Roy Rockwood

Bomba in der versunkenen Stadt

Band 5

 

 

 

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Etwas aus Bombas Leben

Wer Bomba bei seinen Abenteuern im Dschungel begleitet, wird sicherlich mehr von diesem interessanten Jungen erfahren wollen. Am besten stellen wir Bomba deshalb vor, ehe seine neuen Erlebnisse beginnen.

Bomba ist vierzehn Jahre alt. Soweit er sich zurückerinnern kann, hat er im südamerikanischen Dschungel des Amazonas-Gebietes gelebt. Sein einziger Gefährte und Beschützer war ein alter Naturforscher, Cody Casson, der sich in ein weit abgelegenes Gebiet des Amazonas-Dschungels zurückgezogen hatte, um ganz seinen Forschungen zu leben.

Als Bomba in das Alter kam, in dem er mehr von seiner Vergangenheit und Herkunft zu erfahren wünschte, zog sich Cody Casson bei der Explosion eines Gewehres eine Kopfverletzung zu, durch die seine Gedächtniskraft geschwächt und später fast zerstört wurde. Von diesem Zeitpunkt an lastete die Verantwortung für den Lebensunterhalt auf Bomba.

In einem Alter, in dem andere Jungen ruhig und behütet bei ihren Eltern aufwachsen und die Schulbank drücken, musste sich Bomba mit den Gefahren und Härten des Dschungellebens vertraut machen. Seine strengen Lehrmeister waren die Erfahrung und die Not. Bald lernte Bomba die Weisheiten und die Gesetze des Dschungels kennen, die es immer zu beherzigen galt. Er lernte die vielen Kampftricks, die Technik von Verteidigung und Angriff bei der Begegnung mit Raubtieren und Schlangen.

Seine schulmäßige und geistige Erziehung ließ natürlich zu wünschen übrig, da Cody Casson nicht mehr in der Lage war, den einst begonnenen Unterricht fortzusetzen. Wie ein junger Indianer wuchs Bomba im Urwald heran. Auch äußerlich unterschied er sich wenig von den Eingeborenen. Seine Haut war dunkel gebräunt. Er trug einen Eingeborenenschurz und das Fell eines erlegten Pumas. Seine Waffen waren Pfeil und Bogen, die Machete und — als kostbarster Besitz — ein fünfschüssiger Revolver. Die Schusswaffe hatte er von zwei Weißen geschenkt bekommen, denen er bei einem nächtlichen Angriff von Jaguaren das Leben gerettet hatte.

Äußerlich glich Bomba also in vielen Dingen einem Indianer, und doch unterschied er sich in wesentlichen Anzeichen von den Eingeborenen. Er hatte eine gerade Nase und kastanienbraunes, welliges Haar. Die hellbraunen Augen leuchteten freundlich und oft mit einem Schimmer von Melancholie, denn die Einsamkeit machte Bomba zu schaffen. Je älter er wurde, desto mehr drängte sich ihm die Erkenntnis auf, dass er kein eingeborener Dschungelbewohner war. Sein Wunsch, etwas über seine Herkunft zu erfahren, wurde immer stärker.

Das einzige, was als Erinnerung an die Vergangenheit hin und wieder in Cassons Gedächtnis auftauchte, waren die Namen ‚Bartow‘ und ‚Laura'. Aber der alte Naturforscher vermochte nie mit Bestimmtheit zu sagen, ob das die Namen von Bombas Eltern waren.

Im ersten Band — Bomba der Dschungelboy — wird erzählt, wie Bomba zwei weißen Gummisuchern das Leben rettete, wie er mit Raubtieren des Dschungels kämpfte, wie die Wohnhütte von Kopfjägern belagert wurde und wie ihm schließlich seine Freunde unter den Urwaldtieren zu Hilfe eilten und ihn befreiten. In einem Augenblick der Klarsicht erfuhr Bomba von seinem alten Gefährten, dass er weitere Kunde über seine Herkunft von Jojasta, dem Medizinmann des „Laufenden Berges“ erhalten könnte.

Im zweiten Band — Bomba im Berg der Feuerhöhlen — machte sich Bomba auf die weite und gefahrvolle Reise zum „Laufenden Berg“. Unterwegs rettete er eine weiße Familie vor den Kopfjägern und schloss Freundschaft mit dem gleichaltrigen Frank Parkhurst. Als Bomba schließlich nach Überwindung schlimmer Gefahren den „Laufenden Berg“ erreicht hatte, erfuhr er vom sterbenden Jojasta nur, dass Sobrinini, die Hexe von der Schlangeninsel, ihm nähere Auskunft über seine Eltern geben könnte.

Nur stückweise vermochte also Bomba das Geheimnis seiner Herkunft zu lüften. Im dritten Band — Bomba am Großen Katarakt — fanden wir dann Bomba auf dem Wege zur Schlangeninsel. Unterwegs gerät er in die Hände der barbarischen und grausamen Kopfjäger, deren Häuptling Nascanora seit jeher sein persönlicher Feind und Widersacher war. Auch Casson und seine alte Pflegerin Pipina waren entführt worden. Bomba gelang die Befreiung, und er suchte Sobrinini auf der Schlangeninsel auf — doch wieder erhält er eine ungenügende Auskunft. In einem aufregenden Erlebnis erfuhr Bomba von Sobrinini, dass nur Japazy, der Herrscher auf der Jaguar-Insel, ihm mehr über seine Herkunft berichten könne.

Im vierten Band — Bomba auf der Jaguar-Insel — erlebten wir mit Bomba den Wirbel von Gefahren und Abenteuern bei der beschwerlichen Suche nach Japazy. Eine grauenhafte Naturkatastrophe machte der Suche ein vorzeitiges Ende — und so begleiten wir Bomba jetzt erneut auf seinem abenteuerlichen Weg zu Japazy.

1 Der rasende Strom

Tamuras Stimme war erloschen. Im Wirbel des schwarzen Stromes waren der Vulkan und die Jaguarinsel versunken. Nur ein wogender Berg von Rauch und Nebelwolken verriet die Stelle, wo sich die Katastrophe abgespielt hatte.

Tamura, der große, zornvolle, feuerspeiende Tamura, war vom Fluss verschlungen worden. Die wilden, brodelnden Wassermassen hatten das Leben auf der Insel in den Sog der Vernichtung gezogen. In einer einzigen Nacht war die Schlacht zwischen den Feuergeistern Tamuras und den Dämonen des feuchten Elementes ausgetragen worden. In einer einzigen Nacht hatte Tamura seine Macht in diesem Teil des Amazonasdschungels verloren. Er war hinabgerissen worden in die Tiefe des schwarzen Flusses. Noch schien Tamura in der Umschlingung des Wassers zu kämpfen. Die Erde bebte, als wollte sich das mächtige Haupt des Vulkans aus der tödlichen Umklammerung der gurgelnden Wasser befreien und von neuem über die kochende Oberfläche des Flusses steigen.

Doch der Kampf war bereits entschieden. Bomba wusste es. Er stand in der Nähe des Ufers und sein Blick glitt sinnend über das brodelnde Wasser. Noch schimmerte die Erregung der miterlebten Katastrophe in den braunen Augen des Dschungeljungen. Es war unfassbar für den Menschenverstand, dass ein Stück der Erde — mit Wäldern, Hügeln, Menschen und Tieren — unvermittelt der Vernichtung preisgegeben sein sollte.

Wenn auch Bombas Geist den Untergang der Jaguarinsel nicht wahrhaben wollte, sein Blick erhielt immer neue Bestätigungen dafür. Körper von Menschen und Tieren trieben wie Treibholz im Wasser dahin. Mehr als einmal wollte Bomba in einem Impuls der Hilfsbereitschaft herbeispringen und einen der braunen Menschenleiber dem feuchten Element entreißen. Doch dann sah er, dass der Tod bereits seine Arbeit vollendet hatte. Es waren nur noch entwurzelte, seelenlose Körper, die unter ihm in dem schaumigen Wasser weiterglitten — entwurzelt und tot wie die Baumriesen, die aus der Oberfläche des schwarzen Flusses dahingewirbelt wurden.

Die Erde bebte immer noch. Ein plötzlicher Stoß schleuderte den Dschungelboy zu Boden, und er krallte unwillkürlich die Finger um die Wurzeln eines Baumes. Ein tiefes, ächzendes Aufstöhnen hallte durch den Dschungel im Rücken des Jungen. Bäume sanken mit berstendem Geräusch nieder, und es grollte donnergleich.

Wie aus einem riesigen Geysir schossen Dampffontänen dort aus dem Fluss empor, wo die Jaguarinsel gewesen war. Auch dem Kraterrand des versunkenen Vulkans entquollen immer noch glühende Lavamassen. Sie erzeugten sprühenden, heißen Wasserdampf und ließen den Fluss aufkochen wie einen gigantischen, übersprudelnden Kochtopf.

Mit Schaudern dachte Bomba daran, dass er selbst von den abergläubischen Bewohnern der Jaguarinsel dem Vulkan hätte zum Opfer gebracht werden sollen. Als die Stimme Tamuras am vorigen Tage und am Abend ertönt war, hatten die Eingeborenen auf der Jaguarinsel das Naturgeschehnis mit dem Erscheinen Bombas in Zusammenhang gebracht. Sie hatten geglaubt, der Gott des Vulkans wollte seine Unzufriedenheit mit der Ankunft des Fremden auf diese Weise zum Ausdruck bringen.

Während Bomba noch wie gebannt auf die Dampfwolken über dem Fluss starrte, spürte er, wie sich der Boden unter ihm gleitend bewegte. Der schwarze Fluss warf seine Wassermassen gegen das Ufer. Die Erde zitterte unter dem Ansturm des gierigen Elementes. Zentimeter um Zentimeter wurde der Boden unter Bombas Körper in den Fluss gezogen.

Mit aller Kraft schnellte sich der Dschungelboy rückwärts. Er sah ein Bündel Schlingpflanzen von einem Baum herabhängen und klammerte sich instinktiv daran. Keinen Augenblick zu früh! Erdreich und Pflanzenwuchs unter ihm versanken mit einem gurgelnden Laut im Wasser. Der schwarze Fluss leckte gierig um den Stamm des Baumes, der Bomba gerettet hatte.

Gewandt und schnell klomm der Dschungelboy an den Lianenseilen empor. Er ergriff einen Ast, balancierte auf ihm entlang und schnellte sich federnd in die Luft hinaus. Seine Hände bekamen ein anderes Lianenseil zu fassen. Weit pendelte das grüne Tau hin und her. Bomba ließ sich los und fiel wie eine Raubkatze mit Händen und Füßen zugleich auf festen Boden nieder.

Im Wald jedoch war der Aufenthalt noch gefahrvoller als in der Nähe des Ufers. Dicht vor Bombas Füßen stürzte ein Baum zu Boden. Ein unheilverkündendes Rauschen ging durch die Wipfel. Der Junge rannte weiter und wurde mehr als einmal unsanft zu Boden geschleudert. Er änderte jetzt seine Laufrichtung und wandte sich wieder dem Strom zu.

Besser war es, in Ufernähe das Ende des Erdbebens abzuwarten — besser, als im Dschungel von fallenden Bäumen erschlagen zu werden, dachte Bomba. Keuchend und erschöpft hielt er inne. Wieder hatte er das gleiche Bild vor Augen: brodelndes, dunkles Wasser — Bäume und Sträucher, die auf der Flut dahintrieben — und Tiere, deren Köpfe immer von neuem von den Wogen überspült wurden.

Hilflos trieben die Jaguare und Pumas im Strom dahin. Verzweifelt versuchten sie, das Ufer zu erklimmen. Sie krallten sich fest und wurden in das Wasser zurückgerissen. Der Anblick der stummen, leidenschaftlichen Kämpfe um das Leben erfüllte Bomba mit einem Gefühl der Dankbarkeit.

Viele Lebewesen waren in der vergangenen Nacht zum Untergang verurteilt worden. Nur ihn hatte das Schicksal verschont. Das war wie ein Fingerzeig für Bomba. Er hatte noch eine Aufgabe — eine große und schwere Arbeit lag vor ihm. Was ihm auf der Jaguarinsel nicht geglückt war, wollte er jetzt von neuem versuchen.

Ich werde Japazy finden, dachte Bomba. Von ihm werde ich das Geheimnis meiner Herkunft erfahren. Er war nicht auf der Insel, also muss er noch leben, setzte Bomba sein stummes Selbstgespräch fort. Ihn hat das Schicksal ebenso verschont wie mich. Wo immer er sein mag: ich werde ihn finden.

An einem Baum gelehnt stand Bomba da, und zum ersten Male nach der Katastrophe fand er Zeit, an seinen alten Gefährten Cody Casson zu denken. Als der Dschungelboy aufgebrochen war, um Japazy auf der Jaguarinsel aufzusuchen, hatte er noch keine Gewissheit über Cassons Schicksal gehabt. Sein alter Beschützer und Gefährte hatte sich nach der Flucht vor den Kopfjägern im Urwald verirrt, und trotz tagelanger Suche war es Bomba nicht gelungen, eine Spur des Greises zu finden.

Nun bestand nur noch die Hoffnung, dass der alte Naturforscher von den befreundeten Araos gefunden worden war. Vielleicht treffe ich Cody Casson gesund und wohlbehalten wieder, wenn ich in das Dorf der Araos komme, dachte Bomba. Doch der Junge wusste, dass dieser Gedanke nicht viel mehr als eine schwache Illusion war.

Ein Geräusch lenkte Bombas Aufmerksamkeit ab. Es war ein leiser Schrei gewesen — ein Hilferuf aus Menschenmund. Wieder drang der Ruf an das Ohr des Dschungeljungen.

„Hilf mir!“

Die Stimme kam vom Fluss her.

„Hilf mir! Ich ertrinke!“

Hastig huschte Bombas Blick über das tosende Wasser. Er sah einen Baumstamm, der schnell auf ihn zugetrieben wurde. Braune Finger waren zu sehen, die sich am glitschigen Stamm festzuhalten versuchten. Ein Kopf tauchte aus dem Wasser empor. Das angstverzerrte Gesicht eines Eingeborenen erschien augenblickslang vor Bombas Augen — dann überschüttete eine neue Woge den Ertrinkenden.

Als der Baumstamm wieder auftauchte, griffen die Finger des Eingeborenen mehrere Male vergeblich zu, ehe sie Halt fanden. Wie lange würde der Mann diesen Kampf noch aushalten?

Bomba überlegte nicht lange, sondern ließ einen hellen Ruf erschallen. Er sprang zum Ufer hinab, glitt aus und wäre beinahe selbst in den Fluss gestürzt. Seine Finger bekamen ein Lianenseil zu fassen. Er legte sich flach auf den Bauch und glitt noch näher an das Ufer heran. Seine Beine ragten auf das Wasser hinaus.

„Halte dich an meinen Füßen fest!“, schrie Bomba.

Das war die einzige Möglichkeit, wie er dem Ertrinkenden Hilfe bringen konnte. Der Mann begriff das Vorhaben sofort und stieß sich mit einer verzweifelten Anstrengung vom Baumstamm ab. Seine Hände griffen einmal ins Leere, dann bekam er mit der Linken Bombas Fuß zu fassen. Er klammerte sich in Todesangst fest. Bomba fühlte, wie sich die Fingernägel in seine Haut bohrten, aber er achtete nicht darauf. Vorsichtig zog er sich Zentimeter um Zentimeter die Böschung hinauf.

Würde das Lianenseil die doppelte Belastung aushalten? Wenn dieser natürliche Strick riss, waren sie beide verloren. Hinter sich hörte Bomba das Stöhnen des Eingeborenen. Alles wurde jedoch übertönt vom Brausen und Gurgeln des Wassers.

Näher und näher glitt Bomba an den Stamm eines jungen Baumes heran. Jetzt war es soweit: seine Finger schlossen sich um die Rinde — ein schneller Ruck — und beide waren gerettet!

So, wie er ihn vom Tode des Ertrinkens bewahrt hatte, blieb der Eingeborene vor Bomba liegen. Er war so erschöpft, dass er minutenlang keine Bewegung machte. Nur der Atem kam rasselnd aus der Brust. Bomba hatte Gelegenheit, den Geretteten ungestört zu betrachten. Es war ein langer, dürrer Mensch mit einem scharfgeschnittenen Profil. Ein Ausdruck von wacher Intelligenz unterschied seine Züge von üblichen Gesichtern.

Der Mann schien die prüfende Betrachtung seines Retters jetzt zu spüren. Er blickte auf. Noch beunruhigten Angst und Entsetzen den Schimmer seiner dunklen Augen. Doch das Licht der Dankbarkeit glomm aus den Tiefen des Blickes empor. Sein Mund öffnete sich und in der gutturalen Sprechweise der Eingeborenen sagte er:

„Dir gehört mein Leben, Herr! Du hast Gibo gerettet! Du hast ihm das Leben geschenkt. Gibo ist dein Sklave!“

Dankbarkeit ist eine seltene Tugend — in der Zivilisation nicht weniger als im Dschungel. Ein warmes Gefühl der Freude bewegte Bombas Herz beim Klang der menschlichen Stimme. In der Einsamkeit des Dschungellebens wurde er nicht verwöhnt mit Freundschaftsbezeugungen. Selbst die einfachen Worte des Indianers wirkten wie ein Lohn für seine Hilfeleistung.

„Du schuldest mir nichts mehr, Gibo“, sagte der Junge. „Ich habe dir geholfen und du hast mir gedankt. Wir sind nun quitt.“

„Nein“, rief der Indianer leidenschaftlich. „Es ist nicht so, wie du sagst, Herr. Mein Leben gehört dir! Du hast es gerettet! Gibo wird mit dir gehen, wohin du willst! Weil du ihm sein Leben geschenkt hast, gibt er es jetzt in deine Hand! Du darfst das Geschenk nicht verweigern.“

Der Eingeborene richtete sich zum Sitzen auf. Eindringlich forschte sein schwarzer Blick im Gesicht des Jungen. Er suchte eine Bestätigung, die er auch bald fand.

„Du bist Bomba“, sagte er ehrfurchtsvoll. „Du bist der Fremde, der die Jaguarinsel besucht hat. Ich erkenne dich, Herr! Von weitem sah ich dich. Nie hätte ich es gewagt, mich dir zu nähern. Du hast eine Coonaradi in den Händen gehalten, ohne dass sie dich mit ihren Giftzähnen tötete. Du hast einen starken Zauber, Bomba!“

Nun war die Schlange, die Bomba in der vergangenen Nacht den Eingeborenen aus dem Fenster von Japazy Palast entgegengehalten hatte, tot gewesen. Im Zimmer hatte sie Bomba zuvor mit seinem Revolver getötet. Die List hatte ihm das Leben gerettet. Er hielt es jedoch für besser, dem Eingeborenen keine Erklärung zu geben. Mochte Gibo glauben, dass er über Zauberkräfte verfügte. Es konnte nichts schaden.

„Ich bin mit friedlichen Absichten zu Japazy und seinem Volke gekommen“, erklärte Bomba. „Ich wollte nicht, dass den Bewohnern der Jaguarinsel ein Leid geschieht. Doch Japazys Ratgeber wollten mich töten lassen. Deshalb traf sie die Strafe der Götter. Ich lebe noch, während das Volk der Insel ins Reich der Toten gewandert ist!“

Gibo machte eine Gebärde der Demut.

„Schlechte Ratgeber hatte Japazy“, murmelte er. „Sie sprachen mit doppelter Zunge zu Bomba. Doch Gibo hatte keinen Sitz im Rate der Ältesten. Es war nicht seine Schuld, dass die Männer eine Coonaradi im Palast aussetzten.“ Wieder deutete der Eingeborene mit einer Geste seine Ohnmacht und Unterwürfigkeit an. „War es nicht auch alles umsonst, Herr?“, rief er. „Japazys Ratgeber hatten keine Macht über dich! Du hast die böse Coonaradi gezähmt, und du hast gelacht, als du die schreckliche Schlange in deinen Händen hieltest!“

Bomba nickte ernst, obwohl ihm eher zum Lachen zumute war.

„Das war nur ein kleiner Zauber“, gab er geheimnisvoll zu verstehen. „Die wilden Tiere des Dschungels gehorchen mir. Ich kann …“

Unvermittelt hielt der Junge inne und sprang auf. Sein Blick war auf das Wasser gerichtet. Verdächtige dunkle Striche und Punkte hoben sich von den unruhigen Wogen ab. Bomba kannte diese dahingleitenden schwärzlichen Linien, die die Anwesenheit von Alligatoren verrieten. Zu oft schon hatte er Kämpfe mit den mörderischen Bestien ausfechten müssen. Unauslöschlich war für ihn der Eindruck der hervortauchenden Reptilrücken und der Stirnwülste mit den tückischen, kleinen Augen.

„Alligatoren!“, rief Bomba. „Sie schwimmen auf uns zu! Wir müssen fliehen, Gibo!“

2 Schreckliche Feinde

Das Rudel der Alligatoren trieb auf die Landzunge zu, die etwa fünfzig Meter vom Standplatz der beiden entfernt in die Strömung hinausragte. Auch die Amphibien befanden sich auf der Flucht. Nirgends fanden sie Ruhe. Ihre sicheren Schlupfwinkel am schlammigen Grund des Flussbettes wurden von den Stößen des Erdbebens ebenso erschüttert wie der Boden auf dem Festland. Der versunkene Vulkan stieß noch immer heiße Lavamassen hervor. Das Wasser wurde von der Berührung mit dem glühenden Brei zum Sieden gebracht. Die Reptilien waren diesen Mächten gegenüber ebenso hilflos wie alle anderen Lebewesen.

Ihr Instinkt ließ die Alligatoren in großen Schwärmen fliehen. Sie hatten sich der schnellen Strömung des Flusses anvertraut, und wenn die Wogen sie an Land trugen, würden sie in ihrer Vielzahl eine große Gefahr für die beiden Menschen bilden.

Kaum hatte Bomba seinen Warnungsruf ausgestoßen, als die ersten Kaimane die Landzunge schon erreichten. Die reißenden Fluten warfen die Schuppenleiber auf das Festland. Sofort gingen die Tiere zum Angriff auf ihre zweibeinigen Feinde über. Es war unglaublich, wie schnell sich die plump aussehenden Reptilien bewegten.

Noch immer bebte der Boden von den Stößen des Erdbebens. Bomba und Gibo rannten vorwärts. Sie wurden zur Erde geschleudert und erhoben sich taumelnd. Einmal stürzte der Eingeborene in ein Schlammloch. Bomba warf sich nieder und zog ihn heraus. Inzwischen waren die Kaimane bis auf zehn Meter an sie herangekommen. Das Scharren der Leiber über den Boden war zu hören — das heisere Bellen — das trockene, harte Geräusch der zuklappenden Rachen.

Wenn der Herdeninstinkt die Bestien nicht ebenso wie bei der Flucht auch beim Angriff in eine Richtung getrieben hätte, wäre das Schicksal der beiden Flüchtenden besiegelt gewesen. Es wäre leicht gewesen, Bomba und Gibo einzukreisen. Doch so hoch war die Intelligenz der Krokodile nicht entwickelt. Sie tappten blindlings vorwärts, behinderten sich gegenseitig, krochen übereinander hinweg und drängten ihre langsameren Artgenossen zur Seite.

Immer, wenn Bomba zurückschaute, hatte sich der Abstand trotzdem etwas verringert. Es gab nur eine Rettung für die beiden: ein hoher Baum. Im Laufen schaute sich der Junge um. Dicht hinter ihm keuchte Gibo. Der Dschungelboy wies vorwärts auf einen riesigen Baum, dessen niederster Ast in greifbarer Nähe war.

„Dort hinauf!“, stieß er atemlos hervor. „Spring mit mir hoch! Jetzt!“

Mit einem gewaltigen Satz schnellte sich Bomba empor. Beide Hände ergriffen den Ast, und er zog sich hoch. Zu seinen Füßen hörte er ein Schnauben, ein Knacken und Bellen. Zur gleichen Zeit stieß Gibo einen Schrei aus. Der Dschungeljunge packte ihn an der Schulter und zog ihn hinauf. Dabei sah er, wie von einem Knöchel des Eingeborenen Blut tropfte. Doch Gibo atmete tief auf und grinste breit, als er in Sicherheit saß.

„Nur ein kleiner Kratzer, Herr“, sagte er. „Der Kaiman hat Gibo an der Fußsohle gekitzelt.“

Bomba musste auflachen. Humor war bei den Eingeborenen eine seltene Erscheinung — am seltensten jedoch in gefährlichen Situationen.

Bomba kroch auf dem Ast in der Richtung des Stammes weiter und winkte dem Indianer, ihm zu folgen. Unter ihnen umkreisten mit wütender Eile die Reptilien den Baum. Ihre bösartigen Augen beobachteten die Beute, die ihnen zu entkommen drohte. Bei jeder Bewegung, die die beiden machten, schwankte der Ast bedenklich. Ein unheilvolles Knacken war zu hören. Unvorstellbar, wenn jetzt der Ast bräche!

Doch das Glück war auf ihrer Seite. Sie erreichten den Stamm und kletterten höher hinauf. Der Baum gabelte sich in halber Höhe nach zwei Seiten. An dieser Stelle fanden Bomba und Gibo sicheren Halt und einen festen Sitz. Für den Augenblick waren sie in Sicherheit, und Bomba fand Zeit, sich um die Wunde seines Begleiters zu kümmern.

„Es blutet sehr“, sagte der Junge. „Hast du keine Schmerzen? Sobald wir den Baum verlassen können, werde ich Heilkräuter auf die Wunde legen!“

Der Eingeborene lächelte sorglos.

„Gibo kann noch tanzen und springen! Solange der Kaiman nicht Gibos ganzen Fuß haben wollte, sondern nur an seinem Knöchel knabberte, solange ist es nicht schlimm mit den kleinen Kratzern!“

Im harten Urwaldleben war es gut, einen Begleiter zu haben, der nicht wegen jeder kleinen Verletzung in Todesangst geriet. Gibo war anscheinend einer von der Sorte, die nicht viel Aufhebens von sich und ihren Nöten macht.

„Du bist tapfer“, sagte Bomba. „Das ist gut für uns beide. Wir werden noch allerhand erleben, bevor …“

Sofort erhielt der Junge eine Bestätigung für seine düstere Voraussage. Ein harter Erdstoß erschütterte den Baum. Wie von einer unsichtbaren Hand niedergerissen, beugte sich der mächtige Stamm zu Boden. Die beiden klammerten sich verzweifelt fest, um nicht in die Luft geschleudert zu werden. Die Zweige hatten fast den Boden gestreift. Eine Sekunde lang waren Bomba und Gibo in erreichbarer Nähe der schrecklichen Alligatorenkiefer gewesen. Einen bangen Atemzug lang hatten sie dicht unter sich die gelben Zahnreihen gesehen — die geöffneten Rachen — die gierigen Augen der Bestien.

Als sich der Baum niederneigte, hatten sich die Reptilien jedoch instinktiv zurückgeworfen. Das war die Rettung der beiden gewesen.

„Wir können uns nicht darauf verlassen, dass die Bestien jedes Mal ausweichen, wenn der Baum sich neigt“, rief Bomba. „Das nächste Mal werden sie uns erwarten! Schnell! Höher hinauf, Gibo!“

Wie von einem unhörbaren Sturm bewegt, schwankte der Baum hin und her. Mehr als einmal hingen Bomba und Gibo nur an den Händen über dem Abgrund, in dessen Tiefe die Kaimane lauerten. Doch sie waren im Urwald groß geworden. Sie hatten gelernt, wie die Affen zu klettern. Mit Händen und Füßen benutzten sie jeden Spalt, jeden Riss in der Rinde, jedes Astloch als Stütze und Halt. Wenn der Baum zu stark schwankte, ließen sie sich im Rhythmus der Bewegung mitschwingen und hielten sich nur mit Armen und Beinen fest.

Bomba hatte etwa die Mitte des Baumes erreicht, als er erschöpft innehielt. Eine Astweite unter ihm kletterte Gibo dahin.

„Weit genug!“, rief der Junge. „Das Erdbeben hat die Kaimane ebenso erschreckt wie uns. Schau nur: sie rennen übereinander, um von dem Baum fortzukommen. Bald können wir unbesorgt hinabklettern.“

Tatsächlich hatten die Bestien den Rückzug angetreten. Zuerst waren sie davon verblüfft worden, dass ihre Beute im Gewirr der Äste ihren Blicken entschwand, und dann hatten die heftigen Schwankungen des Baumes sie beunruhigt.

Bomba schaute den Schuppenleibern nach. Ein Warnruf des Indianers lenkte ihn von dem erfreulichen Anblick ab.

„Ayah!“, schrie Gibo. „Die große Katze! Ich bin verloren!“

Mit einer blitzschnellen Bewegung war Bombas Hand am Griff der Machete.

3 Rasches Handeln

Auf dem Ast dicht unter ihm glitt ein Jaguar auf Gibo zu. Jetzt hielt die Raubkatze inne. Sie fauchte und setzte zum Sprung an. Ein tollkühner Einfall kam Bomba. Er ließ die Machete los und schwang sich auf den tiefsten Ast hinunter.

Der Jaguar wollte sich gerade abschnellen, als Bomba mit einem festen Griff seinen Schwanz packte. Der Junge stemmte sich, so gut es ging, gegen den Ruck des Absprungs, und es gelang ihm, sein Gleichgewicht zu halten.

Die Raubkatze jedoch wurde durch die plötzliche Behinderung aus ihrer Sprungbahn gerissen. Vergeblich bemühte sie sich, mit den Krallen einen Halt zu finden. Einen Augenblick lang schwebte der Jaguar — von Bomba am Schwanz gehalten — über der Erde. Dann ließ der Junge mit einem Freudenruf die Bestie los.