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Dr. Sonntag
– 9 –

Nicht von schlechten Eltern

Ein guter Kern lässt sich nicht leugnen

Peik Volmer

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-739-1

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Sehr verehrte Leserin, sehr geehrter Leser!

Was haben wir in der letzten, achten Ausgabe unserer Erzählung aus der renommierten Klinik am Schliersee im schönen Bayern gelernt? Dass man sich nie auf den äußeren Schein verlassen soll, zum Beispiel. Und das Menschen nicht so eindimensional sind, wie wir sie gern hätten. Auch wenn ich nicht gleich von ›seelischen Abgründen‹ sprechen will, haben wir doch alle Lebensgeheimnisse, von denen wir uns wünschen, dass sie nie dem Interesse der Öffentlichkeit anheim fallen. Wären die Guten nur gut, und die Bösen nur böse, wär’s übersichtlicher. Aber dann gäbe es auch keine Überraschungen. Und ohne Überraschungen wäre das Leben doch langweilig, finden Sie nicht?

Ich persönlich denke, dass wir alle uns redlich Mühe geben, halbwegs anständig dies Leben zu meistern. Dazu gehört auch mal, dass wir den Wagen im absoluten Halteverbot abstellen. Die zu viel herausgegebenen 5 Euro in die Tasche stecken. Mit 45 km/h durch die 30er–Zone rasen. Und über die Nachbarin tratschen. Wirklich. Meine sollten Sie kennenlernen!

Die gegenüber ist ja ganz nett, aber das Ehepaar nebenan? Ständig bohren diese Leute Löcher in die Wand. Sie raucht wie ein Schlot, und im Müll liegt jede Woche mindestens eine Wodka–Flasche ... egal. Sie merken, dass ich keinen Deut besser bin als jeder andere!

Vielleicht, wenn man mir rechtzeitig Sozialstunden aufgebrummt hätte? Wie Lukas Sonntag? Für die Schlägerei mit dem Max Grasegger? Gott sei Dank verstehen sich die beiden inzwischen wirklich gut.

Also, es ist sechs Uhr morgens am Schliersee. Was? Lukas ist schon auf? Ach ja! Sein Dienst in der Seniorenwohnanlage beginnt um sieben Uhr ...

Drachenzähmen – leicht gemacht

Man hätte annehmen können, das der Junge seinen Dienst in den Osterferien müde, lustlos und verschlafen antrat. Immerhin war er 15 und mitten in der Pubertät. Aber weit gefehlt! Es war sein erster Dienst im Dorotheenstift, und er war hellwach und gespannt, was ihn dort erwarten würde.

Wer ihn dort erwarten würde, bekam er recht schnell mit. Schwester Stefanie war 58 Jahre alt, von unzufriedenem Gesichtsausdruck und zynischem Temperament.

»Ah, unser junger Straftäter«, stellte sie ihn den staunenden Mitarbeitern vor. »Kriminell und aus gutem Hause, was leider typisch ist. Diese Jugend ist übersättigt und dekadent. Da waren wir aus anderem Holz! Aber, junger Freund, Sie werden sich noch umgucken! Wenn ich mit Ihnen fertig bin, sind Sie ein besserer Mensch. Da gebe ich Ihnen Brief und Siegel!«

»Sie können mich gern duzen, Schwester Stefanie! Ich bin ja erst fünfzehn!«

»Gestatten Sie, dass ich mir das noch überlege? – Was? Erst fünfzehn, und schon vor Gericht gestanden? Um so schlimmer! – So, Sie kommen mit mir. Wir sind heute für die pflegebedürftigen Patienten zuständig. Sie leeren bitte die Urinflaschen und Sputumbecher. Dann gehen wir gemeinsam durch und machen die Betten. Heute werden Sie sich ihr Frühstück verdienen!«

Ob die auch lächeln kann, fragte sich Lukas. Er konnte nicht wissen, dass auch Schwester Stefanie einmal jung war und voller Leidenschaft und Hoffnung. Dass sie einem hübschen, flatterhaften Jungen vertraut hatte, der sich aus dem Staub gemacht hatte, als sie sein Kind unter dem Herzen trug. Dies Kind, Stefan, war ihr Stolz und ihre Freude und der einzige Anker, an dem sie das Boot ihres Lebens festgemacht hatte. Aber nun war der Junge aus dem Haus, studierte in Göttingen, hatte eine Freundin, und wenn sie ihn nicht angerufen hätte … Er hätte sich bei ihr aus eigenem Antrieb nur gemeldet, wenn er Geld brauchte. Mit fünfzig war sie zu allem Überfluss an Diabetes erkrankt, der durch zahlreiche Netzhautblutungen ihrer Sehkraft zusetzte.

Ja, auch Schwester Stefanie sehnte sich danach, in den Arm genommen, und verstanden zu werden. Ein Leben außerhalb ihrer 17,5 Quadratmeter im Schwesternwohnheim zu führen. Ihr Leben hatte sie bitter gemacht und unzufrieden.

Das alles, wie gesagt, wusste Lukas nicht, als er sich fragte, ob sie auch lächeln konnte. Ihr Lächeln war zauberhaft gewesen. In einem Album existierten diverse Fotografien von ihr. Da war sie ein junges, schlankes Mädchen gewesen, etwas älter als Lukas jetzt. Es war Sommer, und das Leben hatte jedes Versprechen erfüllt, das es jungen Menschen gab.

»Brauchen Sie eine Extra-Einladung, Herr Sonntag?«

»Bin schon bei der Arbeit, Schwester Stefanie!«, rief der Angesprochene, und flog in Richtung der Zimmer.

»Ich kontrolliere das dann!«, zischte die Schwester hinter ihm her.

Das anschließende Bettenmachen erwies sich als besondere Herausforderung. Besonders die Stecklaken hatten es der gestrengen Lehrerin angetan. Hatte er das Laken gespannt, ließ Stefanie ein Zwei-Euro-Stück darauf fallen. Und sprang es nicht hoch, riss sie es wieder heraus.

»Herr Sonntag, das können Sie besser. Stellen Sie sich vor, dass auch Sie alt werden. Haben Sie eine Ahnung, was ein faltiges Laken mit einem Greisenhintern anstellt? Druckstellen, Herr Sonntag. Druckstellen, die langsam zu offenen Wunden werden.«

Lukas lief der Schweiß von der Stirn, aber er ließ sich nichts anmerken. Und so sehr Schwester Stefanie nach Fehlern suchte, er hatte sich keines Verstoßes gegen die Regeln schuldig gemacht. Im Gegenteil. Er arbeitete mit Feuereifer, war freundlich und hilfsbereit und lernte schnell.

Am Ende seines ersten Arbeitstages setzte er sich zu Schwester Stefanie und der Nachtwache ins Dienstzimmer, als diese gerade Dienstübergabe machten. Die Schwester sah ihn irritiert an.

»Ja, bitte?«

»Ich wollte nur zuhören, wenn Sie über die Patienten sprechen. Um was zu lernen!«, erklärte der Junge.

»Ihr Aufgabenbereich beschränkt sich auf die Küche und den Spülraum«, stellte die Schwester kalt fest. »Wenn Sie Ihre Arbeit erledigt haben, dürfen Sie sich entfernen.«

»Sie meinen: nach Hause gehen?«

Wäre er ein schärferer Beobachter gewesen, hätte er gesehen, dass Stefanies rechter Mundwinkel verräterisch zuckte.

»Ja. Verschwinden Sie! Mir aus den Augen!«

Schwester Stefanie mochte ihn. Er war ein hübscher Bengel, der sogar gewinnende Umgangsformen hatte. Ein Diamant, noch ungeschliffen vom Leben. Bei aller Resignation hatte er sie an etwas erinnert. An naive Unschuld und Unbeschwertheit. Ja, sie hatte ihn gern. Aber sie war noch nicht bereit, das zuzugeben.

*

»Ludwig, können wir reden?« So hatte man Karin Fürstenrieder selten erlebt. Sie druckste herum. Die, die sonst erfahren und gewandt über den Dingen stand, hatte vorsichtig, fast bescheiden gefragt. Ludwig amüsierte sich. »Ich weiß! Heute Abend läuft ein Film mit Christiane Hörbiger. Auf 3Sat. Sie spielt eine Obdachlose! So, wie sie gefragt haben, hatte ich Christine Neubauer befürchtet!«

»Die ist morgen Mittag dran, im Hessischen Rundfunk! Als Mutter eines vertauschten Babys!«, lachte Karin Fürstenrieder.

»Also, wenn Sie mich fragen: Das Kind hat Glück gehabt! Wo wurde das Kind denn hingetauscht? Zu Veronika Ferres?«

»Du bist wieder ungezogen, Ludwig. Dabei habe ich mir mit dir so viel Mühe gegeben!«

Beide brachen in heiteres Gelächter aus.

O Gott, wie ich das vermissen werde, dachte Frau Fürstenrieder. So ein wunderbarer Junge! Aber wir haben den gleichen Arbeitsplatz, er geht mir ja nicht verloren!

»Ludwig, schau mal … Du weißt, dass ich meine Wohnung hier ausgebe, oder? Und bei Kilian Kreuzeder einziehe?«

»Na, endlich!«, rief Ludwig. »Ich dachte schon, da wird nichts mehr draus! Und jetzt wissen Sie nicht, wie Sie mir sagen sollen, dass unsere Wege sich demnächst trennen müssen, oder? Machen Sie sich keine Sorgen. Ich habe eine Wohnung gekauft und bin bereits dabei, sie schön einzurichten. Unser Arrangement hat sowieso länger gedauert, als ich es beabsichtigt hatte. Ich wollte Ihnen gar nicht so lange zur Last fallen, aber – ich habe mich bei Ihnen so wohl gefühlt, wissen Sie? Irgendwie – geborgen. Ich wollte, dass sich das nicht so kitschig anhörte. Aber es ist so. Mein Leben ist erst in dem Moment schön geworden, als ich begriff, dass ich etwas wert bin. Als wildfremde Menschen sich für mich eingesetzt haben. Und zwei Menschen werde ich immer verpflichtet sein: Professor Sonntag und Ihnen.«

»Du wirst mir genauso fehlen, Ludwig. Weißt du, warum ich so gern Filme mit der Neubauer gesehen habe? Weil ich es lustig fand, wie du dich darüber aufgeregt hast. Nur, um das zu hören. Ich wollte, ich würde dich nicht verlieren!«

»Na, so ein Quatsch! Jeden Morgen werde ich zu Ihnen kommen, und Sie müssen mir einen Kaffee ausgeben, versprochen? Sie gehören zu meinem Leben, Frau Fürstenrieder. Daran kann kein Chefredakteur der Welt etwas ändern!«

»Dann ist es für dich in Ordnung, wenn ich die Wohnung zum Jahresende kündige?«

»Aber natürlich! Ich hätte schon lange meine neue Wohnung beziehen können. Aber ich habe mich so wohl bei Ihnen gefühlt, dass ich bisher Ihre Wohnung meinte, wenn ich ›zu Hause‹ sagte!«

Karin Fürstenrieder nahm den jungen Arzt in den Arm und drückte ihn. »Ich fühle mich so privilegiert, mit meinem Arbeitsplatz – ich kann es dir kaum sagen! Ein wunderbarer Chef! Du! Chris! Ach, überhaupt alle Mitarbeiter, sogar dieser Professor Antretter!«

Schmunzelnd erinnerte sie sich an die kleine Schwärmerei, die Verblendung, der sie vor einem Jahr anheim gefallen war.

»Sehen Sie? Sie passen wunderbar in dieses Team hinein! Der Professor spricht immer von der Klinik–Familie, und ganz so empfinde ich es auch. Wir stehen alle füreinander ein, wie Mitglieder einer Familie. Wir arbeiten Schulter an Schulter, wir ziehen an einem Strang. Die Patienten spüren das, denn in dem Moment, in dem sie die Schwelle dieses Instituts überschreiten, gehören auch sie dazu. Ich denke, dass darin das Geheimnis unserer erfolgreichen Arbeit liegt.«

Frau Fürstenrieder sah auf die Uhr. Ludwig grinste. »Der Film geht los?«

»Genau. Und wir genehmigen uns Eierlikör dazu!«

»Mehrere! Kinder, Kinder! Wenn ich das in der Klinik erzähle, dass ich mir die Hörbiger schön saufen musste! Und dann noch mit einer Überdosis Eierlikör!«

Endlich Urlaub!

Sie fuhren mit dem eigenen Wagen. Es war noch dunkel, als sie aufbrachen, früh um fünf Uhr. Über Nürnberg, Kassel, Hannover und Hamburg würden sie fahren. Und zum Schluß über die landschaftlich reizvolle B 73, die sie direkt nach Cuxhaven brachte. Mit jedem Kilometer mehr, der sie vom Schliersee trennte, fühlte Chris sich besser.

Er verachtete sich für das, was er getan hatte. Na gut, seine Strafe war ja dem Fehltritt auf dem Fuße gefolgt. Timon hatte ihn benutzt, und dann weggeworfen wie einen Zigarettenstummel, den man auf dem Asphalt austritt. Wie hatte er gesagt? Es war ›nett‹ mit ihm? Für seinen Mann war er die Welt. Und nun hatte er sich klein gemacht, unnötig.

Ob er sich je würde vergeben können, stand in den Sternen. Frau Fürstenrieder hatte ihm geraten, nichts zu sagen, schon Hannes' wegen, der auf dem Rücksitz eingenickt war.

»Ich fahre durch München, nicht über die 99«, sagte Philipp. »Da ist um die Zeit noch nicht so viel Verkehr. Und wir sparen 20 Kilometer!«

Ich liebe dich, Philipp Angerer. Bitte vergib mir. Du hast es nicht verdient, dass ich dich betrüge, dich verletze, dein Vertrauen missbrauche. Du bist mein Leben, meine Zuversicht. Meine Heimat.

Er legte die linke Hand auf Philipps Oberschenkel.

Der sah ihn lächelnd über den Rückspiegel an.

»Unser Junge schläft!«

»Gott sei Dank! Sonst erkundigt er sich ständig, wann wir endlich da sind!«

Christopher Mayr fragte sich wohl zum tausendsten Mal, wie es sein konnte, dass er sein Glück derart mit Füßen getreten hatte.

*

»Jetzt sagen Sie aber nicht, Murat, dass die Narben auch nur im mindesten auffallen! Wirklich! Ich habe mir so viel Mühe mit der Intrakutannaht gegeben! Und die Haare sind doch auch schon wieder ganz schön darübergewachsen, oder? Außerdem – es muss ja nur Ihrer Zukünftigen und der Mutter Ihres Kindes gefallen. Und, natürlich, Ihrem Kind. Aber da mache ich mir keine Sorgen!«

»Ja nee, ist klar, Herr Professor. Sieht gut aus, wirklich. Und Sinan ist jetzt 50 cm, und wiegt 2435 g. Alles super. Nächste Woche ist Katrin wieder im OP, und ich bin wieder im Kiosk. Herr Professor?«

»Ja bitte?«

»Danke. Für alles. Sie wissen schon. Dürfen Katrin und ich Sie und Ihre Familie zu unserer Hochzeit einladen?«

»Ich wäre enttäuscht, wenn Sie es nicht täten. Vor allem jetzt, da ich wieder laufen kann! Langsam zwar, aber bis Sie heiraten, wird das bestimmt noch besser!«

»Super, wir freuen uns! Und machen Sie sich keine Sorgen! Wir stellen extra jemanden ab, der Sie mit Essen und Getränken versorgt! Sie müssen nicht am Buffet anstehen, falls Sie sich darüber Sorgen machen!«

Murat strahlte. Das war ihm spontan eingefallen. Er freute sich immer, wenn er eine gute Idee hatte.

*

Egidius ging langsam in Richtung seiner Ordination. Er benutzte noch Gehhilfen, aber den Rollstuhl bedeckte schon eine dünne Staubschicht, und das ReWalk–System hatte man in den Keller gebracht. Vielleicht konnte man dies mal für einen Patienten gebrauchen, hatte der Chefarzt festgestellt. Hoffentlich nie. Aber wenn, schadete es nicht, ausgerüstet zu sein.

Sein Mobiltelefon klingelte. Corinna erkundigte sich, wie jeden Tag, ob er mit allem klarkäme.

»Alles gut, Liebling. Du solltest mich sehen, wie elegant ich hier über die Flure gleite! Am Wochenende können wir nach München, um einen schicken Spazierstock zu kaufen. Mir schwebt da etwas aus Ebenholz vor, mit einem silbernen Löwenkopf als Griff!«

»Ich befürchte, dass du dazu keine Zeit hast, Liebster. Wir bekommen Besuch, oder hast du das vergessen? Professor Tauber ist Samstag oder Sonntag bei uns!«

In diesem Moment kreuzte sein Weg den von Ayse Yildirim und ihrem Wägelchen mit Eimern, Wischmop und diversen Putzutensilien und -mitteln. Er nickte ihr freundlich zu.

»Ach, Corinna, ich hatte gehofft, dass uns dies Schicksal erspart bleibt. Über eine Trennung oder Scheidung zu reden ist das Letzte, wofür ich mich gerade fit fühle.«