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Die Autoren

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Prof. Dr. Bruno Brühwiler, Geschäftsführer der Euro Risk Ltd. Zürich und Vorsitzender der Revision der ISO 31000 Risk Management – Guidelines und Projektleiter der ONR 49000-Serie Risikomanagement für Organisationen und Systeme.

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Prof. Dr. jur. Alexandra Jorzig, Professorin für Gesundheitsrecht IB Hochschule Berlin, Rechtsanwältin und Fachanwältin für Medizinrecht, JORZIG Rechtsanwälte, Düsseldorf.

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Foto @ Anne Simon (www.fotografie-anne.de)

 

Dr. med. Heike A. Kahla-Witzsch, MBA, Fachärztin für Urologie, Qualitäts- und Risikomanagerin, Bad Soden.

 

Weitere Veröffentlichungen der Autorin im Verlag W. Kohlhammer:

Heike A. Kahla-Witzsch, Thomas Geisinger (2004): Clinical Pathways in der Krankenhauspraxis. Ein Leitfaden. 978-3-17-017501-3

Heike A. Kahla-Witzsch, Olga Platzer (2018): Risikomanagement für die Pflege. Ein praktischer Leitfaden. 2., überarbeitete Auflage. 978-3-17-031983-7

Heike A. Kahla-Witzsch (2019): Zertifizierung im Krankenhaus nach DIN EN ISO 9001:2015 und DIN EN 15224:2017. Ein Leitfaden. 4., erweiterte und überarbeitete Auflage. 978-3-17-034615-4

Heike A. Kahla-Witzsch, Alexandra Jorzig, Bruno Brühwiler

Das sichere Krankenhaus

Leitfaden für das klinische Risikomanagement

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

 

 

 

1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-021611-2

E-Book-Formate:

pdf: ISBN 978-3-17-036465-3

epub: ISBN 978-3-17-036466-0

mobi: ISBN 978-3-17-036467-7

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Inhalt

 

 

 

  1. Abkürzungsverzeichnis
  2. Vorwort
  3. 1   Einführung
  4. 1.1   Problemstellung
  5. 1.1.1   Gibt es ein sicheres Krankenhaus?
  6. 1.1.2   Anspruchsgruppen des sicheren Krankenhauses
  7. 1.1.3   Das Krankenhaus als Risiko für den Patienten
  8. 1.1.4   Anforderungen an das sichere Krankenhaus
  9. 1.2   Zielsetzungen
  10. 1.3   Vorgehen
  11. 2   Wege zum sicheren Krankenhaus
  12. 2.1   Allgemeines
  13. 2.1.1   Management, Risiko und Risikomanagement
  14. 2.1.2   Schwerpunkt Patientensicherheit
  15. 2.2   Systemische Ansätze
  16. 2.2.1   Joint Commission USA
  17. 2.2.2   KTQ® Deutschland
  18. 2.2.3   Internationale Norm ISO 9001
  19. 2.2.4   DIN EN 15224 Dienstleistungen in der Gesundheitsversorgung
  20. 2.3   Evidenzbasierte Ansätze
  21. 2.3.1   Mortalitäts- und Morbiditätsdaten
  22. 2.3.2   Never Events des NHS
  23. 2.4   Ansatzpunkt Humanfaktoren
  24. 2.4.1   Ergründung der menschlichen Fehler
  25. 2.4.2   Systemanalyse von schweren Zwischenfällen
  26. 2.4.3   Critical Incidents Reporting
  27. 2.5   Risikomanagement nach ISO 31000 und ONR 49000 ff.
  28. 2.5.1   Risikomanagement-Prozess
  29. 2.5.2   Risikomanagement-System
  30. 2.6   Unternehmensentwicklung für das Krankenhaus
  31. 2.6.1   Die Wege zum sicheren Krankenhaus
  32. 2.6.2   Mindestanforderungen an das klinische Risikomanagement
  33. 3   Rechtsfragen des Risiko- und Schadensmanagements
  34. 3.1   Haftungstatbestände/Haftungsvoraussetzungen
  35. 3.2   Allgemeine Haftungsgrundlagen
  36. 3.2.1   Schadensersatz aus § 280 Abs. 1 BGB i. V. m. § 630a BGB
  37. 3.2.2   Schadensersatz aus Geschäftsführung ohne Auftrag nach §§ 677 ff. BGB
  38. 3.2.3   Schadensersatz aus § 823 Abs. 1 BGB
  39. 3.2.4   Schadensersatz nach § 823 Abs. 2 BGB
  40. 3.2.5   Schadensersatz nach § 831 Abs. 1 S. 1 BGB
  41. 3.2.6   Schadensersatz nach § 839 BGB
  42. 3.2.7   Schadensersatz nach § 839a BGB
  43. 3.2.8   Organhaftung nach §§ 89, 31 BGB
  44. 3.2.9   Schadensersatz aus Gefährdungshaftung
  45. 3.2.10   Vertraglicher Haftungsausschluss/Allgemeine Geschäftsbedingungen
  46. 3.3   Rechtliche Anforderungen
  47. 3.3.1   Organisationspflichten
  48. 3.3.2   Fachliche, räumliche und sachliche Klinikausstattung
  49. 3.3.3   Personalauswahl und -überwachung
  50. 3.3.4   Ärzte in Weiterbildung, Berufsanfänger
  51. 3.3.5   Arbeitsteilung – horizontal und vertikal
  52. 3.3.6   Dienstpläne
  53. 3.3.7   Eintreffzeiten
  54. 3.3.8   Belegärzte
  55. 3.3.9   Hygiene
  56. 3.3.10   Funktionsfähigkeit der medizinischen Geräte
  57. 3.3.11   Verkehrssicherungspflichten i. e. S./Patientensicherheit
  58. 3.3.12   Patienteneigentum
  59. 3.3.13   Aufklärung
  60. 3.3.14   Dokumentation
  61. 3.4   Schadenmanagement
  62. 3.4.1   Vorliegen eines Schadenfalles
  63. 3.4.2   Patientenkontakt
  64. 3.4.3   Herausgabe von Krankenunterlagen
  65. 3.4.4   Benachrichtigung des Haftpflichtversicherers
  66. 3.4.5   Mitwirkung durch Versicherungsnehmer (Arzt)
  67. 3.4.6   Gerichtliche Tätigkeit
  68. 3.4.7   Strafrechtliches Ermittlungsverfahren
  69. 3.4.8   Umgang mit Medien
  70. 3.4.9   Fazit
  71. 4   Die Patientenrisiken verstehen
  72. 4.1   Allgemeines
  73. 4.1.1   Risiken entlang des Behandlungsprozesses
  74. 4.1.2   Ursachen von Patientenrisiken
  75. 4.1.3   Die wichtigsten Patientenrisiken
  76. 4.2   Risiken für die Patienten
  77. 4.2.1   Fehldiagnose und Fehlbehandlung
  78. 4.2.2   Verwechslung von Patienten, Befunden und Seiten
  79. 4.2.3   Fehler bei der Verabreichung von Medikamenten
  80. 4.2.4   Verlust von wichtigen Patienteninformationen
  81. 4.2.5   Fehlbedienung von Medizinprodukten
  82. 4.2.6   Lücken oder Fehler bei der Entlassung
  83. 4.2.7   Nosokomiale Infektionen
  84. 4.2.8   Unwirksames Notfall- und Krisenmanagement
  85. 4.2.9   Andere Patientenrisiken
  86. 5   Methoden des Risikomanagements
  87. 5.1   Konkretisierung des Handlungsbedarfs
  88. 5.2   Risikoszenarien entwickeln
  89. 5.2.1   Komplexe Risiken in Organisationen
  90. 5.2.2   Konkreter Umgang mit den Risiken
  91. 5.3   Prozessanalyse und Prozessgestaltung
  92. 5.3.1   Fehlermöglichkeiten analysieren und verstehen
  93. 5.3.2   Prozessgestaltung im klinischen Bereich
  94. 5.3.3   Klinisches Risikoaudit
  95. 5.4   Schadenfallanalyse – Root Cause Analysis
  96. 5.4.1   Vorbemerkung
  97. 5.4.2   Analyse von kritischen Vorkommnissen
  98. 5.4.3   Aufarbeitung von schwerwiegenden Schadenfällen
  99. 5.5   Critical Incidents Reporting Systems
  100. 5.5.1   Datensammlung aus Vorkommnissen (near misses)
  101. 5.5.2   Aus Fehlern lernen
  102. 5.6   Worauf es ankommt
  103. 6   Einführung des klinischen Risikomanagements
  104. 6.1   Allgemeines
  105. 6.1.1   Komplexes Projekt der Unternehmensentwicklung
  106. 6.1.2   Treibende Kräfte und Erfolgsfaktoren
  107. 6.2   Elemente des Risikomanagement-Systems
  108. 6.2.1   Risikomanagement-System
  109. 6.2.2   Auftrag und Verpflichtung der obersten Leitung
  110. 6.3   Rollen und Verantwortung
  111. 6.3.1   Risiko- und Prozesseigner
  112. 6.3.2   Risiko- und Qualitätsmanager
  113. 6.3.3   Auditoren/Revisoren
  114. 6.4   Planung
  115. 6.4.1   Risikomanagement-Konzept
  116. 6.4.2   Risikomanagement-Politik
  117. 6.5   Umsetzung der Risikomanagement-Politik
  118. 6.5.1   Einsatz der Instrumente und Methoden
  119. 6.5.2   Ressourcen und Kommunikation
  120. 6.5.3   Einbettung ins Managementsystem
  121. 6.5.4   Notfall-, Krisen- und Kontinuitätsmanagement
  122. 6.6   Leistungsbewertung
  123. 6.6.1   Allgemeines
  124. 6.6.2   Quantitative Bewertungen
  125. 6.6.3   Qualitative Bewertungen/Leistungsindikatoren
  126. 6.7   Verbesserung
  127. 7   Mensch und Organisation im sicheren Krankenhaus
  128. 7.1   Einleitung
  129. 7.2   Humanfaktoren
  130. Welche Situationen wirken fehlerbegünstigend? (WHO 2012)
  131. Welche individuellen Faktoren wirken fehlerbegünstigend? (WHO 2012)
  132. 7.3   Fehler- und Fehlerarten
  133. 7.3.1   Fehlerarten
  134. 7.3.2   Art des Auftretens
  135. 7.3.3   Unsichere Handlungen
  136. 7.3.4   Aktive Fehler bzw. latente Bedingungen
  137. 7.3.5   Personen- bzw. organisationsbezogener Ansatz
  138. 7.4   Umgang mit Fehlern und Regelverstößen
  139. 7.4.1   Arten von Fehlern
  140. 7.4.2   Schuldzuweisungskultur (Culture of Blame)
  141. 7.5   Fehler und Komplexität
  142. 7.5.1   Komplexität in Entscheidungssituationen
  143. 7.5.2   Strategien im Umgang mit Komplexität
  144. 7.6   High Reliability Organization (HRO) Theorie
  145. 7.6.1   Eigenschaften einer Hoch-Zuverlässigkeits-Organisation
  146. 7.6.2   Hochzuverlässigkeits-Organisation im Gesundheitswesen
  147. 7.7   Patientensicherheit als Ergebnis der Kultur
  148. 7.7.1   Management von Kultur
  149. 7.7.2   Organisationskultur
  150. 7.7.3   Risikokultur
  151. 7.7.4   Sicherheitskultur
  152. 7.8   Führung und Risikomanagement
  153. 7.8.1   Führungsstile und Risikomanagement
  154. 7.8.2   Verantwortung der Führung
  155. 8   Ergebnis
  156. Anhang: Gefahrenliste für das Krankenhaus der Grundversorgung
  157. Klinisches Risikomanagement
  158. Vorbemerkungen:
  159. Literaturverzeichnis
  160. Stichwortverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

 

 

 

Acad Med

Academy of Medicine

AHRQ

Agency for Healthcare Research and Quality, Rockville MD

AktG

Aktiengesetz

Am J Med

American Journal of Medicine

AMWF

Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V.

AOK

Bundesverband deutscher Krankenkassen

APS

Aktionsbündnis Patientensicherheit

AS

Austrian Standards

BAnz

Bundesanzeiger

BGB

Bürgerliches Gesetzbuch

BGH

Bundesgerichtshof

BGHZ

Bundesgerichtshof in Zivilsachen

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

CIRS

Critical Incidents Reporting System

DÄBL

Deutsches Ärzteblatt

DIN

Deutsches Institut für Normung

DRG

Diagnosis Related Groups, deutsch: Diagnosebezogene Fallgruppen

EN

Europäische Norm

FMEA

Fehlermöglichkeits- und -einflussanalyse (Failure Mode and Effects Analysis)

G-BA

Gemeinsamer Bundesausschuss

GesR

Gesellschaftsrecht

GoA

Geschäftsführung ohne Auftrag

HLS

High Level Structure

HRO

High Reliability Organisation

ICD Code

Medizinische Klassifizierung zur Systematisierung von Diagnosen

IKS

Internes Kontrollsystem

ISO

International Standard Organisation

J Gen Intern Med

Journal of General Internal Medicine

JAMA

Journal of the American Medical Association

JC

Joint Commission

JCI

Joint Commission International

KG

Kammergericht

KTQ

Kooperation für Transparenz und Qualität im Gesundheitswesen

KVP

Kontinuierlicher Verbesserungsprozess

LG

Landgericht

MDR

Mittel Deutscher Rundfunk

MedR

Schriftenreihe Medizinrecht

MRSA

Methicillin Resistenter Staphylococcus Aureus

MSS

Management System Standard

NASA

National Aeronautics and Space Administration

NEJM

New England Journal of Medicine

NHS

National Health Service (England)

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

NJW-RR

Neue Juristische Wochenschrift, Rechtssprechungs-Report Zivilrecht

OLG

Oberlandesgericht

ON

Österreichisches Normungsinstitut

ONR

Regelwerk des Österreichischen Normungsinstituts

OP

Operation

PEQ

Patient’s Experience Questionnaire

RGSt

Reichsgericht in Strafsachen

Rn.

Randnotiz

Rspr.

Rechtsprechung

SGB

Sozialgesetzbuch (Deutschland)

Urt.

Urteil

VersR

Versicherungsrecht

VW

Versicherungswirtschaft

WHO

World Health Organization

ZSVA

Zentrale Sterilgut-Versorgungs-Abteilung

Vorwort

 

 

 

Es mag heute erstaunen: In der Medizin stand die Patientensicherheit schon im Altertum an vorderster Stelle. Hippokrates, der Begründer der wissenschaftlich orientierten Medizin formulierte das von römischen Ärzten erweiterte Prinzip: »Primum nihil nocere, secundum cavere, tertium sanare« (erstens nicht schaden, zweitens sich vorsehen, drittens heilen). Im Wort »schaden« verbirgt sich auch die Tatsache, dass Heilmittel und Eingriffe oft mit Nebenwirkungen verbunden sind, wobei es dann abzuwägen gilt, diese dem Patienten zuzumuten und ihn darüber aufzuklären. Demgegenüber steht die Möglichkeit, den Patienten seiner Krankheit und seinem Leiden zu überlassen.

In der modernen westlichen Pflege, die im frühen 19. Jahrhundert durch Florence Nightingale begründet wurde, spielte die Patientensicherheit von Anbeginn an mit, vor allem im Zusammenhang mit der Hygieneprävention: »It may seem a strange principle to enunciate as the very first requriement in a hospital is that it should do the sick no harm« (Nightingale, Notes to hospitals, 1863, S. ii).

Trotz dieser frühen historischen Zeugnisse haben sich die moderne Medizin und Pflege erst seit kurzem mit dem Problem der Patientensicherheit erneut und vertieft wissenschaftlich auseinandergesetzt: Die initialisierenden Untersuchungen stammen aus den USA. Große Bekanntheit erhielt das Werk aus dem Institute of Medicine: »To Err Is Human, Building a Safer Health System« von 1999 (Kohn et al. 1999, S. 1). Es zeigt den immer noch großen Handlungsbedarf für die Patientensicherheit in Krankenhäusern auf.

Die Untersuchung geht von 44.000 bis zu 98.000 vermeidbaren Todesfällen pro Jahr infolge von Fehlern in der medizinischen Behandlung aus. Behandlungsfehler gehören damit zu den häufigsten Todesursachen, knapp vor Autounfällen, Brustkrebs oder AIDS. Die volkswirtschaftlichen Kosten belaufen sich gemäß dieser Studie auf Beträge zwischen 17 und 29 Mrd. US$ (Kohn et al. 1999, S. 6).

Erst einige Jahre später hat auch die Europäische Union diesbezügliche Zahlen veröffentlicht: Schätzungsweise 8–12 % der in der EU in ein Krankenhaus eingewiesenen Patienten werden während ihrer Behandlung Problemen konfrontiert wie therapieassoziierte Infektionen (ungefähr 25 % der Zwischenfälle), Fehlverschreibungen von Arzneimitteln, chirurgische Fehler, Störungen medizinischer Geräte Fehldiagnosen und fehlende Berücksichtigung von Testergebnissen. Seit der Erstpublikation dieser Feststellungen sind jedoch erhebliche Fortschritte erzielt worden (Health-EU OJ).

Die Schweizerische Stiftung für Patientensicherheit stellt das Problem wie folgt dar:

»Mangelnde Patientensicherheit ist ein unterschätztes Problem. Hochrechnungen zufolge sterben in der Schweiz jährlich rund 700 bis 1.700 Menschen wegen Fehlern in der stationären Gesundheitsversorgung. Noch mehr Patientinnen und Patienten werden durch vermeidbare Behandlungsfehler kurzfristig oder bleibend geschädigt, die menschliches Leid bei Betroffenen wie Fachleuten verursachen und Kosten verursachen« (Patientensicherheit Schweiz).

Auch wenn die Datenlage in Bezug auf Gesundheitsschäden und Todesfälle infolge von fehlerhaften Behandlungen nur ausschnittsweise und oft summarisch dargestellt wird, ist davon auszugehen, dass uns bislang immerhin die Spitze des Eisberges ziemlich gut bekannt ist.

Dieses Buch geht davon aus, dass die exogenen Gesundheitsrisiken der Patienten in vielen Einrichtungen des Gesundheitswesens, auch in mitteleuropäischen Ländern, immer noch zu hoch bzw. deutlich verbesserungsfähig sind. Diese Meinung teilen nicht nur breite Kreise der medizinischen Wissenschaft und Praxis mit uns Autoren. Auch das Rechtssystem ist darauf eingerichtet, dass die Instrumente des Haftpflicht- und Strafrechts dazu beitragen sollen, um die Patienten vor Schaden zu schützen und die Verursacher der Fehler zu bestrafen. Die Versicherungswirtschaft kommt schließlich zum gleichen Schluss: Sie verweigert in vielen Fällen die Versicherungsdeckung für Einrichtungen des Gesundheitswesens oder sie verlangt zumindest sehr hohe Prämien für ihre Leistungen. Dadurch soll ebenfalls die Patientensicherheit gefördert werden.

Neben diesen passiven, abwehrenden Haltungen stellt sich für die Akteure im Gesundheitswesen die Frage, wie denn proaktiv an der Verbesserung der Patientensicherheit gearbeitet werden könnte. Viele Beobachtungen der vergangenen Jahre sind augenfällig:

Seit dem Erscheinen der Luxemburger Deklaration über Patientensicherheit im Jahr 2005 (European Commission, Luxembourg Declaration, 2005) sind besonders in Bezug auf die Einführung von Fehlermeldesystemen, organisationsintern oder auch einrichtungsübergreifend viele Schritte unternommen worden, um die Fehler- und Risikokultur zu verbessern und mit konkreten Maßnahmen und Aktionen die Patientensicherheit zu fördern. In der Zwischenzeit sind viele Fehlermeldesysteme eingerichtet und öffentlich zugänglich gemacht worden. Sie stellen oft hervorragende Fehleranalysen zur Verfügung und geben vertiefende Einblicke in die Probleme der Patientensicherheit im Krankenhaus.

Besonders auffallend sind auch neu entstandene Einrichtungen bzw. Institutionen. Dazu gehört die bereits erwähnte Schweizerische Stiftung für Patientensicherheit. Sie bündelt die Interessen von vielen an der Patientensicherheit beteiligten Kreise und legt Schwerpunkte in der Förderung der Patientensicherheit fest. In Deutschland nimmt sich das Aktionsbündnis Patientensicherheit (APS) im Rahmen der qualitätsorientierten Gesundheitsversorgung der Sicherheit der Patienten verstärkt an. Das Aktionsbündnis setzt sich für Strategien zur Vermeidung unerwünschter Ereignisse, insbesondere durch gemeinsames Lernen aus Fehlern ein (Aktionsbündnis Patientensicherheit 2017c, Plattform Patientensicherheit OJ).

Neben diesen institutionellen Faktoren können wir heute in Deutschland eine besonders interessante Entwicklung feststellen: Der Gesetzgeber verlangt die Umsetzung von Mindestanforderungen für das Risikomanagement bzw. für die Patientensicherheit im Krankenhaus. Was bei Banken und Versicherungen schon lange der Fall ist, wird nun auch im Gesundheitswesen eingeführt. Es werden folgende Anforderungen spezifiziert:

•  Die Weiterentwicklung der Patientensicherheit ist Führungsaufgabe;

•  für das Risikomanagement im Krankenhaus müssen Verantwortliche benannt werden, wobei Doppelstrukturen von Risiko- und Qualitätsmanagement möglichst zu vermeiden sind;

•  anonyme, freiwillige und sanktionsfreie Fehlermeldesysteme sind einzurichten und niederschwellig zu betreiben;

•  eingegangene Fehlermeldungen müssen zeitnah mit präventiven Maßnahmen bearbeitet und an die Betroffenen zurückgespiegelt werden;

•  die Dokumentation und Nachvollziehbarkeit sowie die Bewertung des Risikomanagement-Systems müssen gesichert und nach dem P-D-C-A-Zyklus ausgerichtet werden;

•  über die Umsetzung von Risikomanagement und Fehlermeldesystemen ist in den Qualitätsberichten zu informieren;

•  das patientenorientierte Beschwerdemanagement ist in das Risiko- und Qualitätsmanagement einzubinden1.

Damit stellt sich eine interessante Frage: Wie weit können einerseits von Gesundheitsorganisationen losgelöste, externe Institutionen dazu beitragen, die Patientensicherheit zu fördern. Ein wertvoller Beitrag ist gewiss, aber die Wirkung und Verbindlichkeit nicht unbedingt gegeben. Demgegenüber sind Mindestanforderungen des Gesetzgebers an jedes einzelne Krankenhaus eine unausweichliche Verpflichtung. Ein Verstoß gegen solche Mindestanforderungen könnte grundsätzlich rechtlich sanktioniert werden, allerdings ist heute noch nicht klar, in welcher Form das erfolgen würde. Wie diese Mindestanforderungen nun wahrgenommen und umgesetzt werden können und sollen, ist Gegenstand dieses Buches. Konkret soll hier dargestellt werden, was die Probleme der Führung, der Einführung und der Umsetzung des Qualitäts- und Risikomanagements sind, um die verbindlichen Anforderungen zu erfüllen. Bei der grundsätzlichen Fragestellung spielt es schließlich keine Rolle, ob eine gesetzliche Verpflichtung besteht oder nicht. Auch bei deren Fehlen müssen die Organisationen des Gesundheitswesens sich die Frage stellen, wie sie das Risikomanagement für die Patientensicherheit wirksam betreiben können und müssen.

Die wirksame Umsetzung eines Risikomanagement-Systems ist aber nicht nur eine Frage des Problemverständnisses und der Anwendung von Analysemethoden. Vielmehr geht es darum, dass die Organisation »Krankenhaus« die vielen Elemente eines Risikomanagement-Systems plant, einführt, wirksam betreibt, periodisch bewertet und kontinuierlich verbessert. Wir sprechen hier von der entscheidenden Bedeutung des systemischen Ansatzes.

Das menschliche Versagen als Risikoquelle ist fast immer, direkt oder indirekt mit einem Individuum verbunden. Die Ursachen der Fehler sollte man aber nicht in erster Linie oder gar ausschließlich auf die verursachende Person beziehen. Vielmehr müssen Fehlleistungen im Zusammenhang mit dem organisatorischen Umfeld betrachtet werden. Sie sind Ergebnis ungeeigneter Rahmenbedingungen, schlecht beherrschter Prozesse und einer unzulänglichen Unternehmenskultur. Es gibt Organisation, in denen viele Fehler auftreten, andere hingegen mit nur wenigen. Die Frage ist: Wie kann sich ein Krankenhaus zu einer Organisation entwickeln, in der nur noch wenige Fehler auftreten? Hier setzt das Risikomanagement an, weil es sich zum Ziel setzt, eine Organisation und ihre Mitarbeitenden zu befähigen, mit Risiken bewusst und systematisch umzugehen.

Zu den entscheidenden Elementen, die zu einem wirksamen Risikomanagement-System und zu einem sicheren Krankenhaus führen, zählen die Führung und die Humanfaktoren. Sie umfassen nicht nur die Verpflichtung der Führungskräfte auf allen Stufen, sondern auch eine offene Sicherheitskultur und einen professionellen Umgang mit den täglichen Sicherheitsfragen im Krankenhaus. Diese Sicherheitskultur bildet den Nährboden für die Entwicklung von einer Hoch-Risiko-Organisation hin zu einer Hoch-Zuverlässigkeits-Organisation (High Reliability Organization), auf die wir noch zu sprechen kommen werden.

Das Risiko- und Qualitätsmanagement im sicheren Krankenhaus ist für Führungskräfte eine Daueraufgabe. Sie hat keinen »zusätzlichen« Charakter, sondern ist Rahmenbedingung aller Tätigkeiten. Es stellt sich also nicht die Frage von Prioritäten oder Zielkonflikten zwischen Patientensicherheit und operationeller Leistungsfähigkeit. Vielmehr geht es um die Verbindung dieser beiden Aspekte: »Production must but safety first« (Hosier 2008) oder noch besser »Production first but safety always«.

An dieser Stelle möchten wir Herrn Prof. Dr. Reinhard Strametz bestens für die Durchsicht der Manuskripte und für die vielen wertvollen Inputs danken.

Zürich, Berlin und Frankfurt, September 2019

Prof. Dr. B. Brühwiler, Prof. Dr. A. Jorzig, Dr. H. A. Kahla-Witzsch

1     § 136 (a) Abs. 3 SGB V / G-BA Beschluss 2016, siehe auch Kap. 2.6.2. Mindestanforderungen an das klinische Risikomanagement.

1          Einführung

 

 

1.1       Problemstellung

1.1.1     Gibt es ein sicheres Krankenhaus?

Der Titel dieses Buches »Das sichere Krankenhaus« tönt wie eine Selbstverständlichkeit. Wer als Patient ins Krankenhaus gehen muss, wer in einem Krankenhaus arbeitet oder wer ein Krankenhaus betreibt, geht von der Annahme aus, dass das Krankenhaus sicher ist. Diese Annahme ist ein Wunsch, denn es gibt leider kein wirklich sicheres Krankenhaus. Was ist überhaupt ein sicheres Krankenhaus?

Diese einfache Frage lässt sich gar nicht leicht beantworten. Sie wirft vielmehr weitere Fragen auf: Wer sind die Anspruchsgruppen (Stakeholder) eines sicheren Krankenhauses und welches Risiko stellt das Krankenhaus für den Patienten und für den Mitarbeiter dar? Schließlich geht es darum, die Anforderungen an das sichere Krankenhaus – zumindest in allgemeiner Weise – zu formulieren.

1.1.2     Anspruchsgruppen des sicheren Krankenhauses

Wenn von einem »sicheren« Krankenhaus gesprochen wird, muss vorab geklärt werden, worum es dabei geht, denn das Wort »sicher« ist in der deutschen Sprache mehrdeutig: Es kann physische Sicherheit im Sinne des englischen Begriffs »safety« bedeuten. Aber »sicher« ist auch ein Synonym von »gewiss«. Diese Interpretation von »sicher« hat mit (Un-)Gewissheit von Erwartungen zu tun, die jemand an ein Krankenhaus richtet. Als Anspruchsgruppen eines sicheren Krankenhauses kommen somit viele Personen und Institutionen in Frage: Patienten und Angehörige, die vom Krankenhaus Genesung erwarten, Mitarbeiter, die Sicherheit und Zufriedenheit am Arbeitsplatz erhoffen, Eigentümer und Betreiber, die daraus materiellen oder immateriellen Nutzen ziehen, die Öffentlichkeit, die einen Anspruch auf die medizinischen Grundversorgung kundtut und weitere wie z. B. die Versicherungswirtschaft, deren Geschäftsgrundlage einen kalkulierbaren Schadenverlauf benötigt. Nachfolgend wird für die wichtigsten Stakeholder die Bedeutung von Risikomanagement und Patientensicherheit dargestellt.

Die primäre Anspruchsgruppe sind die Patienten, denn ein Krankenhaus wird nicht für Ärzte, nicht für Gemeinden, nicht für Medizinprodukte- oder Arzneimittelhersteller und auch nicht für die Mitarbeitenden betrieben. Hinter jedem Patienten stehen auch die Angehörigen, beispielsweise die Eltern eines erkrankten Kindes, die Sicherheit, Verlässlichkeit, Unterstützung und Informationen vom Krankenhaus erwarten. Die Patienten und Angehörigen werden mit dem klinischen Risikomanagement, mit dem Thema Patientensicherheit, direkt angesprochen.

Zusätzlich erhoffen auch die Mitarbeitenden vom Krankenhaus, dass sie dort sicher arbeiten können, sicher im Sinn des »physischen« Arbeitnehmerschutzes. Es gibt im Krankenhaus viele Gefahren, z. B. infektiöse Patienten und scharfe bzw. spitze Arbeitsgeräte (Skalpelle und Spritzen). Dazu kommen die »psychischen« Aspekte: Ein Mitarbeiter, der ohne Absicht einen Fehler gemacht hat, der zu einem Patientenschaden führte, macht sich selbst Vorwürfe und kann rechtlich verfolgt werden, z. B. mit einer strafrechtlichen Anklage und drohender Verurteilung. Schon eine Anklage stellt eine psychische Belastung dar. Die potenzielle Verurteilung wiederum gefährdet auch die soziale Sicherheit einer Person. Ein Mitarbeiter erwartet zudem Rahmenbedingungen, in denen ein verlässlicher Arbeitgeber einen sicheren Arbeitsplatz garantiert.

Die Eigentümer und Betreiber eines Krankenhauses können die öffentliche Hand, ein freigemeinnütziger oder ein privater Träger sein. Wenn er von einem sicheren Krankenhaus spricht, könnte er auch die Erwartung einschließen, dass das Krankenhaus in finanzieller Hinsicht sicher ist und nicht mit unvorhergesehenen, ungeplanten wirtschaftlichen Fehlentwicklungen überrascht. Wenn die Überlebensfähigkeit und die Liquidität nicht gesichert sind, könnte ein Krankenhaus geschlossen oder veräußert werden, z. B. durch Übertragung eines finanziell schwachen Krankenhauses an einen größeren Verbund oder durch Privatisierung. Dies ist Gegenstand des Geschäfts-Risikomanagements, das oft auch als Business Risikomanagement bezeichnet wird.

Die Öffentlichkeit erwartet von einem Krankenhaus, dass es einen Versorgungsauftrag für die Bürger erfüllt. Ein Krankenhaus ist ein wichtiger Teil der öffentlichen Infrastruktur von Gemeinden, Städten oder Regionen. Ein »eigenes« Krankenhaus zu haben, ist oft ein politischer Wert, für den manchmal viele Kompromisse eingegangen und finanzielle Mittel eingesetzt werden.

Die vier aufgeführten Anspruchsgruppen stehen nicht isoliert im Raum, sie hängen innerlich eng zusammen. Sichere Prozesse in einem Krankenhaus kommen den Patienten und den Mitarbeitenden zugute. Ein sicher arbeitendes Krankenhaus genießt eine gute Reputation. Die Patienten bringen diesem Krankenhaus Vertrauen entgegen und wählen es im Bedarfsfall auch für ihre Behandlung. Dies wiederum sichert Arbeitsplätze und die Versorgungsinfrastruktur. Die logische Schlussfolgerung wäre: Krankenhäuser müssten eine maximale Sicherheit anstreben. Dieses Ziel stößt aber schnell an Grenzen, denn Sicherheit verbraucht Ressourcen, und diese sind nicht nur für Krankenhäuser knapp. Absolute oder maximale Sicherheit gibt es nicht. Es stellt sich die Frage nach der relativen Sicherheit, einem Mittelweg zwischen dem erstrebenswerten, aber kaum erreichbaren Ziel und den wirklichen Möglichkeiten, die mit den vorhandenen Mitteln und Ressourcen erreichbar sind.

Die zentrale Frage, der sich dieses Buch widmet, ist der Grad an Sicherheit, den Patienten und Angehörige von der Behandlung im Krankenhaus erwarten dürfen. Man könnte von den Behandlungs-Restrisiken sprechen, denen ein Patient ausgesetzt ist.

1.1.3     Das Krankenhaus als Risiko für den Patienten

Das moderne Gesundheitswesen betreibt höchst komplexe Organisationen. In Krankenhäusern findet ein Zusammenwirken von folgenden hoch-anspruchsvollen Elementen statt:

•  Medizinisches Fachwissen und Erfahrung umfassen viele Spezialgebiete wie Chirurgie, Anästhesie, Gynäkologie, Urologie, Onkologie, Unfallchirurgie, Neurologie sowie moderne Formen der Diagnostik, wie Endoskopie, Computertomographie, und vieles mehr. Im Krankenhaus kommen mehrere dieser Disziplinen zusammen und werden an einen kranken Menschen oft interdisziplinär angewendet. Es gibt viele Nahtstellen zwischen unterschiedlichen Fachbereichen, die allein schon in der Kommunikation unter den Fachleuten und insbesondere auch mit dem Patienten eine Herausforderung darstellen.

•  Der Einsatz von Spitzentechnologien nimmt ständig zu. Dabei spielen Medizinprodukte und Arzneimittel eine direkte, die Krankenhausinfrastruktur mit der Informationstechnologie und der Versorgung über eine weit verzweigte Supply Chain eine indirekte, unterstützende Rolle. Beschaffung, Anwendung, Einsatz und Bedienung dieser technologischen Dimensionen schaffen viele Risiken für Patienten, Mitarbeiter und Krankenhaus.

•  Leistungsträger der medizinischen und pflegerischen Aktivitäten im Krankenhaus ist der fehlerhafte Mensch. Im Gegensatz zu vielen Industrien sind im Krankenhaus der Automation enge Grenzen gesetzt. In der Industrie kann man die Fehlerquoten so reduzieren, dass man diese in ppm – parts per million – messen kann. Im Krankenhaus sind die Fehler um 10er-Potenzen höher. Das ist nicht etwa darauf zurückzuführen, dass die Menschen im Krankenhaus sich nicht anstrengen würden oder den Anforderungen nicht genügten.

Als Ergebnis kann man feststellen, dass ein Krankenhaus eine vielschichtige Organisation darstellt. Hier kommen mehrere Leistungsträger unterschiedlicher Professionen zusammen, die sich mit interdisziplinärer Arbeitsweise auf einen individuellen Patienten fokussieren. Die Tätigkeiten in einem Krankenhaus, nämlich einen Patienten zu heilen, verbinden sich oft mit vielen Gefährdungen und klinischen Risiken. Zu Recht wird ein Krankenhaus auch als Hochrisikobetrieb charakterisiert. Und daher lautet die Frage: Welche Anforderungen muss ein Krankenhaus erfüllen, damit es sich ein sicheres Krankenhaus nennen kann?

1.1.4     Anforderungen an das sichere Krankenhaus

•  Den Mittelpunkt des sicheren Krankenhauses bildet die Patientensicherheit. Darunter versteht man gemäß der Definition der WHO »die Reduktion des Risikos vermeidbarer Schäden im Rahmen von Gesundheitsleistungen auf ein akzeptables Minimum« (WHO Conceptual Framework 2011, S. 80).

•  Ein sicheres Krankenhaus erfordert die Erfüllung der grundlegenden Anforderungen an die medizinische Versorgung sowie an die ärztliche und pflegerische Patientenbehandlung. Leistungen eines Krankenhauses müssen den anerkannten Regeln der Wissenschaft und medizinischen Erfahrung entsprechen.

•  Voraussetzung für die Sicherstellung dieser Anforderungen sind Mitarbeitende mit Fachkompetenz und Erfahrung. Damit diese Ressourcen zum Einsatz gelangen, sind eine adäquate technische Infrastruktur und Finanzmittel erforderlich.

•  Ein Krankenhaus ist zudem sicher, wenn es im Rahmen eines systemischen Qualitäts- und Risikomanagements zusätzlich über eine offene Sicherheitskultur verfügt, die dazu führen kann, dass die erbrachten Leistungen beinahe fehlerfrei sind.

Definition des sicheren Krankenhauses

Das sichere Krankenhaus ist eine Organisation, die Patienten nach den anerkannten Regeln der Wissenschaft und medizinischen Erfahrungen behandelt. Dazu sind eine ausreichende Anzahl von qualifizierten Fach- und Führungskräften ebenso erforderlich wie eine angemessene technische Infrastruktur und finanzielle Mittel.

Das sichere Krankenhaus zeichnet sich aber insbesondere durch eine offene Sicherheitskultur aus, welche ein systemisches Risiko- und Qualitätsmanagement ergänzen. Im Ergebnis kann das sichere Krankenhaus Fehler infolge von menschlichen, technischen und organisatorischen Unzulänglichkeiten zu einem überwiegenden Teil vermeiden. Das Ergebnis ist eine hohe Sicherheit für Patienten und Mitarbeitende.

 

1.2       Zielsetzungen

 

Dieses Buch ist eine interdisziplinäre Darstellung der Anforderungen an das Risiko- und Qualitätsmanagement im Krankenhaus, das sich der Herausforderung der Patientensicherheit annimmt. Die Zielgruppe setzt sich entsprechend aus folgenden Personenkreisen zusammen:

•  Leiter, Vorstände und Geschäftsführer von Krankenhäusern,

•  Chefärzte, Oberärzte und führende Pflegepersonen im klinischen Bereich,

•  Fach- und Führungskräfte im betriebswirtschaftlich-technischen und juristischen Bereich von Krankenhäusern,

•  alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die im Krankenhaus direkt oder indirekt dazu beitragen, die medizinischen Leistungen freundlich, aber insbesondere sicher und fehlerfrei zu erbringen.

Mit diesem Buch sollen folgende Ziele erreicht werden:

Die Adressanten sollen

•  die Grundsätze der Führung eines Krankenhauses und die dabei relevanten Konzepte zur Förderung der Patientensicherheit kennen,

•  die rechtlichen Anforderungen und deren Auswirkungen auf die eigene Tätigkeit und auf das Krankenhaus als Organisation kennen und verstehen,

•  die klinischen Risiken mit ihren wirklichen Ursachen und Auswirkungen verstehen,

•  die systemischen Konzepte des Risiko- und Qualitätsmanagements sowie deren Werkzeuge bzw. Instrumente für die Erfassung und Verbesserung der Patientensicherheit anwenden, wie sie auch die relevanten Normen im Risikomanagement vorsehen,

•  die führungsspezifischen, menschlichen, technischen und organisatorischen Rahmenbedingungen verstehen, um eine offene Sicherheitskultur zu schaffen. Diese ermöglicht es allen Mitarbeitenden, Fehler in der Leistungserbringung rechtzeitig wahrzunehmen und ihnen entgegenzuwirken. Ergebnis ist eine hohe Sicherheit der Patienten und Mitarbeitenden.

Risikomanagement ist nicht etwas Neues im Krankenhaus, aber es setzt neue Akzente:

Neue Akzente im klinischen Risiko- und Qualitätsmanagement

In vielen Krankenhäusern besteht ein institutionalisiertes Qualitätsmanagement. Dieses konnte in der Vergangenheit allerdings die Patientensicherheit noch nicht ausreichend verbessern.

Mit der Einführung der zusätzlichen Instrumente des Risikomanagements entsteht ein systemisches Risiko- und Qualitätsmanagement, das bessere Voraussetzungen schafft, um die Sicherheit von Patienten und Mitarbeitenden zu gewährleisten.

Die Wirkung des systemischen Risiko- und Qualitätsmanagements kann sich nur entfalten, wenn eine offene Sicherheitskultur es den an der Leistungserbringung beteiligten Menschen ermöglicht, mit ausgeprägter Wahrnehmung die Systemfehler frühzeitig zu erkennen und abzuwehren.

 

1.3       Vorgehen

 

In Kapitel 2 werden die Grundlagen des klinischen Risikomanagements dargestellt. Für die Aspekte der Patientensicherheit gibt es eine Vielzahl von internationalen Konzepten, die der Leser schließlich einordnen und verstehen muss, um selbst seine Optionen und Präferenzen für die Gestaltung des klinischen Risikomanagements zu wählen.

Das 3. Kapitel befasst sich mit dem Verständnis der klinischen Risiken. Diese können auf rund zehn »hot spots« konzentriert werden. Jeder Risiko- und Qualitätsmanager sollte diese Erscheinungsformen von Risiko und Patientenschaden kennen und gut verstehen, welche Ursachen und Auswirkungen diese Risiken haben.

Risiko- und Qualitätsmanagement bzw. die Aspekte der Patientensicherheit können nicht ohne Berücksichtigung der damit verbundenen rechtlichen Implikationen behandelt werden. Im 4. Kapitel es geht um die rechtlichen Anforderungen und um das Schadenmanagement im Zusammenhang mit den Patienten, die im Krankenhaus durch die Behandlung einen Schaden erlitten haben.

Einen wichtigen Platz nehmen im 5. Kapitel die Methoden des Risiko- und Qualitätsmanagements ein. Die Methoden werden dargestellt und auch mit ihrer Anwendung und ihrem Nutzen charakterisiert. Neben den klassischen Werkzeugen des Qualitätsmanagements werden durch die Methoden des klinischen Risikomanagements die Möglichkeiten der Minimierung von Patientensicherheitsrisiken erheblich erweitert.

Den neuen internationalen Normen entsprechend ist Risikomanagement mehr als nur ein Prozess, vielmehr geht es im 6. Kapitel darum, dass das Risiko- und Qualitätsmanagement möglichst in anerkannten, funktionsfähigen und erprobten Management-Konzepten integriert wird. Die Schlüsselbegriffe sind Plan-Do-Check-Act, der bekannte Demingkreis, der dem Qualitätsmanagement schon seit Jahrzehnten zugrunde liegt.

Der größte Erfolgsfaktor des Risiko- und Qualitätsmanagements liegt bezüglich der Patientensicherheit jedoch in einer offenen Sicherheitskultur. Die Faktoren Mensch und Organisation bzw. Kultur, Risikokultur und Organisationskultur sind von überwältigender Bedeutung. Ihm gilt die Aufmerksamkeit in Kapitel 7.

2          Wege zum sicheren Krankenhaus

 

 

2.1       Allgemeines

2.1.1     Management, Risiko und Risikomanagement

Es könnte eine einfache Aussage in den Raum gestellt werden: Um ein Krankenhaus für die Patienten und Mitarbeiter sicher zu gestalten, muss man klinisches Risikomanagement einführen und wirksam betreiben. Die Aussage ist nicht falsch, aber zu einfach, denn es gibt viele Konzepte und Lösungswege, die in der Welt des Risiko- und Qualitätsmanagements bestehen und zum Teil sehr spezifische Sicherheits-Anforderungen bis in die Details von klinischen Prozessen formulieren. Trotzdem soll nachfolgend ein genereller Einstieg ins Thema Management, Risiko und Risikomanagement vorgenommen werden, um danach die vielen bestehenden Ansätze darzustellen:

Management ist gleichbedeutend mit Führung, Führungstätigkeit, Unternehmensführung. Dabei geht es um die Gestaltung und Lenkung einer Organisation, sei dies nun eine öffentliche Körperschaft oder eine private Einrichtung, eine Non-profit-Institution oder ein gewinnorientiertes Unternehmen. Auch ein Krankenhaus ist eine Organisation, die gestaltet und gelenkt werden muss. Es verfolgt Ziele und erfüllt Leistungsaufträge, es verfügt über eine technische Infrastruktur, über Ressourcen und setzt diese ein, es erbringt Dienstleistungen und möchte damit die Kunden bzw. die Patienten zufriedenstellen. Zufriedenstellen bedeutet im klinischen Umfeld aber auch Schutz vor Schaden, den man einem Patienten und einem Mitarbeiter bei der Ausübung der medizinischen und pflegerischen Tätigkeit zufügen kann.

Weil die Welt so komplex geworden ist, gibt es immer mehr Unsicherheiten bzw. Risiken. Wahrscheinlich hat die Sicherheit, auch für den Patienten, objektiv zugenommen. Aber durch den hohen Informationsstand des heutigen Menschen werden Risiken viel intensiver wahrgenommen und nicht mehr wie früher als schicksalhaft akzeptiert.

Diesen Unsicherheiten widmen sich auch die internationalen Standards, wie z. B. die DIN ISO 31000 Risk management – Guidelines und die ONR 49000 Risikomanagement für Organisationen und Systeme, die aufzeigen, wie man die ISO 31000 praktisch anwendet. Diese definieren Risiko und Risikomanagement wie folgt:

Definition Risiko = Auswirkung von Unsicherheit auf Ziele, Tätigkeiten und Anforderungen

•  die Auswirkungen können positiv oder negativ sein,

•  Risiko ist eine Kombination von Wahrscheinlichkeit und Auswirkung,

•  die Unsicherheit/Ungewissheit wird mit Wahrscheinlichkeiten geschätzt bzw. ermittelt,

•  die Ziele der Organisation erstrecken sich auf die strategische Entwicklung (z. B. Kundenbedürfnisse, Innovation, Marktstellung). Die Tätigkeiten umfassen die operativen Aktivitäten (z. B. Beschaffung, Produktion und Dienstleistung sowie Vertrieb). Die Anforderungen beziehen sich insbesondere auf Gesetze, Normen sowie weitere externe oder interne regulatorische Vorgaben, auch betreffend die Sicherheit von Menschen, Sachen und der Umwelt, und

•  Risiko ist eine Folge von Ereignissen oder von Entwicklungen.

Definition Risikomanagement =