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Meddi Müller & Marcel Dax (Hrsg.)

Ein Viertelstündchen Frankfurt 3

Meddi Müller & Marcel Dax (Hrsg.)

Ein Viertelstündchen Frankfurt 3

Originalausgabe 2019

ePub-eBook: ISBN 978-3-948486-01-3

Print: ISBN 978-3-948486-00-6

Lektorat: Christina Schmidt-Hoberg, CharlesVerlag

Covergestaltung: Annelie Lamers, CharlesVerlag

© CharlesVerlag, Hamburg 2019

Alle Rechte vorbehalten.

https://www.charlesverlag.de/

Der CharlesVerlag ist ein Imprint der Bedey Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

https://www.charlesverlag.de/

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Vorwort

Wir begrüßen Sie zum dritten Viertelstündchen Frankfurt. Egal, selbst wenn Sie die beiden anderen Bände nicht gelesen haben (was wir Ihnen jedoch dringend empfehlen), erfahren Sie einiges in diesem Buch, was Sie so über Frankfurt bestimmt noch nicht gewusst haben.

Wir geben uns allerdings nicht mit allgemeinbekannten Offensichtlichkeiten unserer geliebten Stadt ab. Wir vom Viertelstündchen geben unseren Leserinnen und Lesern Insider­wissen an die Hand. Mit der Lektüre der Viertelstündchen haben Sie Angeberwissen, mit dem Sie bei Ihren Gästen und auch bei Ihrem Nachbarn (wenn er so nachlässig war, unsere Reihe nicht zu lesen) glänzen können.

In diesem Band haben wir wieder alles gegeben, um die Qualität nochmals zu steigern. Um das zu gewährleisten, haben wir bewährte Stammautorinnen und -autoren (allesamt Überzeugungstäter) der ersten Stunde ebenso dabei, wie auch neue unverbrauchte Schreibtalente aus unserer Region. Alle zehn Autorinnen und Autoren haben es mal wieder geschafft, aus der Vorgabe: »Es muss etwas mit Frankfurt zu tun haben, der Rest ist Fantasie«, ein wunderbar abwechslungsreiches Buch zu gestalten, bei dem Sie sicherlich große Freude empfinden werden. Ein Novum ist die Geschichte »Qualifizierte Zuwanderung«. Sie ist die erste und einzige in allen Viertelstündchen, die in einer Co-Produktion entstanden ist. Ivonne Keller und Daniel Holbe haben sich gemeinsam in dieser Geschichte mit einem brandaktuellen Thema beschäftigt. Was dabei herausgekommen ist, finden Sie sicher selbst heraus.

Neben den durchweg unterhaltsamen und abwechslungsreichen Geschichten unserer Autorinnen und Autoren haben wir für Sie wie gewohnt informative Fakten und interessante Hintergrundinformationen über Frankfurt zusammen­gestellt. Sie erfahren in gewohnter Manier, warum Frankfurt eine der l(i)ebenswertesten Städte unseres Landes ist. Neben den Fakten und den interessanten Informationen, geben wir Ihnen natürlich auch den ein oder anderen Ausgehtipp, der nicht in jedem Reiseführer zu finden ist.

Wir haben den Anspruch, Ihnen unsere Stadt so zu zeigen, wie wir sie als Frankfurter Buben sehen und was es ausmacht, ein Frankfurter zu sein. Dabei bleiben wir weltoffen und tolerant, denn es können nun mal nicht alle aus Frankfurt sein, was für uns natürlich unverständlich, aber dennoch ein Fakt ist. Wenn Sie aber unsere Stadt als Eingeplackter* kennen und lieben gelernt haben, nehmen wir Sie gerne in den erlauchten Kreis der Frankfurter auf und akzeptieren Sie so, wie Sie sind. Denn eines ist sicher:

Bevor isch misch uffrech, isses mir lieber egal!

Ihne Ihrn

Marcel Dax und Meddi Müller


* Zugereister

Auf das Leben!

Eine Kurzgeschichte von Iris Rösner

»Tu es nicht«, ruft eine tiefe Baritonstimme. Mit langen Schritten läuft ein großgewachsener Mann mit dunklen, gepflegten Haaren über den Eisernen Steg. »Da unten liegt bereits genug Müll und als Fischfutter eignet er sich nicht.«

Alex lässt den Arm sinken. Der goldene Ehering wiegt schwer in seiner Hand. Unter ihm fließt der Main, auf dem zwei Schwäne treiben. Im strahlenden Sonnenlicht flanieren frisch verliebte Pärchen, küssend und Händchen haltend, an ihm vorbei.

»Was machst du hier?«, fragt Kai ihn vorwurfsvoll. »Eben saßen wir noch im ›Atschel‹ und plötzlich warst Du verschwunden. Ich dachte, heute lassen wir die Sau raus. Du bist wieder frei. Ein Grund zum Feiern!«

Direkt vor ihm kommt Alex’ bester Freund, im Business­-Outfit unter dem Trenchcoat gekleidet, zum Stehen.

»Ich musste an die frische Luft. Nachdenken.«

»Und hast mich mit der Zeche hängen lassen.«

Alex betrachtet den Ring in seiner mit Schwielen übersäten Hand. Das Schmuckstück ist gerade einmal vier Jahre alt. Länger hat seine Ehe nicht gehalten. Dann ist Kim ihrer »wahren Liebe über den Weg gelaufen. Das musst du doch verstehen, Alex«, klingen ihm die Worte seiner Ex-Frau noch in den Ohren. Alex lehnt seinen muskulösen Ober­körper an die schmiedeeiserne Konstruktion der Brücke. Seit 1869 befindet sich an dieser Stelle der Eiserne Steg, 1912 vergrößert, nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut und 1993 grundlegend saniert.

Unter seinen schwarzen Schuhen spürt er die Schwingungen der Brücke. Der Eiserne Steg ist nicht nur ein beliebtes Fotoobjekt bei Touristen, um die Frankfurter Skyline optimal in Szene zu setzen. Auch Verliebte flanieren über die Brücke, um ein Schloss mit ihren Initialen am Geländer zu befestigen. Und anschließend landet der Schlüssel im Main. Kai hat recht, da unten liegt bereits genug Müll.

Alex reißt sich die Krawatte vom Hals und öffnet den obersten Hemdknopf. Hinter dem Dom, der von der Brücke aus zu sehen ist, liegt der Frankfurter Römer mit seinem Standesamt. Dort hatte er »Ja« zu Kim gesagt. Anschließend hängten sie ihr Schloss an das Frankfurter Wahrzeichen und versenkten den Schlüssel.

»Ich hasse diese verlogenen Schlösser. Gaukeln einem die ewige Liebe vor. Doch nur einen Flugkapitän später ist die Ehefrau weg.«

Zornig tritt Alex gegen die vollgehängten Streben der Brücke. Dabei trifft er den Eisenpfeiler und flucht lautstark, während er auf einem Bein auf und ab hüpft. Kai legt ihm den Arm um die Schulter und zaubert aus der Jackentasche einen Flachmann.

»Nimm einen Schluck und entspann’ dich. Was glaubst du, wie viele dieser einst romantischen Liebesbeziehungen heute noch Bestand haben?«

Alex setzt den Flachmann ab, kratzt sich am roten Vollbart und schiebt nachdenklich die Brille nach oben.

»Du hast recht. Ich wette mit dir, dass mehr als die Hälfte dieser Schlösser im Rausch der ersten Verliebtheit aufgehängt worden sind.« Zornig stampft er mit dem Fuß auf: »Das sind keine Schlösser der ewigen Liebe. Das sind Lügenschlösser.«

»Reg dich nicht auf, nur weil Kim jetzt über den Wolken schwebt, anstatt mit dir über die Campingplätze zu gondeln.«

Alex richtet sich zu seiner vollen Größe von zwei Metern auf und strafft die Schultern. Akribisch fängt er an, den Eisernen Steg entlang zu laufen. Mit seinen Augen scannt er die einzelnen Vorhängeschlösser ab, während er leise murmelt: »Hier muss es irgendwo stecken.«

»Was suchst du?«

»Das Schloss«, antwortet er, ohne sich Kai zuzuwenden, »unser Schloss. Kim und Alex, 15.05.2015. Keine Verliebtheit, echte Liebe, der Tag unserer Hochzeit.«

»Lass doch das blöde Vorhängeschloss. Findest du doch sowieso nicht. Schau dir mal die Masse an, die hier hängt.«

»Klar finde ich es. Ich habe an unsere Liebe geglaubt, wollte mit Kim durchs Leben gehen. Bis ans Ende.« Alex seufzt.

»Freu dich doch. Jetzt bist du frei. Verkauf den Ehering, verkauf das Wohnmobil. Leg dir ein Motorrad zu und cruise durch die Staaten oder wo immer du einen Strich unter deine Scheidung ziehen kannst.«

»Aber zuerst muss ich meine eigene Lüge von dieser Brücke entfernen.«

»Echt jetzt?«, fragt Kai skeptisch, »Du hast noch den Schlüssel? Schmeißt man den nicht in den Main, als Zeichen der ewigen Verbundenheit?«

»Natürlich habe ich den Schlüssel nicht mehr. Trotzdem muss ich zuerst das verdammte Schloss finden«, erwidert Alex und nimmt einen großzügigen Schluck aus dem Flachmann. Das Zeug ist gut. Bestimmt einer von Kais Whiskeys. Keine Massenware, sein bester Freund legt Wert auf Qualität. Und die haut rein. Vielleicht war auch der Bembel Ebbelwoi an Alex’ leicht schwirrendem Kopf schuld. Nach Essen war ihm nach dem Scheidungstermin nicht zumute gewesen, eher nach flüssiger Nahrung. Daher scheinen die Türme der Banken jetzt leicht im Wind zu schwanken. Oder spürt er lediglich die Schwingungen der Brücke? Alex nimmt einen weiteren Schluck und fängt an, die Brücke nach dem Vorhängeschloss abzusuchen.

»Echt jetzt?«, mault Kai, »ich dachte, wir ziehen noch durch die Sachsenhäuser Kneipenlandschaft und machen anschließend die Nachtclubs unsicher.«

»Bist du mein Freund? Ein wahrer Freund?«

Kai nickt.

»Dann fang an zu suchen. Vorher gehe ich nirgendwo hin. Erst muss diese Lüge verschwinden.«

»Kannst du dich wenigstens daran erinnern, wo ihr das verdammte Schloss nach eurer Hochzeit aufgehängt habt? Hipp de Bach oder dripp de Bach?«

»Kommt das nicht auf den Standpunkt an?«

»Also, wo jetzt?«, nörgelt Kai, schnappt sich den Flachmann und kippt sich den Rest in den Mund. Alex kratzt sich am Bart.

»Ich glaube, eher Richtung Römer. Wir kamen immerhin von unserer standesamtlichen Hochzeit. Aber du warst doch dabei.«

Kai zuckt unschuldig mit den Achseln, murmelt etwas von »hübsche Brautjungfer« und läuft entschlossen in Richtung Altstadt, während er den Flachmann in die Höhe hält und Alex zuruft: »Ich hole mal ein wenig Nachschub und dann fange ich von dieser Seite an zu suchen. Starte du schon einmal von deinem Standpunkt aus.«

Alex atmet einmal tief ein, wendet sich von der Skyline ab, dreht sich in Richtung Dom und beginnt mit der Suche. Schloss für Schloss nimmt er in die Hand und liest die Inschrift. Einige hängen hier schon sehr lange. Ob die Eigentümer der Vorhängeschlösser noch zusammen sind? Ein tröstlicher Gedanke. Aus diesem Grund muss sein Lügen­schloss die Brücke verlassen. Wäre jedes Paar, dessen Beziehung gescheitert ist, so konsequent, wäre die Brücke nicht derart überladen.

»Suchst du nicht auf der falschen Seite? Ich dachte, ihr habt es in Richtung Skyline aufgehängt?«, ruft Kai über den Eisernen Steg hinweg.

»Ich weiß nicht«, brüllt Alex, »komm her und such auf der anderen Brückenseite. So viele Schlösser mit der Inschrift ›Kim und Alex, 15.05.2015‹ kann es ja nicht geben.«

Gemeinsam arbeiten sich die beiden Freunde durch die Vorhängeschlösser. Kritisch von den vorbeilaufenden Passanten­ beäugt, abwechselnd aus dem Flachmann trinkend. Wolken setzen sich vor die herabsinkende Sonne und ein frischer Wind sorgt für kalte Finger, während die zwei Männer jedes einzelne Vorhängeschloss in die Hand nehmen, um die Inschrift zu lesen.

»Gefunden!«, ruft Alex nach einer guten Stunde des Suchens, »ich habe das elende Stücke Eisen gefunden. Dem mache ich jetzt den Garaus.«

Alex zieht das Jackett aus und zerrt energisch am Schloss. Seine muskulösen Oberarme füllen die hochgekrempelten Ärmel des Hemdes. Die Finger laufen rot an. Doch das Vorhängeschloss bewegt sich keinen Millimeter. Eine asiatische Reisegruppe bleibt neugierig stehen und zückt die Kameras, während Alex die Füße rechts und links des Schlosses platziert und erneut all seine Kraft zum Einsatz bringt. Die Oberarmmuskulatur füllt sich, die Oberschenkel zittern vor Anspannung und die Füße verlieren den Halt. Unter lautem Gejohle der Reisegruppe fällt Alex hart auf den Boden der Brücke.

»Oh Mann Alex«, meint Kai, »mit brachialer Gewalt wird das nichts. Du musst mit Fingerspitzengefühl an die Sache herangehen.«

Alex wischt sich den Schweiß von der Stirn und nimmt einen Schluck aus dem Flachmann, den Kai ihm anbietet. Gemeinsam sitzen sie auf dem Boden, den Rücken an die Brüstung gelehnt. Es ist unbequem, die vielen Schlösser drücken im Rücken. Die vorbeieilenden Passanten betrachten sie misstrauisch. Eine weitere asiatische Reisegruppe schlendert an ihnen vorbei und macht eifrig Fotos von den zwei Freunden.

»Wir sind ja ein tolles Aushängeschild für die Touristen«, sinniert Kai.

»Scheiß auf die ollen Touris«, lallt Alex, »überall stolpert man über die ewig lächelnden Gelbgesichter.«

»Das ist raschis, rassisch … ach, du weißt schon. Du bist nicht nett zu Fremden.«

»Ist ja auch keiner nett zu mir. Kim war nicht nett zu mir. Die ist jetzt weg. Mit einem Piloten. Wahrscheinlich ein chinesischer Pilot. Ich hasse Piloten.«

Ein Obdachloser läuft an ihnen vorbei.

»Prost, Bruder. Alle sind gemein zu uns«, ruft ihm Alex zu.

Prompt lässt sich der Landstreicher neben sie auf den Boden fallen, kramt eine Flasche billigen Wodka hervor und prostet ihnen zu.

»Hast du ’ne Idee, wie wir ein Schloss knacken können?«, fragt Alex den übel riechenden Mann. »Muss eine Lüge von der Brücke entfernen.«

»Mit einem Schlüssel«, antwortet der Obdachlose, der sich als Joe vorstellt.

Alex fasst in seine Hosentasche und fördert triumphierend einen Schlüsselbund ans Tageslicht. Dann nimmt er einen Schluck aus der Wodkaflasche, die ihm Joe entgegenhält und steht wankend auf.

Wo war noch gleich sein Vorhängeschloss abgeblieben? Er wankt ein Stück nach rechts und findet schließlich das gesuchte Objekt. Die Buchstaben drehen sich vor seinen Augen, aber »Alex«, das Datum und ein eingraviertes Herz kann er lesen. Er kratzt sich am Kopf. An das Herz kann er sich nicht erinnern. Allerdings kann er sich zum aktuellen Zeitpunkt sowieso nicht mehr an viel erinnern. An den trostlosen Gerichtssaal, überschaubar möbliert, zwei Tische, vier Stühle, eine Richterin und einen Protokollanten. Auf ihre Anwälte hatten sie für den Scheidungstermin verzichtet. Es war alles geklärt. Eine Unterschrift und sein Dasein als Ehemann war Geschichte.

Alex nimmt den ersten Schlüssel an seinem Bund und versucht, ihn in das verlogene Vorhängeschloss zu drücken.

Vergeblich.

Auch die Schlüssel Nummer zwei, drei und vier, die zu seinem Briefkasten, Fahrradschloss und zur Garage gehören, sind nicht kompatibel. Frustriert tritt Alex erneut gegen den Eisernen Steg. Fluchend und auf einem Bein hüpfend schleudert er seinen Schlüsselbund auf den Boden, während Kai und Joe über ihn lachen.

»Jetzt lass’ das Vorhängeschloss in Ruhe«, schlägt sein bester Freund vor, »und wir ziehen durch die Kneipen.«

»Ich kann nicht. Erst muss dieses verdammte Schloss von der Brücke. Meine Ehe ist Geschichte, dieses niederträchtige Symbol der Liebe muss verschwinden«, brüllt Alex.

Eine Frau mit brünettem Dutt, brauner Brille und Aktentasche unterm Arm geht kopfschüttelnd an ihnen vorbei und murmelt »Männer! Liebestöter auf zwei Beinen.« Nach fünf Metern macht sie auf dem Absatz kehrt und geht zielstrebig auf Alex zu.

»Sie oder ihre Ex-Frau?«

»Hä?«

»Wer hat wen verlassen?«

»Meine Ex-Frau mich. Wegen einem Piloten.«

Entschlossen zieht die Frau eine Haarnadel aus ihrem Dutt, wobei sich eine Strähne aus der perfekten Frisur löst.

»Damit müsste es funktionieren. Mir erging es ähnlich vor zwei Jahren. Da war meine Ehe Geschichte, mein Mann hatte mit einer blonden Stewardess abgehoben. Nichts mit der ewigen Liebe. Aber dank einer Haarnadel konnte ich meine Lüge vom Eisernen Steg entfernen. Viel Erfolg.«

Entschlossenen Schrittes schreitet die Frau in Richtung Sachsenhäuser Seite.

Alex dreht kritisch das kleine Stück Metall in seinen Fingern. Dann steckt er die Haarnadel in die Schlüsselöffnung und stochert drauflos. Energisch dreht er die Nadel, zieht am Bügel, doch das Schloss bleibt hartnäckig.

»Du machst das falsch. Mehr Gefühl. Du brauchst Finger­spitzeng … du weißt schon«, meint Kai, steht auf und versucht sein Glück. Er verbiegt die Haarnadel um 90°, steckt sie in die Schlossöffnung und bewegt sie beinahe andächtig. Alex und Joe beobachten gespannt, wie Kai sein Ohr ganz dicht an das Vorhängeschloss hält und die Haarnadel erstaunlich zielsicher einsetzt. Kurz darauf breitet sich ein triumphierendes Lachen auf Kais Gesicht aus: »Habe auf diese Weise früher meine Spardose geknackt.« Demonstrativ will er das Schloss öffnen, doch der Schließmechanismus bewegt sich nur ein winziges Stück.

»Is’ eingerostet? Musst Alkohol nehmen. Hochprozentigen«, schlägt Joe vor. »Ich kenne da einen Kiosk. Kriegst den guden Fusel.«

»Nicht nötig«, sagt Kai, »hab’ da noch was.« Dann zieht er aus der Tasche seines Trenchcoats den guten Whiskey hervor und tröpfelt ihn auf das Schloss.

»Für die Liebe muss Mann Opfer bringen. Mehr gibt es aber nicht von meinem guten Stoff«.

Dann lässt er sich wieder auf den Boden plumpsen, prostet Joe zu und nimmt einen großzügigen Schluck aus der Flasche. Alex gleitet neben seinen besten Freund auf den Boden der Brücke. Es ist spät geworden. Die Frankfurter Skyline präsentiert sich golden im Licht der untergehenden Sonne. Ein Anblick, der Alex’ Herz erwärmt. Liegt aber vielleicht auch nur am Whiskey, dem das Eis fehlt. Trotzdem verbindet er mit Sonnenuntergängen auf dem Eisernen Steg heiße Küsse und Schmetterlinge im Bauch. Seufzend erhebt er sich und legt erneut Hand an das Schloss, das Zeichen der ewigen Verbundenheit und Treue.

Beim Gedanken an Kim und ihren feschen Piloten überrollt Alex eine Welle der Wut. Seine Oberarme spannen sich an und er zieht kräftig am Bügel des Vorhängeschlosses. Triumphierend hält er das Schloss in der Hand und brüllt in die Dämmerung hinein: »Alex und Kim sind Geschichte. Die Liebeslüge ist besiegt.«

Kai und Joe jubeln lauthals. Sie prosten sich gegenseitig zu und nehmen erneut einen Schluck aus ihren Flaschen. Doch ihre Freude ist nur von kurzer Dauer. Aus dem Augenwinkel­ heraus nimmt Alex eine rothaarige Frau Mitte 30 wahr, die mit langen Schritten auf ihn zustürzt. Ent­schlossen reißt sie ihm das Schloss aus der Hand, wirft einen Blick auf die Gravur und verpasst ihm eine Ohrfeige.

»Was fällt ihnen ein?«, schimpft die zierliche, aber enorm energische Frau, »Wieso haben Sie unser Schloss entfernt? Haben Sie ein Rad ab? Unsere Liebe ist keine Lüge.«

Verwirrt halten die drei Männer in ihrem Freudentaumel inne.

»Ihr Schloss?«, fragt Alex ungläubig, »Mein Schloss! Meine Ex-Frau und ich haben es hier auf den Tag genau vor vier Jahren aufgehängt. Als Symbol unserer ewigen Liebe.«

Hilfesuchend schaut die Frau sich nach ihrem Begleiter um, der mittlerweile zur kleinen Gruppe aufgeschlossen hat. Der bärtige Zweimetermann nimmt der Frau das Schloss aus der Hand und betrachtet es eingehend.

»Wie heißt Ihre Ex-Frau?«, fragt er mit hochgezogener Augenbraue.

»Kim«, antwortet Alex, »und wir haben am 15.05.2015 dieses Schloss«, dabei zeigt er auf das Corpus Delicti in der Hand des bärtigen Hünen, »gemeinsam nach unserer Trauung im Frankfurter Römer hier angeschlossen und den Schlüssel im hohen Bogen in den Main geworfen.«

»Sie sind eine Alex?«, fragt die Frau ungläubig.

»Ein Alex. Ein Alexander«, antwortet Kai.

Ein Lächeln breitet sich um den Mund des bärtigen Mannes aus.

»Gestatten Sie, mein Name ist Kim. Kim Sebastian Abele.­ Und die aufbrausende Dame an meiner Seite ist meine Ehefrau Alexandra.« Demonstrativ hält er das Schloss in die Höhe und zeigt auf die Gravur, die jedoch in der Dämmerung nur schwer zu erkennen ist. »Wir haben am 05.05.2015 geheiratet. Wie auf diesem Vorhängeschloss zu lesen ist.«

Drei verdatterte Gesichter starren Kim Abele an. Dann tritt Alex einen Schritt vor, streckt seine Hand aus und bekommt wortlos das Schloss überreicht. Mit zusammengekniffenen Augen inspiziert er die Inschrift. Dann läuft er dunkelrot an und gibt das Schloss seinen Besitzern zurück.

»’tschuldigung.«

»Ich rate Ihnen zu einem Besuch beim Augenarzt oder bei den Anonymen Alkoholikern«, meint die rothaarige Frau schnippisch. Sie schnappt sich das Schloss, verlässt mit ihrem Ehemann den Eisernen Steg in Richtung Sachsenhausen und hinterlässt im Licht der Brückenlaternen drei verwirrte Männer, die sich zuprosten.

»Auf das Leben und die unberechenbaren Wege, auf die es uns führt«, brüllt Kai.

»Auf das Leben«, stimmt Alex ihm zu und wirft seinen Ehering im hohen Bogen in den Main.

Über die Autorin – Iris Rösner

Iris Rösner ist das Pseudonym der Journalistin Marion Mink (*1975). Sie lebt in Idstein und arbeitet aktuell in der Unternehmenskommunikation. Nach einer kaufmännischen Ausbildung hat sie Skandinavistik, Psychologie und Journalismus studiert. Zehn Jahren war sie als freie Journalistin u.a. für die Tageszeitung »Die Welt«, »Springer Fachmedien« oder das »Darmstädter Echo« tätig.

Die Autorin hat bisher zwei Sachbücher und einen Frauenroman im Lauinger Verlag veröffentlicht, sowie mehrere Kurzgeschichten in Anthologien und Literaturzeitschriften. Iris Rösners erster Krimi erscheint im Herbst 2019 im Verlag Edition Krimi.