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Nr. 3072

 

Der Ilt muss sterben!

 

Gucky auf der Ausweglosen Straße – und im Bann des cairanischen Para-Schocks

 

Leo Lukas

 

 

 

PERRY RHODAN KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

Prolog: Das Unfassbare

1. Ein teurer Sieg

2. Stolz und Vorverurteilung

3. Zeitfenster

4. Eine merkwürdige Visite

5. Weltraumtheater

6. Der Wettstreit um die Gehörnten

7. Unter Dauerdruck

8. Die verbotene Wahrheit

9. Die Erstürmung

10. Der Appell der Konstrukteurin

11. Anschläge

12. Der Absturz

13. Der Para-Hammer

Epilog: Kondolenz per Hyperfunk

Leseprobe PR NEO 230 – Oliver Plaschka – Ruf des Dunkels

Vorwort

1. Willkommen

2. Ein Sessel am See

Gespannt darauf, wie es weitergeht?

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Mehr als 3000 Jahre in der Zukunft: Längst verstehen sich die Menschen als Terraner, die ihre Erde und das Sonnensystem hinter sich gelassen haben. In der Unendlichkeit des Alls treffen sie auf Außerirdische aller Art. Ihre Nachkommen haben Tausende Welten besiedelt, zahlreiche Raumschiffe fliegen bis zu den entlegensten Sternen.

Perry Rhodan ist der Mensch, der von Anfang an mit den Erdbewohnern ins All vorgestoßen ist. Nun steht er vor seiner vielleicht größten Herausforderung: Er wurde vorwärts durch die Zeit katapultiert und findet sich in einem Umfeld, das nicht nur Terra vergessen zu haben scheint, sondern in dem eine sogenannte Datensintflut fast alle historischen Dokumente entwertet hat.

Nachdem er in der fernen Galaxis Ancaisin einen Weg fand, die sogenannte Zerozone zu betreten und womöglich eine Fährte Terras zu finden, begibt sich sein Raumschiff RAS TSCHUBAI ohne ihn auf den weiten Rückweg in die Milchstraße. Mit sich nimmt die Besatzung die Erkenntnis, dass die Cairaner, die sich als Herrscher der Heimatgalaxis aufspielen, nichts anderes sind als Flüchtlinge vor einer weitaus schrecklicheren Gefahr: den Phersunen und ihrer Schutzmacht, der »Kandidatin Phaatom«.

In der Milchstraße hat Atlan von einer angeblichen Enkelin erfahren. Bei seinem Versuch, sie aus den Händen von Entführern zu befreien, geht aber alles schief, und auch Gucky fällt in die Hände des Feindes. Als Atlan sie verfolgt, scheint es für sie nur noch ein Ziel zu geben: DER ILT MUSS STERBEN!

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Atlan da Gonozal – Der Arkonide gibt sein Bestes, um einen alten Freund zu retten.

Lionel Obioma – Der Hyperphysiker versucht, die Winkelzüge der Cairaner zu durchschauen.

Fligglirt Kernpech – Die Gebietsdienerin kämpft gegen das ihr zugedachte Schicksal an.

Ly und Genner – Die Tomopaten verfolgen ihre höchst eigenen Pläne.

Reginald Bull – Der Resident der Liga Freier Terraner erhält gute und schlechte Nachrichten.

»Wird der Träger eines Zellaktivatorchips gewaltsam getötet und kann definitiv nicht mehr wiederbelebt werden, so entsteht am Ort des Todes aus dem Chip die Projektion einer kleinen Spiralgalaxis. Dieses Abbild dehnt sich immer weiter aus, bis es scheinbar die gesamte Milchstraße umfasst und schließlich verpufft.

Derselbe Effekt tritt ein, wenn ein Zellaktivatorträger freiwillig seine Körperlichkeit aufgibt.«

(Encyclopaedia Terrania, aus den Datenspeichern der RAS TSCHUBAI)

 

 

Prolog

Das Unfassbare

Atlan, 14. Juni 2046 NGZ

 

Ich kann es nicht glauben.

Ich will es nicht wahrhaben und muss mich doch der Tatsache stellen: Gucky ist tot.

Himmel und Hölle würde ich in Bewegung setzen, um das Gegenteil zu beweisen. Was ich an Einsatzkräften zu mobilisieren vermag, würde ich mobilisieren – wenn ich nicht selbst Zeuge der Ermordung gewesen wäre und den Leichnam des alten, treuen Freundes geborgen hätte.

Gucky ist tot.

Ich begreife es nicht.

Mein Logiksektor, sonst nie um eine korrigierende Belehrung verlegen, schweigt. Widerspruchslos. Völlig perplex, seit vielen Stunden.

Wir trauern.

Wir trauern um Gucky, den Ilt, den Mausbiber.

Um Gucky, der wie kein anderer, ausgenommen höchstens Perry Rhodan und Reginald Bull, für den ewigen Optimismus der Terraner stand, seit die Menschheit zu den Sternen aufgebrochen ist: dass sich letztlich, trotz noch so furchtbarer Bedrohungen und gnadenlos überlegener Feinde, alles zum Guten wenden würde.

Mit Gucky ist mehr gestorben ...

... mehr als ein knapp über einen Meter großes, äußerlich unscheinbar bis putzig wirkendes, ungemein liebenswertes Wesen mit seidigem, rötlich schimmerndem Pelz, einem Biberschwanz, dem Kopf einer Maus, einem einzigen Nagezahn ... und deutlichem Übergewicht, das eine meist watschelnde Gehweise bedingte.

... mehr als der aktuell stärkste bekannte Psi-Begabte. Der über die einzigartig stark ausgeprägten Fähigkeiten der Telepathie, Telekinese und Teleportation verfügte. Der sich so sehr wünschte, wir würden in naher Zukunft ein neues Para-Korps zusammenstellen, selbstverständlich mit ihm als Zentral- und Leitfigur.

... viel mehr.

Mit Gucky starb die Leichtigkeit; die Unverdrossenheit; der Humor selbst in prekären, scheinbar ausweglosen Situationen. Mit ihm starb – ich will es nicht hinnehmen und muss es doch akzeptieren! – die Hoffnung auf ein glückliches Ende unserer Bemühungen von Anfang an.

Ich schreibe diese Zeilen als Entwurf eines Nachrufs. Einer Leichenrede, die ich demnächst halten werde.

Wer sonst könnte dies tun, da Perry Rhodan nicht anwesend ist und Bully mich gebeten hat, ihm diese Aufgabe abzunehmen? Müßig zu erwähnen, wie schwer sie mir fällt.

Meine Sicht verschwimmt immer wieder. Tränen tropfen, strömen durch die holografische Tastatur.

Die Augen von uns Arkoniden sondern oft Sekretflüssigkeit ab, aus Erregung, auch bei weit weniger einschneidenden Anlässen. Momentan aber bin ich nicht bloß erschrocken oder in anderer Weise emotional gefordert.

Sondern ich weine. Haltlos. Ich schluchze.

Lass es zu, bestätigt mich eine innere Stimme. Ich weiß nicht einmal, ob es meine eigenen, persönlichen Gedanken sind oder die des Extrasinns. Lass es raus!

Gucky ist tot.

Ich fasse es nicht.

Der selbst ernannte »Retter des Universums« ist nicht mehr. Nie wieder wird er große Sprüche klopfen, an einer Mohrrübe kauen und gleichzeitig ganze Roboterarmeen an den umliegenden Wänden zerschellen lassen, als wäre nichts dabei.

Nie wieder wird er die Fäustchen in die Hüfte stemmen, am Besprechungstisch emporschweben, die kurzen Beine untergeschlagen, und verkünden, dass der nächste Hochrisikoeinsatz garantiert nur mit ihm Erfolg versprechen könne. Nie wieder wird er bald darauf beweisen, dass er recht hatte.

Nie wieder ...

Ich mag es nicht wahrhaben, und doch ist es traurige Gewissheit: Wir werden in Zukunft ohne Gucky zurechtkommen müssen.

Aber was wird das für eine Zukunft sein, ohne Gucky?

1.

Ein teurer Sieg

20 Stunden vor null

 

Reginald Bull stand auf dem Balkon seines Arbeitszimmers in der Solaren Residenz. Er hatte die Hände auf die Brüstung gestützt und blickte über die Doppelstadt aus Genzez und Neu-Terrania.

Kaum eine Wolke zeigte sich am blauen Himmel. Im goldgelben Morgenlicht der Sonne Ephelegon blitzten und funkelten die unzähligen Glas- und Keramikflächen.

Da war der zylindrische Anuupi-Turm, um den sich sichelförmig das Onryonenviertel schmiegte. Da war die über einen Kilometer durchmessende, transparent wirkende blaue Sphäre des Terraneums, eingebettet in ein neuronal wirkendes Geflecht von Strängen und leuchtenden Berührungspunkten, durch das sich eine Holoprojektion Lunas bewegte.

Da war das Homer Gershwin Adams-Zentrum, gestaltet wie ein überdimensionierter Torbogentransmitter, das einen galaktischen Markt beherbergte, der seinesgleichen suchte.

Hinter dem Torbogen schloss der arkonidische Bezirk an, der auch Atlan's Palace genannt wurde. Er bestand aus drei Trichterkelchen inmitten einer ausgedehnten Parklandschaft. Gleich daneben erhob sich die barnitische Handelsniederlassung, eine recht protzige Pyramide aus schwarzem Marmorit.

»Ihr habt eine beeindruckende Metropole geschaffen«, hatte Perry Rhodan gesagt, als sie gemeinsam auf diesem Balkon gestanden hatten. »Respekt vor eurer Leistung.«

Das lag fast acht Monate zurück ... Reginald Bull atmete tief durch.

Oh ja, die Terraner von Rudyn durften stolz auf das Erreichte sein. Sie hatten aus dem vierten Planeten des Ephelegonsystems einen würdigen Ersatz für ihre Heimatwelt gemacht.

Aber es war und blieb eben doch nur ein Ersatz, auch wenn das Provisorium bereits 480 Jahre andauerte.

 

*

 

Hinter Bulls Rücken erklang eine beschwingt aufsteigende Tonfolge mit anschwellender Lautstärke. Die Melodie entsprach dem Refrain der Hymne Ad Astra, Terraner!

Reg drehte sich um. »Wer beehrt mich zu so früher Stunde?«, fragte er den Zimmerservo.

»Yvonne Omeriga«, antwortete die Positronik. »Deine Stellvertreterin für zivile Belange.«

»Sie ist mir willkommen. Öffnen!« Er ließ noch einmal den Blick schweifen und genoss die Aussicht aus fast einem Kilometer Höhe.

Die Solare Residenz, geformt wie eine stilisierte Orchidee aus Stahl und Glas, deren Hauptteil aus den fünf »Blütenblättern« am oberen Ende bestand, schwebte über dem Lake Thetys. Wie auch der umliegende Residenzpark gehörte der See zum lang gestreckten Grüngürtel zwischen altem und neuem Teil der Zwillingsmetropole.

Linker Hand am Horizont, nordwestlich des Deltas des Flusses Dwadunaj, erhob sich der Zivilraumhafen, eine hervorstechende Konstruktion. Das zwölf Kilometer durchmessende Landefeld ruhte auf insgesamt 17 je 600 Meter durchmessenden und tausend Meter hohen, grazil komponierten Hohlpfeilern von ultrahoher Tragkraft.

Von den Pfeilern aus, die zwei konzentrische Kreise von neun und viereinhalb Kilometern Durchmesser bildeten, streuten Tageslichtstrahlen in alle Richtungen. Das Ergebnis ähnelte ein wenig der Lichtstimmung unter den Baumkronen eines Laubwaldes.

Bull stieß sich von der Brüstung ab und trat in das geräumige Arbeitszimmer. Fast gleichzeitig kam Yvonne Omeriga durch die Eingangstür.

»Guten Morgen!«, rief die 55-jährige Rudynerin, deren zerzauste Haarpracht wie immer in alle Richtungen abstand. »Hast du's noch nicht gehört? Es gibt Neuigkeiten von Atlan!«

Der Resident der Liga Freier Galaktiker sah auf die Holoanzeigen über seinem Schreibtisch. Tatsächlich blinkte das Symbol für eingegangene Nachrichten.

Wahrscheinlich hatte er am Balkon das akustische Signal überhört. Über die Stadt brausten zu jeder Tages- und Nachtzeit Fluggeräte unterschiedlichster Größe. Dämpfungsschirme unterdrückten die meisten Geräusche, aber ein minimaler Grundpegel blieb. Völlige Stille hätte sich falsch angefühlt.

»Gute Neuigkeiten?«, fragte Reginald Bull.

»Wie man's nimmt ... Na ja, eher schon. Soll ich berichten, oder willst du es dir selbst ansehen?«

»Kommt darauf an, ob ich sehr dringend darauf reagieren muss oder nur dringend.«

Yvonne Omeriga lächelte schelmisch. Sie kniff die apfelgrünen Augen zusammen. »Ich glaube, wir können die Verantwortung für die Verzögerung übernehmen, die sich aus dem gemeinsamen Genuss zweier Cappuccinos ergibt.«

Bull erwiderte das Lächeln und orderte beim Servo die Kaffees. »Etwas dazu?«, fragte er seine Stellvertreterin. »Hast du schon gefrühstückt?«

»Nein, danke. Ich esse fast nie etwas am Morgen. Kaffee allerdings muss unbedingt sein.«

»Ganz meine Meinung.« Er aktivierte den Holoschirm, der die gesamte linke Seitenwand einnahm, bot Omeriga einen Ledersessel der Sitzgruppe an und ließ sich auf die Couch plumpsen.

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Illustration: Swen Papenbrock

Im Holo erschien die Zentrale der THORA, des Flaggschiffs des Liga-Residenten. Ins Bild trat allerdings nicht der aktuelle Missionsleiter Atlan da Gonozal, sondern der Schiffskommandant, Holger Bendisson.

Auf Bulls fragenden Blick reagierte Yvonne Omeriga mit einer Geste, die so viel bedeutete wie: »Geduld, wird gleich beantwortet.«

Reginald Bull feixte, lehnte sich zurück und entspannte sich, so gut es ging.

 

*

 

»Diese Nachricht ist für den Residenten der Liga Freier Galaktiker bestimmt«, begann Bendisson, »den ich hiermit grüße.«

Unwillkürlich nickte Bull ihm zu. Gleich darauf ärgerte er sich. Er betrachtete ja nur eine Aufzeichnung. In einem Sekundärholo wurde eingeblendet, welchen Weg über diverse Relaisstationen der mehrfach verschlüsselte Hyperfunk-Richtspruch genommen hatte.

»Das Wichtigste zuerst: Unsere Aktion war erfolgreich. Allerdings hat es herbe Verluste gegeben. Dazu später Genaueres.«

Reginald Bull erinnerte sich: Vor einer knappen Woche hatte Atlan mitgeteilt, dass er auf eine Verschwörung der Cairaner gestoßen sei.

Auf der Suche nach Gucky hatte die THORA das System der orangefarbenen, etwa solgroßen Sonne Shiring angeflogen. Es lag rund 5000 Lichtjahre oberhalb der Northside der Milchstraße, also an der Grenze zum Halo.

In den Tiefen des siebenten Planeten, dem Gasriesen Xirasho, hatte ein von Atlan angeführtes Team geheime Werftanlagen kolossalen Ausmaßes entdeckt. Die verborgene Station verfügte über Baupläne für arkonidische, terranische und tefrodische Schiffe, aber auch für Raumer der Gataser, Cheborparner und anderer Völker.

Dabei handelte es sich keineswegs nur um eine Art strategisches Labor, in dem die Konstruktionspläne auf Stärken und Schwächen analysiert und Gegenwaffen entwickelt wurden. Vielmehr hatten Atlan und seine Mitstreiter erkannt, dass in einer gigantischen Halle der intraplanetaren Werft ein Nachbau der RAS TSCHUBAI entstand!

»Aus dem feststofflichen Kernbereich Xirashos«, rekapitulierte Holger Bendisson, »gewann man Metalle. Diese wurden ebenso verwertet wie zugelieferte und raffinierte Cemlorot-Hyperkristalle.«

Die schockierend detailgetreue Kopie des über 3,7 Kilometer durchmessenden, aktuell mächtigsten Schlachtschiffs der Terraner wirkte stellenweise wie ein Wrack, wie nach mehreren schweren Wirkungstreffern havariert. Was die cairanischen Konsuln damit bezweckten, hatte Atlan bislang nicht herausgefunden. Aber zweifellos betrieben sie den enormen Aufwand als Teil eines bestimmten Plans und keineswegs als reine Fingerübung.

Deshalb hatte der Arkonide beschlossen, den Cairanern einen Strich durch die Rechnung zu machen. So viel wusste Reginald Bull bereits aus Atlans früherer, vor sechs Tagen eingegangener Funknachricht.

 

*

 

Nun schilderte Holger Bendisson in knappen Worten den Überraschungsangriff der THORA.

»Wie gesagt, wir hatten Erfolg«, endete er. »Es ist uns gelungen, die Geheimwerft und damit auch den Nachbau der RAS TSCHUBAI zu zerstören.«

Der für diesen Sieg bezahlte Preis war freilich nicht gering gewesen. »Die THORA hat erheblichen Schaden erlitten. Wir beklagen dreiundfünfzig Todesopfer, darunter unseren Chefingenieur, den Swoon Timberlan. Etwas mehr als tausend Verletzte regenerieren sich in Medotanks. Ihr Überleben ist immerhin höchst wahrscheinlich.«

Bedrückt strich sich Bendisson eine blonde Haarsträhne aus der Stirn. Der Kommandant des Liga-Flaggschiffs wurde wegen seiner geringen Größe – er maß nur 159 Zentimeter – von Fremden häufig unterschätzt.

Reginald Bull hingegen kannte die Fähigkeiten des 1990 NGZ auf Rudyn geborenen Terraners sehr gut. Der kleine, oft schmunzelnde Mann hatte einen messerscharfen Verstand und war in der Lage, blitzschnell die richtigen Entscheidungen zu treffen.

»Auch Atlan da Gonozal wurde im Verlauf der militärischen Aktion verletzt«, berichtete Bendisson weiter. »Keine Sorge, ihm ist nichts zugestoßen, womit sein Zellaktivator nicht alsbald fertigwürde. Atlan befindet sich längst auf dem Weg der Besserung und lässt herzliche Grüße ausrichten.«

Nach den Kampfhandlungen hatte sich die THORA zurückgezogen; unter Wahrung von Funkstille, bis die entstandenen Schäden weitgehend repariert waren.

»Am zehnten Juni Standardzeit sind wir zu der Ausweglosen Straße aufgebrochen, auf der Atlan Gucky vermutet. Heute, in den frühen Morgenstunden des dreizehnten Juni, sind wir in der Nähe eingetroffen. Die Koordinaten sollten euch bereits bekannt sein.«

Das stimmte. Jene Ausweglose Straße befand sich bei der Sonne Shatsana, in den äußersten, solseitigen Ausläufern des Orionnebels, 1562 Lichtjahre vom Solsystem entfernt.

Der Orionnebel war eine Sternentstehungsregion mit überwiegend jungen Sonnen. Planeten hatten sie entweder keine oder zumindest nur wenige, die Leben trugen.

»Wir gehen davon aus«, sagte Holger Bendisson im Holo, »dass sich mittlerweile eine oder mehrere Einheiten der Liga vor Ort befinden, gut getarnt. Selbstverständlich wird die THORA nicht versuchen, diese Einheiten anzufunken. Wir kennen deren Standort nicht und würden einen ungerichteten Hyperfunkspruch schicken müssen.«

Bull verstand. Das Risiko, dass die Cairaner diesen Spruch auffangen könnten, wäre zu groß.

»Deswegen bitte ich um Kontaktaufnahme von eurer Seite aus und sende die Koordinaten unserer aktuellen Position mit. Aller Voraussicht nach werden wir noch einige Zeit ungestört im Ortungsschutz einer namenlosen Sonne verharren können. Nach spätestens zwölf Stunden, hat Atlan angeordnet, vollziehen wir dennoch sicherheitshalber einen Ortswechsel. Sollte dieser Fall eintreten, schicken wir neue Koordinaten. Und das war's vorerst. Oberstleutnant Holger Bendisson, Ende.«

 

*

 

»Wird es funktionieren?«, fragte Yvonne Omeriga, nachdem das Holo erloschen war.

»Ja. Locker.«

Bull führte seine Kaffeetasse zum Mund und stellte fest, dass er sie schon geleert hatte. »Holgers und Atlans Vermutung trifft zu. Nach Empfang der vorigen Nachricht der THORA habe ich drei Schiffe der MEDUSA-Klasse mobilisiert und ihnen den Auftrag erteilt, das Shatsanasystem zu überwachen. Mittlerweile sind sie seit fünf Tagen vor Ort, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unentdeckt.«

Die 240 Meter durchmessenden Kugelraumer dieser für Erkundungszwecke modifizierten FERROL-Trägerfregatten zeichneten sich durch extrem hohe Tarnkapazität aus. Sie waren stark defensiv, weniger stark offensiv bewaffnet. Im ovalen Ringwulst waren Landebuchten für jeweils vier 60-Meter-Korvetten eingelassen.

»Ihre Eigenbezeichnungen lauten KARYA, SYKE und BALANOS. Die Namen der Schiffe dieses Typs, der nach dem Dunkelplaneten Medusa benannt ist, beziehen sich generell auf mehr oder weniger unsichtbare, antik-terranische Geisterfiguren.«

»Balanos war eine Nymphe, nicht wahr?«, sinnierte Yvonne Omeriga. »Eines jener mythologischen Wesen, die in Bäumen lebten und deren Schicksal aufs Engste mit dem Gedeihen ihres Baumes verbunden war. Und warte mal, war Balanos nicht auch das altgriechische Wort für Eichel?«

Reginald Bull hob die Augenbrauen und die Arme dazu. »Ganz ehrlich – falls ich das jemals wusste, habe ich es vor etwa dreitausend Jahren verschwitzt. In diesem dummen Schädel«, er tippte sich an die Schläfe, »ist bei Weitem nicht genug Platz für die in all der langen Zeit angesammelten Erinnerungen.«

Seine Stellvertreterin lachte. »Dafür hältst du dich bemerkenswert gut, uralter Mann!«

Flirtete sie etwa mit ihm? Oder war es gutmütiger Spott?

Sogleich lenkte er sich und Omeriga ab, indem er in sachlichem Tonfall sagte: »Der kleine Verband wird angeführt von der SYKE. Deren Kommandantin Oberstleutnant Cheyen Ho befehligt den Einsatz. An Bord ihres Kreuzers befindet sich ein kompetentes Team von Wissenschaftlern, darunter ein hochrangiger Hyperphysiker namens Lionel Obioma.«

»Wegen der cairanischen Vitalenergie-Suppressoren, mit denen auf einer Ausweglosen Straße zu rechnen ist?«

Er bejahte. Nicht zum ersten Mal bewunderte Reginald Bull den Scharfsinn und die umfassende Bildung der Hybridpsychologin.

Yvonne war eigentlich Expertin für die Beziehungen zwischen Menschen und kybernetischen Existenzformen. Sie bewegte sich aber auch in anderen Fachbereichen mit nachgerade traumwandlerischer Sicherheit.

»Hast du weitere Vorkehrungen getroffen?«, fragte sie, verschmitzt lächelnd.

In der Tat hatte er dafür gesorgt, erläuterte Bull, dass sich zwei Fragmentraumer der Posbis, die BOX 3993 und die BOX 11349, in Rufbereitschaft hielten. Atlan hatte darauf bestanden, dass mit einem Vorstoß bis zu seiner Ankunft gewartet wurde.

»Wenn die THORA ihre Aktion startet, wird es unter Umständen nicht nur zu einer militärischen Auseinandersetzung kommen. Sondern man wird hinterher möglicherweise gezwungen sein, diese Ausweglose Straße zu evakuieren. Deshalb die Posbiraumer.«

»Damit nicht Unschuldige leiden oder gar sterben müssen?«

»Na ja, wir reden von den Insassen einer sehr speziellen Art von Strafkolonie, und von deren Gefängniswärtern. Da stellt man sich die Frage nach Schuld oder Unschuld lieber nicht.«

»Schon richtig. Gleichwohl fühlen wir uns für ihr Wohlergehen verantwortlich und versuchen, die Kollateralschäden so gering wie möglich zu halten. Denn wir sind nun mal Terraner.«

»So ist es.« Reginald Bull seufzte. »Wir sind Terraner. Die Guten.«

Plötzlich verspürte er ein Jucken an der Stelle unterhalb des linken Schlüsselbeins, wo sein implantierter Zellaktivatorchip saß. Aber das war gewiss reiner Zufall und hatte nichts zu bedeuten.

2.

Stolz und Vorverurteilung

22 Stunden vor null

 

Die Waberhitze stand so tief im Heckbogen, dass das Glutlicht zittrig-verschwimmende Schlagschatten warf. Das Gitterwerk ließ sich kaum von dem der dürren Rohrhalme unterscheiden.

Trügerisch war zweifellos auch der ausgedörrte, von gezackten Spalten zerklüftete Erdboden des Myzelhains. Fligglirt Kernpech landete trotzdem. Sie hatte sich geschworen, nicht gleich wieder feige umzukehren, bloß weil ihr bange wurde.

Als sie die Fußsohlen aufsetzte, gab der Untergrund ein wenig nach, hielt aber. Kein Schlund tat sich auf. Nur ein paar Kieselkrumen bröckelten beiseite.

Fligglirt sah sich um. Nichts regte sich. Sie war allein.

Endlich.

Vorsichtig, einen Trippelschritt nach dem anderen, bewegte sie sich zum größten der Felsblöcke, die den Myzelhain umringten. Obenauf wuchs eine Feuchttulpe, ganz im Gegensatz zur kargen Umgebung saftstrotzend, mindestens fünfmal so voluminös wie Fligglirt selbst.

Sie zog den Krummsäbel, den sie ihrem Oheim entwendet hatte, aus dem am Hüftgürtel baumelnden Lederfutteral. Die Hiebwaffe lag schwer in ihrer Hand; so schwer, dass sie die andere Hand zu Hilfe nahm.

»Immer müssen ihrer zwei sein«, drängte sich die uralte, von klein auf verhasste Liedzeile in Fligglirts Gedanken. »Zwei müssen ihrer immer sein, damit das Werk gelingt.«

Angewidert wollte sie ausspucken, besann sich jedoch gerade noch eines Besseren. Schon ein winziger Tropfen Flüssigkeit konnte an diesem Ort eine fatale Kettenreaktion auslösen.

Nichts anderes wollte Fligglirt zwar; aber erst, nachdem sie sich einen relativ sicheren Beobachtungsposten gebaut hatte. Also schnitt sie spröde Halme der benachbarten, knochentrockenen Rohrgewächse ab, fügte sie zusammen und fixierte sie mit Pickpfropfen aus der Schultertasche.

Es dauerte nicht lange, bis ein grob kubischer, halboffener Käfig entstanden war. Vor Anstrengung keuchend, verankerte sie die Basisstreben in einem schrägen Schlitzbruch des Felsblocks, knapp unter dessen Plateau, auf dem die Feuchttulpe wurzelte. Fligglirt schwebte hinauf, und hinein in den Hochstand.

Sie entließ Fluggas aus dem Buckelsack, holte mit dem Säbel aus ... und hielt gleich wieder inne.

Sollte sie es wirklich wagen? Die Echos unzähliger, mal sanft, mal hart eingebläuter Warnungen hallten ihr durch den Kopf.

Niemals einzeln!, lautete die ewige Devise. Stets zu zweien, Kinder, denn zwei müssen ihrer immer sein!

Aber Fligglirt Kernpech war schon so weit gekommen. Sie hatte bereits so viele Verbote übertreten.

Wenn sie nun zauderte, war alles umsonst gewesen.

 

*

 

Sie sammelte ihren Mut, nur um zu merken, dass er nicht ausreichte; da fügte sie den in vielen Jahren aufgestauten Trotz hinzu.

Dann schwang sie den Säbel abermals, schloss die Augen, zwang sich, sie wieder zu öffnen –