Schöne Ferien!

Geschichten für die glücklichste Zeit des Jahres

FISCHER E-Books

Herausgegeben von Julia Gommel-Baharov

Inhalt

Impressum

Originalausgabe

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2019 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

Covergestaltung: kreuzerdesign | München Rosemarie Kreuzer

Coverabbildung: Janet Hill, www.janethillstudio.com

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-390007-1

Fußnoten

sekkieren, wiener.-jiddisch: triezen, ärgern

Regenumhang

Pfifferlinge

Die Kunst, falsch zu reisen

Wem Gott will rechte Gunst erweisen,

den schickt er in die –

»Alice! Peter! Sonja! Legt mal die Tasche hier in das Gepäcknetz,

nein, da! Gott, ob einem die Kinder wohl mal helfen!

Fritz, iß jetzt nicht alle Brötchen auf! Du hast eben gegessen!« –

in die weite Welt!

Wenn du reisen willst, verlange von der Gegend, in die du reist, alles: schöne Natur, den Komfort der Großstadt, kunstgeschichtliche Altertümer, billige Preise, Meer, Gebirge – also: vorn die Ostsee und hinten die Leipziger Straße. Ist das nicht vorhanden, dann schimpfe.

Wenn du reist, nimm um Gottes willen keine Rücksicht auf deine Mitreisenden – sie legen es dir als Schwäche aus. Du hast bezahlt – die andern fahren alle umsonst. Bedenke, daß es von ungeheurer Wichtigkeit ist, ob du einen Fensterplatz hast oder nicht; daß im Nichtraucher-Abteil einer raucht, muß sofort und in den schärfsten Ausdrücken gerügt werden – ist der Schaffner nicht da, dann vertritt ihn einstweilen und sei Polizei, Staat und rächende Nemesis in einem. Das verschönt die Reise. Sei überhaupt unliebenswürdig – daran erkennt man den Mann.

Im Hotel bestellst du am besten ein Zimmer und fährst dann anderswohin. Bestell das Zimmer nicht ab; das hast du nicht nötig – nur nicht weich werden.

Bist du im Hotel angekommen, so schreib deinen Namen mit allen Titeln ein … Hast du keinen Titel … Verzeihung … ich meine: wenn einer keinen Titel hat, dann erfinde er sich einen. Schreib nicht: ›Kaufmann‹, schreib: ›Generaldirektor‹. Das hebt sehr. Geh sodann unter heftigem Türenschlagen in dein Zimmer, gib um Gottes willen dem Stubenmädchen, von dem du ein paar

In der fremden Stadt mußt du zuerst einmal alles genauso haben wollen, wie es bei dir zu Hause ist – hat die Stadt das nicht, dann taugt sie nichts. Die Leute müssen also rechts fahren, dasselbe Telefon haben wie du, dieselbe Anordnung der Speisekarte und dieselben Retiraden. Im übrigen sieh dir nur die Sehenswürdigkeiten an, die im Baedeker stehen. Treibe die Deinen erbarmungslos an alles heran, was im Reisehandbuch einen Stern hat – lauf blind an allem andern vorüber, und vor allem: rüste dich richtig aus. Bei Spaziergängen durch fremde Städte trägt man am besten kurze Gebirgshosen, einen kleinen grünen Hut (mit Rasierpinsel), schwere Nagelschuhe (für Museen sehr geeignet), und einen derben Knotenstock. Anseilen nur in Städten von 500000 Einwohnern aufwärts.

Wenn deine Frau vor Müdigkeit umfällt, ist der richtige Augenblick gekommen, auf einen Aussichtsturm oder auf das Rathaus zu steigen; wenn man schon mal in der Fremde ist, muß man alles mitnehmen, was sie einem bietet. Verschwimmen dir zum Schluß die Einzelheiten vor Augen, so kannst du voller Stolz sagen: ich habs geschafft.

Mach dir einen Kostenvoranschlag, bevor du reist, und zwar auf den Pfennig genau, möglichst um hundert Mark zu gering – man kann das immer einsparen. Dadurch nämlich, daß man überall handelt; dergleichen macht beliebt und heitert überhaupt die Reise auf. Fahr lieber noch ein Endchen weiter, als es dein Geldbeutel gestattet, und bring den Rest dadurch ein, daß du zu Fuß gehst, wo die Wagenfahrt angenehmer ist; daß du zu wenig Trinkgelder gibst; und daß du überhaupt in jedem Fremden einen Aasgeier siehst. Vergiß dabei nie die Hauptregel jeder gesunden Reise:

Sprich mit deiner Frau nur von den kleinen Sorgen des Alltags. Koch noch einmal allen Kummer auf, den du zu Hause im Büro gehabt hast; vergiß überhaupt nie, daß du einen Beruf hast.

Wenn du reisest, so sei das erste, was du nach jeder Ankunft in einem fremden Ort zu tun hast: Ansichtskarten zu schreiben. Die Ansichtskarten brauchst du nicht zu bestellen: der Kellner sieht schon, daß du welche haben willst. Schreib unleserlich – das läßt auf gute Laune schließen. Schreib überall Ansichtskarten: auf der Bahn, in der Tropfsteingrotte, auf den Bergesgipfeln und im schwanken Kahn. Brich dabei den Füllbleistift ab und gieß Tinte aus dem Federhalter. Dann schimpfe.

Das Grundgesetz jeder richtigen Reise ist: es muß was los sein – und du mußt etwas ›vorhaben‹. Sonst ist die Reise keine Reise. Jede Ausspannung von Beruf und Arbeit beruht darin, daß man sich ein genaues Programm macht, es aber nicht innehält – hast du es nicht innegehalten, gib deiner Frau die Schuld.

Verlang überall ländliche Stille; ist sie da, schimpfe, daß nichts los ist. Eine anständige Sommerfrische besteht in einer Anhäufung derselben Menschen, die du bei dir zu Hause siehst, sowie in einer Gebirgsbar, einem Oceandancing und einer Weinabteilung. Besuche dergleichen – halte dich dabei aber an deine gute, bewährte Tracht: kurze Hose, kleiner Hut (siehe oben). Sieh dich sodann im Raume um und sprich: »Na, elegant ist es hier gerade nicht!« Haben die andern einen Smoking an, so sagst du am besten: »Fatzkerei, auf die Reise einen Smoking mitzunehmen!« – hast du einen an, die andern aber nicht, mach mit deiner Frau Krach. Mach überhaupt mit deiner Frau Krach.

Durcheile die fremden Städte und Dörfer – wenn dir die Zunge nicht heraushängt, hast du falsch disponiert; außerdem ist der Zug, den du noch erreichen mußt, wichtiger als eine stille Abendstunde. Stille Abendstunden sind Mumpitz; dazu reist man nicht.

Auf der Reise muß alles etwas besser sein, als du es zu Hause

Mit den lächerlichen Einheimischen sprich auf alle Fälle gleich von Politik, Religion und dem Krieg. Halte mit deiner Meinung nicht hinterm Berg, sag alles frei heraus! Immer gib ihm! Sprich laut, damit man dich hört – viele fremde Völker sind ohnehin schwerhörig. Wenn du dich amüsierst, dann lach, aber so laut, daß sich die andern ärgern, die in ihrer Dummheit nicht wissen, worüber du lachst. Sprichst du fremde Sprachen nicht sehr gut, dann schrei: man versteht dich dann besser.

Laß dir nicht imponieren.

Seid ihr mehrere Männer, so ist es gut, wenn ihr an hohen Aussichtspunkten etwas im Vierfarbendruck singt. Die Natur hat das gerne.

Handele. Schimpfe. Ärgere dich. Und mach Betrieb.

Die Kunst, richtig zu reisen

Entwirf deinen Reiseplan im großen – und laß dich im einzelnen von der bunten Stunde treiben.

Die größte Sehenswürdigkeit, die es gibt, ist die Welt – sieh sie dir an.

Niemand hat heute ein so vollkommenes Weltbild, daß er alles verstehen und würdigen kann: hab den Mut, zu sagen, daß du von einer Sache nichts verstehst.

Nimm die kleinen Schwierigkeiten der Reise nicht so wichtig; bleibst du einmal auf einer Zwischenstation sitzen, dann freu dich, daß du am Leben bist, sieh dir die Hühner an und die ernsthaften Ziegen, und mach einen kleinen Schwatz mit dem Mann im Zigarrenladen.

Entspanne dich. Laß das Steuer los. Trudele durch die Welt. Sie ist so schön: gib dich ihr hin, und sie wird sich dir geben.

Dann fahr doch!

Theo geht in die große Stadt. Einsam streift er durchs Häusergebirge von Lódz, er fühlt den kalten Atem der Geschichte im Nacken und wärmt sich am glühenden Kern der Nacht

Anhand der Beschreibung würde Theo seine Stadt schwerlich erkennen. Alter: kaum zweihundert Jahre. Größe: achthunderttausend Einwohner. Besondere Kennzeichen: unbekannt. Neben ihrem bürgerlichen Namen, gesprochen »Wuuhdsch«, auf Deutsch: das Boot, trägt sie mehr Decknamen als New York City. Wie eine dunkle Zauberin bringt sie jeden Besucher dazu, ob Verehrer oder Feind, ihr einen weiteren zu erfinden, Manchester des Ostens, Wald der dreihundert Schlote, Regenstadt oder Russlands Webstuhl. Für den Nobelpreisträger Wladislaw Reymont war sie das Gelobte Land, für die Nazis Litzmannstadt. Holly-Lódz!, sagen jene, die Filme von Polanski und Kieslowski lieben. Stadt ohne Grenzen, Stadt des Bösen, Stadt ohne Geschichte. Theo ist gerade erst in den Zug gestiegen und glaubt schon zu wissen, wie er sie nennen wird: die Oftgetaufte.

Was sich hinter den ungezählten Namen verbirgt, weiß in Deutschland kaum noch einer. Als hätte sich die Zauberin aus den Gedächtnissen gelöscht – niemand kann sich erinnern.

Außer daran, dass Theo nach Lodsch fährt. Seit dreißig Jahren beantwortet er die lustige Frage: Heute schon in Lodsch gewesen? Wen interessiert schon, dass das Lied eigentlich Itzek, komm mit nach Lódz heißt und dumme Bauern besingt, die Dorf und Torf verlassen, um in einer explodierenden Industriestadt ihr Glück zu suchen. Trotz aller Gegendarstellungen findet Theo seinen Namen an unerfreulichen Stellen, auf den Covers von Schlagersammlungen und in deutschen Grammatikbüchern:

Er fühlt sein Herz schlagen. Er hört sich selber schreien.

Theo fährt nicht nach Lodsch. Er fährt nicht dorthin. Fahr doch, Theo!«

Fahr doch, fahr doch. Theo schaut durch die Scheiben des Warschau-Express über eine flache Landschaft, in der das letzte Hochwasser mächtige Holzbrocken zurückgelassen hat. Wie dickhäutige Tiere hocken sie zwischen Eiskrusten auf den Feldern und wissen nicht weiter. Die grünstichige Zugbeleuchtung schaltet sich ein und aus, als könnte der Express nicht entscheiden, ob es dunkel ist oder hell. Es ist beides, ein richtiger Polarwintertag. Es war die Idee seiner genervten Freundin: Dann fahr doch hin. Mitkommen wollte sie nicht. Theo hört sein Herz schlagen. Die Temperatur ist um drei Grad gesunken.

»Wer ist dieser Theo?«, fragt mein Freund F., der mir beim Schreiben dauernd über die Schulter schaut. »Eine fiktive Figur«, sage ich genervt, »damit müsstest gerade du dich auskennen.« – »Und warum fährt er nach Lódz und nicht ich?« Ich bin schlecht gelaunt, weil es nicht einfach ist, auf mehreren Textebenen gleichzeitig zu operieren. Um F. loszuwerden, schicke ich ihn auf Recherche ins Internet. Historische Daten sammeln, Polnischvokabeln übersetzen.

Der Express verlangsamt das Tempo, spuckt Theo auf einen Bahnsteig und ist fast im gleichen Augenblick wieder verschwunden. Vier Schienenstränge unter freiem Himmel. Keine Menschenseele. Kutno heißt das gottverlassene Nest.

F. ist blitzschnell zurück: In den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts, als Lódz seine knapp achthundert Einwohner noch in Holzhütten aufbewahrt, fällen die russischen Behörden im geteilten Wiener-Kongress-Polen die Entscheidung, eine Industriemetropole zu gründen. Linien werden mit Stöcken in den Sand gezogen, große Landstücke an in- und ausländische Einwanderer verschenkt. Unter einer Bedingung: Jeder baut eine

»Waren Sie schon mal in Freitag?«, fragt der Taxifahrer dumpf. »Da liegt das Zentrum von Polen.« Schwer lastet Dunkelheit auf leeren Feldern. Auf Theo lastet das Gefühl, in den Wagen eines Wahnsinnigen gestiegen zu sein. Er sucht schon nach dem Türgriff, als ein Ortsschild vorbeiflitzt: Piatek-Freitag. »Nur in geografischer Hinsicht«, sagt der Fahrer und beginnt, vom Untergang der Metropole Lódz zu erzählen. Nach der Wende ist der Russlandhandel zusammengebrochen. Wenigstens gibt es ein neues Kino, »echt 21. Jahrhundert«, und Theos Hotel: »Nagelneu.«

Der Fahrer will das Zimmer besichtigen und befühlt die türkisfarbenen Duschvorhänge an den Fenstern. Draußen: »Lódz-Manhattan!« Neue und alte Plattenbauten und eine zehnspurige Hauptverkehrsstraße. Am Hochhaus gegenüber hängt ein tennisplatzgroßes Werbeplakat, das eine grüne Wiese zeigt. »Schöne Aussicht«, sagt der Fahrer und drückt Theo die Hand.

F. steckt den Kopf durch den Türspalt und sagt: »Das Gute an Städten mit nur zwei Jahrhunderten Geschichte ist, dass sie keine historischen Marktplätze haben, keine gotischen Kathedralen und mittelalterlichen Gassen. Davon gibt’s in Polen mehr als genug.« Lódz hat kein Herz, dafür aber eine Wirbelsäule. Schnurgerade fräst sich die Prachtallee Piotrkowska über fünf Kilometer durch die Stadt, auf dem Reißbrett gezogen, als Zeitstrahl einer selbst erfundenen Geschichte. Die Gebäude bewahren eine nicht vorhandene Vergangenheit: außen Neogotik, Neoromantik, Neobarock, innen Rokoko, Chinoiserien,

F. steht still und lauscht. Er spürt den Echos nach, dem dreisprachigen Geplauder, den ächzenden Schritten stattlicher Männer, die keine Webmeister mehr sind, sondern Baumwollfürsten und Barchentbarone. Niemand von ihnen ist von Adel, aber sie haben lang genug untereinander geheiratet, um wie am Königshof miteinander verwandt zu sein, und man nennt sie, halb im Spaß, halb schon im Ernst, die Fabrikantenaristokratie.

F. riecht Zigarren und hört das Klatschen von Spielkarten auf poliertem Holz, er sieht in teure Stoffe gehüllte Damen rund ums Klavier beim Tee und lässt barfüßige Jugendstiltöchter in transparenten Gewändern und mit langem, offenem Haar durch die Zimmerfluchten wehen. In den dunklen Ecken, hinter offen stehenden Flügeltüren, nistet und brütet jedoch der Untergang, die böse Fratze noch zur Wand gekehrt. Bald wird er sich umwenden, hervorkriechen und hässlich in die edlen Zimmer grinsen. Der erste Stoß wird das vielköpfige, polnisch-jüdisch-deutsche Wesen schwer verwunden, ihm gerade genug Leben lassen für zwanzigjährige Agonie. Der zweite Stoß wird es zerreißen und töten.F. hat glasige Augen.

»Sehr beeindruckend«, sage ich. »Trotzdem fährt Theo nach Lódz. Und nicht du.«

 

Weil die Straßenbeleuchtung ausgefallen ist, gerät Theo jedes Mal ins Taumeln wie eine lichtsüchtige Motte, wenn er einen der beleuchteten Torbögen passiert. Hinter der Bergkette dunkler Gebäude, deren Kämme er nur mit zurückgelegtem Kopf betrachten kann, reihen sich Hinterhöfe wie die Mägen einer Kuh. Theo traut sich nicht hinein. So hoch Menschenarme reichen, sind die Mauern mit Graffiti bedeckt, erst schwarze und rote Sprühfarbe

Gerade erst angekommen, glaubt er, der letzte Mensch in der Stadt zu sein. Der Lichtschein laufender Fernseher, übriggebliebener Weihnachtsdekorationen oder schmutziger Neonröhren hilft nicht weiter. Statt Türen verschließen Metalltore die Eingänge, ohne Griffe oder Klinken, und manche der vergitterten Fenster erreichen die Größe von Fußballtoren. Als Theo dann doch wagt, ein Haus zu betreten, weil das Schild am Eingang Live-Music verspricht, blickt er in einen halbdunklen, verrauchten Raum, aus dem das Geräusch rollender Würfel zu hören ist. Musik und Tanz und Eleganz spielen sich nur im Innern vorbeirasender Autos ab.

Theo ist geschrumpft oder die Welt gewachsen, sie schlackert an ihm wie ein zu weit gewordenes Kleidungsstück. Schwarzbackige Löwen sehen von hoch oben auf ihn herunter, während die Stadt mit erstarrtem Gesicht in den Nachthimmel schaut. Irgendetwas ist schwer zu ertragen. Vielleicht Masse und Prunk der Fabriken, die wie Kastelle gestaltet sind, mit plumpen Türmen an allen vier Ecken und endlosen Reihen von Zinnen, die sich am Himmel festzubeißen scheinen. Es fällt schwer, sie nicht für schottische Burgen zu halten. Vielleicht sind Schlösser nicht zu ertragen, wenn sie nicht für Menschen, sondern für mächtige Maschinen errichtet wurden, die sie bewohnen. Oder vielleicht ist es der Verfall. Oder Theos Ahnung, dass ihn all das etwas angeht.

 

»Dein Theo ist eine Memme«, meint F. »Nur zweihundert Schritte in östlicher Richtung würde er auf die prächtige Piotrkowska treffen.« Ein gewisses Gefühl der Bedrückung müsse ihm allerdings zugestanden werden. Immerhin sei der Wald der Schlote gerodet, ein paar der übriggebliebenen Schornsteine stehen unter Denkmalschutz. Fabriken lauschen still dem Bröckeln der eigenen Mauern. Theo spüre Geschichte, deutsche, polnische, europäische, Weltgeschichte überhaupt, diese ewige, rasante Parabel aus Errichten und Vernichten.

Lódz hat sich wegen Geldmangel kein künstliches Gedächtnis errichtet und kann sich nur verschwommen erinnern. Die ehemaligen Grenzen des vier Quadratkilometer großen Ghettos von Lódz erkennt man nur an den Schneisen im Stadtteil Baluty, die einst aus »Hygienegründen« geschlagen wurden und heute schmale Parkflächen sind. Von zweihundertdreißigtausend Juden entgingen achthundertsiebzig dem Tod. Eine einzige, winzige Synagoge hat überlebt, verborgen im vierten einer Reihe Hinterhöfe, wo ein deutscher Fabrikant sie als Lagerraum verteidigt. Der größte jüdische Friedhof Europas wird von wuchernden Pflanzen zum zweiten Mal beerdigt. Auf dem evangelischen verfallen die Mausoleen der deutschen, auf dem katholischen die der polnischen Fabrikantenfamilien. Niemand geht spazieren, um seinen Nachnamen zu suchen. Überlebende Angehörige haben sich in alle Welt zerstreut, selten kommt einer zu Besuch, ein Enkel oder Urneffe von Kindermann, Geyer oder Herbst, und schüttelt den Kopf, weil ihm die Prachthäuser für Lebende und Tote, die seine Vorfahren erbauten, nichts mehr zu sagen haben.

Und gerade deshalb, meint F., spüre Theo die Zähne der Geschichte im Nacken. Weil sie nicht eingesperrt ist in Denkmälern, Schaukästen und Freilichtmuseen. Ungezähmt läuft sie herum und greift sich jeden, den sie will.

 

Und Theo beginnt zu laufen. Er rennt durchs alte Ghetto, wo die Parks unter Wasser stehen, wo der Mond weiß und rund wie ein Bierdeckel über den Dächern klemmt, wo Kohleberge in schwarzen Hinterhöfen unter freiem Himmel auf Käufer warten, die Schritte der Menschen auf dem Pflaster schlurfen und Theo durch die leeren Arkaden des Markts und über den Hof einer Kirche verfolgen. Ein Kind drischt auf eine eiserne Absperrungskette ein.

Weil es Tag und Mittag wird, besäuft sich der Himmel mit blauer Farbe, was die Stadt nicht interessiert. Theo rennt durch Pfaffenmühle, Stadt in der Stadt, wo die Reihen von Arbeiterhäusern, Fabriken, Schule und Spital aus dem immergleichen Ziegel gemacht sind wie Körperteile eines einzigen roten Wesens. Eisfischer hocken neben gehackten Löchern auf dem zugefrorenen See, ein paar Schlittschuhläufer bewegen sich langsam auf schlecht geschliffenen Kufen. Theo durchquert Paläste und Villen, in denen es kalt ist wie draußen, ehemals bewohnte Ausstellungsräume für Möbel aller Epochen.

Ruhe findet er auf dem Mittelstreifen einer achtspurigen

 

»Und dann?« Wir haben alle Stadtpläne und Reiseführer vom Tisch gefegt. F. hockt auf der Kante. »Dann«, sage ich, »in der zweiten Nacht, als die Schnellstraßen wieder brachliegen wie eingefrorene Flüsse, findet Theo sich in einem Kellergewölbe am Rand einer Bühne wieder. Darauf steht ein Mädchen, kaum größer als ein Hydrant, und bringt mit großer Stimme die Nacht zum Schmelzen. Ein paar Häuser weiter trommeln vierzig Hände im Innern einer alten Fabrik, zwei Tänzer schlagen mit Flammenflügeln, drehen sich wie brennende Derwische und löschen sich selbst und ihre Zuschauer in einem Meer aus Licht und Hitze aus.

Theo feiert, ganz allein, ein Fest, das ihn die Welt vergessen lässt. Er ist verliebt und weiß nicht, in wen. Er will sein Haar zu Zöpfen binden, er will eine Wohnung im alten Ghetto nehmen und sie liebevoll einrichten, bis ihre Gemütlichkeit in ewiger Schlacht mit der Außenwelt steht. Er will einen kleinen Hund kaufen und ihn einmal pro Woche verzweifelt in allen Hinterhöfen suchen. Er wird lernen, bröckelnden Beton und rostiges Eisen zu lieben, was gar nicht schwer ist. Er wird im Januar die Weihnachtsdekoration nicht von den Fenstern nehmen, weil ein Jahr so schnell vorbei ist, dass der Kram gleich draufbleiben kann. Alle Sorgen werden von Theo abfallen. Er wird essen, was auf den Tisch kommt, und kein Handy oder Diktiergerät brauchen, um mit sich selber zu sprechen. Die Geschichte hat ihn im Nacken gepackt wie ein flüchtiges Junges und zu den anderen getragen, ins warme, leuchtende, brennende Nest.«

»Und seine genervte Freundin?«, fragt F. Ich runzele die Stirn.

»Ach die. Ich glaube, sie hat nie wieder etwas von ihm gehört.« Nachdenklich spiele ich mit dem Stift. »Die beschäftigt sich mit Hü und Hott und kann sich nur verschwommen erinnern.«

Treibgut

May God forgive the hands that fed

The false lights over the rocky head!

John Greenleaf Whittier

Ich wusste nicht, ob ich die richtige Nummer gewählt hatte. Auf dem Anrufbeantworter war nur klassische Musik zu hören, dann ein Pfeifton und dann die erwartungsvolle Stille der Aufnahme. Ich rief noch einmal an. Wieder kam nur die Musik, und ich hinterließ eine Nachricht. Eine halbe Stunde später rief Lotta zurück. Als wir uns besser kannten, erzählte sie mir von Joseph. Er sei der Grund, weshalb sie den Beantworter nicht bespreche. Er dürfe nicht wissen, dass sie zurück sei in der Stadt.

Lotta war Finnin und wohnte im West Village auf Manhattan. Ich brauchte für einige Zeit eine Wohnung. Eine Agentur hatte mir Lottas Nummer gegeben.

»Ich muss die Wohnung manchmal vermieten«, sagte Lotta, »wenn ich keine Arbeit habe.«

»Und wo wohnst du in der Zwischenzeit?«, fragte ich.

»Meistens bei Freunden«, sagte sie, »aber diesmal habe ich noch niemanden gefunden. Weißt du einen Platz für mich?«

Die Wohnung war groß genug, und so bot ich ihr an zu bleiben. Sie willigte sofort ein.

»Du darfst das Telefon nie direkt abnehmen«, sagte sie. »Warte immer, bis du weißt, wer dran ist. Wenn du mich anrufen willst, ruf mich. Dann stelle ich den Beantworter ab.«

»Warst du da, als ich zum ersten Mal anrief?«, fragte ich.

»Ja«, sagte sie.

Lotta wohnte im vierten Stock eines alten Hauses in der 11th Street. Alles war schwarz in der Wohnung, die Möbel, das Bettzeug, die Teppiche. Einige vertrocknete Kakteen

Als ich die Wohnung besichtigt hatte, war Lotta im Pyjama an die Tür gekommen, obwohl es schon Mittag war. Nachdem sie mir alles gezeigt hatte, ging sie sofort zurück ins Bett. Ich hatte sie gefragt, ob sie krank sei, aber sie hatte den Kopf geschüttelt und gesagt, sie schlafe einfach gern.

Als wir dann zusammen wohnten, stand sie nie vor Mittag auf und ging meistens vor mir wieder zu Bett. Sie las viel und trank Kaffee, aber ich sah sie kaum je essen. Sie schien von Kaffee und Schokolade zu leben. »Du musst gesünder essen«, sagte ich, »dann bist du nicht immer so müde.«

»Aber ich schlafe gern«, sagte sie und lachte.

Mit uns lebte eine ganz junge schwarze Katze. Lotta hatte sie geschenkt bekommen und Romeo getauft. Später hatte sie erfahren, dass Romeo ein Weibchen war, aber der Name war geblieben.

 

Es war Oktober. Ich traf alte Freunde, Werner und Graham, die bei einer Bank arbeiteten. Ich schlug ihnen vor, für ein langes Wochenende ans Meer zu fahren. Graham sagte, wir könnten sein Auto nehmen, und ich lud Lotta ein, mit uns zu kommen. An einem Freitagmorgen fuhren wir los. Wir wollten nach Block Island, einer kleinen Insel, hundert Meilen östlich von New York.

Noch in Queens machten wir zum ersten Mal halt. Unsere Abfahrt hatte sich verzögert, und wir waren hungrig. An einem kleinen Imbissstand direkt an der Hauptstraße aßen wir Hotdogs. Lotta trank nur Kaffee. An einer Kreuzung, nicht weit von uns entfernt, stand ein Schwarzer. Er hatte eine Pappschachtel mit vakuumverpacktem Fleisch neben sich. Wenn die Ampel rot

Wir waren mit der letzten Fähre an diesem Tag auf die Insel gekommen. Das Auto hatten wir auf einem fast leeren Parkplatz auf dem Festland zurückgelassen. Die Überfahrt dauerte zwei Stunden, und obwohl es kalt war, blieb Werner die ganze Zeit über draußen an der Reling stehen. Wir anderen saßen in der Cafeteria. Das Schiff war fast leer.

Direkt am Hafen der Insel stand ein großes, heruntergekommenes Jugendstilhotel. Nicht weit davon entfernt fanden wir eine einfache Pension in einem leuchtend weiß gestrichenen Holzhaus. Es war selbstverständlich, dass Lotta mit mir das Zimmer teilte.

Vom Meer her wehte ein heftiger Wind. Trotzdem beschlossen wir, noch vor dem Abendessen einen Spaziergang zu machen. Am Strand entlang führte eine Promenade aus grauverwittertem Holz. Außerhalb des Dorfes hörte sie plötzlich auf, und wir mussten durch den Sand weitergehen.

Werner und ich gingen nebeneinander. Er war sehr schweigsam. Graham und Lotta hatten die Schuhe ausgezogen und suchten näher am Wasser nach Muscheln. Sie blieben bald zurück. Nur manchmal hörten wir noch einen Schrei oder Lottas hohes Lachen durch das Lärmen der Brandung.

Als wir eine Weile gegangen waren, setzten Werner und ich uns in den Sand, um auf die beiden zu warten. Im Gegenlicht sahen wir ihre Silhouetten schwarz vor dem glitzernden Wasser.

»Was machen die so lange da unten?«, fragte ich.

Ich kletterte auf eine Düne, um zurückzuschauen. Sand kam in meine Schuhe, und ich zog sie aus. Das Dorf war weit entfernt. In einigen Häusern brannte schon Licht. Als ich zurückkam, war Werner zum Ufer hinuntergegangen. Lotta und Graham saßen im Windschatten der Düne. Sie hatten ihre Schuhe wieder angezogen. Ich setzte mich neben sie, und wir schauten schweigend zum Meer, wo Werner Muscheln oder Steine ins Wasser warf. Der Wind trieb den Sand in Wirbeln über den Strand.

»Ich friere«, sagte Lotta.

Auf dem Rückweg ging ich neben Lotta und half ihr, die gesammelten Muscheln zu tragen. Meine Schuhe hatte ich an den Schnürsenkeln zusammengeknotet und über die Schultern gehängt. Der Sand war kalt geworden. Graham lief voraus, Werner folgte uns in einiger Entfernung.

»Graham ist nett«, sagte Lotta.

»Sie arbeiten bei einer Bank«, sagte ich, »er und Werner. Aber sie sind o.k.«

»Wie alt ist er?«

»Wir sind alle gleich alt. Wir sind zusammen zur Schule gegangen.«

Lotta erzählte von Finnland. Sie war auf einem Bauernhof aufgewachsen, nördlich von Helsinki. Ihr Vater hatte Stiere gezüchtet. Lotta war schon früh von zu Hause weggegangen, erst nach Berlin, dann nach London, nach Florenz. Schließlich, vor vier oder fünf Jahren, war sie nach New York gekommen.

»Letzte Weihnachten habe ich meine Eltern besucht. Zum ersten Mal seit Jahren. Meinem Vater geht es nicht gut. Ich wollte erst dableiben, aber im Mai bin ich dann doch zurückgekommen.« Sie zögerte. »Eigentlich bin ich nur wegen Joseph gegangen.«

»Was war denn mit Joseph? Wart ihr ein Paar?«

Lotta zuckte mit den Achseln. »Das ist eine lange Geschichte. Die erzähle ich dir ein andermal.«

Kurz vor dem Dorf schauten wir uns nach Werner um. Er

Wir aßen in einem kleinen Fischrestaurant. Lotta sagte, sie sei Vegetarierin, aber Graham meinte, Fisch dürfe sie trotzdem essen. Wir luden sie ein, und sie aß von allem, aber trank keinen Wein.

Wenn Lotta eine Weile geschwiegen hatte, fielen Graham und ich manchmal in unsere Muttersprache. Werner sagte nichts, und Lotta schien es nicht zu stören. Sie aß langsam und konzentriert, als müsse sie sich jede Bewegung in Erinnerung rufen. Sie merkte, dass ich sie beobachtete, lächelte mir zu und aß erst weiter, als ich meinen Blick abgewandt hatte.

Nachts trug Lotta einen rosaroten Pyjama mit einem aufgestickten Teddybären. Ihr blondes Haar war kurz geschnitten. Sie musste über dreißig sein, aber sie wirkte wie ein Kind. Sie lag auf dem Rücken und hatte die Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen. Ich hielt den Kopf aufgestützt und schaute sie an.

»Willst du immer in New York bleiben?«, fragte ich.

»Nein«, sagte Lotta, »ich mag das Klima nicht.«

»Finnland ist auch nicht besser«, sagte ich.

»Zu Hause war mir immer kalt. Ich möchte nach Trinidad. Ich habe Freunde dort.«

»Du hast viele Freunde.«

»Ja«, sagte Lotta.

»Jetzt hast du auch Freunde in der Schweiz.«

»Ich möchte einen kleinen Laden haben auf Trinidad«, sagte sie. »Kosmetik, Filme, Aspirin und so … von hier direkt importiert. Das gibt es dort nicht. Oder es ist sehr teuer.«

»Spricht man Englisch auf Trinidad?«, fragte ich.

»Ich glaube. Meine Freunde sprechen Englisch … und es ist immer warm.«

Unten fuhr ein Auto vorüber. Das Scheinwerferlicht, das durch die Jalousien fiel, wanderte durchs Zimmer, über die Decke und erlosch plötzlich, dicht über unserem Bett.

 

Wir trafen Werner und Graham beim Frühstück.

»Habt ihr gut geschlafen?«, fragte Graham grinsend.

»Ich mag es, wenn man das Meer vom Bett aus hört«, sagte ich.

»Ich war müde«, sagte Lotta.

Werner aß schweigend.

Vor dem Mittag begann es zu regnen, und wir gingen ins Lokalmuseum. Es war in einem kleinen weißen Schuppen untergebracht. Über die Geschichte von Block Island gibt es nicht viel zu sagen. Die Insel wurde irgendwann von einem Holländer namens Block entdeckt. Später kamen Siedler vom Festland herüber. Danach geschah nicht mehr viel.

Der alte Mann, der das Museum führte, erzählte uns von den unzähligen Schiffen, die an den Klippen vor der Insel gestrandet waren. Die Leute hier hätten mehr vom Strandgut als von der Fischerei gelebt.

»Es heißt, sie hätten die Schiffe mit falschen Feuern an die Klippen gelockt«, sagte der Mann und lachte. Heute lebe die Insel vom Tourismus. Im Sommer sei jede Fähre voll von Badegästen, und viele reiche New Yorker hätten ein Sommerhaus auf der Insel. Eine Zeitlang habe es zum guten Ton gehört, ein Haus auf Block Island zu haben. Aber heute flögen die Reichen in die Karibik.

»Es ist ruhiger geworden hier«, sagte der Mann, »aber wir können uns nicht beklagen. Schiffe stranden nicht mehr, aber es wird noch allerhand angetrieben.«

Lotta fragte ihn, ob er Fischer sei.

»Ich war Immobilienmakler«, sagte er. »Sie können sich gar nicht vorstellen, was hier alles angetrieben wird.«

Er lachte, ich wusste nicht, weshalb.

Dann gingen wir wieder an den Strand. Lotta machte sich auf die Suche nach Muscheln, wir anderen setzten uns und rauchten.

»Und«, sagte ich, »was habe ich gesagt? Sie ist doch ganz nett.«

Werner schwieg. Graham lachte. »Wir haben nicht mit ihr im selben Bett geschlafen.«

»Wie das klingt: im selben Bett geschlafen. Sag doch, was du denkst.«

»Heute Nacht bin ich an der Reihe«, sagte Graham grinsend, »und morgen Werner. Aber der macht so was nicht.«

Ich sagte, er sei ein Idiot, und Werner sagte: »Hört auf.« Er stand auf und ging davon, zum Meer hinunter. Lotta kam zurück, die Hände voller Muscheln. Sie setzte sich neben uns in den Sand, breitete ihre Beute vor sich aus und begann, sie sorgfältig mit den Fingern abzuwischen. Graham hatte sich eine Röhrenmuschel vom Lager zwischen Lottas Beinen genommen und betrachtete sie lange.

»Seltsam, was die Natur alles hervorbringt«, sagte er und lachte. »Wie war das? Sie können sich gar nicht vorstellen, was hier alles angetrieben wird.«

Mit der Mittagsfähre waren noch einmal einige Touristen angekommen, aber sie verloren sich rasch in alle Richtungen, und schon bald war das Dorf wieder leer. Wir aßen auf der Terrasse eines Coffee Shops.

»Was nun?«, fragte ich.

»Ich bin müde«, sagte Lotta. »Ich lege mich eine Stunde hin.«

Graham machte sich auf die Suche nach einer Zeitung, und Werner sagte, er gehe ans Meer. Ich schlenderte mit Lotta zurück zum Hotel.

Die Betten in unserem Zimmer waren schon gemacht, und das Fenster stand weit offen. Lotta schloss es und ließ die Jalousien herunter. Sie legte sich hin. Ich setzte mich auf den Boden und lehnte mich an das Bett.

»Was wohl der arme kleine Romeo macht«, sagte Lotta. »Er fehlt mir schrecklich.«

»Willst du dich nicht hinlegen?«

»Ich bin nicht müde.«

»Ich kann immer schlafen«, sagte Lotta.

Am Nachmittag liehen wir uns Fahrräder, um die Palatine-Gräber im Süden der Insel zu besuchen. Sechzehn Holländer, die den berühmten Schiffbruch der Palatine an der Insel überlebt hatten, sollen dort begraben sein.

»Warum sind sie denn begraben, wenn sie doch überlebt haben?«, fragte Lotta.

»Lebendig begraben«, sagte Graham.

Werner lachte.

»Das war im achtzehnten Jahrhundert«, sagte ich.

»Aber warum wurden sie zusammen begraben?«, fragte Lotta. »Nur weil sie auf demselben Schiff waren?«

»Vielleicht weil sie zusammen gerettet wurden«, sagte ich, »das verbindet.«

Wir fanden irgendwo einen verrotteten Wegweiser, aber die Gräber fanden wir nicht. Auf einer Wiese trafen wir einen Mann. Auch er wusste nicht, wo die Gräber waren. Er hatte noch nie etwas von ihnen gehört. Enttäuscht kehrten wir um.

»Ich mag sowieso keine Friedhöfe«, sagte Lotta.

Wir fuhren jetzt gegen den Wind und kamen erst, als es schon dunkel wurde, zurück zu unserem Hotel. Wir tranken ein Bier. Lotta rief ihre Nachbarin an, um sich nach der Katze zu erkundigen.

»Alles in Ordnung«, sagte sie, als sie wieder da war.

»Werner wird in einer Woche dreißig«, sagte ich zu Lotta. »Wir sollten eine Party für ihn geben.«

»Dann bist du eine Waage«, sagte sie. »Joseph ist auch eine Waage.«

Werner nickte. Er wolle keine Party, sagte er.

»Wer ist Joseph?«, fragte Graham. »Joseph und Maria?«

»Joseph und Lotta«, sagte ich.

»Ein Freund«, sagte Lotta.

»Das ist ein gutes Horoskop«, sagte Lotta.

Werner lachte. Es war ein seltsames, spöttisches Lachen. Graham und ich lachten mit, aber Lotta lächelte nur und legte eine Hand auf Werners Arm.

»Es ist in Ordnung«, sagte sie. »Komm, wir gehen spazieren.«