image

Mikael Torfason

DIE FALLENDEN

Aus dem Isländischen
von Tina Flecken

image

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel „Syndafallið“,
Verlag Sögur útgáfa, Reykjavík – © Mikael Torfason

Aus dem Isländischen von Tina Flecken

Unterstützt durch:

ICELANDIC LITERATURE CENTERimage

Für die deutsche Ausgabe © 2019 STROUX edition, München

Alle deuschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Matthias Mielitz · München

ISBN 978-3-9818430-9-5

eISBN 978-3-9480650-7-2

www.stroux-edition.de

Printed in Germany

„Alle glücklichen Familien sind
einander ähnlich, jede unglückliche Familie
ist unglücklich auf ihre Weise.“

Anna Karenina, Lew Tolstoi

Für Papa

TORFI GEIRMUNDSSON

19. Dezember 1950 - 13. Mai 2017

Inhalt

1. Kapitel Sündenfall

2. Kapitel Veränderte Zeiten

3. Kapitel Adams Rippe

4. Kapitel Leberversagen

5. Kapitel Trennung im Skólavörðustígur 19

6. Kapitel Du selbst sein heißt: dich selbst ertöten

7. Kapitel Ein mieser Scheißkerl

8. Kapitel Eine alleinstehende dreifache Mutter in Breiðholt

9. Kapitel Hundertsechsundneunzig Schritte

10. Kapitel Euer Leib ist ein Tempel des Heiligen Geistes

11. Kapitel Sklavin

12. Kapitel Mama, die Hure

13. Kapitel Die zehnte Plage

14. Kapitel Zwei Sofas

15. Kapitel Der Kindergarten Hólaborg

16. Kapitel Alice im Wunderland

17. Kapitel Ein Außerirdischer in der Psychiatrie

18. Kapitel Hurerei in Strandasel 9

19. Kapitel Die Druckerei Ísafold

20. Kapitel Ehescheidung

21. Kapitel Sicherheitsgefühl

22. Kapitel Sechs Monate trocken

23. Kapitel Der dümmste Vater der Welt

24. Kapitel Isländische Männer

25. Kapitel Drangshlíð

26. Kapitel Sturluhóll

27. Kapitel Urðarbak

28. Kapitel Der Sinn des Lebens

29. Kapitel Ich wähle das Reich Gottes

30. Kapitel Ein einziger Irrsinn

31. Kapitel Stóra-Hildisey

32. Kapitel Paradies auf Erden

33. Kapitel Der Keller unter der Haar-Ecke

34. Kapitel Der Lieblingsrotwein

35. Kapitel Papa und die Schwulen

36. Kapitel Pimmel-Geschenke zu Weihnachten

37. Kapitel Die Suche nach der Bundeslade

38. Kapitel Torfi, der Wirtschaftswikinger

39. Kapitel Welcome to the Jungle

40. Kapitel Die Lesbe bei den Zeugen Jehovas

41. Kapitel Húnaver 1989

42. Kapitel Sechsunddreißig Frauen

43. Kapitel Weißt du noch, in LA?

44. Kapitel Papas Aufreißmasche

45. Kapitel Chlamydien

46. Kapitel Absolution auf Station 21

47. Kapitel Richtet nicht

48. Kapitel Für Papa lügen

49. Kapitel Das ist kein Leben

50. Kapitel Eine Frau in den Wehen

51. Kapitel Pfingstrose

52. Kapitel Die wahre Kunstform

53. Kapitel Sarglegung

54. Kapitel Borgarholt

55. Kapitel Mit Sauerstoffmaske

56. Kapitel Das ist kein Leben

57. Kapitel Lilja im Rollstuhl

58. Kapitel Der Elefant im Wohnzimmer

59. Kapitel Gewichte heben

60. Kapitel Moralische Abrechnung

61. Kapitel Der König vom Hlemmur

62. Kapitel 99 Pence

63. Kapitel Der Sterbende

64. Kapitel What was to be expected

65. Kapitel Karma

1. KAPITEL

Sündenfall

Ich fliege.

Ich fliege durch die Luft.

Der Wind ist bitterkalt. Es ist ganz sicher Winter.

Und ich fliege durch die Luft wie in meinen Träumen.

Ich fliege.

Ich öffne die Augen. Ich befinde mich im freien Fall über dem Swimmingpool unserer Nachbarn. Ich falle und krache durch die dünne Eisschicht auf dem Pool. Es tut nicht weh, als das Eis unter meinem Gewicht zersplittert. Ich sinke auf den Grund und schaue hoch zu den Lichtern, die sich im Eis spiegeln.

Morgen kriege ich Halsschmerzen und Fieber und muss eine Woche im Bett bleiben, aber es vergehen noch zehn Jahre, bis mir die Mandeln rausgenommen werden. Ich bin ständig krank, doch jetzt ist mir innerlich ganz warm, weil Papa und ich so viel Spaß haben. Wir feiern nämlich. Ich durfte mit ihm zu einer Party. Meine Stiefmutter Dóróthea, meine neue Mama, ist bestimmt im Ausland, denn sie würde mir nie erlauben, mit Papa zu einer Party zu gehen. Ich bin erst acht Jahre alt.

Alle lachen, als mein Kopf durch die dünne Eisschicht an die Wasseroberfläche stößt. Grinsend schnappe ich nach Luft und paddele wie ein Hund zum Beckenrand. Papa steht am Rand des Swimmingpools, lacht am lautesten von allen und schlägt sich auf die Schenkel.

„Willst du durch den Ärmelkanal schwimmen? Mach, dass du rauskommst!“, brüllt er, und die gesamte Partygesellschaft schmeißt sich weg vor Lachen.

Papa hat mich in den Pool der Nachbarn geschmissen, weil ich die Erwachsenen gepiesackt habe. Ich bin eines dieser hyperaktiven Quengelkinder, die den Erwachsenen auf die Nerven gehen. Nur Papa nicht. Papa gehe ich nie auf die Nerven. Er vergöttert mich und findet es immer lustig, wenn ich vorlaut und frech bin. Papa war auch gar nicht sauer, als ich ihm einen Schneeball an den Kopf geworfen habe. Er ist mir einfach lachend hinterhergerannt und hat mich in den Pool geschmissen.

Ein paar Frauen von der Party geben mir Handtücher, nachdem ich es geschafft habe, mich auf den Beckenrand zu hieven.

„Das war super!“, rufe ich. „Noch mal!“

Die Männer amüsieren sich köstlich, aber einige Frauen schütteln die Köpfe. Sie ermahnen Papa, mich nicht noch einmal reinzuschmeißen, ich müsse nach Hause und trockene Klamotten anziehen, sonst würde ich noch krank. Meine Lippen sind sofort blau angelaufen, aber ich bin ja auch ein kränkliches Kind. Ich friere, seit ich denken kann.

„Du bist ganz blau im Gesicht“, sagt eine Frau und fordert mich auf, sofort nach Hause zu gehen und mich aufzuwärmen. Anscheinend weiß sie, dass ich nebenan wohne und nicht weit laufen muss.

Seit neuestem trinke ich Alkohol. Sozusagen. Es kommt mir jedenfalls so vor, als würde ich neuerdings Alkohol trinken, weil Papa mir am Tag vor Heiligabend Cognac gegeben hat. Das war vor ungefähr einem Monat, und wie ich so am Pool stehe, mit blauen Lippen und in ein Handtuch gewickelt, beschließe ich, mir einen Cognac zu genehmigen, wenn ich zu Hause bin. Ich habe noch nicht oft Weihnachten gefeiert, weil ich lange bei den Zeugen Jehovas war, und bei denen ist alles, was mit Weihnachten zu tun hat, verboten. Deshalb war ich vor Weihnachten total aufgeregt, und Papa meinte, ein Schlückchen würde mich beruhigen. Außerdem sagen die Erwachsenen immer, dass Cognac von innen wärmt. Meine Stiefmutter ist allerdings nicht begeistert, dass ich neuerdings Alkohol trinke, und hat mit Papa geschimpft. Er fand das einfach nur witzig.

„Jetzt lauf schnell nach Hause!“, sagt Papa und zerstrubbelt mir die nassen Haare.

Ich nicke bibbernd, und Papa und ich gehen in entgegengesetzte Richtungen. Ich renne durch den Garten zu unserem Haus in Sigluvogur 7, während er zurück ins Haus der Nachbarn schlendert, der Star des Abends.

Es ist 1982, und ich habe keine Ahnung, wo sich meine Brüder an diesem dunklen Januarabend herumtreiben. Vielleicht sind sie aufs Land gefahren. Wir Jungs werden in den Sommerferien immer auf Bauernhöfe geschickt, und manchmal machen wir auch im Winter einen Abstecher dorthin, wenn uns in Reykjavík langweilig wird. Meine Schwester Lilja ist wahrscheinlich bei Mama im Breiðholt-Viertel. Die beiden sind auch nicht mehr bei den Zeugen Jehovas, genau wie mein Bruder Ingvi, Papa und ich. Unsere Familie ist nicht mehr auf dem Weg ins Paradies.

Zu Hause hat Papa eine hübsche kleine Bar, die wie ein Spiegelsaal aussieht, wenn man sie öffnet. Wie im Ausland, sagt er. Die Leute im Ausland, die wissen, wie man trinkt, im Gegensatz zu den Isländern, die sich mit Drinks nicht auskennen und immer nur Wodka Cola saufen. Papa hingegen trinkt Liköre und Cognac. Ich schenke mir Cognac in ein echtes Cognacglas und nippe daran, damit mir warm wird.

Allem Anschein nach war ich mit acht Jahren ein fröhlicher und ungewöhnlich fantasievoller Junge. Das habe ich aber erst in letzter Zeit herausgefunden. Lange Zeit war ich der Meinung, ich sei unglücklich, trübselig und anstrengend gewesen, aber dann hat man mir erzählt, wie unterhaltsam und drollig ich mit acht Jahren war. Zum Beispiel war ich in der Punkband Mini-Punks. Mein Stiefbruder Knútur schrieb für uns einen Song, der hieß ‚Ich geh über den Laugavegur‘ und war eine Ode an den isländischen Schnaps Brennivín. Einige Wochen, nachdem ich vor Papas Hausbar gestanden und mir den Cognac hinter die Binde gekippt hatte, gaben wir ein Konzert. Ich war der Sänger der Band, und alle zwölf-, dreizehn- und vierzehnjährigen Teenie-Mädchen fanden den kleinen Punk total süß. Im Herbst, als der Swimmingpool unserer Nachbarn noch warm gewesen, habe ich eines dieser Mädchen nackt gesehen. Da durften mein Bruder Ingvi und ein paar andere Kinder aus dem Viertel in dem Pool schwimmen.

Ich weiß nicht, ob ich ein Punk bin. Papa sagt, ich bin ein Rotzlümmel, der aufhören muss, mit Streichhölzern zu spielen. Im Herbst habe ich nämlich fleißig abgestorbenes Gras abgefackelt, aber der Brandgeruch hat mich jedes Mal entlarvt. Als ich jünger war, habe ich oft gezündelt und einmal sogar fast unsere Wohnung in Brand gesteckt. Aber jetzt, als ich vor Papas Hausbar stehe, habe ich schon seit vor Weihnachten nichts mehr angezündet.

Papa ist genauso fantasievoll wie ich und lässt sich nicht alles bieten. Bei der Party hat er Geschichten über seinen Irish Coffee-Prozess zum Besten gegeben. Wenn ich das richtig verstanden habe, verteidigt er sich selbst. Als ihn jemand fragte, wie die Sache mit dem irischen Kaffee so läuft, fing er an, davon zu erzählen. Die Zeitung DV hat nämlich auf der ersten Seite eine Meldung über Papas Streit mit dem Hotel Saga gebracht. Das erzählte jedenfalls eine der Frauen. Papa behauptete, wenn man im Hotel Saga einen Irish Coffee bestelle, bekomme man nur irgendeine ungenießbare Plörre, das sei eine Zumutung. Ganz anders in London oder New York. In Reykjavík gehen alle davon aus, dass man als Gast in einem Restaurant für schlechte Ware bezahlen muss, aber er hat sich geweigert, die Rechnung im Hotel Saga zu bezahlen, und wurde daraufhin angezeigt. Die einstmals tragende Säule der sittsamen Zeugen Jehovas ist also vor Gericht gelandet, weil er sich weigerte, in einer Bar einen Cocktail zu bezahlen.

Unser Leben hat sich grundlegend geändert, seit wir bei den Zeugen Jehovas rausgeflogen sind. Papa wurde wegen Ehebruchs verstoßen, und Mama am Ende auch. Wir gehörten lange zu Gottes auserwähltem Volk und waren auf dem Weg ins Paradies, doch nun hatte der Sündenfall begonnen. Unsere Familie hatte auf das ewige Leben im Garten Eden gehofft, wo wir mit Löwen und Krokodilen Äpfel und Orangen essen wollten, aber im Paradies der Zeugen Jehovas durfte man nicht sündigen, und deshalb erging es uns wie Adam und Eva. Wir sind Geächtete, und die Äpfel und Orangen sind jetzt für andere bestimmt.

2. KAPITEL

Veränderte Zeiten

Im selben Augenblick, als ich im freien Fall über dem zugefrorenen Schwimmbad unserer Nachbarn schwebte, malte Mama sich in einem kleinen Badezimmer in einem Wohnblock im Breiðholt-Viertel einen roten Blitz ins Gesicht. Ich besitze ein Foto von ihr von diesem Abend: Der Blitz zieht sich quer über ihr Gesicht, in ihrem Mundwinkel steckt eine Zigarette, ihre Lippen umspielt ein vielsagendes Lächeln, ihre Haare sind toupiert und stehen hoch. Auf diesem Foto sieht Mama glücklich aus. Zumindest hat sie es anscheinend genau in dem Moment, als das Foto geschossen wurde, geschafft, ihre Sorgen zu vergessen.

Es war eine tolle Zeit, 1982, in der frisch aus dem Boden gestampften Hochhaussiedlung Breiðholt. Die alleinerziehenden Mütter aus Mamas Treppenhaus versammelten sich in einem winzigen Badezimmer in einer der Wohnungen. Sie hatten schnell vergessen, um wessen Wohnung es sich an dem besagten Abend handelte, zumal alle Wohnungen fast genau gleich aussahen und alle Badezimmer denselben Grundriss hatten. Es waren fensterlose Kämmerlein in einer Reihe identischer Arbeiterwohnungen mit Badewanne, Waschbecken und Toilette und nur einem kleinen Deckenloch als Belüftung. Trotzdem fanden sie alle Platz vor dem Waschbecken und dem Spiegel, die alleinstehenden Mütter aus Breiðholt. Sie schminkten sich gegenseitig, föhnten und toupierten sich die Haare, bis sie hoch standen.

„Leg mal Bubbi auf!“, rief eine der Disco-Queens, und die jungen Männer im Wohnzimmer gehorchten. Bubbi Morthens war damals in der Band Egó, die gerade die Platte ‚Veränderte Zeiten‘ herausgebracht hatte, eine Art New-Wave-Punk. Doch die Disco-Groupies in Breiðholt fuhren auch auf diesen Pseudo-Punk ab. Sie ließen sich nicht in Schubladen stecken, wie es die Zeitungen und Zeitschriften gern gehabt hätten. Die alleinerziehenden Mütter in Breiðholt waren genauso Punk wie Disco. Mama und ihre Freundinnen hatten nämlich bereits bei ihren ersten Scheidungen festgestellt, dass das Leben kompliziert war, und konnten sich deshalb genauso gut mit New-Wave-Punk von Egó wie mit Blondie auf die Bee Gees in der Diskothek ‚Hollywood‘ einstimmen.

„Mutter, wo ist dein Kind, so spät am Abend?“ sang Bubbi, und Mama und die anderen alleinerziehenden Mütter, ihre besten Freundinnen, grölten mit, sodass es durch den ganzen Wohnblock schallte:

„Mutter, wo ist dein Liebstes? Der Nebel ist so kalt.“

Sie ließen sich von der Musik und dem unheimlichen Text mitreißen. Sie klammerten sich an ihre eigene Angst und identifizierten sich mit Bubbis Songtext über das verlorene Kind, das Mädchen, das in die Fänge eines Mannes gerät, der es verletzen und missbrauchen will. Dieses Mädchen war natürlich Mama selbst und ihre Freundinnen und meine Schwester Lilja und sogar ich, ihr kleiner, empfindlicher Sohn. So hatte sie mich vor Augen, als sie mit Bubbi in dem fensterlosen Badezimmer brüllte:

„Mutter, wo ist dein Kind, so spät am Abend?“

„Mann, legt doch mal was anderes auf“, sagte eine der Freundinnen zu den Bubbi-Fans im Wohnzimmer. „Wir wollen doch einen draufmachen, oder?“

Vielleicht legten die Jungs dann die Beatles oder die Stones oder irgendeinen Disco-Song auf. Mama kann sich nicht mehr daran erinnern. Sie machte sich weiter zurecht und zog ihr feuerrotes 50er-Jahre-Kleid an, das sie ordentlich gefaltet im Kleiderschrank ihrer Tante entdeckt hatte. Es war tailliert und von den Schultern bis zur Taille hauteng. Einfach sensationell. Wunderschön, und der Stoff seidenweich. Das Rot passte gut zu dem Blitz, der sich quer über ihr Gesicht zog.

Hulda Fríða Berndsen fühlte sich in dem Kleid wie eine Königin und begutachtete den Tüllrock, der sich um ihre Hüften bauschte. Sie hatte nur ein paar Schlucke Wodka Cola getrunken, es war also nicht der Alkohol, der ihr dieses plötzliche Selbstvertrauen gab. Sie zündete sich eine Winston Lights an und starrte auf ihr Spiegelbild. Auf einmal hatte sie keine Angst mehr. Sie war frei. In diesem Augenblick war ihr Leben perfekt. Sie machten sich auf ins ‚Hollywood‘, die alleinstehenden Mütter aus Breiðholt.

3. KAPITEL

Adams Rippe

Mama beschreibt die Trennung von Papa so, als habe sie ein riesiger Felsblock erschlagen. Torfi Geirmundsson war bei den Zeugen Jehovas ihr Dreh- und Angelpunkt gewesen. Sie war eine gute Hausfrau, eine gehorsame Ehefrau, die darauf achtete, nichts zu tun, was ihren Mann oder die Ältesten in der Gemeinschaft verärgert hätte. Sie traute sich noch nicht einmal, Hosen anzuziehen, geschweige denn einen kurzen Rock, trug lieber lange Kleider, um bloß niemanden zu provozieren. Als sich Hulda Fríða Berndsen kurz nach meiner Geburt als Zeugin Jehovas taufen ließ, wurde sie eine demütige Dienerin Jehovas. Sie nahm sich Eva, die erste Frau, zum Vorbild. Sie wollte wie Eva eine Rippe aus Adams Brust sein und ihrem Mann in allem dienen. Zudem war Mama fest entschlossen, Evas Geschichte als warnendes Beispiel anzusehen. Eva war Adam gegenüber ungehorsam gewesen, hatte sich in Versuchung führen lassen und eine Frucht vom verbotenen Baum gekostet.

Adam war nicht lange im Paradies geblieben und das war Evas Schuld. Mama hingegen ließ sich nie in Versuchung führen. Es war Papa, der Unzucht trieb. Er schlief sogar mit Mamas Schwester, und bevor sie das richtig begriffen hatte, war Torfi schon bei einer Lehrerkollegin aus der Berufsschule eingezogen und eröffnete der jungen Hulda Fríða, er sei verliebt.

„Ich liebe diese Frau, und nichts, was du sagst oder tust, wird daran etwas ändern“, erklärte er Mama und scherte sich einen Dreck um die Ältesten und das Gesetz Jehovas.

Mama reagierte panisch, kam fast um vor Angst, während Papa völlig angstfrei zu sein schien. Er machte einfach da weiter, wo er aufgehört hatte, bevor er Zeuge Jehovas geworden war. Damals war er bei der Allianz der Radikalen Sozialisten gewesen, hatte sich für Politik, Kunst und Kultur interessiert. Deshalb wurden wir Brüder jetzt plötzlich sonntags zu Demos gegen die amerikanische Militärbasis in Keflavík mitgeschleppt, anstatt bei einer Zusammenkunft im Königreichssaal Jehova Gott anzubeten.

„Island aus der NATO! Soldaten weg!“, skandierten wir, hingen an Zäunen und verfluchten den Kapitalismus. Wir waren keine Christen mehr, wir waren Kommunisten.

Das geschah quasi über Nacht. Eine Hundertachtzig-Grad-Wendung. Typisch Torfi Geirmundsson. Fast zehn Jahre vorher war er von einem Moment zum anderen Zeuge Jehovas geworden, und jetzt lasen wir nicht mehr den Wachtturm, sondern hörten Megas. Der linke Liedermacher hatte gerade die Platte ‚Konzept für einen Selbstmord‘ veröffentlicht, als meine Eltern sich trennten. Das Erste, was Papa nach seinem Austritt bei den Zeugen Jehovas machte, war, sich diese Platte zu kaufen.

„Wenn du der Welt ins Gesicht smilst, dann smilt die Welt dir ins Gesicht“ singt Megas, und ich erinnere mich daran, dass Papa immer breit grinste, wenn er diese Zeile hörte. Er war so froh und glücklich in jenen Jahren.

Ich weiß nicht mehr, wie oft ich diese Platte gehört habe, als ich fünf Jahre alt war. Megas hatte jedenfalls so großen Einfluss auf mich, dass ich einmal zu meiner Stiefmutter ins Badezimmer stürmte und sie mit tränenerstickter Stimme fragte:

„Liebt Papa Megas mehr als uns?“

Noch ein Jahr zuvor hätte ich gefragt, ob Papa Jehova mehr lieben würde als uns. Was meine echte Mutter bejaht hätte. Doch nun stand ich vor einer neuen Mutter, die in der Badewanne lag, mich sanft anschaute und sagte:

„Nein, mein Schatz.“ Dann bat sie mich, ihr doch noch ein bisschen Ruhe zu lassen.

Ich habe diese Frau in der Badewanne, meine Stiefmutter, immer Mama genannt. Manchmal aber auch Mama Dóróthea oder Mama Dóra, zur Unterscheidung von Mama Hulda, meiner echten Mutter.

Meine Stiefmutter heißt Dóróthea Magnúsdóttir, und meine Eltern haben sich immer dafür geschämt, dass sie Dóróthea und ihren Sohn in ihre Probleme hineingezogen haben. Sie meinen, sie hätten die Sünden der Vergangenheit selbst auf sich nehmen müssen. Das mag an und für sich bewundernswert sein, aber sie sehen Dóróthea in einem ganz anderen Licht als ich. Als ich gerade mal fünf Jahre alt war, übernahm sie für mich die Mutterrolle. Und drei Jahre später, als Mama und die alleinerziehenden Frauen aus Breiðholt ins ‚Hollywood‘ gingen und zu dröhnenden Discoklängen an einer Modenschau auf der Tanzfläche teilnahmen, stürzte ich nass und frierend in unser Badezimmer, das Mama Dóróthea eingerichtet hatte. Ich öffnete einen Schrank und riss ein Handtuch heraus, das meine neue Mutter gewaschen und getrocknet und gefaltet und ins Regal gelegt hatte. Sie hatte uns ein schönes und gutes Zuhause eingerichtet. Noch heute nenne ich sie Mama, und im Frühjahr habe ich sie regelmäßig in der Reha besucht, nachdem man ihr einen zitronengroßen Tumor aus dem Gehirn operiert hatte.

4. KAPITEL

Leberversagen

Eine Woche bevor Papa mit Leberversagen ins Krankenhaus eingeliefert wurde, war ein Spezialist aus Schweden nach Island geflogen, um einen Tumor aus dem Kopf meiner Stiefmutter zu entfernen. Die Operation dauerte zwölf Stunden und verlief besser als erhofft, aber Mama Dóróthea war danach linkseitig gelähmt.

Papa wurde am Karfreitag auf eigenen Wunsch ins Landeskrankenhaus eingewiesen. Am Ostersonntag passte mich eine Ärztin ab, bevor ich zu ihm ins Zimmer ging. An den ersten Tagen lag Papa in einem Isolationszimmer, weil er gerade erst mit gelb verfärbter Haut aus Thailand zurückgekommen war. Ich kämpfte noch mit der Schutzkleidung, als die Ärztin neben mir auftauchte und sich vorstellte. Ich war so überrumpelt, dass ich mir ihren Namen nicht merkte. Lóa vielleicht.

„Könnten Sie mal kurz mit in die Teeküche kommen?“

Ich bejahte und folgte ihr in die Teeküche für die Mitarbeiter, wo Lóa eine Krankenschwester freundlich bat, in den Flur zu gehen und ihr Gebäck dort zu essen. Da im Aufenthaltsraum ein Krankenbett stand, war die Teeküche der einzige Ort für solche Gespräche.

„Wissen Sie, ob Ihr Vater trinkt?“, fragte mich Lóa, nachdem sie die Tür hinter uns zugezogen hatte. Sie lehnte sich dagegen, damit niemand hereinkommen und uns stören würde.

„Ja, doch, das tut er“, antwortete ich ziemlich verwirrt, und dann fiel mir wieder ein, dass Papa mir schon nach seiner Einweisung am Karfreitag gesagt hatte, jemand aus dem Ärzteteam wolle ein Familientreffen einberufen. Er habe der Ärztin gesagt, das solle sie am besten mit mir besprechen.

„Wissen die Ärzte denn, was du hast?“, hatte ich Papa am Karfreitag gefragt, nachdem ich die Schutzkleidung und die Gummihandschuhe angezogen hatte.

Er hatte mir erzählt, er müsse in Thailand etwas Verdorbenes gegessen haben. Vielleicht Salat, der nicht richtig gewaschen worden sei. Er war allerdings ein bisschen durcheinander, als er mir das alles erzählte, und überlegte, ob er sich bei seiner thailändischen Freundin angesteckt haben könnte.

„Glaubst du, du hast Syphilis?“, hatte ich halb im Scherz gefragt.

„Ja, du hast gut lachen, du Halunke“, hatte Papa grinsend geantwortet und mir dann weiter von seiner angeblichen Freundin in Thailand erzählt. Offenbar wollte sie, dass er sie dabei unterstützte, einen Laden zu eröffnen, aber dafür hatte Papa kein Geld.

Doch am Ostersonntag, nach dem Gespräch mit der Ärztin Lóa, falls sie denn so hieß, setzte ich mich an Papas Bett und eröffnete ihm, dass die Ärztin mir mitgeteilt habe, bei ihm liege alkoholbedingtes Leberversagen vor.

Papa tat so, als hätte er mich nicht gehört.

„Deine Ärztin hat mir gesagt, dass es die Leber ist“, wiederholte ich, während ich in Schutzkleidung und mit Gummihandschuhen an seinem Bett saß.

„Ach was“, erwiderte Papa, als hätte er noch nie etwas so Dummes gehört.

„Ihr Vater zeigt alle Symptome von Leberversagen nach schwerem Alkoholmissbrauch“, hatte die Ärztin gesagt und dabei sehr überzeugend geklungen.

„Dann ist es also keine Lebensmittelvergiftung?“, fragte ich, und sie schüttelte den Kopf.

„Was glauben Sie, wie lange er schon trinkt?“

„Ich weiß es nicht. Meine Geschwister und ich vermuten schon lange, dass er heimlich wieder angefangen hat. Er hat vor zehn Jahren eine Therapie gemacht, aber seitdem ist er öfter ins Ausland gefahren und jedes Mal krank zurückgekommen.“

Die Ärztin nickte verständnisvoll. Lóa war es bestimmt gewohnt, mit Angehörigen von Alkoholikern zu sprechen, die ihr Trinken leugnen. Dann erklärte sie mir, die Leber sei kurz vorm Kollabieren, und bat mich, ihr dabei zu helfen, Papa die Wahrheit zu sagen. Es gehe um Leben und Tod, und sie müsse sofort eine medikamentöse Behandlung einleiten, damit Papa eine Heilungschance hätte.

„Manchmal glaube ich, es ist ihm völlig egal, ob er lebt oder stirbt“, erwiderte ich und fügte hinzu, meine Geschwister und ich hätten schon oft den Eindruck gehabt, er wünsche sich nichts sehnlicher, als bei einer seiner Saufreisen in Thailand zu krepieren.

„Immerhin ist er aus freiem Willen hergekommen, deshalb gehen wir davon aus, dass er leben möchte“, meinte Lóa und versicherte mir, sie werde sofort mit der Behandlung beginnen, selbst wenn er nicht zugebe, Alkoholiker zu sein.

„Vielleicht hat die Trinkerei sein Gehirn geschädigt“, sagte ich und erzählte ihr dann, dass Papa in den letzten zehn, zwanzig Jahren vor seinem Entzug mindestens einen Liter Wodka am Tag getrunken und sich zusätzlich an den Wochenenden besoffen habe.

Sie nickte und bestätigte, Hirnschäden seien eine häufige Folge von übermäßigem Alkoholkonsum. Dann wiederholte sie, die Lage sei sehr ernst und Papa schwer krank. Ich bedankte mich bei ihr, ging und zog das weiße Konfirmationsgewand und die dazu passenden Gummihandschuhe an, bevor ich Papas Zimmer betrat, um ihm die Neuigkeit zu überbringen.

Alkoholismus ist eine schreckliche Krankheit. Papa lebte schon seit Langem isoliert und zurückgezogen. Jetzt lag er in einem Krankenbett im ersten Stock desselben Gebäudes, in dem auch ich als krankes Kind gelegen hatte. Damals hatte sich die Kinderstation noch im obersten Stock befunden. Jetzt konnte Papa durch sein Fenster dasselbe weiße Kreuz sehen, das ich ebenfalls angestarrt hatte, als ich eine Etage über ihm gelegen hatte. Es ist das Kreuz auf dem Turm der Hallgrímskirkja. Abends wird es beleuchtet, und so habe ich es in Erinnerung, denn tagsüber, wenn Papa bei mir war, zog er immer die Vorhänge zu und schimpfte über diese Götzenverehrung der Nationalkirche.

Jetzt war Torfi Geirmundsson vollkommen egal, dass das weiße Kreuz über ihn wachte. Er war einsam und allein, bekam aber immerhin Besuch von dem einen oder anderen seiner Kumpel. Einer davon, sein bester Freund vielleicht, heißt Valdimar Tómasson und wird meistens Lyrik-Valdi genannt. Er brachte Papa einen Gedichtband von sich mit: ‚Verweilen an den Todesquellen‘. Ich fand es überhaupt nicht witzig, einem Mann mit kaputter Leber einen Gedichtband über den Tod zu schenken, aber Papa meinte, das kleine Büchlein sei gut geschrieben.

„Stilistisch vom Feinsten“, flüsterte Papa mir zu, denn seine Bauchhöhle hatte sich mit Wasser gefüllt, das auf seine Lunge drückte.

Meine Fährte führt zum Tod

und meine Sehnsucht

akzeptiert ihn.

Das Leben wandelt sich

in laublose Äste

und nasskalten Nachthauch.

Lyrik-Valdi und Torfi waren Freunde, seit Papa um die Jahrhundertwende 2000 am Busbahnhof Hlemmur den Friseursalon Die Haar-Ecke eröffnet hatte. Valdi besuchte ihn dort zweimal täglich, und sie schwafelten über ihre hoffnungslosen Frauengeschichten und schmissen mit Zitaten von verstorbenen Dichtern um sich. Doch nun war Papa gelb verfärbt und zu kurzatmig, um isländische Lyrik zu rezitieren. Seine Leber konnte keine Flüssigkeit mehr verarbeiten, weil sie ein Loch hatte, und wenn sich sein Bauch mit Flüssigkeit füllte, musste man ihm eine Nadel in die Bauchhöhle stechen und mehrere Liter abzapfen.

„Karma“, flüsterte Papa, denn als man diese gelbe Flüssigkeit abpumpte, war es, als hätte er einen Stomabeutel, so wie ich als Kind. Das amüsierte ihn, und er wurde sarkastisch, schließlich war schwarzer Humor schon immer sein Markenzeichen gewesen.

Karma oder nicht – es sprach sich schnell herum, dass der Friseur Torfi im Landeskrankenhaus lag. Sein Bruder Númi arbeitet dort und besuchte ihn jeden Tag. Auch der Musiker Herbert Guðmundsson schaute eines Tages vorbei, als ich gerade kurz weggegangen war, und rief anschließend einen Gebetskreis für ihn ins Leben. Der bekannte Popsänger hatte sich von Buddha und seinem eigenen Karma losgesagt und sich Jesus zugewandt, als er selbst mit dem Trinken aufgehört hatte. Doch der gesundheitliche Zustand des sechsundsechzigjährigen Leberpatienten besserte sich durch die Fürbitten nicht. Er verschlechterte sich allerdings auch nicht. Papa war noch fit genug, um einen sterbenslangweiligen Bekannten von den Anonymen Alkoholikern zu empfangen, der ihn besuchte, kurz nachdem Herbert zum Beten nach Hause gegangen war. Papa hielt den Anonymen Alkoholikern die Treue, obwohl er längst wieder angefangen hatte zu trinken, und dieser besagte AA-Mann setzte sich an sein Bett, um sich mit ihm über moralische Fragen zu unterhalten. Der Mann hatte auch lange die Wahrheit der Zeugen Jehovas studiert, was nun wirklich schlechtes Karma ist. Papa musste den ausufernden Vortrag dieses Typen über sich ergehen lassen, der bei den Anonymen Alkoholikern einen zweifelhaften Ruf hatte. Er wurde beispielsweise aus gemischten AA-Gruppen verwiesen, weil er junge Frauen belästigte, erzählte mir Papa, als ich am selben Abend an seinem Krankenbett saß.

Papa hatte nicht genug Luft in der Lunge, um diesem Scheißkerl zu sagen, er solle verschwinden, und so ging der erst, nachdem Papa eingeschlafen war. Als ich später in Papas Zimmer kam, schlief er, und ich saß lange da und betrachtete ihn, mit seiner gelben Haut und dem Loch im Bauch. Ich fühlte mich wieder wie mit fünf oder zehn oder fünfzehn. Wieder einmal hatten wir die Rollen getauscht. Ich hatte mir schon lange große Sorgen um ihn gemacht.

„Bist du zurück?“, flüsterte Papa, als er die Augen aufschlug. Das Weiß um die Iris hatte sich gelb verfärbt.

„Ja“, sagte ich. „Ich bin zurück.“

5. KAPITEL

Trennung im Skólavörðustígur 19

Papa und Mama Dóróthea trennten sich kurz vor Weihnachten 1990. Ich war sechzehn und hatte am selben Tag auf dem Gymnasium die Weihnachtsklausuren abgeschlossen. Papa passte mich an der Wohnungstür ab.

„Deine Stiefmutter und ich lassen uns scheiden“, sagte er und legte mir väterlich den Arm um die Schultern.

„Okay“, entgegnete ich und warf einen Blick in die Küche, die von der Diele abging. Mama Dóróthea saß dort mit ihrer Schwester, wenn ich mich recht erinnere. Die Frauen hatten mit Sicherheit geweint, aber ich wollte jegliche Gefühlsduselei vermeiden und fragte Papa, ob ich auch ganz bestimmt weiter bei ihm wohnen dürfe.

„Selbstverständlich“, antwortete Papa und umarmte mich.

Dann kam Dóróthea zu uns in die Diele. Die Familie war gerade erst in die Innenstadt gezogen, allerdings nur Papa, Dóróthea und ich, da Ingvi und Knútur schon ausgezogen waren.

„Ich werde dich immer lieben, Mikki“, sagte Mama Dóróthea, weil sie wollte, dass ich wusste, dass unsere Beziehung etwas Besonderes war.

„Ich werde immer deine Mutter sein.“

Sie sagte bestimmt noch mehr, aber ich hörte ihr nicht zu. Ich war sechzehn und entwand mich sofort ihrer Umarmung, murmelte, ich müsse los, ging raus und betrank mich mit meinen Freunden.

In den darauffolgenden Wochen bemühte sich meine wundervolle Stiefmutter, mich dazu zu bringen, mit ihr in eine neue Wohnung in der Weststadt zu ziehen. Sie wollte unbedingt, dass ich weiter aufs Gymnasium ging, aber ich war fest entschlossen, Schulabbrecher und Schriftsteller zu werden. Papa und ich waren andauernd betrunken und scherten uns um nichts und niemanden.

Zu dieser Zeit hatte ich den Kontakt zu Mama Hulda verloren. Vier Jahre zuvor war die Disco-Punk-Queen aus Breiðholt wieder den Zeugen Jehovas beigetreten und wartete nun ungeduldig auf das Harmagedon. Einmal rief sie mich an und lud mich zum Essen ein. Ich versprach ihr zu kommen, ging dann aber nicht hin. Ich weiß noch, wie verletzt sie war, als sie mich anrief und ich einfach den Hörer aufknallte.

Papa und ich gaben auf alles einen Dreck. Wir scherten uns weder um Bildung noch um den Weltuntergang. Die warnenden Worte von Papas Ex-Frauen und meinen Ex-Müttern hatten keinen Einfluss auf uns. Im Grunde erkannten wir kaum Unterschiede in ihren Aussagen. Die eine wollte, dass ich etwas lernte und an meine Zukunft dachte, und die andere, dass ich die Bibel studierte und an das ewige Leben im Paradies dachte. Aber ich schrieb mein eigenes Buch und hatte nichts mit Schulbüchern oder der Bibel am Hut. Genauso wenig wie Papa. Für ihn hatte der Sündenfall gerade wieder begonnen.

Nachdem Torfi und Dóróthea sich kurz vor Weihnachten getrennt hatten, wurde er vierzig und schmiss im Skólavörðustígur eine Riesenparty. Er wollte seinen Geburtstag und seine neu gewonnene Freiheit feiern. Wir beluden die Wohnung mit Brennivín, Rotwein und Likören. Wieder einmal musste Torfi ein ereignisreiches Jahrzehnt in seinem Leben ausradieren. Diesmal waren es die achtziger Jahre, die ausradiert werden mussten. Die siebziger Jahre hatten wir bereits erfolgreich begraben, sodass sie längst vergessen waren. Es war ewig her, seit meine Eltern verheiratet und ich ein schwerkrankes Kind gewesen war.

„Man wird nur einmal vierzig“, verkündete Torfi allen, die es hören wollten, als er die Kneipen der Stadt abklapperte und Einladungen zu seinem Geburtstag verteilte.

„Das wird endlich mal ’ne anständige Party“, resümierte er. Papas Geburtstag ist am 19. Dezember, der 1990 auf einen Mittwoch fiel, weshalb die Party bei uns zu Hause am Freitag, dem 21. stattfand, vier Tage vor Weihnachten.

Torfi hatte nur knapp zwei Wochen Zeit, um die Wohnung mit neuen Freunden zu bestücken. Die zehn Jahre mit Mama Dóróthea mussten mit breiten Pinselstrichen übermalt werden, und deshalb waren die meisten Geburtstagsgäste Leute, die ich noch nie gesehen hatte. Wir wohnten ja erst kurz im Zentrum, als die beiden sich trennten, und 1990 hatte die Innenstadt noch einen sehr dörflichen Charakter. Die Leute, die im Stadtzentrum wohnten, arbeiteten und feierten auch zusammen. Die meisten nahmen Torfi freundlich auf, sie kannten ihn ja recht gut, weil er schon lange in der Innenstadt arbeitete und in den Kneipen beliebt war. Immer für einen Drink zu haben, und danach lud er zur Afterparty in unsere Wohnung ein.