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Jan Alexander van Nahl

Studium der Skandinavistik, Historischen Geographie und Archäologie an den Universitäten Bonn und Uppsala, Schweden; Promotion an der Universität München. Von 2014 bis 2017 am Árni Magnússon-Institut für isländische Studien in Reykjavík; seit 2019 Assistant Professor für isländische Literatur des Mittelalters an der Universität Island. Zahlreiche Veröffentlichungen zur altisländischen Literatur und Kultur.

Astrid van Nahl

Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Promovierte Skandinavistin, mit Schwerpunkt alt- und neuisländische Sprache und Literatur. Mitarbeit an mehreren DFG-Projekten zum Altisländischen und zur Verbvalenz. Autorin, Herausgeberin und Übersetzerin vieler Fachbücher und Artikel, seit 2003 Herausgeberin der Zeitschrift Dialectologia et Geolinguistica.

Jan Alexander van Nahl

Astrid van Nahl

Skandinavistische Mediävistik

Eine Einführung in die altwestnordische
Sprach- und Literaturgeschichte

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <https://portal.dnb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-87548-967-5

eISBN 978-3-9676-900-02

© Helmut Buske Verlag GmbH, Hamburg 2019. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. www.buske.de

Inhalt

Zu diesem Buch

Skandinavistische Mediävistik – Was ist das?

Zur Geschichte von Fach und Forschung

Zur Zielsetzung und Struktur des Buches

Der Blick nach vorn

Altwestnordisch – Der Sprache auf der Spur

1Sprachliche Vielfalt zu allen Zeiten

1.1Sprachgeschichte – wozu?

1.2Sprachliche Vielfalt – damals und heute

1.3Die indogermanischen Sprachen

1.4Die Ausgliederung des Germanischen

2Die germanischen Sprachen

2.1Die Ausgliederung des Germanischen

2.1.1Änderungen im Konsonantensystem: Die Erste („Germanische“) Lautverschiebung

2.1.2Festlegung des Wortakzents auf die Wurzelsilbe

2.1.3Verlust oder Abschwächung der Endsilben

2.1.4Änderungen im Vokalsystem

2.1.5Änderungen im System von Nomen und Verben

2.1.6Reduzierungen im Kasussystem

2.2Die Gliederung des Germanischen

3Vom Nordgermanischen zum Urnordischen

3.1Nordwestgermanisch oder Urnordisch?

3.2Gliederung der urnordischen Periode

3.3Quellen des Urnordischen

3.4Schriftsystem des Urnordischen: Runen

3.4.1Das ältere Futhark

3.4.2Das jüngere Futhąrk

4Vom Urnordischen zum Altnordischen

4.1Umlaut

4.2Brechung

4.3Synkope und Reduktion

4.4Weiterer kombinatorischer Lautwandel

4.4.1Senkung

4.4.2Konsonantengemination

4.4.3j-Schwund

4.4.4w-Schwund

4.4.5Kürzung und Dehnung

4.4.6Assimilation und Dissimilation

4.5Morphologie, Syntax und Wortschatz

5Altnordisch

5.1Weiterentwicklungen in den altnordischen Sprachen

5.1.1Der progressive j-Umlaut

5.1.2Entwicklung von Sprossvokalen

5.1.3Assimilationen und Schwund im Konsonantismus

5.1.4Zusammenfassung

5.2Sprachschichtungen

5.3Christentum, Hanse und altnordischer Wortschatz

Altwestnordisch – Der Literatur auf der Spur

Vorbemerkung – Herausforderungen einer Literaturgeschichte

6Sagas

6.1Isländersagas

6.1.1Erzählungen zum Sagazeitalter

6.1.2Berühmte Isländersagas

6.1.3Isländersagas als Nationalliteratur

6.1.4Freiprosa & Buchprosa

6.1.5Strukturalismus & Autorschaft

6.1.6Aktuelle Tendenzen

6.2Königssagas

6.2.1Nordische Herrschergeschichten

6.2.2Die Königsgeschichten der Heimskringla

6.2.3Nationalgeschichtsschreibung

6.2.4Die Königssagas als Literatur

6.2.5Aktuelle Tendenzen

6.3Rittersagas

6.3.1Imitation und Innovation

6.3.2Rittersagas als Verfallsprodukt?

6.3.3Höfische Bildung und literarische Unterhaltung

6.4Vorzeitsagas

6.4.1Ferne Zeiten und Orte

6.4.2Tragische Heldensagas

6.4.3Unterhaltende Abenteuersagas

6.4.4Materialsammlung oder historische Quelle?

6.5Antikensagas

6.6Heiligensagas

6.6.1Heiligengeschichten als Übersetzungen

6.6.2Geschichten der isländischen Bischöfe

6.6.3Monotone Texte?

6.7Gegenwartssagas

6.7.1Geschichten der Sturlungen

6.7.2Harte Realität oder Sagaschreibung?

7Eddas

7.1Lieder-Edda

7.1.1Die Edda

7.1.2Eddische Lieder (nicht nur) im Codex Regius

7.1.3Nordisch, heidnisch, christlich?

7.1.4Rezeptionsforschung

7.2Prosa-Edda

7.2.1Die Prosa-Edda als Kompilation

7.2.2Pro oder contra Heidentum?

7.2.3Ars poetica

8Skaldik

8.1Abgrenzungsversuche

8.2Skalden & Skaldensagas

8.3Die Anfänge der Skaldenkunst

8.4Die Struktur der Skaldendichtung

8.5Heiti und kenningar

8.6Zwischen Formzwang und Kunstgeschmack

9Gelehrte Literatur

9.1Vorbemerkung

9.2Íslendingabók und Landnámabók

9.2.1Besiedlung und Einrichtung Islands

9.2.2Geschichten von Ursprung und Anfang

9.3Die Grammatischen Traktate

9.3.1Angewandte Sprachwissenschaft

9.3.2Der Erste Grammatische Traktat

9.3.3Der Zweite Grammatische Traktat

9.3.4Der Dritte Grammatische Traktat

9.3.5Der Vierte Grammatische Traktat

9.4Rechtstexte

9.4.1Alt & neu

9.4.2Rechtsquellen: Grágás, Jarnsíða, Jónsbók

9.5Theologische Texte

9.5.1Die Homilienbücher

9.5.2Bibelübersetzungen

9.5.3Elucidarius

9.6Der Königsspiegel

9.6.1Gesellschaft & Natur

9.6.2750 Jahre und kein Ende

Glossar sprachgeschichtlicher Fachbegriffe

Index

Quellen – Personen – Sachbegriffe

Abkürzungen

Verzeichnis der Tabellen

Zitierte und weiterführende Literatur

Editionen und Übersetzungen

Forschungsliteratur

Dank

Zu diesem Buch

Skandinavistische Mediävistik – Was ist das?

Ein Buch als „Einführung“ zu bezeichnen, ist erfahrungsgemäß eine zweischneidige Angelegenheit. Auf der Seite des Verfassers* steht der Anspruch, dem interessierten Anfänger zu einem begrenzten Thema ein klar strukturiertes Gedankengebäude zu präsentieren, das zwischen Notwendigem und Überflüssigem unterscheidet. Aber wo fängt ein Anfänger in einem sich kontinuierlich entwickelnden Schul- und Universitätssystem überhaupt an – und wann hört er auf, Anfänger zu sein? Das mag banal erscheinen, ist aber in der Lehre durchaus eine Herausforderung. Auch eigene Forschungstätigkeit kann dem Verfasser einer Einführung Sorgen bereiten: Das persönliche Interesse an bestimmten Texten und Fragestellungen mag dazu führen, dass man einigen Dingen zu viel, anderen zu wenig Raum zugesteht. Auf der Seite des Lesers ist das schließlich nicht anders: Wohl fast jeder von uns hat schon einmal eine Einführung in klassischer Buchform zur Hand genommen und sie als allzu anspruchsvoll und umfangreich oder aber als oberflächlich und allzu knapp empfunden.

Auch der Wahl unseres Titels „Skandinavistische Mediävistik“ ging Diskussion voraus. Alternative Bezeichnungen wären etwa „Altskandinavistik“, „Ältere Skandinavistik“, „Nordistik“ oder „Nordische Philologie“ gewesen. Alle Bezeichnungen haben ihre eigene Geschichte, damit eigene Vor- und Nachteile sowie Fürsprecher und Gegner. Von einer skandinavistischen Mediävistik zu sprechen, erscheint vielleicht unnötig kompliziert, auch wenn die Bezeichnung freilich bereits etabliert ist. Aber die anderen Bezeichnungen sind entweder nicht mehr so gebräuchlich wie noch um die Jahrtausendwende oder aber unspezifischer, weil sie auch die modernen skandinavischen Sprachen und Literaturen umfassen können. Den Zuschlag erhielt der Titel „Skandinavistische Mediävistik“ schließlich auch deshalb, weil der Begriff „Mediävistik“ die Nähe zu Nachbardisziplinen der Mittelalterforschung signalisiert, etwa zur Germanistischen Mediävistik oder dem teils einfach als Mediävistik bezeichneten Fachbereich der mittelalterlichen Geschichte. Diese Nähe sollte man nicht vergessen; leider hat sich der fachliche Austausch in den letzten Jahrzehnten selten so entfaltet, wie es nicht zuletzt die digitale Vernetzung einst versprach.

Ob der gewählte Titel, der zugegeben nicht ganz leicht von der Zunge geht, die beste Lösung ist, sei dahingestellt. Mancher versteht unter Mediävistik wohl primär das Studium der Literatur, nicht das der Sprache, aber von einer solchen Trennung halten wir nichts. Auch wenn die systematische Auseinandersetzung mit Sprache ihren Platz eher im Bereich der Linguistik findet, schien uns ein einführendes Kapitel zur Sprache doch nötig und auch spannend – denn wo wären vergangene Sprachen greifbar, wenn nicht in bewahrtem Schrifttum, und wie wollte man zu diesem Schrifttum, zur Literatur Zugang finden, wenn nicht über Sprachkompetenz?

Die einfachste Option angesichts dieser uneindeutigen Ausgangssituation – nämlich keine Einführung zu schreiben – war für uns keine Option; eigentlich überflüssig zu erwähnen, denn Sie halten das Ergebnis ja in Händen. Das eigene Studium und die eigene Lehrerfahrung haben uns zu oft eine gewisse Not spüren lassen, dem deutschsprachigen Neu- und Quereinsteiger in die skandinavistische Mediävistik Buchempfehlungen zu geben. Natürlich gibt es die eine oder andere etablierte Einführung auf Englisch, verlegt teils bei namhaften Wissenschaftsverlagen oder prestigeträchtig mit so genannten Eliteuniversitäten verknüpft. Bewährte Standardwerke gibt es auch in mancher skandinavischen Sprache, und schließlich gibt es auch auf Deutsch eine Handvoll nützlicher Übersichts- und Nachschlagewerke, die sich primär an Studienanfänger wenden. Doch an manchem dieser Bücher hat der Zahn der Zeit genagt, andere sind vergriffen. Bei fremdsprachlichen Einführungen gibt es vor allem die Hürde der Sprachkompetenz, denn bei wissenschaftlichen Spezialthemen kommt das Schul-Englisch rasch an seine Grenzen, von den skandinavischen Sprachen ganz zu schweigen.

Hier klafft eine Lücke. Sie wird merkwürdigerweise seit vielen Jahren zwar regelmäßig beklagt, wurde aber, soweit wir sehen, in jüngerer Zeit nicht ernsthaft angegangen. Das ist befremdlich, denn in der Geschichte dieser skandinavistischen Mediävistik gibt es viel Interessantes zu entdecken, das über die im vorliegenden Buch behandelten Kernthemen weit hinausführt. Diese Einführung ist ein Versuch, diese Lücke in Teilen zu schließen.

Zur Geschichte von Fach und Forschung

Die skandinavistische Mediävistik ist kein junges Forschungsfeld: Ihre Wurzeln reichen zumindest bis ins frühe 19. Jahrhundert zurück und sind verbunden mit den Namen großer Gelehrter, unter denen vor allem die Brüder JACOB GRIMM (1785–1863) und WILHELM GRIMM (1786–1859) bis heute über die Wissenschaft hinaus bekannt sind. Zu jener Zeit wuchs das altertumskundliche Interesse an der Kultur des Nordens, es kam zum regen Austausch zwischen Forschern aus u.a. Deutschland, Skandinavien und Island,** es entstanden Editionen und Übersetzungen altnordischer Texte – ein grenzüberschreitendes und fraglos inspirierendes Milieu, in dem theoretische und praktische Grundlagen für die allmähliche Herausbildung eines Universitätsfaches „Skandinavistik“ und entsprechender Institute gelegt wurden; einen ersten Überblick über Studienmöglichkeiten, laufende Projekte und weiteres mehr bietet der so genannte Fachverband Skandinavistik: skandinavistik.org.

Von einer gradlinigen Entwicklung kann man allerdings kaum sprechen. Vielmehr ist es bis auf den heutigen Tag ein Neben-, Mit- und Gegeneinander von Forschungsrichtungen und Forschungssprachen, das die Entwicklung der deutschsprachigen Skandinavistik thematisch, methodisch und theoretisch geprägt hat. Es ist hier nicht der Ort, diese verschlungene und bisweilen widersprüchliche Geschichte ausführlich darzulegen – ihre Entwirrung wäre überhaupt noch eine Aufgabe künftiger Forschung.

Eine Herausforderung ist aber benannt: Sprache. Das heißt natürlich zunächst, dass man die Sprache der behandelten Texte – das Altwestnordische – bis zu einem gewissen Grad beherrschen muss, will man nicht allein mit Übersetzungen arbeiten. Solche Übersetzungen sind fraglos gerade für den Anfänger hilfreich und nötig. Jede Übersetzung ist aber stets auch Ausdruck ihrer eigenen Zeit und hat daher ihre Eigenheiten, um nicht zu sagen Tücken. Dies umso mehr, bedenkt man den zeitlichen Abstand zwischen der heutigen Gesellschaft und den mittelalterlichen Jahrhunderten. Forschungsgeschichtlich ist dieser Abstand sehr unterschiedlich behandelt worden: Teils wurde die Übertragung heutiger Vorstellungen und Mentalitäten etwa auf das 10. oder auch das 13. Jahrhundert grundsätzlich unproblematisch gesehen; teils wurde in scharfen Zweifel gezogen, dass wir heute überhaupt noch einen Zugang zum mittelalterlichen Menschen finden könnten. Letztlich wissen wir es einfach nicht. Die Frage, wie andersartig die langen Jahrhunderte des so genannten Mittelalters nun waren, ist insofern eine Frage, die als Herausforderung stehen bleibt. Und sie betrifft eben auch jede ernstzunehmende Überführung mittelalterlicher Texte in moderne Sprachen.

Sprache als Herausforderung betrifft aber auch Fachterminologien, deren Entwicklung oft bestimmten forschungsgeschichtlichen, damit gesellschaftlichen und politischen Einflüssen unterworfen war und ist. Hier angemessen zu übersetzen und zu übertragen, seien es Fachbegriffe oder Argumentationszusammenhänge, ist einerseits wiederum keine einfache Aufgabe. Andererseits ist ein Fachbereich wie die skandinavistische Mediävistik gar nicht denkbar ohne die fruchtbare Konfrontation verschiedener Sprachen und Fachsprachen.

Kurzum: Es wäre unmöglich, die skandinavische und isländische Literatur und Kultur des Mittelalters ohne Bezug zu den nordischen Sprachen verstehen zu wollen, Übersetzungen hin oder her. Und dass die englische Sprache heute zu viel Gewicht auch in den so genannten Geistes- und Kulturwissenschaften übt, um ignoriert zu werden, muss nicht näher ausgeführt werden. Dennoch mag es etwas eigenartig anmuten, im bisweilen immer noch so genannten „Land der Geisteswissenschaften“, also in Deutschland, bei Lektüreempfehlungen für Anfänger in leicht entschuldigendem Ton entweder auf Bücher verweisen zu müssen, die oft bereits mehrere Jahrzehnte auf dem Markt sind und kaum noch einen aktuellen Forschungsstand repräsentieren, oder auf fremdsprachliche Literatur mit ihren genannten Eigenarten.

Dass die Forschungsgeschichte der skandinavistischen Mediävistik insofern keine eingleisig verlaufende Geschichte ist, man korrekter eigentlich von Forschungsgeschichten sprechen sollte, wird bereits bei einem Blick auf das Inhaltsverzeichnis deutlich: Die unterschiedliche Länge der einzelnen Kapitel gerade im literaturgeschichtlichen Teil beruht vor allem darauf, dass unterschiedliche Texte innerhalb der altwestnordischen Literatur ganz unterschiedliche Aufmerksamkeit erfahren haben. Während etwa die Isländersagas, die Prosa-Edda oder die Lieder-Edda über Forschergenerationen hinweg eine schier unüberschaubare Menge an Büchern und Aufsätzen motiviert haben, erschien die Skaldendichtung selbst Gelehrten lange Zeit geradezu als unzugängliche „Geheimwissenschaft“. Noch stärker als für die Sprachwissenschaft gilt daher für die Literaturwissenschaft in der skandinavistischen Mediävistik, dass eine einheitliche Forschungsgeschichte nur um den Preis strenger Auswahl und starker Vereinfachung geschrieben werden könnte – aber ohne solche wissenschaftlichen Hintergründe bleibt die Lektüre mittelalterlicher Literatur eben oft naiv, was nicht abwertend gemeint ist, aber doch etwas anderes ist als der wissenschaftliche Zugang, den wir hier in Grundzügen vermitteln wollen.

Tatsächlich sind diese Forschungsgeschichten auch nicht einfach die bloße Anhäufung immer neuer Erkenntnisse, bei denen alte Thesen von neuen untermauert oder abgelöst würden. Man muss sie sich eher als das Auf und Ab bestimmter „Mode-Erscheinungen“ denken, beeinflusst durch diverse wissenschaftliche, gesellschaftliche und politische Bedingungen. Literaturwissenschaftliche Forschung ist somit in gewisser Weise flüchtig: Neben einigen sich stetig festigenden Grundannahmen steht ein weites wissenschaftliches Spielfeld offen, auf dem manche scheinbar überholte These immer wieder neu auf ihren aktuellen Wert befragt werden kann und sollte. In diesem Auf und Ab befinden wir uns als Verfasser, Sie sich als Leser.

Zur Zielsetzung und Struktur des Buches

Von diesen (wie gesagt keinesfalls neuen) Beobachtungen und auch den Rückmeldungen von Studierenden und anderen Lehrenden angeregt, haben wir über mehrere Jahre hinweg die Idee zur vorliegenden Einführung entwickelt. Dieses Buch versteht sich nicht als klassisches Nachschlagewerk – das wäre bei seinem geringen Umfang gar nicht machbar. Es ist aber auch nicht als Lehrbuch im eigentlichen Sinne gedacht. Vielmehr richtet es sich an Interessierte generell, vor allem aber an solche, die heute ein Studium mit Schwerpunkt in der skandinavistischen Mediävistik anstreben. Ihnen will diese Einführung erstens zur Vorbereitung dienen, vielleicht sogar schon im Vorfeld, um die Entscheidung zu erleichtern, ob ein solches Studium überhaupt das Richtige sein mag oder nicht. Zweitens will dieses Buch Begleiter gerade in den ersten Semestern sein, in denen es erfahrungsgemäß noch an Überblick mangelt, sei es hinsichtlich beiläufig im Unterricht genannter Texte und Fragestellungen, sei es hinsichtlich praktischer Herausforderungen wie der Literaturrecherche.

Die Struktur des Buches ist insofern so einfach wie möglich gehalten und daher nicht überraschend, aber es steckt im Detail viel Überlegung zu Form und Inhalt. Unser Leitgedanke war der, dass diese Einführung eine Art Gespräch zwischen uns und Ihnen, dem Nutzer, sein soll, wenn auch nicht in der antik und mittelalterlich beliebten Form von Frage und Antwort. Aber unsere Texte sollen nicht nur informativ zu lesen sein und Antworten auf einige Fragen geben. Wir wollen vielmehr, dass Sie das Buch auch deshalb zur Hand nehmen, weil Sie darin stöbern und etwas entdecken wollen.

Die im Fließtext sowie im Anhang genannten Forschungspublikationen bieten Anhaltspunkte für ein solches Eintauchen in Texte und Thesen. Die als Marginalien mitgeführten Literaturhinweise nach Abschnitten bzw. Unterkapiteln greifen teils Nennungen aus dem Text auf, verweisen aber neben wissenschaftsgeschichtlich bedeutenden Publikationen vor allem auf Veröffentlichungen jüngeren Datums, die Sachverhalte und Zusammenhänge näher erläutern und aufgrund ihres aufarbeitenden Charakters auch für Anfänger von Interesse sein können. Hier mussten wir wählen und gewichten, wollten den Interessierten einerseits nicht erschlagen, andererseits den Reichtum an wissenschaftlichen Überlegungen zumindest andeuten. Das Literaturverzeichnis am Ende des Buches listet hingegen sämtliche im Text erwähnte Literatur und führt stellenweise auch darüber hinaus; aus Gründen der Zugänglichkeit haben wir uns auf deutsch- und englischsprachige Veröffentlichungen konzentriert. Generell sagen wir: Hier können und wollen wir keine bestimmte Meinung eintrichtern, sondern hier soll und muss jeder Interessierte letztlich selbst aktiv werden!

Das Buch zerfällt wie angedeutet grob in zwei Teile: Sprache und Literatur. Der erste Teil zur Geschichte und Entwicklung der nordischen Sprachen reicht dabei zeitlich viel weiter zurück als ins Mittelalter, das man in Skandinavien vom 11. bis zur Reformation im 16. Jahrhundert ansetzen könnte, sogar weiter zurück als die Wikingerzeit, deren greifbare Anfänge auf etwa 800 n. Chr. datiert werden. Die Anfänge des hier betrachteten Zeitraums reichen tatsächlich bis weit vor Christi Geburt zurück. Allein die Präsentation der zunächst im Mittelpunkt stehenden indogermanischen Sprachen umfasst in mancher aktuellen Publikation weit über 2.000 Seiten. Auf unseren gut 200 Seiten haben wir uns darauf beschränkt, in großen Zügen wichtige Entwicklungslinien ab einer gemeinsamen Grundsprache, dem Indogermanischen, darzustellen. Die Darstellung wird detaillierter und lebendiger, je näher wir dem Zeitraum jener altwestnordischen Sprachstufe kommen, in der die großen literarischen Werke des mittelalterlichen Nordens entstanden sind, von denen dann die sich anschließenden Kapitel handeln: Aussagen über Sprache sind nun durch die vielen überlieferten Texte besser gesichert.

Je konkreter die Vorstellungen von einer Zeit sind, desto mehr erschließt sie sich uns und bleibt uns in ihren Details im Gedächtnis haften. Deshalb ist unsere Sprachgeschichte in diesem Buch durchzogen von Einblicken in kulturelle und gesellschaftliche, religiöse und wirtschaftliche Faktoren. Unter diesen außersprachlichen Ein- und Auswirkungen hat sich die altnordische Sprache der hochmittelalterlichen Literaturen entwickelt, aus der schließlich die modernen festland- und inselnordischen Einzelsprachen hervorgehen sollten. Generell empfehlen wir, gerade den sprachgeschichtlichen Teil vom Anfang her kapitelweise nachzuvollziehen; einige detailreiche Unterkapitel (vor allem 2.1, 3.4, 4.4 und 5.1) können von Anfängern aber übersprungen werden, ohne dass dadurch der rote Faden verloren geht. Die mit image markierten Begriffe werden übrigens im anhängenden Glossar griffig erläutert.

Es schließt sich der literaturgeschichtliche Teil an, der die großen altwestnordischen Literaturgattungen behandelt: Sagas, Eddas, Skaldendichtung, daneben eine Anzahl an gelehrten Texten. Hat die Beschäftigung mit den altnordischen Sprachen durch Generationen von Forschern eine Vielzahl an Veröffentlichungen hervorgebracht, dann darf man für die Beschäftigung mit der altwestnordischen Literatur ohne Übertreibung von einer Unzahl an Publikationen sprechen. Hier mussten wir noch stärker auswählen und damit vereinfachen und auch eine angemessene Struktur finden, denn ein chronologischer Aufbau wie im sprachgeschichtlichen Teil ist für die Literaturgeschichte, trotz ihres Namens, nur bedingt möglich und hilfreich; schon die diversen mit dem Zeichen image markierten Querverweise legen davon Zeugnis ab. Zugleich ist zu verschiedenen Texten wie gesagt unterschiedlich umfangreich gearbeitet worden und so sind auch die einzelnen Kapitel unterschiedlich lang. Sie decken aber meist ähnliche Bereiche ab: Eingrenzung und Inhalte der Texte, historische Hintergründe und Bezugspunkte, forschungsgeschichtlich interessante Personen, Aspekte und Entwicklungen der Forschung bis in jüngste Zeit. Aus diesen Teilbereichen ergibt sich für alle behandelten Texte einerseits ein übersichtliches Ganzes, werden andererseits Fragestellungen und Zusammenhänge aufgetan, die hoffentlich über unser Buch hinaus zur Beschäftigung anregen.

Im Klartext heißt das aber auch: Längst nicht alles, was in den beiden Teilen dieser Einführung präsentiert wird, geht auf intensive Primärforschung von uns Verfassern zurück; das machen schon die vielen von uns gesuchten Bezüge zu großen und aktuellen Gestalten der Forschung deutlich. Neben Themenfeldern, in denen wir tatsächlich auf Jahre oder Jahrzehnte eigener Forschungs- und Unterrichtstätigkeit zurückblicken, stehen also Themenkomplexe, in denen unsere Kenntnis sich über die Jahre eher beiläufig angereichert hat, ohne dass wir uns einschlägig in Veröffentlichungen mit ihnen auseinandergesetzt hätten. Das ist keine Eigenart unserer Einführung, sondern darf (unausgesprochen) für jedes Einführungswerk vorausgesetzt werden, in dem Einzelpersonen eine Bandbreite an Themen behandeln. Der Fachmann, der dieses Buch einmal zur Hand nehmen mag, wird sich insofern wohl an mancher Stelle zum Widerspruch angeregt fühlen; der interessierte Neuling findet hoffentlich Anreiz genug, sich über bestimmte Zusammenhänge eingehender (also auch über diese Einführung hinaus) zu informieren.

Der Blick nach vorn

Ein Wort zum Schluss. Wir leben in einer Zeit, in der die Geistes- und Kulturwissenschaften eigenartig in Bedrängnis gekommen sind: Populäre Schlagwörter wie „Fortschritt“, „Fakten“ oder „Relevanz“ – unter vielen anderen – haben Einzug gehalten in Bereiche, in denen gerade diese Dinge eigentlich keine große Rolle spielen sollten oder sie zumindest nicht eindeutig zu fassen sind. Vereinfacht gefragt: Wer will die Relevanz einer Sprache messen, wer will eine Literaturform gegenüber einer anderen als fortschrittlich ausweisen, wer will Kunst auf Grundlage so genannter Fakten beurteilen? Diese Schieflage ist seit Jahren bemerkt und beklagt worden, sie ist dadurch aber nicht wieder ins Gleichgewicht gekommen. Fast ist man geneigt zu sagen: im Gegenteil, leben wir doch in einer Zeit, in der Institute „abgewickelt“, das heißt geschlossen werden, weil sie wirtschaftlich uninteressant erscheinen, in der die „prekäre“, also misslich-heikle Beschäftigung von Akademikern zum Modewort geworden ist. In einer solchen Zeit wäre es vermessen vorauszusetzen, dass selbst grundsätzlich interessierte Leser bereit wären, sich in die Tiefen einer Thematik einzugraben. Das vorliegende Buch trägt aber, so unsere Hoffnung, einen Teil dazu bei, Berührungsängste abzubauen – oder gar nicht erst aufkommen zu lassen.

* Die Frage nach einer geschlechtergerechten Sprache steht uns Verfassern in unserer Tätigkeit in internationaler Forschung und Lehre besonders deutlich vor Augen, ebenso die Vielfalt an Strategien und Kritiken im Umgang damit. In dieser Einführung haben wir uns nach einiger Diskussion und gegen alle Kritik, die man äußern mag, für die Verwendung des generischen Maskulinums entschieden, das wir also geschlechtsneutral verstehen. Das individuelle Interesse an den behandelten Themen wird dadurch hoffentlich für niemanden geschmälert.

** Sie sehen, wir folgen der heutigen Übereinkunft, Island nicht unmittelbar zu Skandinavien zu rechnen, und halten diese Trennung auch im Folgenden (wenn auch nicht ganz strikt) aufrecht. In Forschung und Lehre lässt sich hier aber kaum sinnvoll trennen, denn eine skandinavistische Mediävistik ist heute mit Blick auf die etablierten Untersuchungsgegenstände doch vor allem eine isländische und norwegische Mediävistik.

Altwestnordisch Der Sprache auf der Spur

1Sprachliche Vielfalt zu allen Zeiten

1.1Sprachgeschichte – wozu?

Dieser erste Teil unseres Buches vermittelt grundlegende Fakten zur Geschichte der nordischen Sprachen und zeigt die wichtigsten historischen Entwicklungslinien auf. Sie reichen von den ältesten Zeiten bis zu dem Sprachstand, mit dem der Norden die schriftlichen Aufzeichnungen seiner großen Literaturen beginnt.

Das Kapitel führt zunächst in eine vorliterarische Zeit zurück, für die wir die Sprache mühsam rekonstruieren müssen. Forschungsgeschichtlich ist das – wie wir zeigen wollen – eine spannende Zeit, die immer wieder Spekulationen Tür und Tor geöffnet hat. Sie werden große Namen aus der Forschungsgeschichte kennenlernen und die immense Leistung, die diese Forscher in einem damaligen Neuland erbracht haben. Hier geht es also nicht einfach um die Vermittlung von Grundkenntnissen über alte Sprachen. Sie sollen gleichsam der Geburt einer Wissenschaft zusehen, die heute ganz selbstverständlich erscheint: der Vergleichenden Historischen Sprachforschung. Zugleich werden wir versuchen, Ihnen Grundlagen der Terminologie zu vermitteln, die über das Nordische hinaus bei jeder historischen Beschäftigung mit Sprache notwendig ist. Zu jedem mit image markierten Begriff aus der Sprachgeschichte gibt es übrigens im Glossar (ab S. 207) eine einfache Erklärung.

Eine Perspektive, die die Sprache im Zeitverlauf, in ihrer Entwicklung und ihren Veränderungen betrachtet, ist heute nicht mehr so selbstverständlich wie bis in die 1970er Jahre. Man nennt diese Perspektive image diachron. Heute tritt bei der Beschäftigung mit Sprache(n) oft die image synchrone Perspektive in den Vordergrund. Diese betrachtet die Sprache an einem ganz bestimmten Zeitpunkt, konzentriert sich zum Beispiel auf ihre Struktur oder zielt allgemein auf zeitlose, gültige Erkenntnisse.

Natürlich muss man sich fragen, welchen Sinn sprachgeschichtliche Kenntnisse für das Verständnis der modernen Sprachen und Literaturen machen und welches Ausmaß ihre Vermittlung annehmen darf und muss. Wie schon im Vorwort ausgeführt, drängt sich beim Studium der nordischen Philologie und Mediävistik zweifellos schon von der Struktur des Faches her ein gewisses Maß an historischer Sprachbetrachtung geradezu auf. Nach wie vor bilden das Altisländische mit seiner einzigartigen Literatur und die neunordischen Sprachen und Literaturen die beiden Eckpunkte der Nordischen Philologie, zwischen denen eine Verbindung hergestellt werden muss. Wir werden weder das Eine noch das Andere vollständig verstehen, wenn wir nicht auch von den dazwischen liegenden Entwicklungen wissen und manche von ihnen auch vor historischen Hintergründen betrachten – zum Beispiel die grundlegenden Veränderungen des nordischen Wortschatzes durch den deutschen Einfluss der Hanse im Spätmittelalter.

Fragen drängen sich auf, die nur von der Sprachgeschichte her beantwortet werden können, etwa: Warum ist das Isländische so formenreich, so anders als alle anderen nordischen Sprachen, wenn sie doch alle auf einer gemeinsamen Sprache, dem Altnordischen, beruhen? Antwort: weil das Isländische seinen alten Charakter als eine image synthetische Sprache bewahrt hat, in der die grammatische Funktion eines Wortes durch seine Flexionsendungen (und nicht durch hinzukommende Wörter) kenntlich gemacht wird. Auch Färöisch ist heute noch eine synthetische Sprache, aber nicht mehr in dem Maße wie Isländisch. Bei den anderen nordischen Sprachen zeigt sich mit dem Ende ihrer jeweiligen altnordischen Sprachperiode, etwa ab dem ausgehenden 14. Jahrhundert, der allmähliche Übergang von der synthetischen zur immer stärker image analytisch geprägten Struktur der modernen festlandskandinavischen Sprachen, in denen sich die Beziehungen der Wörter zueinander nicht mehr durch Flexionsendungen, sondern durch eigene zusätzliche Wörter erklären. Zum Beispiel kann das Wort schwed. man ʻMannʼ wie im Deutschen Nominativ, Dativ oder Akkusativ sein; im Deutschen braucht es zur Eindeutigkeit ein weiteres Wort, z.B. den Artikel (der, dem, den), im Schwedischen hilft auch der allein nicht, weil er in jedem Kasus die gleiche Form hat. In den historischen Sprachstufen ist die Kasus-Information aber noch in den Flexionsendungen des Substantivs selbst erkennbar: maðr (N) – manni (D) – mann (A).

Neben diesem wissenschaftlichen Gesichtspunkt sollte auch der für Studierende praktische Nutzen nicht vergessen werden: In der nordischen Philologie sind sprachgeschichtliche Kenntnisse von besonderer Bedeutung, da man selten mit nur einer einzigen nordischen Sprache in Berührung kommen wird, sondern sich schon im Laufe des Studiums mit der sprachlichen Vielfalt des Nordens konfrontiert sieht. Zumindest die im Hauptfach Studierenden werden wenigstens zwei Sprachen lernen. Die Einsicht in sprachhistorische und etymologische Zusammenhänge, d.h. in die Herkunft und Geschichte eines Wortes und in seine Bedeutung, erleichtert das Verständnis für das Verhältnis zwischen den verschiedenen modernen Sprachen und sogar die aktive Sprachbeherrschung: Wenn ich zum Beispiel die unterschiedlichen Lautentwicklungen in den einzelnen Sprachen theoretisch gelernt habe und im Wortschatz erkenne, kann ich auf dieser Grundlage Texte in den anderen nordischen Sprachen viel besser verstehen oder wenigstens lesen!

Gerade innerhalb der nordischen Philologie ist dieses Stoffgebiet außerordentlich reich und vielschichtig, da die sprachliche Überlieferung im Nordischen früher als die anderer Sprachen mit (Runen)Inschriften beginnt und damit den Bereich der bloßen Rekonstruktion früh verlässt. Unser Ziel ist also eine Darstellung, die einerseits die hauptsächlichen Entwicklungslinien in großen Zügen herausstellt, andererseits so viele Einzelinformationen bietet, dass jeder Leser das für „seine“ Sprache(n) Wichtige wieder bzw. neu finden kann.

1.2Sprachliche Vielfalt – damals und heute

Wie viele Sprachen gibt es auf der Welt? Raten Sie mal – es ist mit Sicherheit falsch. Die Antwort auf diese einleitende Frage ist eine große Überraschung: Wir rechnen heute mit ca. 7.000 Sprachen weltweit. Bei den folgenden Angaben stützen wir uns auf ein grundlegendes Nachschlagewerk, Ethnologue, das fortlaufend Listen über alle Sprachen der Welt führt, sowie auf Ausführungen von MARTIN HASPELMATH vom Max-Planck-Institut in Leipzig.

Simons/Fennig 2018 ⋅ Haspelmath ⋅ Deutsche Stiftung Weltbevölkerung

Die aktuelle Anzahl an Sprachen beträgt für 2018 laut Ethnologue 7.097, HASPELMATH spricht etwas allgemeiner von 6.500 bis 7.000 Sprachen. Zu diesen Sprachen gehören auch solche, die im Aussterben begriffen sind und nicht mehr als eine Handvoll Sprecher haben, sowie die wirklich großen Sprachen wie das Englische, Chinesische oder Spanische. Die Zahl ist in ständigem Wandel, wie auch die Sprachen selbst. Dieser Wandel ist heute in einer sich immer schneller ändernden Welt besonders dynamisch, da jede Gesellschaft solche Änderungen auch an ihre Sprache weitergibt. Die Vorherrschaft großer Sprachen wie Englisch oder Spanisch kann zum Unterdrücken und bis zum Aussterben kleiner Sprachen führen. In einer groben Schätzung stellt Haspelmath tabellarisch den Sprachenverlust dar: Die von ihm angesetzten ca. 20.000 Sprachen um das Jahr 10000 v. Chr. seien bis zum Jahr 1000 n. Chr. auf ca. 9.000 Sprachen geschrumpft. Für das Jahr 2000 geht er von ca. 6.500 Sprachen aus, die sich im Verhältnis zu den frühen Zeiten weiter rasant reduzieren werden: geschätzt auf 4.500 Sprachen im Jahr 2050, 3.000 Sprachen im Jahr 2100, 100 Sprachen im Jahr 2200.

Von den bei Ethnologue geführten 7.000 Sprachen sind es 23, die etwa die Hälfte der Weltbevölkerung bedienen. Diese wurde für 2018 von der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung mit rund 7,6 Milliarden angegeben – dazu die Prognose der UN, diese Bevölkerung würde bis zum Jahr 2100 auf ca. 11,2 Milliarden anwachsen. Angeführt wird die Liste von Englisch, mit ca. 1,5 Milliarden Sprechern (Muttersprachler und andere). Verglichen damit sind die nordischen Sprachen eine winzige Gruppe mit zusammen etwa 19 Millionen Sprechern und zwar von fünf Sprachen. Das sind die drei skandinavischen Sprachen auf dem europäischen Festland, nahe verwandt, aber jede mit einer eigenen Schriftsprache und eigenen Institutionen, die die Normen der jeweiligen Landessprache immer wieder neu festlegen. Dabei hat Norwegen sogar zwei Sprachen, Bokmål und Nynorsk. Hinzu kommen Isländisch und Färöisch, die nicht unter den Begriff „skandinavisch“ fallen; sie werden oft als „inselnordisch“ klassifiziert.

Vor 1.000 Jahren, gegen Ende der Wikingerzeit, konnte man noch von einer weitgehend gemeinsamen Sprache des Nordens ausgehen, das heißt, es gehörten natürlich auch Isländisch und Färöisch dazu. Diese umfassende gemeinsame Sprache bildet den Mittelpunkt unserer Einführung. Wir werden sie in ihrer Entwicklung von ihren Vorstufen in ältesten Zeiten bis hin zum klassischen Altnordisch verfolgen, der Sprache, in der die mittelalterliche Literatur des Nordens abgefasst ist.

1.3Die indogermanischen Sprachen

Während sich der Ursprung der Sprache im Dunkel der Geschichte verliert, kann man vorhandene Sprachen in so genannte „Familien“ teilen. Ethnologue geht heute von 152 Sprachfamilien aus, die sich nicht ohne Weiteres auf einen gemeinsamen Ursprung zurückführen lassen. Gemessen an Zahlen ist die größte Sprachfamilie das Indogermanische (=Indoeuropäische), mit 449 Sprachen. Heute sprechen ca. 3 Milliarden Menschen eine indogermanische Sprache: etwa 40% der Weltbevölkerung.

Die Verwandtschaft von Sprachen untereinander bemerkte erstmals der britische Indologe und Jurist SIR WILLIAM JONES (1746–1794). Während seines Studiums des Sanskrit, der klassischen Literatursprache der alten Inder, fielen ihm immer stärker Gemeinsamkeiten mit der griechischen und lateinischen Sprache auf. 1786 veröffentlichte er seine aus den Forschungen resultierende These, Sanskrit, Latein, Altgriechisch, die keltischen Sprachen sowie Gotisch und Persisch seien eng miteinander verwandt. Für die Forschung ergaben sich bald Fragen nach der Beziehung einzelner Sprachen zueinander. Im 19. Jahrhundert versuchte man vorwiegend in Deutschland, diese Sprachverwandtschaft wissenschaftlich zu untermauern. Weitere Sprachen wurden einbezogen – der Anfang der Sprachwissenschaft überhaupt. Die moderne Linguistik hat ihre Anfänge im Sprachvergleich.

Die Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten zwischen so vielen Sprachen Europas bis hin nach Indien, im Wortschatz, in image Morphologie, image Phonologie und grammatischen Strukturen konnten kein Zufall sein, sondern mussten, wie man glaubte, auf einer gemeinsamen Grundsprache beruhen, einer Ursprache, die man nach den beiden Extrempunkten ihrer Ausbreitung, Indien als südlichstem und Island als nördlichstem (germanischem) Vertreter, benannte: Indogermanisch – die Sprache also, die die Indogermanen sprachen und die sie mit ihrer geographischen Ausbreitung aus dem Osten, zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer, in Richtung Norden und Westen mit sich brachten, also auch nach Europa. Die bis dahin hier heimischen Sprachen wurden wohl durch das Indogermanische weitgehend verdrängt. Die Forschung zu diesen Rest- oder image Trümmersprachen, auch image Substratsprachen genannt, ist umfangreich und widersprüchlich, aber auf jeden Fall können sich Überbleibsel der alten, einheimischen Sprachen im Indogermanischen finden, zum Beispiel so genannte Substratwörter. Ziel der Forschung wurde es, diese Ursprache zu rekonstruieren. Um zu unterscheiden, welche Wortformen denn nun über Lautgesetze aus anderen Sprachstufen rekonstruiert und welche tatsächlich belegt sind, kennzeichnet man die rekonstruierten mit einem vor das Wort gestellten Sternchen, dem image Asterisk, *.

Kausen 2012 ⋅ Campbell 2013 ⋅ Meyer-Brügger 2010 ⋅ Tichy 2004 ⋅ Fortson 2010 ⋅ Seebold 1998

Nachdem man an die Existenz dieser gemeinsamen rekonstruierten Sprache glaubte, war es theoretisch ein logischer Schritt, nach dem einheitlichen Urvolk zu suchen, das diese Sprache gesprochen hatte. Bei beidem, Ursprache und Urvolk, handelt es sich aber eben um Rekonstrukte: Erst entwickelte die Vergleichende Sprachwissenschaft Methoden, um auf der Grundlage von überlebenden oder ausgestorbenen (aber schriftlich bezeugten) Sprachen eine unsichere Ursprache zu „destillieren“. Dann rekonstruierte man als zweiten, rein spekulativen Schritt auf dieser unsicheren Grundlage ein indogermanisches Urvolk. Weder die Ursprache noch ihre Träger, die Indogermanen, das Urvolk, sind in irgendwelchen schriftlichen Zeugnissen überliefert. Man kann die hypothetische Sprechergemeinschaft zwar mit bestimmten archäologischen Funden in Verbindung bringen – und so erwuchs auch die Idee einer Urheimat in Südrussland –, aber ohne Schriftzeugnisse ist nun mal keine eindeutige Zuordnung möglich. Sehr wichtig zu merken: Ursprache und Urvolk sind reine Rekonstrukte, die auf logischen Folgerungen beruhen.

Heute ist die Theorie von einem einheitlichen indogermanischen Urvolk veraltet. Man stellt sich die Indogermanen als einen lockeren Zusammenschluss von Stämmen oder Gruppen vor, deren Sprache unter Umständen gar keine Einheitlichkeit aufwies, sondern schon damals vielleicht eher ein Verbund von Mundarten war.

INDOGERMANISCHE SPRACHFAMILIE

GERMANISCH

 

Westgermanisch

Deutsch, Niederländisch, Afrikaans; Englisch, Friesisch

Nordgermanisch

Dänisch, Schwedisch, Norwegisch, Isländisch, Färöisch; Norn † (zuletzt Hebriden, nördliches Schottland)

Ostgermanisch

Gotisch † (zuletzt Spanien, Südfrankreich, Italien); Krimgotisch †; Langobardisch † (zuletzt Italien)

ITALISCH

 

Oskisch-Umbrisch

Oskisch †, Umbrisch †

Lateinisch

Lateinisch †

Balkanromanisch

Rumänisch

Italoromanisch

Italienisch, Sardisch

Rätoromanisch

Bündnerromanisch, Ladinisch, Friaulisch

Galloromanisch

Französisch, Okzitanisch (inkl. Provenzalisch)

Iberoromanisch

Spanisch, Katalanisch, Portugiesisch

KELTISCH

 

Festlandkeltisch

Gälisch † (Irland, Schottland), Keltiberisch † (südl. der Pyrenäen)

Inselkeltisch

 

Gälisch

Irisch, Schottisch-Gälisch, Manx † (Isle of Man)

Britannisch

Walisisch (Kymrisch), Kornisch † (Cornwall), Bretonisch (Bretagne)

BALTISCH

Litauisch, Lettisch, Altpreußisch †

SLAWISCH

 

Ostslawisch

Russisch, Weißrussisch, Ukrainisch

Westslawisch

Polnisch, Kaschubisch, Sorbisch, Tschechisch, Slowakisch

Südslawisch

Slowenisch; Serbisch, Kroatisch, Bosnisch, Bulgarisch, Makedonisch

ALBANISCH

Albanisch (Balkan)

GRIECHISCH

Griechisch (südlicher Balkan, östlicher Mittelmeerraum)

ARMENISCH

Armenisch (Kaukasus)

INDOIRANISCH

 

Iranisch

Avestisch †, Persisch, Kurdisch, Belutschi, Pashto u.v.a.

Indoarisch

Vedisch, Sanskrit, Hindi, Urdu, Bengali, Punjabi, Nepali u.v.a.

Tab. 1: Vereinfachter Stammbaum der indogermanischen Sprachen (nach Kausen 2012, Tabelle 1.10). † kennzeichnet ausgestorbene Sprachen.

Die rekonstruierte Ursprache und die Frage nach einem legendären Urvolk führten konsequent zu der Frage nach dem vermeintlich ältesten Siedlungsraum, der so genannten Urheimat dieses Volkes. Sie hat die Forschung lange und intensiv beschäftigt und tauchte immer wieder auf, vor allem im englischsprachigen Bereich, der sogar den deutschen Begriff der „Urheimat“ als Lehnwort übernahm. Er ersetzte das eine Zeit lang gültige „Homeland“. image Ethnolinguistik und Archäologie haben lange versucht, das Ursprungsgebiet der Indogermanen, eben diese Urheimat, ausfindig zu machen. Die Theorien dazu füllen eine eigene Bibliothek. Einen knappen, aber präzis zusammenfassenden Überblick bietet der deutsche Altertumsforscher und Anthropologe INGO WIWJORRA (2007), ausführlich und anschaulich der US-amerikanische Anthropologe DAVID W. ANTHONY (2007).

Immer wieder mussten im Laufe der Zeiten Ansichten und Einschätzungen, die schon als gesichert galten, geändert werden, weil man etwas Neues entdeckte, zu dem die Theorien dann nicht mehr passen wollten. Vor allem die Entzifferung des Hethitischen im Jahre 1915, einer zum ausgestorbenen Sprachzweig des Anatolischen in Kleinasien gehörenden Sprache, stellte viele bis dahin geltende Sichten auf den Kopf. Die Forschung zur Urheimat der Indogermanen ist viel komplexer, als sie in einer Einführung dargestellt werden könnte. Deshalb sei abschließend nur festgehalten, dass eine eindeutige Lokalisierung eines angenommenen einheitlichen Urvolkes mit einer gemeinsamen Sprache gar nicht möglich war. Doch wird von den meisten Forschern heute akzeptiert, dass Südwestrussland und die Südukraine als Urheimat in Frage kommen – eine Eingrenzung, die über den gemeinsamen Wortschatz zusammen mit archäologischen Erkenntnissen möglich wurde.

1.4Die Ausgliederung des Germanischen

Vermutlich durch die weite geographische Ausbreitung und den Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung in den eingewanderten Gebieten entwickelten sich aus dem Indogermanischen spätestens ab 2500 v. Chr. unterschiedliche Sprachzweige. Einer davon war das Germanische. Vergleicht man allein den Wortschatz verschiedener germanischer Sprachen, zeigen sich darin deutliche Übereinstimmungen und Unterschiede, die nicht zufällig, sondern systematisch sind; es handelt sich also um regelmäßige Lautkorrespondenzen. Vergleichen wir den Vokalismus in dem deutschen Wort „Haus“: fries. hûs, engl. house, nl. huis, isl. hús, norw./schw./dän. hus. Niederländisch ui [œi] entspricht dt. au, engl. ou [au], friesisch û und nordisch u / ú. Das bestätigt sich auch in anderen Wörtern: Maus – muis – mouse – mús – mus; braun – bruin – brown – brúnn – brun. So wird ein Lautgesetz gefunden, das man nutzen kann: Ausgehend von modernen Sprachen, rekonstruiert man für ältere und alte Sprachstufen nicht belegte Wortformen. Solche Lautgesetze aufzudecken ist Teil der Historisch-Vergleichenden Sprachwissenschaft.

Wie hat man es sich nun genauer vorzustellen, dass sich eines Tages aus der indogermanischen Grundsprache das Germanische – die Grundsprache u.a. der deutschen und aller nordischen Sprachen – ausgliederte? Generell ist zum Entstehen solcher Tochtersprachen eine Reihe unterschiedlicher Denkmodelle vorgelegt worden. Das älteste Modell stammt von dem deutschen Sprachwissenschaftler AUGUST SCHLEICHER