, tatsächlich wenig Berührung mit der Außenwelt hatte. »Berührung« im wahrsten Sinne des Wortes, da sie fast die ganze Zeit arbeiteten. Die Liebschaften innerhalb des Krankenhauses waren zahlreich. Sie wechselten so schnell, dass ich gar nicht mehr hinterherkam. McSexy stellte natürlich alle in den Schatten. Keine Frau schien vor ihm sicher zu sein.

Nicht selten unterhielten sich die männlichen Kollegen im Arztzimmer über die Sexpraktiken der Liebschaften der Nacht zuvor (vermutlich hauptsächlich Wunschvorstellungen, aber was weiß ich schon), tauschten die widerlichsten Pornovideos und die besten Anmachsprüche aus. Liebe Frauen, ich sage es nur ungern. Aber diese »Ich bin Arzt«-Masche, sie ist tatsächlich langjährig trainiert. Bitte beachten Sie das bei den abendlichen Bekanntschaften. Natürlich gibt es auch Ausnahmen, aber deren erster Satz ist meist nicht »Ich bin Arzt. Hättest du Lust auf eine kostenlose Untersuchung?«.

Als ich mich nach einiger Zeit von meinem Nicht-Mediziner-Freund trennte (wie lange denken Sie, dass eine Beziehung hält, die eigentlich nur noch am Telefon stattfindet? Ähm. Ja, genau.), verbreitete sich die Information wie ein Lauffeuer. Die einzige Möglichkeit, die ich nach ganzen vier Tagen sah, war, mir einen neuen Freund zuzulegen. Martin, erfolgreicher Banker mit einem Hang zum Kraftsport — und natürlich erfunden. Entschuldigt bitte, lieben Kollegen, aber dachtet ihr ernsthaft, ich hätte mehr Zeit gehabt für die Partnersuche als ihr? Die permanenten Annäherungsversuche waren unerträglich, die Versuche der Partnervermittlung noch viel anstrengender. Manchmal wünschte ich mir tatsächlich, lesbisch zu sein. Nach Martin wurde es richtiggehend angenehm. Die Anmachsprüche der Kollegen wurden mit der Zeit zu liebevollen Frotzeleien, und sie integrierten mich in ihr Team. Wir Frauen formierten uns als Freundinnen zum Pferdestehlen und legten uns ein Repertoire an lustigen Antwortmöglichkeiten für schlüpfrige Wortspielereien zu. Wir Frauen durften nicht alle anzüglichen Wortspielereien auf die Goldwaage legen, und die Männer mussten lernen, ihre Pornovideos nur untereinander auszutauschen. Manche Bilder kann ich leider bis heute nicht vergessen.

In meinem Arbeitsalltag sollte ich nie vergessen, dass ich als Frau in der Unfallchirurgie arbeitete. Selbst mit weißem Kittel bekleidet stellt es für viele Patienten eine riesige Herausforderung dar, eine Unfallchirurgin über die Folie des kräftig gebauten, Hammer schwingenden, weißbärtigen, älteren Arztes zu legen. Es kann also vorkommen, dass ich wild wedelnd im Schockraum stehe, um darauf aufmerksam zu machen, dass ich die Leiterin des Notfallteams bin. Vielleicht sollte ich mir einfach einen Bart ankleben.

Mittlerweile bin ich dazu übergegangen, meinen weißen Kittel nicht nur anzuziehen, sondern auch lästigerweise zuzuknöpfen, sollte ich in ein wichtiges Gespräch gehen — und ja, verdammt, diese Kittel sind einfach nur unpraktisch, unhygienisch, und es ist heiß darunter. Ansonsten platziere ich mein Namensschild mit dem Doktortitel auf meiner Kitteltasche auf Brusthöhe und erwähne ihn penibel bei der Vorstellung. Zur Not zeige ich auch noch auf mein Namensschild, um Missverständnissen vorzubeugen. Das ist allerdings selten notwendig. Die meisten Menschen im Krankenhaus suchen ohnehin die ganze Zeit den Kittel mit den Augen ab, um den zuständigen Ansprechpartner zu finden. Grundsätzlich erntet man gehobene Augenbrauen und überraschte Gesichter. Ich nehme an, dass das mit zunehmendem Alter weiter abnehmen wird, und freue mich über ein paar Falten im Gesicht. Es erleichtert mir die Arbeit ungemein.

»Sie sind die Ärztin?« — »Oha, können Sie denn auch operieren?« — »Also, so mit Skalpell und Hammer?«: Klassiker.

Während der Visite stelle ich mich ebenfalls förmlich vor. Ja. Es nervt. Vierzig Patienten zu erklären, dass die Visite heute aus mehreren Frauen besteht und der Operateur ebenfalls die Frau war, das dauert. Aber sich diese Zeit zu nehmen, erspart einem einige schriftliche Stellungnahmen bei der Verwaltung. Sie werden nicht glauben, wie viele Briefe ich in meinen ersten Jahren schreiben musste zum Thema »Die ganze Woche war kein einziger Arzt da«. Oder: »Während meines stationären Aufenthaltes habe ich nie einen Arzt gesehen.«

Tja. Das stimmte meistens. Denn der Arzt war eine Frau. Die Anekdoten zum Thema Ärztinnen in der Medizin sind zahlreich. Sie könnten selbst ein ganzes Buch füllen. Böse bin ich den Patienten deshalb übrigens nicht. Meist spiele ich mit diesen Stereotypen, das macht unheimlich Spaß. Viele machen halt zum ersten Mal diese Erfahrung. Die Patienten, die häufiger im Krankenhaus sind, haben sich daran gewöhnt.

Immerhin bleibt als letzter Ansprechpartner ja noch der Oberarzt oder der Chefarzt übrig. Das ist dann auch meistens ein Mann. Wie gesagt, in meiner Laufbahn hatte ich noch nie eine Frau als Oberärztin oder als Chefärztin.

Bei vielen Patienten hilft aber alles Erklären nichts. Sich von einer Unfallchirurgin behandeln zu lassen, passt bei manchen einfach nicht ins Gesamtbild.

Ganz genau erinnere ich mich noch an Herrn R. Er lag mit einem gebrochenen Sprunggelenk auf meiner Station. Seine Frau, ein zartes Geschöpf, brachte ihm jeden Tag den Kuchen, das Abendbier und die Zeitung vorbei. Sein Sprunggelenk musste bis zur Operation abschwellen. Also: hochlagern und kühlen. Herr R. war allerdings zu beschäftigt dafür. Denn er musste circa zwanzigmal am Tag »frische Luft schnappen« und pünktlich zum Mittagsbierchen in die Cafeteria, dann verließen die hübschen, jungen Krankenschwestern das Krankenhaus.

Von Visite zu Visite wurde er ungehaltener.

»Nein, Herr R., wir können heute nicht operieren, die Haut über ihrem Sprunggelenk geht auf wie eine Wurstpelle. Nur eben nicht wieder zu.«

»Nein, Herr R., Sie dürfen nicht zum Rauchen gefahren werden, ihr Nikotinkonsum schadet massiv der Durchblutung.«

»Ich weiß, dass Sie keine Schmerzen haben, wie war denn Ihr Zucker heute Morgen?« (Menschen mit Diabetes haben häufig ein herabgesetztes Schmerzempfinden.)

Generell fand Herr R. alles doof.

Nach jeder Visite war sein Blutdruck noch ein bisschen höher, während der Gespräche konnte man an seiner Gesichtsfarbe ablesen, wie viele Sekunden es noch dauerte, bis er explodierte. Das Krankenhausessen war nicht genießbar, die Abendruhe viel zu früh und die Morgenvisite viel zu spät. Außerdem habe er ja nicht mal einen richtigen Arzt zu Gesicht bekommen.

»Entschuldigen Sie, Frau Doktor, ich meine so einen richtigen Arzt.« Ja, nee, klar. Also schickte ich den Kollegen Oberfeldwebel. Er war groß und breitschultrig in seinem schneeweißen Arztkittel mit den schicken Schuhen. Er erklärte Herrn R. erneut, dass es mit der OP nichts würde, solange die Schwellung so stark war.

Herr R. ließ anschließend nach mir klingeln. Er habe den Herrn Doktor nun verstanden, aber er habe ja nicht einmal erzählen können, wie unmöglich ihn die Nachtschwester behandelt habe.

Als ich ihn für die OP vorbereitete, fragte er, wann denn der Doktor komme, der ihn operieren würde. Ich sagte: »Das bin ich.« Er lachte. Der richtige Doktor, der mit dem Messer. Mein Augenrollen konnte ich zwar nicht unterdrücken, aber ich holte unseren Oberarzt Graubart hinzu: groß, weißbärtig, Schultern wie ein Ochse. Herr R. war zufrieden.

Im OP hatte der Oberarzt kein einziges Mal das Skalpell in der Hand. Er überwachte mein Tun. Das Sprunggelenk von Herrn R. operierte nämlich die Frau Doktor.

Herrn R. hatte kein Sexismusproblem. Es kostete ihn einfach etwas Zeit, sich an die veränderten Gegebenheiten anzupassen. Am Ende seiner Krankenhausbehandlung bedankte er sich bei mir und versprach, das mit dem messerwedelnden Chirurgen noch einmal zu überdenken. Eine große Überraschung für mich.

Aber natürlich gibt es auch Patienten, die ein richtiges Problem mit Frauen in der Medizin haben. Wahrscheinlich auch generell ein Problem mit Frauen.

Herr A. zum Beispiel. Für ihn entsprangen alle Frauen im Krankenhaus einer pornografischen Episode mit leicht bekleideten Krankenschwestern. Er verpackte seinen Sexismus in Witze über erigierte Penisse oder erzählte frauenverachtende Anekdoten. Je mehr Kontrolle über seine Erkrankung er an mich abgeben musste, desto aggressiver wurde er. Sich auf meine Expertise einzulassen, war ihm faktisch unmöglich. Er hatte sich seinen Unterschenkel gebrochen. Der Unterschenkel wurde mit einem Fixateur externe zunächst ruhiggestellt, da die Weichteile stark beschädigt waren. Googeln Sie einfach. Sie werden lauter erschreckende Bilder von Gestellen außerhalb der Haut finden. Drähte und Nägel halten die gebrochenen Knochen an der richtigen Stelle, verlängern sich aus der Haut und werden außerhalb der Extremität an einem Gestell fixiert. Unzählige operative Eingriffe folgten, um die Wunden und Weichteile zu säubern. Nur so hatte er eine Chance auf Heilung. Wochenlang befand sich A. auf meiner Station. Wenn ein Mann mit ihm auf dem Zimmer lag, geriet das Wechseln des Verbands zur Tortur. Er versuchte sich regelrecht mit den Mitpatienten zu verbrüdern, haute einen sexistischen Witz nach dem anderen raus.

Bis heute bin ich überzeugt, dass er Angst vor mir hatte. In meine Hand zu legen, ob er seinen Unterschenkel behalten würde oder nicht, machte ihn wahnsinnig. Einer Frau zu vertrauen, unmöglich. Meine Hilfe anzunehmen, stellte ihn vor ein riesiges Dilemma. Erlitten wir in der Therapie einen Rückschritt, mussten wir die Wunde noch einmal ein Stück öffnen und erneute einen Schwamm einlegen, um sie im nächsten Schritt stückweise verschließen zu können, war die Schuldige schnell gefunden. Nichts anderes konnte man von einer Frau erwarten. Ständig zitierte ich Kollege Oberfeldwebel oder Oberarzt Graubart zu ihm. Einmal sprach ich ihn direkt darauf an. Seine Angst vor dem Verlust des Beines verstand ich. Seine Männlichkeitsdemonstration und die permanenten sexistischen Kommentare jedoch konnte ich nicht tolerieren. Auf seine Angst und Hilfsbedürftigkeit angesprochen, reagierte er peinlich berührt.

Die Gesundheits- und Krankenpflegerinnen feierten ein Fest, als er mit heilenden Wunden und heilendem Unterschenkelknochen die Station verließ. Sie hatten ihm auch mehrfach auf seine grapschenden Finger schlagen müssen.

Heute fällt mir der Umgang mit diesen sexistischen Verhaltensweisen einfacher. Besteht kein Vertrauensverhältnis, kann ich die Behandlung nicht durchführen. Sollte ein Patient nicht in der Lage sein, sich von einer Frau behandeln zu lassen, hat er die freie Arztwahl. Manchmal genügt es aber auch, die Angst und Hilfsbedürftigkeit als Problem anzusprechen. Ängste zuzulassen und darüber zu reden, scheint bei vielen Männern immer noch ein großes Tabu zu sein.

Und dann gab es da zum Beispiel Herrn J. Er hatte sich eine Einblutung an der Leiste zugezogen — der Fahrradlenker, die übliche Anamnese. Wir mussten ihm einen Verband um die Hüfte anlegen, da sich bereits ein großer Bluterguss gebildet hatte, den wir in den nächsten Tagen entfernen mussten.

Die Anlage ist lästig, sie dauert ein paar Minuten und ist für den Patienten nicht immer angenehm. Der Verband wird um die Hüften, Leisten und den betroffenen Oberschenkel gewickelt. Die Unterhose musste runter. Um nicht wegen Belästigung angeklagt zu werden, erklärte ich dem Patienten mein Vorgehen.