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Torture to her Soul –

In ihrer Seele

Monster-Trilogie 2

J.M. Darhower

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© 2020 Sieben Verlag, 64823 Groß-Umstadt
© Übersetzung Sylvia Pranga
© Covergestaltung Andrea Gunschera
© Originalausgabe J.M. Darhower 2014

ISBN Taschenbuch: 9783864439056
ISBN eBook-mobi: 9783864439063
ISBN eBook-epub: 9783864439070

www.sieben-verlag.de

Für alle, die sich in den letzten Menschen verliebt haben, dem sie ihr
Herz hätten schenken sollen.
Das ist für euch
.

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Epilog

Bonusszene

Die Autorin

Prolog

Geheimnisse sind etwas Seltsames. Man hält sie unter Verschluss, verborgene Gedanken, die niemand sonst hört. Es ist für andere schwierig, dir nahezukommen – dich jemals wirklich zu kennen – wenn du dein tiefstes Inneres zurückhältst und die Menschen nur deine Oberfläche sehen lässt. Aber ich glaube, dass manche Geheimnisse besser niemals ausgesprochen werden.

Manchmal haben Geheimnisse die Macht, zu töten. Die Macht, zu zerstören. Wir alle haben Nuklearwaffen in uns und unsere Finger schweben ständig über dem Auslöseknopf. Die meisten von uns drücken ihn. Einige von uns nicht.

Ich wünschte, ich hätte diese Zurückhaltung gehabt. Ich beneide diejenigen, die jeden auf Distanz halten. Ich bin schwach. So verdammt schwach. Ich lasse sie zu nah an mich heran.

Vor langer Zeit habe ich einmal eine Redewendung gehört, die ich niemals vergessen habe: Drei können ein Geheimnis bewahren, wenn zwei von ihnen tot sind. Ich habe in meinem Leben zu viele Geheimnisse verraten, was immer damit endete, dass jemand starb. Manchmal wegen mir und manchmal … nun, wegen mir. Ich denke an sie, wenn ich nachts im Bett liege, sehe ihre Gesichter, wenn ich die Augen schließe und erlebe noch einmal die Momente, wenn die Knöpfe gedrückt wurden und alles um mich herum implodierte.

Ich werde heimgesucht. Dunkelheit umgibt mich. Im übertragenen Sinn. Buchstäblich. Es ist dunkel.

Es ist diese schwere Art von Dunkelheit, die man spüren kann, wenn man atmet. Die Dichte füllt meine Lungen und erstickt mich langsam. Es gibt keine Erlösung in dieser Dunkelheit, nur weitere Qual. Schweiß bedeckt meine Haut, die Feuchtigkeit des Sommers klebt in der Luft, was es schwierig macht, ein bisschen Bequemlichkeit zu finden. Ich wälze mich ruhelos hin und her, wache immer wieder auf und verliere Sekunden, Minuten, Stunden …

23:43 Uhr

00:11 Uhr

01:45 Uhr

02:09 Uhr

Ich drehe mich auf den Rücken, schließe die Augen, lege einen Arm über mein Gesicht und versuche, nicht mehr auf diesen verdammten Wecker zu sehen. Er diktiert mein Leben, und ich hasse es. Ich hasse es, verdammt nochmal. Die Stille ist angespannt. Die Geräusche des alten Hauses klingen in meinen Ohren überlaut. Daran ist nichts Friedliches. Noch ein Quietschen. Eine hölzerne Bodendiele ächzt. Plötzlich bewegt sich die Matratze.

Ich nehme den Arm vom Gesicht und öffne die Augen. Mein Blick ist auf die Decke gerichtet, als ich aufschrecke. Über mir ist nichts außer Dunkelheit, neben mir glüht die Anzeige des Weckers.

Langsam drehe ich den Kopf und sehe erneut auf die Zeitangabe. 2:45 Uhr.

Noch ein Geräusch. Ein lautes Klicken. Mein Herz setzt einen Schlag aus und fängt dann an zu rasen. Ich kenne das Geräusch. Es ist nicht normal. Unnatürlich.

Das Spannen einer Flinte.

Ich setze mich auf, blinzele heftig und suche verzweifelt nach was immer sich in der Dunkelheit verbirgt. Aber meine Augen brauchen zu lange, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Nein, ihre Augen passen sich schneller an, und sie sieht es … sie sieht den Jäger. Und sie begreift, dass wir die Beute sind.

„Naz!“ Ihre Stimme ist ein panischer Schrei. „Oh Gott, Naz!“

Ich erstarre. Es ist nur eine Sekunde. Nur eine Sekunde Verzögerung, bis sich meine Sicht endlich anpasst. Ich starre auf das vertraute Gesicht – ein Gesicht, das mich noch vor Stunden angelächelt hat, als wäre zwischen uns nichts als Liebe. Ich begreife, dass es das Gesicht eines Mannes ist, der Geheimnisse bewahrt. Ein Mann, den ich nicht wirklich gekannt habe. Das Gesicht meines besten Freundes.

Es ist nur eine Sekunde, aber eine Sekunde zu viel. Eine Sekunde des Zögerns, die mir alles nimmt, was ich liebe.

BANG

Der Laut explodiert in einem feurigen Licht, das mich erschüttert und ins Bewusstsein reißt. Ich setze mich auf und werde ein weiteres Mal von der Dunkelheit erstickt. Ich schnappe keuchend nach Luft, Schweiß läuft mir über das Gesicht. Ich blinzele heftig. Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, empfängt mich diese Szene wieder und wieder.

Blinzeln. Blinzeln. Blinzeln. Verdammt.

Egal wie sehr ich es versuche, ich kann es einfach nicht vergessen. Ich kann nicht aufhören, es zu sehen. Ich kann nicht aufhören, es immer wieder zu erleben.

Neben mir im Bett bewegt sich etwas und für einen Moment bin ich überzeugt, dass es nicht passiert ist. Es war nur in meiner Vorstellung. So muss es sein. Es ist nicht wirklich passiert. Mir geht es gut. Sie ist nicht tot.

Aber als ich hinüberblicke, sind es nicht Marias Augen, die mich ansehen, nicht ihr Gesicht, das ich sehe, und die Realität stürmt wieder auf mich ein. Es war kein Albtraum. Nein, es war eine Erinnerung.

Karissa mustert mich in der Dunkelheit aufmerksam, aber sie sagt nichts. Sie versucht nicht, mich zu trösten und fragt nicht, ob alles in Ordnung ist. Das muss sie auch nicht. Sie weiß es wahrscheinlich schon. Sie kennt mich.

Seufzend wende ich den Blick von ihr ab, als die Akzeptanz einsetzt. Instinktiv blicke ich zu dem Nachttisch neben meinem Bett und suche nach einem Wecker, den ich seit zwanzig Jahren nicht mehr habe. Ich frage mich, wie viel Uhr es ist, und ob das überhaupt eine Rolle spielt.

Die Zeit hielt an dem Tag um 02:45 Uhr an. Seitdem bin ich in der Dunkelheit gefangen. Ich werde jetzt ein Geheimnis verraten, das ich noch nie jemandem anvertraut habe. Ich, Ignazio Vitale, habe immer Angst vor der Dunkelheit gehabt. Und wenn ihr das jemandem verratet, bringe ich euch um.

Kapitel 1

Mein Leben ist eine Fallstudie der Maßlosigkeit. Wenn man dafür nach einer Entschuldigung sucht, muss man anderswo suchen. Mir tut es nicht im Geringsten leid. Bei mir ist alles Übermaß, ich habe viel mehr, als ich jemals brauche. Was soll ich sagen? Ich verweigere mir nichts.

Ich habe in meinem Leben mehr als ein Dutzend Männer getötet. Mehr als zwei Dutzend, wenn ich ehrlich sein soll. Ich habe schon lange zu zählen aufgehört. Ich töte und verletze, aber bis vor Kurzem habe ich nur ein einziges Mal wirklich geliebt.

Maria Angelo. Ich dachte, sie wäre die Einzige, die jemals zu mir vordringen würde, die Einzige, die die zerbeulte Rüstung durchdrang, die ich trage. Ich glaubte, dass meine Fähigkeit zu lieben mit ihr endete, und das war für mich in Ordnung. Ich lebe mein Leben im Übermaß, weil mich das zufriedenstellt. Liebe, andererseits, tut höllisch weh. Ich weiß es. Glaubt mir, ich weiß es. Ich habe meine Liebe direkt vor meinen Augen sterben sehen, keuchend und um einen letzten Atemzug ringend, den ihr das Leben nicht geben wollte. In diesem Moment beschloss ich, lieber zu sterben, als so etwas noch einmal zu fühlen.

Doch dann begegnete ich ihr.

Ich bleibe im Eingang zur Küche stehen, lehne mich lässig gegen den hölzernen Türrahmen und beobachte Karissa beim Kochen. Oder eher bei dem Versuch, zu kochen. Aus einer Pfanne auf dem Herd spritzt Fett in die Luft, das Hühnchen darin verbrutzelt, ist bereits so schwarz, dass man es kaum mehr erkennt. Dahinter kocht ein Topf über. Die Flamme zischt, als die Flüssigkeit sie trifft. Rauch quillt aus dem Backofen.

„Mist, Mist, Mist“, skandiert sie, zieht die rosa Ohrhörer aus ihren Ohren und legt sie um ihren Hals. Sie schnappt ein Paar Topflappen, reißt die Tür auf und versucht, etwas von dem Rauch heraus zu wedeln. Doch er verbreitet sich zu schnell im Raum und gleich darauf schrillt lautes Piepsen los. Sie wirft dem Rauchmelder einen wütenden Blick zu. Dann zieht sie ein Backblech aus dem Ofen, wirft es auf die Arbeitsplatte und bedenkt, was immer sie gebacken hat, mit einer Reihe von Flüchen. Ich denke, es sollen Kekse sein, aber sie sehen aus wie Dreckklumpen.

Appetitlich.

Ich gehe in die Küche, greife hoch, öffne den Rauchmelder und ziehe die Batterie heraus, sodass er aufhört zu schrillen. Karissa sieht mich an und lächelt zurückhaltend, statt etwas zu sagen. Worte sind momentan ein seltenes Geschenk von ihr. Sie hat mich mit vielen vernichtenden Worten überschüttet, bevor die Quelle versiegte und wir in die Dürreperiode eintraten. Ich sitze es aus, aber ihr Schweigen ist vielsagend. Es ist frustrierend. An manchen Tagen regelrechte Folter.

Sie läuft mit diesen Ohrhörern herum, aus denen Musik plärrt, mit der sie die Welt aussperrt. Wenn sie mich nicht hört, kann sie vorgeben, dass ich nicht da bin. Wenn sie mich nicht hört, glaubt sie, dass ich meine Zeit nicht damit verschwende, sie anzusprechen.

Sie wendet sich wieder dem Herd und dem verbrannten Essen zu. Normalerweise kocht sie besser, aber irgendetwas hat sie aufgebracht. Ich weiß nicht, was.

„Ist alles in Ordnung, Karissa?“

Sie stellt beide Herdflammen aus und murmelt: „Alles ist ganz wundervoll.“

Mein Kiefer spannt sich bei ihrem Ton an und ich zwinge mich, nicht darauf zu reagieren. Ich kann Respektlosigkeit schlecht ertragen, aber sie verteilt sie im Moment so großzügig, als würde ich danach gieren. Zum Teufel, vielleicht ist es so. Vielleicht verdiene ich es. Aber es gefällt mir nicht. Überhaupt nicht.

Anstatt sie zu einer ausführlicheren Antwort zu drängen, zu einer besseren Antwort, gehe ich einfach weg und überlasse es ihr, das Abendessen zu retten, das ich nicht essen werde, wie sie weiß. Sie macht das jetzt jeden Tag. Es ist Teil einer Routine, die sie sich diesen Sommer angewöhnt hat. Eine Routine, von der sie nicht mehr oft abweicht.

Sie ist so berechenbar, dass es ans Roboterhafte grenzt, weil sie versucht, ihre Gefühle in meinem Beisein nicht zu zeigen. Sie glaubt wohl, wenn sie tagaus, tagein dasselbe tut, bin ich zufrieden und übersehe ihre Anwesenheit. Und dass das der Schlüssel zum Entkommen sein könnte. Sie begreift nicht, dass ich auf diese Weise Menschen fange. Sie denken, dass sie im Gewimmel verschwinden, dabei sind sie auf die Art nur auffälliger für mich. Sie versucht, sich mit diesen katastrophalen Abendessen und ihren Gewohnheiten abzulenken, aber das hält sie nicht vom Grübeln ab. Von zu viel Nachdenken. Angespanntes Schweigen verstärkt noch alle mürrischen Gedanken. Ich weiß das. Glaubt mir, ich weiß das. Und das macht alles noch viel schlimmer. Sie ist eine tickende Zeitbombe.

Tick, tick, tick.

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ich den falschen Draht durchschneide und sie explodiert.

Ich gehe in mein Arbeitszimmer, setze mich an den Schreibtisch und ziehe mein Handy hervor, um ein chinesisches Restaurant in der Nähe anzurufen. Ich bestelle, was auch immer die Spezialität des Tages ist und dazu Beef Lo Mein ohne Gemüse, Karissas Lieblingsgericht.

Ich höre, wie sie in der Küche herumläuft, Schranktüren zuknallt und mit Sachen wirft. Ich lehne mich einfach in meinem Stuhl zurück, höre ihrem Chaos zu und nehme den Aufprall auf, als wären es ihre Fäuste. Ich hatte nicht vorgehabt, mich in sie zu verlieben. Ich wollte sie nicht einmal mögen.

Aber es ist passiert … wir sind passiert … und ich versuche immer noch herauszufinden, wie ich damit umgehen soll.

Der Lieferjunge taucht nach kaum dreißig Minuten auf. Es ist jedes Mal ein neuer, weil ich immer bei unterschiedlichen Restaurants bestelle, damit niemand vorhersehen kann, wo ich an einem bestimmten Tag esse. Es ist nicht idiotensicher, aber es hat sich als wesentlich sicherer herausgestellt, als das zu essen, was Karissa kocht.

Ich bezahle das Essen und gehe dann neugierig ins Esszimmer. Das Licht ist aus, aber Karissa sitzt allein am Tisch. Das schwache Leuchten, das von der Küche hereinfällt, zeigt mir, dass ein Teller vor ihr steht. Sie schiebt das Essen mit ihrer Gabel herum, isst es jedoch nicht und hat schon wieder die Kopfhörer in den Ohren. Das überrascht mich nicht. Ein weiterer Teil ihrer Gewohnheiten ist, dass sie eine Niederlage nicht zugibt.

Wortlos ziehe ich den Karton mit Beef Lo Mein hervor und stelle ihn auf den Tisch neben ihr. Dann gehe ich zum Arbeitszimmer zurück und lasse ihr ein Quäntchen Würde. Sie kann in Ruhe das essen, was sie möchte.

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Mit Menschen umgehen. Dinge finden. Meine Spezialität.

Ich sitze im Arbeitszimmer, die Füße auf den Schreibtisch gelegt und lehne mich in dem Lederbürostuhl zurück, während ich das Essen hinunterschlinge. Mein Blick ist auf den Laptop geheftet. Der Börsenticker läuft über den Bildschirm. Ich habe Geld in verschiedene hoch gehandelte Unternehmen investiert. Legitimer Handel, damit mich das Regierungsradar nicht erfasst. Aber im Moment liegt mein Augenmerk auf den kleinen Unternehmen, den kaum existierenden Aktien, für die sich niemand interessiert. Sie werden chop stocks genannt. Man sucht sich eine, investiert in sie, überredet ein paar andere, Geld in dieser Aktie anzulegen, weil sie angeblich die nächste große Sache ist, und sobald der Preis hochschießt, zieht man sein Geld wieder heraus. Die Aktie stürzt ab, weil sie nichts taugt, und alle anderen verlieren Geld. Doch man selbst streicht dank der Idioten einen guten Profit ein. Es ist illegal, und ich persönlich mache es nicht. Aber es gehört einfach dazu.

Sachen finden. Ich war immer gut darin, Pläne zu schmieden, einen Weg zu ersinnen, Dinge zu finden und Geld zu machen. Aber erst als ich anfing, für Ray zu arbeiten, perfektionierte ich meine Fähigkeiten. Jetzt habe ich Verbindungen auf der ganzen Welt. Wenn jemand etwas braucht, kenne ich eine Person, oder ich kenne eine Person, die jemand anderen kennt, der bekommen kann, was immer es ist.

Letztlich geht es Hand in Hand mit der Fähigkeit, mit Menschen umgehen zu können. Wenn die Menschen Angst vor dir haben – oder vor dem, wozu du in der Lage bist – dann verärgern sie dich nicht und verweigern dir nichts. Das ist eine meiner besonderen Fähigkeiten, die ich erst später entdeckte … als die Welt, die ich mir aufgebaut hatte, um mich herum zusammenbrach und mich als rücksichtslose Hülle zurückließ. Wenn in dir nichts als Dunkelheit übrig ist, ist es leichter, jemand anderem das Licht auszupusten. Und so bin ich. Ich tue, was ich will, nehme mir, was ich will und entschuldige mich nicht dafür. Doch so wurde ich nicht geboren. Die Welt hat mich zu dem gemacht, was ich bin und bezahlt jeden Tag für diesen Fehler. Es hat immer nur eins gegeben, was mir entkommen ist. Eine Person, die mir entschlüpft ist, die klug genug war, mir all die Jahre einen Schritt voraus zu sein. Carmela Rita.

Johnny war leicht zu finden. Er schlug denselben Weg ein, den Karissa jetzt nimmt: Vorhersehbarkeit. Er hielt sich bedeckt, verfiel in Routine, kaufte ein Haus, suchte sich einen beschissenen Bürojob und hoffte, unter dem Radar zu fliegen, indem er zu einem Nichts wurde. Und das passte, denn er war tatsächlich ein Nichts.

Carmela jedoch veränderte ihre Gewohnheiten drastisch und führte ein Leben, das von Chaos und Impulsivität bestimmt wurde. Wann immer ich ihr zu nahe kam, floh sie, änderte ihre Taktik und zog um. Ich denke, dass sie mir ziemlich ähnlich ist. Sie ist schlau. Aber ich bin schlauer.

Darum weiß ich, dass es nicht vorbei ist. Johnny zu töten, hat nichts beendet. Ich wünschte, sie würde wieder weglaufen, in einem anderen Leben verschwinden, sich irgendwo eine neue Existenz aufbauen und niemals zurückblicken. Doch das wird sie nicht tun. Ich weiß es, denn ich würde es auch nicht tun.

Carmela ist ebenfalls voller Dunkelheit. Das einzige Licht ihres Lebens erhellt jetzt mein Heim, und sie wird es sich zurückholen wollen. Sie wird kommen, um Karissa zu holen.

Gnade ihr Gott, wenn sie es tut.

Da ich gerade beim Licht meines Lebens bin …

Mein Blick wandert vom Laptop zu Karissa, die ins Arbeitszimmer kommt und kaum ein Geräusch macht, als sie sich auf der Couch zusammenrollt und nach der Fernbedienung greift. Sie stellt den Fernseher mit niedriger Lautstärke an und schaltet sofort zum Food Network. Auf ihrem Schoß liegt ein geöffnetes Notizbuch und sie spielt geistesabwesend mit dem Stift in ihren Fingern, während sie auf den Bildschirm starrt. Sie macht sich Notizen, als wäre es wichtig. Sie schreibt sich Rezepte auf, als bräuchte sie Ideen. Und sie lernt und lernt und lernt. Den halben verdammten Tag steckt sie die Nase in dieses Notizbuch, als gäbe es irgendwann eine Art von Test, als müsste sie sich mit Bobby Flay oder Rachel Ray oder sonst einem unerträglichen Gastgeber messen.

Ich schließe meinen Laptop und beende meine Mahlzeit, wobei meine Aufmerksamkeit jetzt auf Karissa ruht. Ich beobachte und analysiere sie, so wie sie das analysiert, was gerade gekocht wird. Ich spalte sie in winzige Fragmente auf, so wie die Zutaten, die sie in ihr Notizbuch schreibt.

Ich frage mich, ob sie weiß, wie intensiv ich das betreibe, wie sehr ich sie analysiert habe, wie sehr ich sie in- und auswendig kenne. Ich kenne ihr Seufzen und ihr Lächeln, die Bedeutung ihrer gebrochenen Stimme und ihrer Gänsehaut. Ich erkenne, wenn sie glücklich, traurig oder wütend ist, einfach am Schimmern ihrer Augen und dem Schwung ihres Schreitens. Sie ist ein offenes Buch, eine energische, empathische Frau und ganz egal, wie sehr sie sich bemüht, ihre Gefühle zu verbergen, weiß ich, was sie von mir denkt.

Ich weiß, dass sie mich hasst. Ich kann es sehen. Ich kann es spüren.

Man sieht es in der Anspannung ihrer Muskeln und wie sie sich in sich selbst zurückzieht, wenn ich in der Nähe bin. Und ihre Haut errötet, wann immer ich es wage, sie zu berühren.

Aber ich weiß, dass sie mich auch liebt. Denn unter ihrer Haut brennt ein Feuer, das nicht nur durch Wut entfacht wird. Ab und zu vergisst sie, dass sie mich eigentlich verachtet und mich daher nicht begehren sollte. Dann vergisst sie, dass ich ein Monster bin. Und alles, woran sie sich dann erinnert, alles, was sie weiß, alles, was sie interessiert, ist, dass ich ein Mann bin, der durch die Hölle gegangen ist. Ein Mann, der sie liebt, der geschworen hat, dass er ihr nicht wehtun wird, und eine Weile erlaubt sie sich, es zu glauben. Sie vergisst, dass ich der Bösewicht bin und erinnert sich, wie es sich anfühlte, als sie dachte, ich wäre der Held. Derjenige, der ertrinken würde, damit sie an der Oberfläche bleibt.

Daran halte ich mich fest. Das ist der Funken, nach dem ich suche, wenn ich sie ansehe. Heute ist er nicht da.

Sie macht ein finsteres Gesicht, hat jeden Muskel angespannt und den Kiefer verkrampft. Sie weiß, dass ich sie beobachte, weigert sich aber, auch nur meine Anwesenheit wahrzunehmen. Ich lächle und wende den Blick nicht von ihr ab. Sie versucht, mich zu verletzen, doch ich kann nur daran denken, wie wunderschön sie ist, wenn sie wütend ist.

Mein Handy klingelt und lenkt mich ab. Ich nehme es vom Schreibtisch und mache mir nicht die Mühe, aufs Display zu sehen, bevor ich den Anruf annehme. Ich erkenne bereits am Klingelton, wer es ist.

„Ja.“

„Ignazio!“

Ray ist bereits stark betrunken. Seine Stimme verrät es nicht, sie ist so stark und sicher wie immer, aber er hat mich beim Vornamen genannt. Das tut er nicht, wenn er seine Sinne beisammen hat.

„Ja“, sage ich nochmals, setze mich aufrecht hin und stelle die Füße auf den Boden.

„Wir sind im Cobalt“, sagt er. „Komm doch ein bisschen rüber.“

„Ja“, sage ich und stehe auf. „Okay.“

Ich beende das Gespräch und schiebe das Telefon in die Tasche meiner schwarzen Hose. Ich hätte nein sagen können. Wahrscheinlich bin ich der einzige Mensch, der eine Einladung von ihm ausschlagen könnte, ohne ernsthafte Konsequenzen befürchten zu müssen. Aber die Luft im Haus ist zu dick zum Bleiben. Sie braucht Abstand, um über das hinwegzukommen, was sie heute so verärgert hat. Ich weiß, dass sie hier sein wird, wenn ich zurückkomme. Sie wird hier sein, denn sie weiß, wenn sie es nicht ist, spüre ich sie auf und bringe sie zurück.

Ich ziehe Schuhe an, bringe meinen Krawattenknoten in Ordnung und nehme den Mantel vom Stuhl. Ich ziehe ihn an und schließe auf dem Weg zur Tür die Knöpfe. „Ich muss etwas erledigen.“

Karissa sagt nichts, sieht mich nicht einmal an, aber sie hat mich gehört. Das zeigt mir ein Zucken in ihrem Gesicht und wie sie sich auf die Innenseite ihrer Wange beißt.

„Es könnte spät werden“, sage ich, schlendere zur Couch und bleibe neben ihr stehen. „Vielleicht aber auch nicht.“

Noch ein Zucken, und sie schweigt weiterhin. Ich stehe einen Moment nachdenklich da, dann beuge ich mich hinab und drücke einen Kuss auf ihren Scheitel. Ich mache mir nicht die Mühe zu versuchen, sie auf die Lippen zu küssen. Sie würde mich nicht abwehren, das tut sie nie, aber heute würde sie den Kuss nicht erwidern.

„Ruf an, wenn du mich brauchst.“

Ein Grunzen, leise und kehlig, als müsste sie Worte mit Gewalt zurückhalten, um stattdessen diesen verärgerten Laut von sich zu geben. Ist sie wütend darüber, dass ich wage zu denken, dass sie mich jemals brauchen würde? Oder darüber, dass sie tief in ihrem Inneren weiß, dass sie mich längst braucht? So oder so, ich lächle wieder, lache innerlich sogar und gehe.

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Der Cobalt Room ist ein gehobener Club mitten in Manhattan, nicht weit vom Campus der New Yorker Universität entfernt. Es ist die Art von Club, den die Leute von außen bewundern, ein prachtvolles, altes Gebäude wie den Seiten eines historischen Magazins entsprungen. Doch nur wenige Menschen treten jemals über seine Schwelle. Dafür ist eine Mitgliedschaft erforderlich, die man nur auf Einladung erhält. Und es liegt in Rays Hand, wer heutzutage eingeladen wird. Ihm gehört der Club zwar nicht, aber er kontrolliert ihn definitiv. Er führt den Großteil seiner Geschäfte in einem Büro im hinteren Bereich, versteckt hinter der aufwendigen Bar und den schicken Unterhaltungsräumen. Er hängt vorne herum und beherrscht die Menge mit seiner offenen Persönlichkeit, aber wenn man nach hinten gezogen wird, weiß man, dass man schmerzlich zahlen muss.

Ich mache mir nicht die Mühe, meinen Ausweis vorzuzeigen, bevor ich eintrete. Der Türsteher Kelvin kennt mich. Schließlich ist er einer von uns. An den meisten Nachmittagen arbeitet er hier für Ray. Außerdem hat er einen Nebenjob ein paar Blocks weiter, wo er für einen kleinen Nachtclub namens Timbers arbeitet. Er war in jener Nacht Türsteher, als Karissa mit ihrer Freundin dorthin ging. Die Nacht, in der ich entschied, zu handeln. Kelvin informierte mich, sobald sie an dem Abend auftauchte. Er erkannte ihr Gesicht und wusste, dass sie mein Ziel war. Offen gesagt wussten das alle. Jeder einzelne von Rays Männern weiß genau, wer Karissa ist.

Kelvin nickt und neigt den Kopf, als ich vorbeigehe. Vielleicht aus Respekt, aber wohl eher, weil die Männer mir nicht gern in die Augen sehen. Das tun nur wenige. Die Straßenkämpfer, brutale Schläger, die lügen, betrügen, töten und stehlen, scheuen zurück, wohingegen die kleine Karissa, die halb so groß ist wie ich und kaum Körperkraft hat, nie zögerte, mir direkt in die Augen zu sehen, als ob sie mit einem Blick in meiner Seele lesen könnte. Zuerst dachte ich, dass sie es einfach nicht bemerkt. Doch nach einer Weile begriff ich, dass sie es sah, es ihr aber nicht so viel ausmachte. Es störte sie nicht, dass in mir so viel Dunkelheit ist, dass ich der Welt jedes Fünkchen Licht nehmen könnte. Niemand sonst sieht mich so an, mit dieser Art von Offenheit, Vertrauen und Zuneigung. Nicht einmal Ray. Außer vielleicht wenn er betrunken ist. Und heute Abend ist er betrunken. Er grinst, als er mich im Privatbereich der Bar auf sich zukommen sieht. Dieses Grinsen zeigt, dass ihm der Schalk im Nacken sitzt.

„Naz!“

Ich zucke beinahe zusammen, als er das sagt. Er reißt sich sofort zusammen, entschuldigt sich jedoch nicht, zuckt stattdessen mit den Schultern und legt das Gesicht in Falten, als wollte er sagen: Ach, Mist, du hast mich erwischt. Er wedelt mit der Hand und bedeutet dem Typen auf dem exklusiven Lederstuhl neben ihm zu verschwinden. Sobald er weg ist, nehme ich seinen Platz ein. Ich winke der Kellnerin und sage ihr, dass sie mir das Übliche bringen soll – eine Flasche kaltes, helles Bier, noch verschlossen. Sie bringt es, ohne Fragen zu stellen, ohne zu zögern, und ich benutze den Flaschenöffner an meinem Schlüsselbund, um den Kronkorken zu entfernen.

„Heute Morgen haben wir die Wertpapiere für Tiefkühlkost verkauft“, sagt Ray und lehnt sich auf dem Stuhl zurück. „Fast eine Viertel Million Profit.“

„Das ist großartig“, antworte ich und entspanne mich. „Dann gehe ich davon aus, dass meine Drinks heute Abend auf dich gehen?“

„Du sagst es.“ Ray hebt sein Glas hoch – Scotch mit Eis – und lässt es gegen meine Flasche klirren. „Wenn du so weitermachst, kaufe ich dir eine ganze Brauerei.“

Ich lache und trinke einen Schluck Bier. „Ich nehme dich beim Wort.“

„Ich weiß, dass du das tust.“

Die Stimmung ist bestens, und der Alkohol fließt in Strömen. Ray lacht und scherzt, seine gute Laune ist ansteckend. Ich mache mit, lächle und versuche, mich zu entspannen und alles andere aus meinen Gedanken zu verdrängen. Trotzdem erwische ich mich immer wieder dabei, an Karissa zu denken.

Es sieht aus, als würden wir miteinander abhängen, aber für Männer wie uns ist das Arbeit. Pläne machen, intrigieren, Kontakte knüpfen … das ist Teil des Jobs, den ich hasse. Es ist nicht so, dass ich Menschen im Allgemeinen hasse. Das tue ich nicht. Nicht wirklich. Ich bin nur glücklicher, wenn sie nicht um mich herum sind.

Außer ihr. Die verdammte Karissa. Sie ist jetzt immer meine Ausnahme. Und hätte es nie sein dürfen.

Es ist nach Mitternacht, als die Frauen eintreffen. Normalerweise sind sie nicht eingeladen und dürfen nicht ins Cobalt, aber wenn Ray das Verlangen zu feiern hat, geben ihm alle nach.

Prostituierte. Sie nennen sich selbst Escort-Damen. Ich nenne sie Huren. Die meisten sind kaum mehr als Mädchen, die zu viel Make-up tragen und nicht genug Verstand haben. Brandy, Rays aufdringliche blonde Freundin, taucht auf und zwängt sich mit auf seinen Stuhl. Sie macht es sich auf seinem Schoß gemütlich und schmiegt sich an seinen Hals. Früher hat sie sich genau wie die anderen verkauft. Doch dann fand Ray Gefallen an ihr und behielt sie für sich selbst. Sein kleines Püppchen, wie er sie nennt.

Alle anderen werden lockerer, während sich meine Muskeln immer mehr anspannen. Der Alkohol im Blut hilft nicht gegen das aufkommende Unbehagen. Es hilft auch nicht, dass Brandys Freundin sich auf meine Armlehne hockt. Sie ist neu, offensichtlich zum ersten Mal hier. Lächelnd sieht sie auf mich hinunter, ihre Pupillen sind wie schwarze Murmeln. Zugedröhnt.

„Hey, Süßer, willst du heute Nacht feiern?“

Ich starre sie ausdruckslos an. Ihr Bein reibt sich an meinem, ihr Fuß streicht über meine Wade. Brandy bemerkt es und rappelt sich hoch, um ihre Freundin mit einem betrunkenen Stammeln aufzuhalten. Doch Ray drückt ihr die Hand auf den Mund, um sie zum Schweigen zu bringen. Sein Blick ruht auf mir, er grinst wieder. Er will meine Reaktion sehen.

Manchmal gibt mir der Mann das Gefühl, eins seiner Spielzeuge zu sein. Ich trinke mein Bier aus – es ist das vierte – und stelle die leere Flasche auf den Tisch neben mir. Ich setze mich auf und winke das Mädchen näher zu mir heran. Sie beugt sich mit einem verführerischen Lächeln herunter und denkt wohl, dass ich sie auf ihre aufgespritzten Lippen küsse, stattdessen bringe ich meinen Mund nah an ihr Ohr. „Ich schlitze dir die Kehle auf, wenn du mich jemals wieder berührst.“

Ihre Miene muss entsetzt sein, denn Ray lacht wie ein Wilder. Es ist mir egal. Ich stehe auf und gehe zum Ausgang, ohne mich umzusehen. „Bis bald, Ray.“

„Mach’s gut, Naz.“

Dieses Mal zucke ich zusammen. Es ist nicht der Name selbst, der mich stört. Ich habe ihn Ignazio immer vorgezogen. Aber ihn zu hören, erinnert mich an den Mann, der ich einst gewesen bin, den Mann, der ich vorher war. Naz hatte Hoffnung. Naz war voller Liebe. Naz starb einen grausamen Tod.

Ich habe Karissa gesagt, sie soll mich Naz nennen. Das tat ich in einem kurzen Moment der Schwäche, weil sie mich mit so viel Licht in den Augen, so viel Unschuld in der Miene ansah, dass ich vorübergehend dachte, es wäre eine Reflektion meines alten Ich.

Glückselig unwissend.

Damals verirrte ich mich, vergaß, wer ich bin und ich weiß immer noch nicht, wie zum Teufel ich wieder zurückfinden soll.

Es ist nach ein Uhr morgens, als ich nach Hause komme. Das Haus ist dunkel und still. Ich trete durch die Tür, ziehe mein Jackett aus und lockere mit einem Seufzen den Krawattenknoten. Das Arbeitszimmer ist leer, der Fernseher ausgeschaltet, die Fernbedienung liegt auf dem kleinen Tisch auf Karissas Notizblock. Ich schiebe die Fernbedienung weg und nehme den Block, um die oberste Seite zu lesen: Wie man das perfekte Steak brät.

Ich werfe den Notizblock wieder auf den Tisch, wobei mir auffällt, dass die Ecke eines Umschlags daraus hervorragt. Neugierig ziehe ich ihn heraus und sehe, dass er an Karissa adressiert und von der New Yorker Universität ist. Ich weiß, dass es falsch ist, aber ich sehe nach, ziehe das Papier heraus und lese den Brief.

Sehr geehrte Frau Reed, bla, bla, bla, Sie haben Ihr Stipendium verloren, also müssen Sie Ihre Studiengebühren zahlen.

Das ist eine Rechnung über fast fünfundzwanzigtausend Dollar. Ich stoße einen leisen Pfiff aus, schiebe das Blatt wieder in den Umschlag und stecke ihn zurück in den Notizblock. Kein Wunder, dass sie so schlechte Laune hat.

Kapitel 2

„Willst du …”

„Nein.“

Ich unterbreche mich mitten in der Frage und starre Karissa an, die auf der Couch sitzt, den Notizblock auf dem Schoß und eine weitere Kochshow ansieht. Ein neuer Tag, derselbe Mist. Ich höre schwach die Musik, die aus den Ohrhörern kommt, die sie sich um den Hals gelegt hat, sodass es momentan möglich ist, mit ihr zu sprechen.

„Kann ich zumindest meine Frage beenden, bevor du antwortest?“

Sie sagt nichts, notiert sich nur etwas, das sie auf dem Bildschirm sieht. Wieder einmal tut sie, als würde ich nicht existieren.

Ich atme tief durch und frage: „Willst du mich begleiten, wenn ich …“

„Nein.“

Ich versuche, meine Frustration zu unterdrücken, aber sie bricht sich in einem Stöhnen die Bahn. Diese Frau macht mich so unglaublich wütend. Kopfschüttelnd verlasse ich das Arbeitszimmer und mache mir nicht die Mühe, ein drittes Mal zu fragen. Ich schnappe meinen Schlüssel, gehe aus dem Haus und knalle die Tür hinter mir zu.

Sie geht mir an die Nieren. Ich versuche, es nicht zuzulassen. Ich versuche, ruhig und gefasst zu bleiben. Ich bin geübt darin, meine Gefühle nicht zu zeigen. Aber sie allein schafft es, mir unter die Haut zu gehen. Wiederum ist sie meine Ausnahme. Immer die verdammte Ausnahme.

Die Fahrt nach Manhattan zieht sich an diesem Nachmittag in die Länge. Ich lasse meine Fingerknöchel und Halswirbel knacken, während ich im Stau festsitze und versuche, die Steifheit aus dem Körper zu bekommen. Die Anspannung scheint von Tag zu Tag immer stärker zu werden. Statt, dass es besser wird und die Dinge sich einspielen, fühlt es sich an, als wären wir an der Startlinie zum Stillstand gekommen. Geduld ist immer eine meiner Stärken gewesen. Ich habe zwei Jahrzehnte damit verbracht, Carmela aufzuspüren und habe Jahre gewartet, bis ich mich an Johnny rächen konnte. Aber bei ihrer Tochter nähere ich mich der Toleranzgrenze.

Ich fahre nach Greenwich Village und stelle das Auto in einem Parkhaus in der Nähe des Washington Square ab. Dann umrunde ich den Block. Der Studentenservice der Universität ist im ersten Stock des Gebäudes: Office of the Bursar. Das Gebäude ist hell erleuchtet und für den Sommer überraschend belebt. Ich muss ein paar Minuten warten, bis ich an die Reihe komme und trete auf eine Frau im mittleren Alter zu, die hinter einem großen Schreibtisch in der Lobby des Büros sitzt.

„Ich muss mit jemandem über die Bezahlung einer Schulgeldrechnung reden.“

Die Frau faselt darüber, dass die Studenten die Gebühren online zahlen können, spult ihre übliche Litanei ab, doch ich unterbreche sie. „Nein, ich muss eine Zahlung machen. Und ich will alles bezahlen. Heute.“

Eine Stunde später verlasse ich das Gebäude um fünfundzwanzigtausend Dollar ärmer, was nur eine ausgedruckte Quittung beweist. Die Worte ‚in voller Höhe gezahlt‘ sind oben neben Karissas Namen gestempelt.

Die Abenddämmerung setzt ein, als ich mich auf den Rückweg nach Brooklyn mache und in der Auffahrt des Hauses parke. Ich gehe hinein. Laute Musik empfängt mich bereits an der Tür. Ich mache ein paar Schritte in die Eingangshalle und rufe Karissas Namen. Ein lebhaftes Lachen übertönt den Lärm. Es ist weiblich und vertraut, aber es ist nicht Karissas.

Melody.

Mein Puls beschleunigt sich und meine Finger zucken bei einem plötzlichen Aufwallen von Verärgerung. Ich balle die Hände zu Fäusten, um es zu unterdrücken, aber es hilft nicht. Ich will das Leben aus diesem Lachen quetschen und dieses unerträgliche Gequassel ersticken. Sie geht mir unter die Haut und vergräbt ihre Krallen in mir.

Der Krach kommt aus dem Arbeitszimmer, dem Raum, in dem ich mich am meisten zu Hause fühle. Der einzige verdammte Ort, an dem ich mich jemals sicher fühle. Jemanden in mein Haus einzuladen ist, als ob man ihn mein Essen berühren oder meine Getränke eingießen lässt. Es ist so gut wie unmöglich, mein Vertrauen zu bekommen. Ich bin schon mal verwanzt worden, meine Telefone wurden abgehört, und es ist so leicht, etwas zu übersehen, das direkt vor meiner Nase eindringt. Ich lasse keine Menschen in mein Leben, und sie öffnet jemandem meine Zuflucht, den ich kaum kenne.

Melody Carmichael. Ihr Vater arbeitet an der Wall Street. Ihre Mutter ist Hausfrau und leitet einen Buchclub. Es ist eine Bilderbuchfamilie, aber ich traue diesem Bild nicht. Tiefer, unter der Oberfläche, gibt es immer eine andere Geschichte. Verborgene Geheimnisse, die ein Mann wie ich ans Licht bringen kann.

Alles hat eine Schattenseite, jeder hat dunkle Eigenschaften und diejenigen, die freiwillig im Schatten gehen sind so viel überzeugender als die, die nur den Sonnenschein anerkennen. Mein bester Freund hat mir in die Brust geschossen, aber zumindest hatte er den Anstand, mir dabei in die Augen zu sehen.

Ich meide das Arbeitszimmer und gehe stattdessen in die Küche, um mir einen starken Drink zu genehmigen, der meine Nerven beruhigen soll. Doch ich halte unwillkürlich im Türrahmen inne. Es ist eine absolute Katastrophe. Überall sind Geschirr und Müll, auf dem Herd stehen Pfannen mit übrig gebliebenem Essen. Es riecht grotesk angebrannt. Noch ein fehlgeschlagenes Abendessen, das wohl aufgegeben wurde, wenn man die halbvollen Pizzaschachteln auf der Arbeitsplatte neben der verkohlten Schweinerei in Betracht zieht.

Ich fühle Wut heiß in mir aufsteigen und presse die Kiefer aufeinander. Ich schließe die Augen, atme tief durch und versuche, den Ärger unter Kontrolle zu halten. Entspann dich. Mach dir keine Gedanken darüber. Ich zähle bis zehn, um mich zu beruhigen, doch es hat keinen Sinn. Denn als ich die Augen öffne, sehe ich wieder dieses Chaos. Meine Sicht verschwimmt, und ich brauche jedes Quäntchen Selbstbeherrschung, um ruhig zu bleiben. Meine Geduld ist offiziell am Ende.

Ich nehme die Pfannen vom Herd und knalle sie gegen den Mülleimer, um die Essensreste zu entfernen. Dann werfe ich sie auf die Arbeitsfläche und kümmere mich nicht um den Krach, den es macht, als sie auf den Marmor krachen. Ich fülle das Spülbecken, der Schaum quillt fast über den Rand und Dampf steigt von dem kochend heißen Wasser auf. Ich werfe das Geschirr hinein. In meinem Kopf wirbeln dunkle Gedanken durcheinander. Ich ziehe meine Jacke aus und schiebe die Hemdärmel bis zu den Ellbogen hoch. Ich schrubbe, schrubbe und schrubbe. Das glühend heiße Wasser verbrennt meine Haut. Ich knirsche mit den Zähnen und versuche, mich mit dem Schmerz abzulenken, versuche, mich auf das Brennen zu konzentrieren, aber es ist kontraproduktiv. Jedes Lachen, jedes Seufzen, jede Silbe, die aus dem Arbeitszimmer an meine Ohren dringt, scheint den Reset-Knopf zu drücken. Mein Ärger wallt wieder und wieder auf. Sie hat wirklich Nerven.

Die Welt um mich herum versinkt in einem Nebel, meine Hände bewegen sich wie von selbst. Ich scheuere alles, was ich in die Finger bekomme, bis meine Hände wund sind. Mit Stahlwolle schrubbe ich so lange weiter, bis meine Finger bluten. Ich mache alles im Dunkeln in dem Versuch, meine Rachegedanken auszulöschen, aber sie sind alles, was existiert. Sie fressen mich auf, wenn ich so bin wie jetzt.

Ich bin so in meinen Ärger vertieft, so von der Wut eingenommen, dass ich die Schritte nicht höre und ihre Anwesenheit nicht spüre, bis die Deckenbeleuchtung aufflammt. Die Helligkeit lässt mich kurz innehalten. Ich umklammere ein Glas so fest, dass die Knöchel meiner geröteten Hand weiß wie Kokain hervortreten. Ich habe Glück, dass das Glas nicht zerbricht. Fast wünschte ich, es würde passieren. Ich würde eine Scherbe nehmen und eine verfluchte Ader aufschlitzen.

„Naz?“

Ihre Stimme, die so nah bei mir meinen Namen sagt, ist, als würde Öl in ein bereits tobendes Feuer gegossen. Ich senke den Kopf und spüre, dass ich heftig zittere. Sie hat verdammt viel Nerven.

„Dreh um“, sage ich mit einer Stimme, die so tief und kalt ist, dass ich sie selbst kaum erkenne. Sie muss dahin zurückgehen, woher sie gekommen ist und mir Zeit geben, mich zu beruhigen, das Chaos hier aufzuräumen und wieder Ordnung in meine Welt zu bringen, bevor ich es an ihr auslasse.

„Was?“

„Dreh um, Karissa. Das willst du im Moment nicht tun.“

„Was will ich nicht tun?“

Ich antworte nicht, und sie geht nicht weg. Nein, stattdessen kommt sie näher. Und dieses Mal registriere ich wie sie mit gemessenen Schritten durch die Küche auf mich zukommt. Sie tritt leicht auf, dennoch ist ihr Näherkommen wie ein unheilvolles Dröhnen für mich. Ich atme tief ein und aus, um mich von einer Reaktion abzuhalten, stehe so still wie möglich und schließe die Augen, als sie wieder spricht.

„Ignazio?“

Sie legt die Hand auf meinen Rücken. Ihre Berührung ist behutsam, reicht aber aus, um mich aus der Haut fahren zu lassen. Das Glas entgleitet meiner Hand und fällt in das Spülwasser. Ich wirble herum. Karissa erschreckt sich und will zurückweichen, doch ich greife nach ihrem Handgelenk und reiße sie zu mir. Sie zuckt zusammen und ihre Augen weiten sich, als ich sie gegen die Arbeitsplatte in der Ecke drücke und sie festhalte.

„Ist es das, was du willst? Hm?“ Ich blicke direkt in ihre dunklen Augen und beuge mich näher zu ihr. „Willst du mich verspotten? Willst du mich provozieren?“

„Was?“ Das Wort kommt zittrig über ihre Lippen. „Wovon redest du?“

„Ich rede davon, was du tust. Was du mir antust.“

„Ich tue dir gar nichts an.“

Ihre Augen werden feucht. Ich habe noch genug Vernunft, um meinen Griff um ihr Handgelenk zu lockern, falls ich ihr wehtun sollte. Doch es macht keinen Unterschied. Eine Träne läuft ihre Wange hinunter, während sie mir weiterhin in die Augen sieht. Ihr Körper ist angespannt, als müsste sie den Atem anhalten, weil sie so nah bei mir ist. Mir. Sie kann es nicht ertragen, mir nahe zu sein. Ich öffne mich ihr, enthülle ihr die verletzlichen Teile meiner Seele, die Teile, die ich niemand sonst zeige, und sie akzeptiert es. Sie akzeptiert und liebt es, aber sie versteht es nicht. Und als ich es endlich erkläre, ihr erkläre, wie ich zum Opfer wurde, wie ich verletzt und mein Leben zerstört wurde, behandelt sie mich, als hätte ich etwas falsch gemacht.

„Ich lasse dir deinen Freiraum, Karissa. Ich gebe ihn dir, obwohl alles in mir sagt, ich sollte es nicht tun, weil es das ist, was du willst. Und wie dankst du es mir? Indem du mich wütend machst. Indem du Menschen in mein Heim einlädst, in meinen Freiraum, ohne mich auch nur zu fragen. Du willst deinen Freiraum? Dann lass mir auch meinen und fang an, ihn zu respektieren.“

„Ich habe nicht …“

„Doch, hast du“, unterbreche ich sie. „Dein unschuldiges Getue funktioniert bei mir nicht, nicht mehr. Du weißt, was du tust. Du bist nicht dumm. Du weißt, was für eine Wirkung es auf mich hat und machst trotzdem weiter damit. Ich habe dich gelassen, weil du Zeit und meine Geduld gebraucht hast, aber deine Zeit ist jetzt abgelaufen, Karissa, weil meine Geduld zu Ende ist. Du willst dieses Spiel spielen? Du willst mich nerven, bis du eine Reaktion bekommst? In Ordnung. Ich gebe dir genau das, was du willst.“

Ich presse mich an sie, meine Nase reibt über ihre, und sie wehrt sich gegen meinen Griff. Ich neige den Kopf, beuge mich weiter hinunter und halte inne, als meine Lippen nur eine Haarbreite von ihren entfernt sind. Ich will sie küssen. Und ich würde alles dafür geben, wenn sie meinen Kuss erwidern würde.

Ich spüre ihr Flüstern: „Lass mich los.“

„Bring mich dazu. Trau dich.“

Sie schiebt mich mit ihrer freien Hand weg und schlüpft so flink um mich herum, dass ich kaum Zeit zum Reagieren habe. Ich lasse ihr Handgelenk eine Sekunde zu spät los, und sie zuckt zusammen, als sich ihr Arm schmerzhaft verdreht. Sie umfasst ihr Handgelenk da, wo ich sie festgehalten habe, weicht zurück und schüttelt den Kopf, wobei eine weitere Träne über ihre Wange läuft.

„Mit dir stimmt doch was nicht!“, schreit sie so laut, dass Melody es hört und aus dem Arbeitszimmer ruft, ob alles in Ordnung ist. „Du bist … du bist einfach nur krank.“

„Erzähl mir etwas, das ich noch nicht weiß.“

„Ich hasse dich!“

„Du solltest mir doch etwas erzählen, was ich noch nicht weiß.“

„Karissa?“, ruft Melody und tritt in den Türrahmen der Küche. Sie zögert, blickt zwischen uns hin und her. Ihr Blick ist misstrauisch. „Ist alles in Ordnung?“

Ich sehe Karissa an, hebe eine Braue und warte auf ihre Antwort. Sie will nicht, dass ich mich an ihre Freundin wende, nicht jetzt, wo ich in dieser Stimmung bin. Karissa nickt langsam, wobei sie immer noch ihr Handgelenk reibt.

„Ja, alles in Ordnung, aber … äh, du solltest besser gehen. Naz und ich … also …“

„Schon verstanden“, sagt Melody schnell und wedelt mit der Hand. „Streit unter Liebenden und all das. Äh, wir sehen uns diese Woche doch noch? Steht unsere Verabredung im Café?“

„Na klar“, sagt Karissa mit gezwungenem Lächeln. „Wir sehen uns.“

Melody winkt und hastet aus dem Haus. Erst als die Haustür sich hinter ihr geschlossen hat und sie außer Hörweite ist, dreht Karissa sich wieder zu mir um. Die Furcht und die Wut, an die ich mich in den letzten Wochen gewöhnt habe, sind aus ihren Augen verschwunden. Alles, was ich jetzt noch darin sehe, ist Traurigkeit. Kummer.

Sie reibt weiterhin ihr Handgelenk, umklammert es. Meine Wut verringert sich und wird von Sorge verdrängt. Ich trete auf sie zu und fasse nach ihrem Arm. „Ist alles in Ordnung?“

Bevor ich sie berühren kann, reißt sie den Arm weg und weicht zurück, um die Distanz zwischen uns zu vergrößern. „Als ob dich das interessiert.“

„Das tut es. Wenn ich dir wehgetan habe …“

Sie schnaubt. „Du tust mir doch ständig weh.“

Ich will etwas sagen, um das zu widerlegen, aber ich kann nicht.

Karissa schweigt einen Moment, sieht mich dann an und flüstert: „Weißt du, was der schlimmste Tag meines Lebens war, Naz?“

Ich antworte fast ohne zu zögern: „Der Tag, an dem ich deinen Vater tötete.“

Sie zuckt zusammen, schüttelt jedoch den Kopf und verschränkt die Arme vor der Brust. „Der schlimmste Tag meines Lebens war der in meinem Zimmer im Studentenwohnheim. Du hast mich gewarnt, dass ich mich von dir fernhalten soll. Aber ich habe nicht auf dich gehört. Du hast gesagt, wenn du jetzt nicht gehst, würdest du es nie mehr tun. Aber auch darauf habe ich nicht gehört. Und jetzt begreife ich, dass du es so meinst. Du meinst es wirklich so.“ Ihre Stimme bricht. „Ich habe einen Fehler gemacht. Ich hätte dich nie bitten dürfen zu bleiben.“

Sie könnte jetzt ein Messer von der Arbeitsplatte nehmen und es mir in die Brust rammen – es würde mich nicht stören, würde mich nicht verletzen – nicht so, wie mich diese Worte verletzt haben. Lieber würde ich wieder auf mich schießen lassen, als nochmal zu hören, was sie gerade sagte.

Und sie weiß das. Und vielleicht hat sie ihre Worte auch so gemeint. Vielleicht war das der schlimmste Tag ihres Lebens. Aber das ist kaum ein Trost für mich. Es tut weh.

Wortlos stoße ich mich von der Arbeitsplatte ab und mache ein paar angespannte Schritte auf sie zu. Karissa steht still, während ich langsam auf sie zugehe. Sie weicht meinem Blick aus. Ich trete neben sie, beuge mich zu ihr und sage dicht neben ihrem Ohr: „Aber du hast es getan. Du hast mich gebeten zu bleiben. Also gewöhn dich dran, Süße, denn ich gehe nirgendwohin.“

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Ihre Haut ist weich. Rein. Noch kaum berührt.

Karissas Augen sind zwar geschlossen, und sie liegt absolut still, doch ich weiß, dass sie wach ist. Das zeigt mir das leichte Stocken ihres Atems, der zitternde Luftzug, den sie ausstößt, wenn ich neben ihr ins Bett klettere. Sie trägt ein dünnes, schwarzes Tank Top und ein Höschen. Im Bett trägt sie immer sehr wenig.

Ich trage sogar noch weniger. Ich schlafe nackt. Ich habe dabei keine Bedenken. Ich versuche, ein Gentleman zu sein, versuche, verständnisvoll zu sein und meine Hände bei mir zu behalten, aber es ist schwierig. Es ist so verdammt schwierig. Besonders in Momenten wie diesem. Wenn ich weiß, dass sie wach ist, wenn ich weiß, dass sie weiß, dass ich hier bin. So nah, doch so verdammt weit weg. Es verursacht einen Schmerz in meinen Muskeln, der sich kaum abschütteln lässt. Ich erwische mich dabei, wie ich sie berühre. Meine Fingerspitzen gleiten über jedes Stückchen entblößter Haut. Sie liegt still, aber ich spüre, dass sie zittert und durch meine Berührung eine Gänsehaut bekommt.

Es ist zu viel. Es ist niemals genug. Ich will mehr. Ich brauche mehr. Ich bin gierig und will alles von ihr. Ich will sie lieben, will sie halten, will wieder in ihr sein.

Ich will sie erbarmungslos ficken. An das letzte Mal kann ich mich kaum erinnern. Ich stand unter Betäubungsmitteln, und sie wollte mich verlassen. Das ist einen Monat her. Ein qualvoller Monat ohne ihre Berührung. Ich will meine Hand unter den Stoff schieben, will sie ausziehen und sie an mich ziehen. Aber wenn ich das versuche, wird sie das Wort benutzen. Rot.

Ich wollte ihr die verdammte Zunge dafür rausreißen, wie sie dieses Wort gegen mich benutzt hat. Mit einem Seufzen rolle ich mich von ihr weg, sodass ich nicht mehr in ihre Richtung blicke. Heute Nacht werde ich sie nicht berühren, so sehr es mich auch schmerzt. Sie ist verärgert, und ich will die Dinge nicht noch schlimmer machen, als sie ohnehin schon sind. Ich weiß nicht, wie wir das jemals überwinden sollen. Einen Schritt vorwärts und ein halbes Dutzend zurück.

Ich habe einen leichten Schlaf, mein Körper ist auf natürliche Art auf meine Umgebung eingestellt. Jedes Mal, wenn sie sich bewegt, herumrollt, die Beine ausstreckt, sich zusammenrollt oder ihr Kissen fester umklammert, werde ich wieder wach und in ein Bewusstsein gerissen, das nicht leicht abzuschütteln ist. Mit jemandem ein Bett zu teilen – im selben Zimmer zu schlafen und den anderen deine privatesten und verletzlichsten Momente sehen zu lassen – erfordert viel Vertrauen. Ich bin stark und schnell, aber selbst ein dummer Trottel kann einem Schlafenden die Kehle durchschneiden oder ihn kampfunfähig machen, bevor er aufwacht. Dazu braucht man nur ein paar Sekunden. Ich weiß das.

Schließlich döse ich ein, wache auf, schlafe wieder ein. Ich bekomme mit, als Karissa morgens aufsteht, höre ihre leisen Schritte beim Verlassen des Zimmers. Nachdem sie weg ist, versuche ich, wieder einzuschlafen. Aber das ist unmöglich. So schwierig es auch ist, mit ihr neben mir zu schlafen, es ist sogar noch schwieriger, wenn sie nicht da ist. Nach ein paar Minuten wird meine Neugier zu groß. Ich steige aus dem Bett, werfe mir etwas über und gehe nach unten.

Karissa steht in der Küche vor der Arbeitsplatte und füllt Getreideflocken in eine Schüssel. Coco Puffs. Es ist immer noch merkwürdig zu sehen, dass dieser Raum so oft genutzt wird, für Frühstück, Mittag- und Abendessen. Manchmal hängt sie hier auch nur herum, lehnt an der Arbeitsfläche und schlägt die Zeit tot. Seltsam.

Ich gehe an ihr vorbei, hole eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank, öffne sie und nehme einen Schluck.

Plötzlich sagt sie: „Ich würde für eine Tasse Kaffee töten.“

Ihre Stimme ist hell, und sie spricht ganz ungezwungen, als ob sie in letzter Zeit immer so natürlich mit mir geredet hätte. Hm.

Ich lehne mich gegen die Arbeitsplatte und sehe sie skeptisch an. „Buchstäblich?“