Vor Rehen wird gewarnt

ERSTER TEIL

Ach, du liebe Güte«, seufzte die schmächtige alte Dame beim Anblick der hohen Stufen, die es zu besteigen galt, um in den Eisenbahnwagen zu gelangen; ihre gebrechliche Zierlichkeit, ihr halb humoristischer, halb verzweifelt-hilfloser Ausdruck machten aus diesen drei einfachen Stufen ein Hindernis ersten Grades, eine uneinnehmbare Festung, ein unbezwingliches Gebirge. Selbst der Pullmanschaffner spürte etwas davon, und mit einem fröhlich-verlegenen »Entschuldigen die Dame –« unterstützte er sachte das zierliche Leichtgewicht am Ellbogen und hob es behutsam hinauf. Ein Offizier, der auf der obersten Stufe stand, wandte sich um, erkannte Mrs. Ambros und half ihr vorsichtig in den Wagen. Sobald Mrs. Ambros mit zusammengepressten Lippen den steilen Anstieg bezwungen hatte, verteilte sie lächelnd Dankbarkeit nach allen Seiten. »Danke schön, mein guter Mann, und vielen, vielen Dank, Major Ryerson. Was für eine nette Überraschung, Sie im gleichen Zug zu treffen! Ach, es ist wirklich zu dumm, was für eine unnütze Person ich geworden bin, seitdem ich an diesen kleinen Schwächeanfällen leide – hier drinnen.« Ihre auffallend kleine und schmale Hand im korrekten weißen Rehlederhandschuh wanderte zu ihrem Herzen, ließ jedoch die kleine Gebärde unvollendet – und in der resignierten Art, wie diese kraftlose Hand wieder hinabsank, während Mrs. Ambros fortfuhr zu lächeln, lag ihr ganzer Reiz: Selbstironie und die stolz getragene Last des Alterns.

»Und wohin führt Sie die Reise, Major?«

»Nach Washington; da sind noch allerhand Dinge zu erledigen und außerdem –«

»Wie nett«, bemerkte Mrs. Ambros, aber sie hatte angefangen, rastlos zu werden. »Wo bloß meine Tochter bleibt? Sie geht immerfort verloren, am Bahnhof, auf Postämtern – das dumme Kind«, sagte sie unruhig; versehentlich versperrte sie zwei jungen Artillerieoffizieren den Weg, denen eine stramme Rotkreuzschwester die Stufen hinaufhalf. Der eine von ihnen ging an Krücken, der andere trug einen Verband um den Kopf. Ihre Züge waren zu jung und zu alt, die charakteristischen Gesichter all der jungen Menschen, die direkt von der Schulbank weg in den Krieg geschleudert worden waren. Gerade als sie unbeholfen hinter der alten Dame anhielten, die ihnen den Eingang verstellte, tauchte Miss Ambros auf, eilig und etwas atemlos. »Verzeih, Mutter, aber ich habe nur schnell die Zeitschriften besorgt, die du haben wolltest«, sagte sie und schaffte Platz für die Schwester und ihre Pflegebefohlenen.

Miss Ambros war groß und mager, weder jung noch alt, beladen mit Zeitschriften, Reisetasche und Handköfferchen, mit einer altmodischen karierten Reisedecke und zwei Sportmänteln, ihrem eigenen und dem ihrer Stiefmutter.

»Komm, Mutter, wir müssen uns nach unseren Plätzen umschauen«, sagte sie und ging in das Coupé.

»Ach, du große Güte«, seufzte Mrs. Ambros, als sie den Wagen mit Soldaten, mit Soldatenfrauen und ihren Säuglingen überfüllt fand. Diesmal presste sie ihre Hand diskret auf die Brust und stützte sich an eine Banklehne; sie sah sich hilfsbedürftig nach Major Ryerson um, aber der war in einem der Privatabteile verschwunden. Ein junger Fähnrich sprang alarmiert auf: »Ist Ihnen nicht wohl, gnädige Frau?«, und Miss Ambros war bereits auf der Suche nach dem Schaffner, der auch bald erschien und eine junge Mutter von den reservierten Plätzen entfernte, auf denen sie sich breitgemacht hatte, um ihren ausnehmend prächtigen Zwillingen die Windeln zu wechseln. »Besten Dank – gleich wird es mir besser gehen –, ich leide bloß an diesen dummen kleinen Anfällen –«, sagte Mrs. Ambros mit ihrem tapferen Lächeln und nahm von dem frei gemachten Platz Besitz.

»Na, Gottlob, wir sitzen zumindest«, sagte sie, als sie sich niedergelassen hatte. »Einen Moment lang dachte ich, dass ich ohnmächtig werden könnte. Ich hätte eigentlich diese Reise nicht unternehmen sollen.«

»Stimmt. Eigentlich nicht«, erwiderte ihre Tochter, ohne sie anzusehen. Mrs. Ambros warf einen schnellen, scharfen Blick auf das magere, verschlossene Gesicht, bevor sie eine Zeitschrift aufschlug. Trotz ihrer hilflosen Zerbrechlichkeit war etwas Junges um ihre zierliche Gestalt, während Miss Ambros aussah, als sei sie niemals wirklich jung gewesen. Die Mutter war feingliedrig, mit raschen, jungmädchenhaften Bewegungen, und ihre Haut, zwar zerknittert wie dünnstes Seidenpapier, schimmerte weiß und rosa durch den feinen Puderschleier; ihr Haar war ein sorgfältig gewelltes Käppchen aus weißem glänzendem Atlas, ganz zart gebläut, und ihre Augen waren klar und unbeschwert wie die Augen eines Kindes, noch unbekannt mit den Komplikationen des Lebens.

Miss Ambros hingegen, Joy Ambros, war sonnenverbrannt und ledern, mit langen, fahrigen Gliedern wie Windmühlenflügel, ihr Mund war eingeklammert zwischen scharfen Linien, und ihre tief liegenden, verschatteten Augen schienen ein wenig entzündet, ein wenig müde: Augen, wie sie Menschen haben, die zu viel lesen oder zu viel denken.

Sie hängte die Mäntel an den Haken auf ihrer Seite, faltete die Reisedecke zusammen und legte sie neben ihre Stiefmutter, brachte Tasche und Reiseköfferchen unter, und erst dann nahm sie ihren Hut ab und strich sich ihr dichtes, widerspenstiges Haar aus der Stirn. »Hast du es bequem, Mutter?«, fragte sie, ehe sie sich niederließ.

»Wenn es nicht so kalt wäre, wie? Ich möchte bloß wissen, was mit der Heizung los ist«, klagte Mrs. Ambros; Joy nahm die Reisedecke wieder auseinander und breitete sie ihr über die Knie. »Danke, mein Kind – ach, was täte ich wohl ohne dich?«

»Tja. Das frage ich mich auch manchmal –«, erwiderte Miss Ambros. Mrs. Ambros legte die Zeitschrift zur Seite. »Diese unvermeidliche Tour auf der Fähre von San Francisco nach Oakland ist wahrhaftig etwas Scheußliches, ich bin jedes Mal ganz erledigt. Ob es noch eine einzige Stadt in der Welt gibt, wo man quer über eine ganze große Bucht gondeln muss, um zum Bahnhof zu gelangen?«, bemerkte sie, und als darauf keine Antwort erfolgte, lehnte sie den Kopf zurück und schloss die Augen. Wenn wir uns ein Auto oder zumindest ein Taxi leisten könnten, dann bräuchte unsereiner sich nicht in dieses schreckliche Gedränge am Fährhafen zu mischen, dachte sie vorwurfsvoll. Und dieser Major Ryerson – wenn ich gewusst hätte, dass er im gleichen Zug fährt, hätte ich ihn bitten können, uns über die Brücke mitzunehmen. Der kriegt sicher einen Wagen vom Militär und so viel Benzin, wie er nur will. Das Stoßen und Schieben auf der Fähre ist ja schlimmer als je, jetzt, wo so viele Soldaten aus dem Krieg zurückkommen. Und der Wind, der Lärm, der Gestank! Und Joy, rücksichtslos wie immer, setzt mich in irgendeinem Winkel ab, als sei ich ein lästiges Stück Gepäck, während sie selbst, natürlich, sich recht auffällig an der windigsten Stelle der ganzen Fähre aufpflanzt, man würde denken, sie steht Modell für die Nike von Samothrake. Aber Joy scheint ja nie genug von diesem grässlichen Fährboot zu kriegen; wahrscheinlich noch ein sentimentales Überbleibsel von den Ausflügen mit ihrem jungen Mann damals – wie hieß er doch gleich? Großer Gott, einmal brachten diese zwei Narren einen ganzen Nachmittag damit zu, auf der Fähre zwischen San Francisco und Oakland hin- und herzugondeln, während ich allein zu Hause sitzen und mir die Augen aus dem Kopf sorgen konnte. Na, am Ende hatte dieser Fred Hollenbeck doch noch genug gesunden Menschenverstand, um sich auf wohlerzogene Art zurückzuziehen …

Der Lärm des Bahnhofs stieg in hastigem Crescendo an – heiseres Bellen der Lautsprecher, Schaffnerrufe: Einsteigen! Zischen und Rütteln des anfahrenden Zuges, geleerte Gepäckkarren rumpelten davon, und dann schienen Bahnsteig, Wände, Eisenmasten, Treppen und winkende Stationsbeamte nach rückwärts zu gleiten, langsam zuerst und dann immer schneller, bis der Zug das Freie gewann und von den trüben Vorstadtgassen Oaklands eingesogen war.

Auch Joy hatte die Augen geschlossen, um das Bild der Stadt, die jenseits der Bay hinter ihnen zurückblieb, besser festzuhalten: die vielen sich überkreuzenden Bilder von San Francisco bei Sonnenuntergang. Zuweilen, wenn ein harter Wind den Nebel in grauen Fetzen daherjagte und ein metallisches Licht auf den Wohnhäusern der Hügelkämme und den zackigen Wolkenkratzern der Geschäftsviertel lag, verwandelte sich die Stadt in etwas Trotzig-Dunkles, El Grecos Toledo. Manchmal wieder war sie ein zart angedeuteter japanischer Holzschnitt, Inseln und Küsten und Berge, hintereinander aufgeschichtet in immer dünneren Konturen, im leuchtenden Dunst verschwimmend. Heute jedoch hatte sie ihr mittelalterliches Gewand getragen; die steilen Hügelstraßen mit ihren alten, geschmacklosen, verschnörkelten Laubsägevillen waren zu Zinnen und Mauern geworden, und das mittelmäßig-moderne Stück Architektur, das wie ein Zeigefinger aus dem Eukalyptusgehölz von der Höhe des Telegraph Hill aufragte, hatte sich in einen mächtigen Wachtturm der Toskana verzaubert. Oh, Kitsch, Kitsch, Kitsch, zwölf Saccharintabletten auf eine Tasse Kaffee!, dachte Joy mit einem ungeduldigen Pochen in ihren Augenlidern. Nun lass uns einmal die wahren Farben bedenken, nicht diesen Mist von Reisebroschüren und kolorierten Ansichtskarten. Die Bucht an einem der seltenen, klaren, durchsonnten Tage, jawohl, leider ein dickes Kobaltblau, herzliche Grüße von der Riviera. Besser an Sturmtagen, ein unfreundlicher Atlantik, dunkles Grau und das unerbittliche Weiß und Schwarz der Wellen, ein abstrakter Holzschnitt. Heute, während der Überfahrt, eine Schale aus mattem altem Zinn mit einem Glanz von weißem Silber, dort, wo ein Strahl die Oberfläche traf. Und etwas später war die Bucht poliertes Kupfer geworden, das zerschmolz, während eine übertrieben dramatische rote Sonne jenseits des Goldenen Tores unterging und alle westlichen Fenster San Franciscos wie in Flammen standen. Jawohl, und du weißt, dass du eine schöne Schmiererei draus machen würdest, dachte Joy. Es war ein großartiges Schauspiel: Sonnenuntergang über San Francisco – aber ein Fluch und ein Malheur, wenn man es so oft gemalt hatte wie sie; die Sichellinien zuseiten ihres Mundes gruben sich tiefer. Aber warte – gerade bevor wir in Oakland anlegten, war da noch etwas, ein Moment nur, eine kalte, leere, scharfe Dämmerung – Joy versuchte, das durchdringende Grün heraufzubeschwören, um es in ihrem Gedächtnis einzulagern, eine weiße Möwe flog in Einsamkeit gegen einen schwarzen Himmel – und dann bewegte sich Mrs. Ambros, und Joy öffnete die Augen.

»Jetzt ist es auf einmal viel zu warm hier«, beschwerte sich Mrs. Ambros, »die Luft ist einfach unerträglich.« Die Zwillinge hatten zu schreien begonnen, und einige der Soldaten hatten sich, gegen alle Vorschriften, Zigaretten angezündet. »Ich weiß wirklich nicht, wie ich es drei Tage in diesem Zug aushalten soll!« Joy gab keine Antwort. »Komm, gib mir deinen Mantel«, sagte sie nur und war ihrer Stiefmutter beim Ausziehen behilflich. Es war ein Nerzmantel, nicht gerade nach der allerletzten Mode, doch aus sehr schönen, dunklen Fellen und ausgezeichnet gearbeitet. Der Mantel, den Joy trug, war aus billigem Lamm, das versuchte, wie Biber auszusehen; sie hatte ihn im Ausverkauf im Warenhaus erstanden.

 

Kurz nachdem der Zug Oakland verlassen hatte, rief ein melodischer, gongbewaffneter Kellner das erste Abendessen aus, und ein langsamer, unaufhaltbarer Strom von hungrigen Passagieren begann, sich auf den Speisewagen zuzuschieben. Zwar führte dieser überfüllte Zug keine zu große Fracht an Höflichkeit mit sich, aber soviel davon existierte, wurde der kleinen, liebenswürdigen alten Dame gewährt. Rücken pressten sich gegen Wände, und Bäuche wurden eingezogen, um ihrem unentwegten Vormarsch nicht im Wege zu sein. Bereitwillige Hände halfen ihr durch das dunkle, rüttelnde Innere kranker Ziehharmonikas, das die Wagen verband, und junge Soldaten, die ihre Manieren im Krieg verlernt hatten, sich aber beim Anblick der alten Dame darauf besannen, stießen die schweren Türen für sie auf. Am Eingang zum Speisewagen, wo die stahlgrauen Wände die Hitze und den Kabeljaugeruch der Küche ausströmten, wurde der Strom von einem viel geplagten Oberkellner angehalten, der Platznummern verteilte. Allerhand Murren und Schimpfen begann, doch das war nicht so ernst gemeint, denn all diese Menschen waren es gewohnt, Schlange zu stehen, und so mancher junge Krieger nahm es gar nicht so übel, wenn er im Gedränge gegen die Körper der jungen Frauen gepresst wurde, die mit ihren frischen Dauerwellen und in kaum unterdrückter Erregung zu ihren Heimkehrern unterwegs waren. Es gab manche vielsagenden Bemerkungen, Witze, die immer gleichen Gesprächsfetzen aus Felddienst und Kaserne.

»… wie wär’s mit einer Kartenpartie, bis wir an die Gulaschkanone gelassen werden?« – »… ihre Mutter hätte ja zu gern das Baby zu sich genommen, aber das kommt ja gar nicht infrage …« – »… da schreibt mir die Frau, meins wiegt einundzwanzig Pfund, schreibt se, noch kein Jahr alt und schon einundzwanzig Pfund …« – »Aha, und wo hamse dir gelassen, wie’s mit der Schweinerei in Cassino losging? …«

Die Luft wurde wärmer und dicker, die Witze eindeutiger, und dann gab es weiter rückwärts einen kleinen Aufruhr, und ein paar von denen, die vorn standen, drehten sich um, während die anderen noch immer vorwärts drängten.

»Na, was ist eigentlich los dahinten? … Immer mit die Ruhe, Großmuttern ist übel … Kein Wunder, ich fühl mich auch nicht so großartig … Such mal einer nach’m Doktor … lass sie doch irgendwo hinsetzen … na also, so ist’s schon besser … gib mir mal die Schnapspulle, da, trinken Sie nur, Großmama, das hilft allemal …« Mrs. Ambros tauchte aus dem Gewühl auf, zitternd und erschöpft; die handfeste alte Krankenschwester fühlte unbeeindruckt ihren Puls, und der junge Leutnant mit dem verbundenen Kopf überließ ihr seinen kostbaren Stuhl und Tisch.

Mrs. Ambros hatte einige Erfahrung in der Kunst, sich von einer Ohnmacht zu erholen, und sie tat es diskret und liebenswürdig. »Oh, bitte, verzeihen Sie mir diese Störung – ich wollte wirklich nicht – es ist nur dieses dumme Herz – nein, wirklich, Herr Leutnant, Sie dürfen sich nicht beim Essen stören lassen, das kann ich unter keinen Umständen annehmen –«

»Macht rein gar nichts, gnädige Frau. Wir waren ohnedies schon fertig, nicht wahr, Schwester?«

»Ich hätte diese Reise nicht unternehmen sollen, mein Arzt war sehr dagegen. Aber mein Sohn kommt aus dem Feld, und ich habe ihn seit zwei Jahren nicht gesehen, wir Mütter sind nun einmal törichte Kreaturen – oh, vielen, vielen Dank, das ist wirklich zu freundlich, tausend Dank!« Und damit nahm Mrs. Ambros von dem Stuhl Besitz und pflanzte ihre Handtasche wie eine Standarte auf dem Tisch auf. »Und nun«, sagte sie zufrieden, »wenn jemand so gut sein könnte, meine Tochter zu finden –«

Die Aufregung ebbte ab, die beiden Verwundeten, die Mrs. Ambros ihren Tisch überlassen hatten, zogen sich in den Salonwagen zurück, und einige Minuten später erschien auch Miss Ambros, der nicht ohne einiges Murren Platz gemacht worden war. »Was heißt denn das, hier drängelt sich keiner vor« – » … lass sie doch durch, das ist die Tochter von der kranken alten Dame« – »… na schön, Fräulein, aber nächstens bleiben Sie bei Ihrer Mutter, die braucht Pflege …« Als Mutter und Tochter ihr Abendessen beendet hatten, standen die anderen noch immer Schlange. Während der Mahlzeit hatten die beiden kein Wort gewechselt, obwohl Joy ihre Stiefmutter mit tadelloser Höflichkeit bediente, ihr Wasser einschenkte, das Brot reichte, Zucker und Milch in den Tee tat und schließlich die Rechnung bezahlte. »Gestattest du, dass ich rauche?«, fragte sie zuletzt, und erst als die alte Dame genickt hatte, holte sie ein Zigarettenetui aus ihrer Manteltasche und ließ es aufspringen. Es war eine goldene Herrentabatiere, groß, massiv und altmodisch, an der Innenseite waren eine kleine Krone und ein paar Worte in einer fliegenden Handschrift eingraviert. Die Blicke der beiden Frauen kreuzten sich über diesem unmodernen und verwunderlichen Gegenstand wie die Florette zweier Fechter im Grand Salut.

»Die müsstest du eigentlich deinem Bruder als Willkommensgeschenk geben, mein Kind«, sagte Mrs. Ambros. »Von Rechts wegen gehört sie ihm. Schließlich war es Papas Tabatiere.«

»Eben. Darum behalte ich sie –«, entgegnete Joy. Sie ließ die Zigarettendose zuschnappen, zündete sich eine Zigarette an und zog den Rauch tief in die Lunge. »Wollen wir den anderen Platz machen, Mutter, und in den Salonwagen gehen?«

Es war einer der alten Aussichtswagen, die eine besorgte Eisenbahnverwaltung wieder in Dienst gestellt hatte, nachdem sie noch schnell um eine Bar und ein paar Chrombeschläge bereichert worden waren. Die Luft war rauchgeladen, und alle Plätze waren besetzt. Doch als Mrs. Ambros am Eingang zögerte – ein zerbrechliches Meißner Porzellanfigürchen, das keineswegs in diese männliche Umgebung passte –, erhob sich Major Ryerson am anderen Ende und bot ihr seinen Sitz an, neben einem behäbigen älteren Herrn, der in seine Zeitung vertieft schien. »Bitte, wollen Sie sich nicht hierher setzen, Mrs. Ambros? Sie kennen meinen Freund, nicht wahr? George Watts?« Der Rechtsanwalt blickte von seiner Zeitung auf, er hatte den wachsamen Ausdruck und die faltigen Hängebacken einer alten Bulldogge. »Aber selbstverständlich kennen wir uns – wer in San Francisco kennt unseren guten George nicht? Wir haben im Roten Kreuz miteinander gearbeitet und in allen möglichen anderen Wohltätigkeitskomitees, nicht wahr? Ich weiß wirklich nicht, was wir manchmal ohne George angefangen hätten. Was für Tricks der Mann weiß, wenn es sich darum handelt, Geld für einen guten Zweck aufzubringen –«

»Zu gütig, Ann – aber du müsstest jetzt schon wissen, dass ich auf Komplimente sauer reagiere«, sagte Watts, erhob sich schwerfällig und nahm Joys Hände in die seinen. »Hallo, Joy, es tut immer gut, dich zu sehen. Du kennst Tom – Major Ryerson?«

»Nur indirekt: Ich las ein paar Ihrer Artikel«, sagte Joy, und es klang, als hielte sie nicht viel von diesen Artikeln. Ryerson lächelte ihr zu, als wäre er ganz ihrer Meinung. Er war groß und schlank, mit weißem Haar und ein paar scharf gekerbten Falten im Gesicht, aber er war kein alter Mann. Vielleicht ist er ein junger Mann gewesen, ehe er Hiroshima gesehen und Artikel darüber geschrieben hat, dachte Joy flüchtig. Der Zug legte sich in eine Kurve, und der Wagen kam ins Schleudern. Mrs. Ambros, nach einem Halt suchend, klammerte sich an Watts’ Rockaufschläge, als seien es Haltegriffe. Sie lächelte zu ihm auf, und er sah zu ihr herunter, so wie Männer von jeher auf ihre Kleinheit und Zartheit hinuntergeschaut hatten und sich gewöhnlich dabei größer, kraftvoller und männlicher fühlten, als sie in Wirklichkeit waren. »Du bist noch immer die Gleiche, wie, Ann?«, sagte er, seine Bulldoggenfalten in ein künstliches Lächeln ordnend. Mrs. Ambros blieb noch einen Augenblick gegen seinen massiven Körper gelehnt, und dann ließ sie die Hände sinken und löste sich von ihm. »Das nehme ich als großes Kompliment – besonders von dir, George«, sagte sie halblaut.

Joy stand daneben, einen sonderbar horchenden und doch abwesenden Ausdruck in ihrem kräftigen Gesicht. Sie nahm noch einen Zug aus ihrer Zigarette und drückte sie dann heftig in einem der Chromaschenständer aus. »Bitte, setzen Sie sich doch.«

»Nein, ich würde nicht im Traum daran denken, Ihnen Ihren Platz wegzunehmen«, sagte Mrs. Ambros mit ihrem besten Lächeln. »Die Reise wird viel angenehmer werden, als ich zuerst dachte, nun, da ich weiß, dass Sie beide im Zug sind. Morgen dürfen Sie mich wieder einmal im Rommé schlagen, Major, so wie wir das im Lazarett gewohnt waren! Komm, mein Kind, wir wollen uns für ein paar Minuten auf die Aussichtsplattform setzen – wenn’s dir nicht zu kalt ist draußen; hier drin kann man ja kaum atmen, oh, bitte, George, könntest du die Tür für mich aufmachen, sie ist so schwer – danke, danke vielmals – und auf Wiedersehen später.«

Ryerson schloss die Tür hinter den beiden Damen. »Ist sie nicht bezaubernd?«, fragte er. »Wirklich, ein ganz besonders reizvolles Geschöpf.«

»Mein lieber Tom, wenn Sie den großen Roman schreiben wollen, dann würde ich Ihnen eine exaktere Auswahl Ihrer Adjektive empfehlen. Joy ist viel mehr als bloß reizvoll.«

»Joy? Ach so – die Tochter! Aber wer spricht denn von ihr? Ich meine die Mutter. Sie hat so etwas – wie soll ich es nennen –, einen zeitlosen Reiz, etwas, das unseren jungen Mädchen von heute verloren ging. Würde es Ihnen auf die Nerven gehen, wenn ich den völlig überholten Ausdruck ›Grazie‹ anwende?«

»Herrgott, Tommy, wir leben nicht gerade in einer liebreizenden und graziösen Zeit, oder ist Ihnen das noch nicht aufgefallen?«

»Doch, doch, und mit unseren jungen Mädels mittendrin im Boxring. Sie sind verflucht selbstständig und gerissen und tüchtig geworden, unsere Mädels, wenn Sie meine Meinung wissen wollen. Das macht sie eckig und kantig und brüchig und eigensinnig, und zum Schluss kriegen sie ihren Nervenzusammenbruch und brauchen den Psychoanalytiker, fünfundzwanzig Dollar pro Sitzung«, sagte Ryerson, der gerade seine Scheidung hinter sich hatte und noch sehr empfindlich war.

»Könnten wir nicht Corinne ein bisschen aus dem Spiel lassen?«, schlug Watts vor; er war Ryersons Scheidungsanwalt gewesen und hatte die ganze unangenehme Sache in Ordnung gebracht. »Und die Atombombe auch, wenn Ihnen das möglich ist, Tommy. Ich bin auf Urlaub, wissen Sie?«

»Ich sprach ja nur von Mrs. Ambros; man muss sie einfach gernhaben. Eine alte Dame, gewiss, aber sehr weiblich, aus einem feineren Stoff geschneidert oder was es ist. Man möchte sie immer beschützen und verwöhnen. Noch an ihrem hundertsten Geburtstag wird sie wissen, dass sie vor allem eine Frau ist – und eine reizende Frau. Die junge Generation hält sich nicht so gut, sie nutzt sich zu schnell ab.«

»Der jungen Generation ist der Boden unter den Füßen weggerutscht, und die jungen Leute sind verdammt hart hingeplumpst; der Grund wackelt noch immer unter ihnen, und möglicherweise haben diese Mädels etwas Wichtigeres zu tun, als sich drum zu kümmern, ob sie weiblich, graziös und reizvoll sind oder nicht.«

»Der Grund unter uns hat immer gewackelt, und die junge Generation gebraucht eine Menge Ausreden. Soviel ich hörte, ist Mrs. Ambros auch nicht auf Rosen gebettet gewesen, und trotzdem –«

»Sie halten sich wohl für einen weisen alten Mann, bloß weil Sie mit dreiundvierzig schon weiße Haare haben, Tom. Wo haben Sie Mrs. Ambros übrigens kennengelernt?«

»Im Lazarett. Sie kam regelmäßig, um unsere Briefe zu schreiben und uns vorzulesen und uns die Zeit zu vertreiben.«

»Aha. Sie haben sie mit einem Heiligenschein gesehen, und ich kenne sie ohne. Das ist der Unterschied.«

»Sie kennen Mrs. Ambros gut?«

»Ziemlich gut – und ziemlich lange. Wir waren so etwas wie Nachbarn in meiner Kindheit; die Familie Ballard hatte ein kleines Sommerhäuschen in Belvedere – das ist eine hübsche Halbinsel am entgegengesetzten Ufer der Bay – ich weiß nicht, ob Sie jemals dort waren –, und mein Vater bewirtschaftete den Gasthof in dem kleinen Fischerdorf Tiburon.«

»Jetzt geht mir ein Licht auf, George. Sie waren in sie verliebt, aber sie hat einen anderen geheiratet.«

Diese Idee schien den alten Rechtsanwalt überaus herzlich zu amüsieren. »Das wäre sogar für einen Groschenroman zu schwach, Tommy, mein Junge. Machen Sie sich gütigst klar, dass Ann eine verheiratete Frau war, als ich meine ersten langen Hosen kriegte.«

»Nein, ich lass mir’s nicht nehmen, irgendetwas war los zwischen Ihnen, ich habe eine ziemlich gute Witterung für so was. Wie die alte Dame Sie angeschaut hat – ich könnte schwören, Sie liegen ihr noch im Sinn, George.«

»Du großer Gott, da sind Sie aber auf dem Holzweg. Ann hasst mich wie die Pest, und Sie haben eine niederträchtige Fantasie, mein Guter. Das Etwas zwischen uns besteht darin, dass ich als Rechtsvertreter der Versicherungsgesellschaft Anns Ansprüche untersuchen musste, sooft sie in der Tinte saß – was mehr als ein Mal passierte. Sie hat’s mir nie verziehen, dass ich beruflicherweise meine Nase in ihre Privatangelegenheiten stecken musste; übrigens behaupten ja die Psychologen, dass Leute, die immer wieder in eine ähnliche Patsche geraten, einfach von ihrem Unterbewusstsein dorthin dirigiert werden.«

»Mag sein. Trotzdem möchte ich bezweifeln, dass Mrs. Ambros’ Unterbewusstsein das große San-Francisco-Erdbeben hervorgerufen hat. Man hat mir erzählt, wie diese kleine, schwache Frau ihre Tochter aus dem brennenden Haus rettete.«

»Ja, die Geschichte kenne ich auch; ich wusste nicht, dass Sie, Tom, unsere einheimischen Sagen und Legenden studieren. Übrigens ist Joy nicht Anns Tochter, sondern eigentlich ihre Nichte. Wieso? Nun, Joys richtige Mutter war das andere Ballard-Mädel, Anns Schwester Maud. Arme Maud – sie stand mir sehr nahe. Als sie starb – viel zu jung, kaum dreißig –, übernahm Ann den ganzen Haushalt mit Sack und Pack: das Haus, das Kind und den Mann. Den berühmten Florian Ambros mit seiner berühmten Geige – aber das sind alte Geschichten.«

»Man hat mir davon erzählt. Er war ein Säufer, dieser Ambros, nicht wahr?«

»Aber nein, das war ihr erster Mann, Clyde Hopper. Kein schlechter Kerl, im Grunde, aber er trank zu viel, das stimmt. Tja, mein Lieber, wenn Sie Mrs. Ambros jetzt noch bezaubernd finden, na, da hätten Sie sie erst als trauernde junge Witwe sehen sollen! Ambros war ganz was anderes, der nippte höchstens ein bisschen feinen alten Sherry oder französischen Champagner. Ein merkwürdiger Bursche, Europäer, Künstler, hat nie so recht in unser Städtchen gepasst, so viel er auch versuchte, sich umzustellen, und so sehr wir auch mit unserer Weltoffenheit protzten. Nun, zuerst brannte ihnen das Haus ab, dann starb Ambros ganz plötzlich – ja, recht plötzlich –, und ein Jahr später verlor Ann an der Börse seine Lebensversicherung bis auf den letzten Cent. Das Einzige, was ihr aus dieser zweiten Ehe übrig blieb, ist Joy. Glauben Sie mir, Tommy, das ist ein großartiges Geschöpf. Sie können Ann Ambros haben, mit all ihrer Grazie und Weiblichkeit, ich nehme Mauds Tochter.«

»Sieht Miss Ambros ihrer Mutter ähnlich?«

»Nicht äußerlich; sie ist mehr das Kind ihres Vaters – aber sie ist so selbstlos wie Maud. Ich hatte Maud sehr lieb –«

»Was bleibt einem reizlosen Wesen wie dieser Miss Ambros übrig als Selbstlosigkeit?«

»Gehen Sie mal schnell von Ihrer Lautstärke herunter, denn Joy kommt. Und wenn Sie gelegentlich nichts Besseres zu tun haben, dann schauen Sie sich das Mädel einmal genauer an. Wenn Sie das reizlos nennen – hallo, Joy, wo brennt’s?«

»Oh, hallo, Sie sind noch hier?«, sagte Joy geistesabwesend, aber sie blieb stehen und drehte eine kalte Zigarette zwischen den Fingern. Als sie sich über das brennende Zündholz beugte, das Ryerson ihr anbot, schaute er sie, wie empfohlen, genauer an. Nein, dachte er, sie ist tatsächlich nicht uninteressant, aber reizvoll ebenso wenig. Es war nicht die warme Lebendigkeit einer Frau, sondern die steinerne Schönheit einer Marmorstatue; ihre Züge waren zu ausgeprägt, die Stirn zu hoch, die Augenbrauen zu schwer, eine Schönheit, die in ihrer Strenge alles Hübschsein ausschloss.

»Ich will nur Mutters Pelzmantel aus unserem Abteil holen; da draußen auf der Plattform ist es bitterkalt.«

»Das ist aber auch kein Platz für Ihre Mutter. Sie kann sich den Tod holen.«

»Sie kennen sie ja; sie kann’s nie in einem Zug aushalten. Sie bringt es fertig, sich in einen Anfall von Platzangst hineinzusteigern.«

»Wohin fahrt ihr denn? New York?«

»Zuerst, und dann weiter nach Boston. Der Truppentransport meines Bruders soll nächsten Montag dort ausgeschifft werden. Hoffentlich –«, sagte sie, und ein neuer Ausdruck, ein Leuchten eher als ein Lächeln, trat in ihren Blick.

»Gut, ausgezeichnet. Kein Wunder, dass deine Mutter zapplig wird. Und Susan – die junge Frau Ambros? Ist sie nicht mitgekommen?«

»Susan? Nein, sie musste bei den Kindern bleiben. Sie wissen ja, wie das jetzt ist mit den Dienstboten – sie hat nur eine Putzfrau, und noch dazu hat die kleine Maxine vor einer Woche die Masern erwischt. Nein – Susan wird nicht da sein zum Empfang, nur Mutter.«

»Und Sie, Joy. Ich bin sicher, das ist wichtiger für Charles als all der Tamtam, mit dem unsere Jungens begrüßt werden.«

»Ich? Ach – ich bin nur seine Schwester –«, sagte Joy; ihr Blick wanderte davon, zum Fenster und hinaus in den Abend, wo ein paar vereinzelte Lichter vorbeiglitten. Einen Moment lang spürte Major Ryerson ein unbestimmtes Mitleid mit ihr; er schaute ihr durch den Rauch seiner Pfeife nach, als sie davonging.

»Können Sie mir vielleicht verraten, warum man gerade dieses Geschöpf Joy nannte? Joy – gioia – Freude? Sie kann ja nicht einmal ein Lächeln zustande bringen«, sagte er nachdenklich. Es war ihm plötzlich eingefallen, weshalb sie ihn an eine übergroße Marmorfigur erinnerte. Michelangelos Nacht in der Medici-Kapelle in Florenz. Ja, da war die Ähnlichkeit.

»Nicht wahr? Eltern tun ihren Kindern abscheuliche Dinge an, Tom, und auf der Nordseite wachsen bekanntlich keine süßen Orangen«, sagte der Rechtsanwalt. »Aber glauben Sie mir, Tommy, mein Junge, sogar Joy war einmal ein dickes, lachendes kleines Kind –«

 

Kurz vor zehn Uhr war Ryerson in den engen Gang vor dem Abteil, das er mit dem Rechtsanwalt teilte, hinausgetreten, um eine letzte Pfeife zu rauchen, bevor er zu Bett ging. Er stand so da, mit der Bewegung des Zuges pendelnd, und versuchte, an nichts zu denken, als er in die Nachtschwärze hinausstarrte, wo nichts zu sehen war. Ein kleines Knistern und ein Hauch von Lavendel weckten ihn auf. Mrs. Ambros erschien; sie war in einen bestickten chinesischen Mantel gehüllt, in dessen weiten Ärmeln sie ihre kleinen Hände barg wie in einem Muff. »Oh, Mrs. Ambros – können Sie auch nicht schlafen?«

»Ich versuche es nicht einmal, denn für mich hat das ja gar keinen Zweck. Auf der Eisenbahn kann ich kein Auge schließen, von jeher schon. Diese scheußlichen, überfüllten Schlafwagen machen mir Angst, wahrhaftig, da gibt’s nichts zu lachen. Und es vibriert so stark, davon kriege ich meine Kopfschmerzen. (Sie erwähnte ihre Kopfschmerzen so, als wären sie ihr ganz spezielles und privates Eigentum. Meine Kopfschmerzen. Mein Nerzmantel. Meine Tochter. In vergangenen Zeiten hatte sie mit der gleichen Betonung gesagt: mein Mann). Lieber stehe ich die ganze Nacht im Gang, als mich hinter diese schrecklichen grünen Vorhänge zu legen. Ich weiß, es ist töricht und lächerlich – aber so wie ich in eine dieser Kojen krieche, kommt es mir vor, als sei sie ein Sarg, und ich liege im Sarg, und man wird mich lebendig begraben – ich kann nicht atmen, ich sterbe tausend Tode –, es ist ein Albdruck, aber ich erlebe ihn, während ich hellwach bin.«

Eine schmale Hand schlüpfte aus dem weiten Ärmel und wanderte zu ihrer Kehle, es erinnerte Ryerson an die winzige flaumige weiße Maus, die er als Kind besessen hatte.

»Und die Dinge, die man in so einem Schlafwagen zu sehen bekommt«, fuhr sie fort, »ich bin wahrhaftig nicht prüde – und Sie brauchen deshalb gar nicht zu lächeln, Major –, also gut, Sie mögen mich zimperlich nennen, aber mir wird einfach ein bisschen übel, wenn ich dem Anblick von Dutzenden von behaarten Soldatenbeinen und unrasierten Gesichtern ausgesetzt bin –«

»Warum haben Sie kein privates Abteil genommen, Mrs. Ambros? Die sind viel bequemer.«

»Mein bester Major Ryerson, Sie vergessen, dass ich nicht zu den einflussreichen Personen gehöre. Private Abteile sind für den Offiziersstab reserviert – ach, du lieber Gott, damit meine ich nicht Sie, bestimmt nicht, Major, und ich beschwere mich ja auch gar nicht. Es ist nur recht und billig, dass Menschen wie Sie, die den Krieg für uns gewonnen haben, solch kleine Vorrechte haben, aber natürlich, für uns arme Zivilisten kommt solcher Luxus gar nicht infrage.«

Was blieb Ryerson übrig, als Mrs. Ambros das Abteil, das er mit Watts teilte, anzubieten? Der Rechtsanwalt, schon ausgekleidet und in einen Detektivroman vertieft, war über Ryersons impulsive Ritterlichkeit nicht sehr erfreut, aber er machte gute Miene dazu, rief nach dem Schaffner, ordnete den Austausch an, und die Übersiedlung wurde vorgenommen, nicht ohne einige Unruhe im allgemeinen Schlafwagen zu erzeugen. Es war eine von Mrs. Ambros’ Eigenheiten, dass sie – so still, so bescheiden, so liebenswürdig und gewinnend sie war – häufig zum Mittelpunkt von solchen kleinen Unruhen, Zwischenfällen und Ansammlungen wurde. Aufgestörte Gesichter erschienen hinter den grünen Gardinen, die Zwillinge wachten auf und begannen zu quaken, und es gab ein großes Hin und Her, Flüstern, Murren, Gezerre von Gepäck, Scharren von Koffern und Reisetaschen. Mr. Watts, schon in Schlafrock und Hausschuhen, stand mit mürrischer Bulldoggenmiene dabei, und Ryerson tat es beinahe leid, dass er sich zur Ursache der ganzen Aufregung gemacht hatte. Joy, noch adrett in ihrem braunen Jackenkleid, half schweigend beim Tragen, Schleppen und Übersiedeln und sagte zum Schluss nichts als ein kühles »Danke und gute Nacht« zu den beiden Opfern von Ryersons Gutmütigkeit, während Mrs. Ambros in ihrer hilflosen Art nur wiederholen konnte, dass es zu viel sei, wahrhaftig zu viel, und dass sie sich nie vergeben könne, ihre Unbequemlichkeit erwähnt zu haben, alte Närrin, die sie war. Aber zuletzt war alles bewerkstelligt, die Damen Ambros waren in dem Salonabteil installiert, und die beiden Herren wanderten mit ihren Aktentaschen in den großen Schlafwagen.

»Sehen Sie, was ich meine? Ihre bezaubernde alte Dame hat uns einfach ausgenutzt«, sagte Watts. Er war ein schwerfälliger Mann, und es bedurfte allerhand Künste, bis er sich in der engen Klappe aus seiner Unterwäsche geschält hatte. Aber als Ryerson das Leiterchen zu seinem Oberbett hinaufkletterte, hörte er seinen Freund unten in sich hineinlachen. »Was ist denn so komisch?«, fragte er.

»Oh, nichts Besonderes eigentlich. Mir fiel nur gerade eine Warnungstafel ein, die ich einmal in England sah. Waren Sie einmal in Bushy Park, nein? Zwischen Richmond und Hampton Court? Da war doch diese Tafel im Wildpark, und wissen Sie, was in mannshohen Buchstaben darauf stand? Vor Rehen wird gewarnt! Jawohl, das stand auf der Tafel. Da waren diese anmutigen, scheuen Tiere mit den langen, sanften Walt-Disney-Wimpern; und da war diese Tafel, die es mannshoch in die Gegend schrie: Vor Rehen wird gewarnt! Das Publikum wird hiermit gewarnt, dass es zu allen Zeiten gefährlich ist, sich den Tieren zu nähern! Die Gefahr ist besonders groß während der Brunstzeit – na, und so weiter. Sooft ich Ann Ambros begegne, fällt mir diese Warnungstafel ein. Also gute Nacht, und schlafen Sie wohl da oben, Sie Ritter ohne Furcht und Tadel«, sagte George Watts und zog seine Gardinen zu.

 

Joy Ambros lag im oberen Bett des Privatabteils und konnte nicht einschlafen. Sie hatte ein Schlafpulver genommen und war davon ein wenig benommen, aber sie konnte nicht einschlafen. »Vorsicht mit Schlafmitteln, so was wird leicht zur Gewohnheit«, hatte Dr. Bryant sie gewarnt; zuerst hatte sie nicht verstanden, was hinter diesem Wort lag, aber nun wusste sie es. Zuerst verließ man sich auf die brave kleine Kapsel, die am Denken hinderte, wenn es zu schmerzhaft wurde, und man war dankbar für das warme, weiche Vergessen, in das man gehüllt wurde; und etwas später gab sie noch immer Beruhigung und Schlaf, wenn auch nur für ein paar kurze und immer kürzere Stunden. Bald wachte man auf, viel zu früh, vor Tagesanbruch, und dann lag man da, mit heißen, weit offenen Augen, und dachte, wie alles hätte sein können, wenn – und wenn nicht … Und dann musste man bemerken, dass ein Pulver nicht mehr wirkte, und man nahm zwei, und nach einer Weile verloren auch die ihre magische Kraft. Und dann mochte man sich wohl an das kleine Medizinfläschchen erinnern, das man an einem gewissen Morgen auf Papas Nachttisch, neben der offenen Zigarettendose, gefunden hatte, und dann kämpfte man seinen einsamen Kampf und sammelte seinen ganzen Willen, man warf den Rest der Schlafpulver fort und nahm die Qual der langen wachen Nächte auf sich.

Im Dunkeln marschierten die Kolonnen all der Wenn-und-Wenn-nicht eines versäumten Lebens auf sie zu, eine Phalanx nach der anderen, all die Schmetterlinge, die sie nicht gefangen, all die Bilder, die sie nicht gemalt hatte, all das Leben, das ungelebt geblieben war …

Heute Nacht nun, als sie nicht schlafen konnte, ging es um Charley und Susan und die Kinder – den vierjährigen Florian und Maxine, die fast sechs war –, und es musste etwas getan werden, um sie zu retten, und es lag an ihr, es zu tun. Freilich, es gab einen leichten Ausweg, denn Dr. Bryant hatte das Rezept erneuert, und da war das Fläschchen mit den kleinen Kapseln, man brauchte bloß die Hintertür zu öffnen und sich davonzuschleichen, und alle Qual war vorbei. Joy hielt den Atem an und horchte ins Dunkle. Mutter atmete tief und gleichmäßig im unteren Bett. Der winzige Kreis der blauen Nachtlampe streute ein wenig schwimmende Helligkeit aus. Wenn ich wenigstens das Licht andrehen und ein wenig lesen könnte, dachte Joy, es würde helfen; aber sie wusste, dass das nicht möglich war. Mutters Schlaf durfte nicht gestört, die Lampe konnte nicht angedreht werden, und Joy stieg wieder hinab in das Inferno, das auf dem Grund der Schlaflosigkeit auf sie wartete.

Charley und Susan und die Kinder, das kleine Haus, von Charley selbst entworfen, das Kinderzimmer, das Susan ausgemalt, die lustigen Tiere, die sie für die Kleinen gemacht hatte, das Wohnzimmer, dessen gelbe Wände sogar an Regentagen die Sonne scheinen ließen, die Blumenbeete im winzigen Garten, die von Susan verfassten Kinderbücher und Wiegenlieder. Liebe, fröhliche, kluge Susan! Nein, dachte Joy, zum tausendsten Mal, es darf ihnen nichts geschehen, ich werde es nicht zulassen. Zwei Tage zuvor war sie auf ein Kinderbild Charleys gestoßen, und plötzlich, ganz klar, hatte sie sich des verbogenen Körbchens erinnert, das der Vierjährige mit seinen klebrigen, ungeschickten Fingerchen als ein Geschenk zu ihrem zwölften Geburtstag fabriziert hatte. Überwältigt von all den freundlichen Erinnerungen, lächelte sie in die zerfließende blaue Dämmerung des Abteils und konnte beinahe einschlafen und verschob beinahe noch einmal die Entscheidung, die von ihr verlangt wurde.

Und dann hielt der Zug in irgendeiner namenlosen Station, es gab zwei heftige Stöße, und Mrs. Ambros da drunten in ihrem Bett bewegte sich, erwachte und drehte das Licht an.

»Joy? Schläfst du, Joy?« –

»Nein, nicht richtig – Mutter.«

»Es ist unerträglich hier drinnen, nicht? Man erstickt ja. Und die Hitze – oder vielleicht ist es mein Blutdruck. Ich habe kein Auge geschlossen.«

»Möchtest du etwas einnehmen? Ein kleines Schlafpulver?«

»Du lieber Himmel, nein. Du weißt ja, was ich von solchem Zeug halte.«

Mit erneutem Stoßen und Rütteln setzte der Zug sich wieder in Bewegung. Die Hauptstraße der unbekannten kleinen Stadt blieb dahinten zurück, die nachtbleiche Station, ein paar Laternen, ein paar Autos, die dort schliefen.

»Joy?«

»Ja, Mutter?«

»Wenn’s nicht zu viel Mühe macht – ich hätte gern einen Schluck Wasser.«

Joy kletterte hinunter, fand die Flasche und füllte ein Glas mit der abgestandenen Flüssigkeit. Sie zog den Vorhang zu, und der enge Raum schloss sich noch dichter um sie. »Nicht, mein Kind, ich kann ohnedies nicht atmen. Hier, fühl einmal mein Herz. Wie eine Trommel. Wäre es nicht schrecklich, wenn ich auf der Reise einen Anfall bekäme?«

»Das passiert nicht, Mutter, bestimmt nicht«, sagte Joy und kletterte in ihr Bett zurück.

Unten wurde die Lampe nach einer kleinen Weile abgedreht. »Es tut mir ja so leid, dass ich dir so zur Last falle«, flüsterte das untere Bett kläglich. »Es macht mir nichts aus, im Dunkeln zu liegen – ich möchte, dass du schläfst, wenn ich’s schon nicht kann.«

Etwas später schob, knisterte und tappte es da unten, und Joy knipste das Licht an. Schwankend, denn der Zug fuhr schnell, stand Mutter da, sie hatte sich aus ihrem Nachthemd geschält und war im Begriff, sich ganz anzukleiden.

»Was gibt’s jetzt wieder, Mutter?«

»Ich kann’s nicht mehr aushalten. Wenn ich noch länger hier drinnen bleibe, ist es mein Tod. Mach dir nichts draus, mein Kind. Ich gehe in den Aussichtswagen und schnappe ein bisschen frische Luft.«

Joy verließ ihr Bett und war ihr beim Anziehen von Strümpfen, Schuhen und seidenem Unterkleid behilflich. Das war eine ihrer Pflichten, und es widerte sie von Tag zu Tag mehr an, den Körper ihrer Stiefmutter zu berühren. Nicht etwa um ihres welken Alters willen, sondern gerade weil diese Haut noch immer zarter und weißer war als ihre eigene, die Beine noch immer schlank, mit feinen Fesseln, die Arme noch immer wie die eines jungen Mädchens. Nichts von unappetitlichen Alterssymptomen bei Mrs. Ambros. Ihr Haar wuchs rasch und dicht, alle ihre Zähne waren gesund und komplett, und ihre Verdauung war ausgezeichnet. Sie hatte Veilchensachets in ihrem Wäscheschrank und Lavendelsalz in ihrem Bad; und selbst für diesen nächtlichen kleinen Ausflug puderte sie ihr Gesicht und tupfte ein wenig Rouge auf die Wangen. Joy hüllte sie in den Nerzmantel, zog rasch den Sportmantel über ihren Pyjama und nahm die alte Reisedecke über den Arm. »Fertig?«, fragte sie.

»Du brauchst wirklich nicht mitzukommen, mein Kind, wirklich nicht, wenn du keine Lust hast. Der Schaffner könnte mir ja vielleicht behilflich sein …«

Sie wussten beide, dass das nur eine Redensart war. Joy öffnete ihrer Mutter die Tür und steuerte sie durch den schlafenden Zug. Erst jetzt konnte sie die Dumpfheit spüren, mit der das Schlafpulver ihr Gehirn umhüllte und allen Dingen eine sonderbare Unwirklichkeit verlieh. Der Zug schwankte dahin, den immer gleichen Rhythmus durch die Nacht trommelnd, den immer gleichen heiseren, lang gezogenen Schrei der Dampfpfeife ins Dunkel stoßend. Sie wanderten durch einen Wagen nach dem anderen, alle schliefen, träumten. Es war eine atmende Polyphonie, durch die sie wanderten, und bald schien es Joy, als kreuzten sie immer denselben Wagen, so wie man in bösen Träumen stets wieder in die gleiche Straße zurückkommt. Immer wieder warf sie ihr Gewicht gegen die immer gleiche schwere Tür, wartete auf Mutter, leitete sie durch die immer gleiche rüttelnde Verbindung in den nächsten Wagen. Warf sich gegen die nächste Tür und die nächste, sog vorsichtig die abgestandene, tote Luft der schlafenden Wagen ein, durchschritt das darmartige Ende des Korridors an der Reihe der Privatabteile entlang, las die immer gleichen Ankündigungen: Im Interesse derjenigen, die schlafen wollen, wird um Ruhe gebeten. Speisewagen in der entgegengesetzten Richtung. Für Damen. Für Herren.

Schließlich erreichten sie den Salonwagen, der viel zu hell und wach erschien nach der schlaftrunkenen Wanderung. Es gab noch ein paar Kartenspieler, die zwei Schaffner tranken Bier, die ältliche Krankenschwester schrieb einen Brief, und der Barmixer sah den beiden jungen Offizieren bei einer Schachpartie zu. Alle blickten auf, als Joy und ihre Mutter eintraten, und Mrs. Ambros lächelte ihr bestes liebenswürdig-entschuldigendes Lächeln. »Wir beide sind doch richtige Nachtvögel«, sagte sie vergnügt, »es ist wirklich eine Schande – aber Sie werden das sicher verstehen«, wandte sie sich an die Schwester, »ich konnte es da drinnen einfach nicht länger aushalten. Hoffentlich tut mir die frische Luft gut.«

Die Schwester schaute sich flüchtig um, sagte »Gewiss« und kehrte zu ihrem Brief zurück. Joy öffnete die Tür zu der kleinen Aussichtsplattform. Die Nachtluft schlug ihr ins Gesicht wie eine sehr kalte Hand, peitschte gegen ihre Beine und zerrte an ihren Pyjamahosen. Außerdem weckte diese kalte Luft sie auf und riss sie aus der schwebenden Unwirklichkeit, in der sie dahingewandert war; jetzt erst bedauerte sie, sich nicht völlig angekleidet zu haben. Aber in Gesellschaft ihrer Mutter hatte sie oft das Gefühl, unsichtbar zu sein, und das war einer der Gründe, weshalb sie sich nicht viel um ihr Äußeres kümmerte.

»Na also, hier ist es besser, oder nicht, mein Kind?«, bemerkte Mrs. Ambros und ließ sich auf einem der beiden engen Bänkchen nieder. Joy setzte sich instinktiv auf die andere Bank, sodass die Tür zum Inneren des Wagens zwischen ihnen lag. Obwohl die Stimme des nächtlichen Zuges hier draußen viel lauter zu hören war, schien es doch stiller als drinnen. Die Nacht war schwarz und tief, ein schmales Mondrestchen lief eilig durch dünne, zerrissene Wolken. Die Gardinen an der Innenseite der Tür waren geschlossen, sie verbargen die helle Welt da drinnen vor der Nacht. Aber nach einer halben Minute hatten Joys Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt, und sie konnte sehen, wie die Schienen unter dem Zug hinwegglitten und in dem feinen Nebel verschwanden, der zwischen den niedrigen Hügeln lagerte. Der Widerschein des Schlusslichts hämmerte rote und grüne Funken aus den Stahlschlangen der Schienen, und ab und zu standen andere Lichter, rote und weiße Signale, wie wachsame Zwerge am Wege.

»Joy, hast du die Reisedecke mitgebracht? Ich kriege kalte Füße.«

»Jawohl, Mutter«, sagte Joy, und niederkniend wickelte sie die Decke um die Beine der alten Dame, die gütig auf sie hinunterlächelte. Es roch nach Mottenkugeln und nach dem muffigen Koffer, worin die alte Decke zwischen Reisen zu schlafen pflegte.

»Manchmal erinnerst du mich sehr an deinen Vater; er wickelte mich auch immer in die Decke, wenn ich mich auf unseren Überfahrten elend fühlte. Weißt du, wie oft ich mit deinem Vater den Atlantik überquert habe?«, sagte Mrs. Ambros. Joy wusste es, aber sie ließ sie weiterreden. »Was für ein ruheloser Mensch er war! Und ich bedauernswertes Geschöpf, immer auf Tournee mit ihm, von einem Hotel zum anderen, ich konnte mich nie daran gewöhnen. Du kannst mir’s glauben, als Frau eines berühmten Mannes ist man nicht immer auf Rosen gebettet. Aber trotz allem hat es mir gefallen.«

Joy nahm ihren Platz auf der anderen Seite der Tür wieder ein und verschränkte die Hände hinter dem Rücken, auch dies eine Gebärde, die sie von ihrem Vater ererbt hatte.

»Was ist mit dir los, mein Kind? Warum redest du kein Wort? Das ist nicht sehr unterhaltend. Nun erzähl du mir zur Abwechslung einmal was.«

»Was soll ich dir erzählen, Mutter? Ich weiß nichts, was du nicht wüsstest.«

»Du hast dich gestern am Telefon von Susan verabschiedet – ich habe euch gehört.«

»Nun, und was weiter? Du hast uns gehört?«

»War sie – ich meine – klang es ein bisschen – du weißt schon, was ich meine – schien sie mit etwas hinter dem Berg zu halten?«

Joy zuckte müde die Achseln. »Wenn du’s genau wissen willst, sie war nicht besonders glücklich darüber, dass du Charley empfangen wirst anstatt ihrer«, sagte sie langsam, ihre Hände noch enger verschränkend, bis sie jeden harten, angespannten Knöchel fühlte.

Ein paar schlafende kleine Häuser glitten vorbei, der gläserne Käfig eines Stellwerks goss im Vorüberziehen sein Licht über die Schienen, drei schwere Lastwagen arbeiteten sich geduldig über die Steigung einer Landstraße, die unsichtbar neben dem Zug herlief; dann wieder Dunkelheit. Und dann tauchte der Bremser auf der Plattform auf, er öffnete das kleine Pförtchen in der Umgitterung und starrte im Licht seines Laternchens beinahe erschrocken die beiden Damen an, die er so unerwartet und so spätnachts da draußen entdeckte.

»Guten Abend, die Herrschaften, recht nette Nacht heute Nacht, nicht?«, sagte er immerhin freundlich. »Aber wird’s den jungen Damen nicht so ’n bisschen kalt? Ich bin ja dran gewöhnt, aber die beiden Fräuleins …« Er hielt sie wohl für jung und hübsch, aber sobald er seine Laterne näher brachte und einen Blick in Joys abweisendes Gesicht tat, trat er den Rückzug an. »Nichts für ungut, Fräulein, die Geschmäcker sind verschieden, das sage ich meiner Alten auch immer.«

Joy versuchte, die Antwort ihrer Mutter nicht zu hören; da waren wieder einmal das schwache Herz, die Kopfschmerzen, die Unmöglichkeit, es eine Nacht im Coupé auszuhalten. Sie sah, wie der Mann das Geländer mit einem Bolzen oder Riegel sicherte. »Der Zug hat zweiundzwanzig Minuten Verspätung, aber wir werden’s bald einholen«, sagte er. »Na, gute Nacht, die Damen, und dass Sie nicht zu lange hier draußen bleiben und sich einen Schnupfen holen.« Er öffnete die Tür zum erleuchteten Inneren des Wagens, und als er sie hinter sich geschlossen hatte, war die Nacht noch dunkler als zuvor. Joy löste ihre verkrampften Hände voneinander und holte ihre Zigarettendose und Streichhölzer aus der Manteltasche.

»Darf ich rauchen, Mutter?«

»Wenn’s durchaus sein muss.«