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ANDREAS PRÖVE

Gegen den Strom

VON SHANGHAI

INS TIBETISCHE HOCHLAND

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Meiner Frau und meinen Kindern

Inhalt

Prolog

40 Kilo Übergepäck

Abgezockt

Shanghais Stadtgott und Konfuzius

Ein Volk von Einzelkindern

Chinesen lieben ihre Hunde, auch in Deutschland aß man sie

Nepper, Schlepper, Punktefänger

Mein Freund der Triebling ist da

Suzhou, einst Venedig des Ostens

Paris copy-and-paste

Huang Shan

Verkehrskontrolleure konfiszieren meinen Freund

Zhangjiajie

Chongqing und ein widerspenstiger Bewohner

Auf Jangtsekreuzfahrt

Leshan versöhnt sich mit mir

Kein Entkommen aus dem Hotelzimmer

Das Leben der Ethnien im Süden

Besuch bei alten Bekannten

Am Jade-Drachen-Schneeberg

Hundeliebe

Sun und das Glück des Optimisten

Klöster und Mönche unter staatlicher Fuchtel

Glücklich, wieder selbst Gas geben zu können

Die Badain-Jaran-Wüste – Dünen zwischen Seen

Die flammenden Berge

Ein Weltwunder, so unscheinbar

Chinesen und der Alkohol, eine unheilige Allianz

Eine Welt, gänzlich vegetationslos – Chinas versalzene Wüsten

Zurück in das tibetische Hochland

Neue Grenzziehungen bedrohen unser Projekt

Die Quelle des Jangtsekiang – problemlos zugänglich

Epilog

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Bei meiner Ankunft in Shanghai stehen die Kirschbäume in voller Blüte.
Ich nehme das als Einladung ins Reich der Mitte.

Prolog

Es geht los! Bitte Sicherheitsgurt anlegen! Die Stewardess schließt die Bordtür, legt den Hebel um und bereitet sich darauf vor, den Passagieren die Sicherheitsvorkehrungen zu erklären. Aus den Lautsprechern tönt es lapidar: „Boarding completed.“ So beiläufig, als lauschten wir einem Selbstgespräch des Piloten. Einige der chinesischen Passagiere haben offenbar nur auf diesen Satz gewartet, für sie ist dies der Startschuss. Was jetzt passiert, bringt mich zum Staunen und erinnert an die Reise nach Jerusalem, das beliebte Spiel mit den Stühlen: Überall in der Kabine springen Männer auf, hechten auf die frei gebliebenen Sitzreihen und besetzen gleich noch den Nachbarsitz mit Gepäck. Zwei Fliegen haben sie mit einer Klappe geschlagen: Sie haben dem Partner und sich selbst für die nächsten zehn Stunden etwas mehr Bewegungsfreiheit verschafft. Bekomme ich hier gerade einen kleinen Einblick in die chinesische Mentalität? Und kann es sein, dass ich das von irgendwoher kenne? Mir fallen nämlich die Handtücher der deutschen Urlauber auf mallorquinischen Stränden ein …

Auch auf einem der drei Plätze, die neben mir frei geblieben sind, hockt nun ein Chinese mit beseelter Miene. Dafür kann ich jetzt meine Füße nicht mehr hochlegen. Aber das ist okay. Ein gesunder Egoismus ist auch mir nicht fremd. Schließlich habe ich selbst beim Check-in darum gebeten, dass die beiden Plätze neben mir freigehalten werden. Aber den ganzen Platz, den er sich gesichert hat, kriegt der Mann nicht umsonst! Er wird dafür zahlen, und zwar in Form einer Unterhaltung. Er soll mir sein Land erklären. Das nehme ich mir fest vor. Er ist eines der Schafe in der Reiseherde, die etwas orientierungslos direkt nach mir das Flugzeug stürmten. Mit einem Lächeln schaut er zu mir herüber, was so ziemlich alles bedeuten kann. Ich beschließe, es für ein glückliches, zufriedenes Lächeln zu halten. Und lächele vieldeutig zurück. Leider muss ich ihm den geräumten Platz für einen Spottpreis überlassen. Denn für mehr als die Nennung der Städte, die er im Gefolge seines Trupps in Europa durchlaufen hat, reichen seine Englischkenntnisse nicht aus. Unsere Smartphones mit Sprach-App zu benutzen verbietet die strenge Stewardess.

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Schon auf meiner ersten Chinareise 1986 habe ich die Hilfsbereitschaft der Chinesen schätzen gelernt.

40 Kilo Übergepäck

Es war eine echte Herausforderung, das Personal am Check-in davon zu überzeugen, dass all die Metallteile, das Handbike und der Inhalt der übrigen Koffer und Taschen als notwendige medizinische Hilfsmittel zu deklarieren sind. Am Ende habe ich keinen Cent für das Übergepäck zahlen müssen.

Unter mir im Gepäckraum fliegen nun 80 Kilo Equipment mit. Darunter mein Rollstuhl (den ich später motorisiere) mit integrierter Toilette in Form eines Lochs im Sitz. Chinesische Klosetts können für uns Europäer zu einer Herausforderung werden, zumal für den, der nicht stehen oder hocken kann. Der Durchlass im Rolli-Sitz hat mich schon oft gerettet, wenn ich mal musste und weit und breit kein adäquates Klo zu finden war. Ganz wichtig, der integrierte Wagenheber, der mich samt Rolli um einen Zentimeter liftet und es so ermöglicht, mit einem Handgriff die großen Räder für Reparaturen zu lösen oder einen negativen Sturz, also schräg stehende Räder, deren Spur unten breiter ist, für mehr Seitenstabilität und Kippsicherheit bei hohen Geschwindigkeiten einzustellen. Einen Elchtest würde mein Rolli unbeschadet überstehen. Der Wagenheber, versehen mit zwei Rollen, sichert mir auch ohne Räder ein Fortkommen. Bei einem sensationellen Minimalmaß von 40 Zentimeter Breite sind enge Toilettentüren sowie Gänge in Bahn und Bus problemlos passierbar.

Sollte der Sprit ausgehen, kann ich das Handbike jederzeit manuell bedienen. Ein Koffer beinhaltet schwere Maschinenteile wie Kette, Ritzel, Antriebsachse, Kugellager und Ähnliches. Ein weiterer großer Rollkoffer ist gefüllt mit lebensnotwendigen medizinischen Hilfsmitteln, ohne die meine Nieren innerhalb von drei Tagen ruiniert wären. Doch all das wird nur Beiwerk sein. Als wichtigstes Hilfsmittel habe ich die 1,4 Milliarden Bewohner dieses riesigen Landes im Blick.

Wenn es nach dem Ruf gegangen wäre, der den Chinesen vorauseilt, rücksichtslose Egoisten zu sein, hätte ich mir mit meinem Rollstuhl wohl ein anderes Land auswählen müssen. Ohne ihre Hilfe werde ich keinen Bürgersteig und keine Treppenstufen überwinden, ja, nicht einmal dieses Flugzeug verlassen können. Was, frage ich mich, hat mich bloß geritten, dieses Land durchqueren zu wollen und mich von der Hilfsbereitschaft eines Volkes abhängig zu machen, von dem behauptet wird, seine öffentliche Moral sei eher schwach ausgeprägt. Natürlich weiß ich, nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird, und kein Volk der Erde ist so schlecht wie die Vorurteile, die über es im Umlauf sind. Aber kann ich mir da sicher sein? Darauf bin ich gespannt. China wird mich fordern.

Schon einmal plagten mich solche Gedanken. Im Mai 1986, als ich auf der Reling der Hai Da, halb Passagierschiff, halb Frachter, saß und in den Hafen von Shanghai einlief. Damals war die Skyline von Shanghai die Uferpromenade The Bund. Wo all diese beeindruckenden Kolonialgebäude stehen. Zu dem damaligen Zeitpunkt hatte ich schon zehn asiatische Länder „on the shoestring“, also mit sehr knappen Mitteln, hinter mir und jeden, der mir auf dem Banana-Pancake-Trail entgegenkam, über China ausgequetscht. Sorgen machten mir die Unkenrufe all der Backpacker, die über das rüpelhafte Benehmen der Chinesen klagten und mir dringend davon abrieten, auf die Hilfsbereitschaft dieses Volkes zu hoffen. Die ersten Zweifel an deren vorgefassten Meinungen kamen mir schon beim Verlassen der Hai Da. Einer der Matrosen hatte mich fürsorglich über die Waibaidu-Brücke bis zum Nanjing Hotel, meiner damaligen Unterkunft, schieben wollen. Es war nicht leicht, ihn davon zu überzeugen, dass mir das auch allein gelingen wird. Hatten die Rucksacktouristen nur dramatisiert? Zuversichtlich rollte ich damals am The Bund entlang und ließ meine Chinareise durch den Clock Tower mit seiner Melodie einläuten.

Jetzt stehe ich wieder hier. Die Glocken spielen noch immer dieselbe Melodie, aber abgesehen von den Gebäuden der ehemaligen Kolonialmächte ist hier nichts mehr so, wie es einst war. Hatte ich damals dem The Bund gegenüberliegenden Ufer mit seinen grauen Industrieanlagen kaum Beachtung geschenkt, kann ich nun meinen Blick vor Staunen nicht davon abwenden. Wie alarmierende Zeigefinger weisen dort in Pudong drei durchschnittlich 500 Meter hohe Wolkenkratzer in den Himmel. Als eine Mahnung an die Weltmächte: „Schaut her, die Zeit der Schmach von kolonialer Unterdrückung ist vorbei. China wird die Führung übernehmen.“ image

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Vor 30 Jahren bestand Pudong aus grauen Industrieanlagen, heute erhebt sich dort Chinas Finanzzentrum. Das ehemalige Zollhaus der Briten stammt aus dem Jahr 1927. Die Glocken im Turm wurden in England gegossen.

Abgezockt

Als sollte ich büßen für das, was dem chinesischen Volk von den Europäern und meinen Vorvätern angetan wurde, gerate ich schon am zweiten Abend in Shanghai in die Falle. Im 18. und 19. Jahrhundert nannte man es „Shanghaien“, wenn sich Matrosen nach einer durchzechten Nacht in Hafenspelunken zwangsrekrutiert in der Koje eines Frachters auf hoher See wiederfanden. Heute finden sich Touristen, die auf ein schnelles Abenteuer aus waren, mit leeren Taschen auf der Polizeistation wieder. Ich kenne alle Tricks der Welt, wie Touristen über’s Ohr gehauen werden. Bei den Recherchen hatte ich noch hochmütig gelächelt, als ich von den Warnungen las, bloß nicht den Schleppern in der Nanjing Road in die Massagesalons zu folgen. Dort werden einem K.-o.-Tropfen in den Whisky gemixt und den Rest kann man sich ausmalen. Nein, so etwas könnte mir nach meinen unzähligen Reisen durch Asien nicht mehr passieren. Ha ha. In Shanghai muss ich erneut kostenpflichtig in die Lehre. Vielleicht habe ich mich auch einfach zu sicher gefühlt, weil keiner der Schlepper, die in der Nanjing Road ganz offensichtlich auszumachen waren, an mir Interesse hatte.

Meine Aufnahmen von der Skyline sind für heute im Kasten, der Glockenturm läutet 18 Uhr ein und schon meldet sich mein Magen. Jetzt was essen. Lilly nennt sich die kleine Kanaille; sie interessiert sich für das, was ich da mit meinem Stativ und der umfangreichen Fotoausrüstung treibe. Sie ist 23, charmant, zurückhaltend und sieht freundlich aus. Einfach eine sympathische Type. Das hat mich blind gemacht für die Inszenierung dieses scheinbar zufälligen Zusammentreffens, als sei es im Vorbeigehen geschehen. Eine gute Falle erkannt man eben erst, wenn sie zuschnappt. Statt misstrauisch zu sein, passt es mir eigentlich ganz gut, ein unverfängliches Gespräch zu führen mit einer Person, die Englisch spricht. Viele gibt’s ja nicht von der Sorte. Und deswegen habe ich nichts dagegen, gemeinsam ein kleines Restaurant aufzusuchen. Warum auch nicht, schließlich bin ich hier, um China zu verstehen, und was kann mir Besseres passieren als jemanden zu treffen, der mir China erklärt. Sie wird mir in der Tat China erklären, allerdings nicht so, wie ich mir das vorstelle.

Noch ist alles im grünen Bereich. Nein, Lilly sei nicht der Name, mit dem ihre Eltern sie rufen. In China gibt sich jeder, der etwas auf sich hält, auch einen europäischen Namen. Aya steht in ihrem Pass, sagt sie auf unserer Suche nach einem Restaurant, und das bedeutet, die Heilige. Darüber muss ich zwei Stunden später bitter lachen. Sie kommt aus Sichuan und besucht ihre Schwester, die hier studiert. Die sei im Moment aber noch in der Uni, und so will die Heilige ihr Englisch trainieren und freut sich, dass ich mir dafür die Zeit nehme. Sie kennt da ein Restaurant, nicht teuer, in dem westliches Barbecue serviert wird. Ich hätte lieber chinesisch gegessen, aber darauf geht sie nicht ein.

Ein wenig wundert es mich, dass sie an allen ebenerdigen Restaurants vorbeigeht. Stattdessen stehen wir nun vor zehn Stufen auf der Suche nach kräftigen Männern, die mir hinaufhelfen könnten. Das geht erstaunlich fix. Leicht stutzig macht es mich auch, dass meine Begleitung zielsicher einen ganz bestimmten Tisch ansteuert, obwohl die Auswahl groß ist. Jeder Mensch würde erst einmal kurz stehen bleiben und sich einen Überblick verschaffen. Meine größte Dummheit ist, dem Fehlen jeglicher Preisangaben auf der Speisekarte keine Beachtung zu schenken. Stattdessen beurteile ich die Preisklasse aufgrund des Interieurs und der einfachen Kleidung der übrigen Gäste hier. Nein, das wird nicht teuer sein. Erst als Lilly für uns ein Glas Wein nach dem anderen bestellt, die Fleischspieße nur anknabbert und gleich neue ordert, frage ich nach den Kosten. Da ist es fast zu spät. Schon sind 800 Yuan aufgelaufen, gut 100 Euro. Ich ziehe die Reißleine, denn wer das alles bezahlt, ist mir klar. „Du steckst mit dem Personal hier unter einer Decke“, sage ich ihr ins Gesicht. Mein Vorwurf überrascht sie nicht im Geringsten, als hätte sie längst damit gerechnet. Unschuldige würden aufgebracht protestieren, Lilly dagegen kaut erst einmal zuende, bevor sie alles abstreitet. Ihr jungfräuliches Lächeln lässt mich für einen kurzen Augenblick zweifeln. „Heilig ist nur dein Name“, werfe ich ihr vor, zahle mein Lehrgeld und lasse sie sitzen. Wieder bin ich um eine teure Erfahrung reicher. Klar, 800 Yuan schmerzen, aber ich staune auch über die Schläue dieser Füchsin und meine Blauäugigkeit. Immerhin liege ich nicht von K.-o.-Tropfen meiner Sinne beraubt in einer dunklen Seitengasse. Das ist doch auch was wert. image

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Der Jinmao Tower, das Shanghai World Financial Center und der Shanghai Tower, die drei Stars in der Skyline der Stadt. Die Nanjing Road in Shanghai ist eine riesige Fußgängerzone mit Edelboutiquen und teuren Restaurants. In den Hinterhöfen haben sich rot beleuchtete Massagesalons angesiedelt.

Shanghais Stadtgott und Konfuzius

Was ist den Chinesen eigentlich heilig und was ist mit Religion hier? Da gibt es den Stadtgott in Shanghai. Götter in China? Das klingt interessant. Dieser Gott wohnt im Cheng Huang Miao Tempel. Der Weg zu ihm führt durch ein Labyrinth von Shops, die religiösen Tand verscherbeln. Ein Spießrutenlauf, der mich an einen Spaziergang durch die Souks von Marrakesch erinnert. Gott des Kommerzes hätten sie ihn nennen sollen, hier zwischen dem Ramsch, den kein Mensch braucht, der aber Unmengen von Shoppern anzieht. Am Tempeleingang kostet der Eintritt zehn Yuan, ungefähr 1 Euro 30, das ist nicht viel und ich darf hinein. Niemand fragt mich nach meinen Schuhen oder nach meiner Religion, niemand weist mich ab, weil ich als vermeintlicher Christ unrein wäre oder mein Rollstuhl unter mir diesen heiligen Ort beschmutzen könnte. Wer zahlt kann rein. Das finde ich gut, freier Eintritt wäre besser. Meine Erfahrungen in Hindutempeln, Moscheen oder buddhistischen Heiligtümern waren häufig ganz andere. Der Stadtgott von Shanghai ist eigentlich gar kein Gott, sondern eher so etwas wie ein Schutzheiliger, der die Stadt und ihre Menschen vor Unheil bewahrt.

Er repräsentiert den Taoismus, neben dem Buddhismus und dem Konfuzianismus eine der drei Lehren in China. Rummel herrscht auch hier im Innenhof des Tempels, aber ohne Kommerz. Die geschwungenen Dächer der umliegenden Gebäude befriedigen alle Klischees chinesischer Architektur: schön, von Drachen bewehrt und mit Schlangen auf dem First. So wie es Touristen lieben. Die sind überwiegend chinesischer Herkunft. Einige wenige unter ihnen scheinen wirklich gläubig zu sein und schwenken Bündel von Räucherstäbchen. Der Rest teilt sich in Smartphone-Fotografen und möglichst niedlich dreinschauende Fotomotive. Das Victory-Zeichen fehlt dabei niemals. Als wolle man der Welt zurufen: Wir werden siegen.

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Der traditionelle Baustil ist durch geschwungene Dächer geprägt. Dachreiter sollen das Haus und seine Bewohner vor allem Bösen schützen. Auf vielen Dächern findet sich an erster Stelle der Hahn mit Reiter, ein taoistischer Heiliger.

Die Lehren des Konfuzius erleben nach den Zerstörungen in der Mao-Ära eine Renaissance. Der Stadtgott von Shanghai, Cheng Huang Miao, ist Beschützer der Metropole. Taoistische Mönche im Gebet vor dem Stadtgott. Schüler und Studenten wünschen sich Beistand von Konfuzius bei ihren Prüfungen.

Aber wo ist denn nun der Gott? Will ich ihn sehen, muss ich ins Heiligtum. Immer dem Gesang der Mönche nach. Aus dem Innern des zentralen Gebäudes klingt ein harmonischer Männerchor, begleitet von Trommeln und der Dizi. Diese typisch chinesische Querflöte, deren hoher Klang augenblicklich chinesische Felslandschaften mit knorrigen Kiefern, dichte Wälder und rauschende Wasserfälle vor mein inneres Auge projiziert. Ich werde wie magisch angezogen. Vier Stufen und eine monströse Schwelle fordern mich. Es gibt Situationen, in denen ich sämtliche Skrupel, fremde Menschen um Hilfe zu bitten, über Bord werfe. Wenn es mir wichtig ist. Ja, selbst nach so vielen Jahren im Rollstuhl wäge ich noch immer ab. Hier gibt es nichts zu zweifeln, ich muss da hinein. Wer jetzt in den Tempel will, geht nicht ohne mich. Aber was ist das? Von allen Seiten stürzen kräftige Männer auf mich zu, drängeln sich gegenseitig weg, nur um selbst helfen zu dürfen. Dabei habe ich noch gar nicht gefragt. Was ist bloß mit den Chinesen passiert? Bevor ich auch nur einem von ihnen erklären kann, wo der Rolli am besten zu packen ist, bin ich drin. Und wie viel Freude sie dabei haben! Direkt rührend. Wo ist die darwinistische Einstellung geblieben, die Chinesen angeblich zu ruppigen Egoisten werden lässt? Na gut, eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Ich bin gespannt, wie diese Reise mein Bild von den Chinesen verändern und prägen wird.

Das ist also der Stadtgott von Shanghai. Eine sitzende, etwa acht Meter hohe Statue, in Gold gefasst, mit vor der Brust gekreuzten Händen. Sein langer Oberlippenbart bedeckt Mund und Kinn. Mit den erröteten Wangen, den hohen Augenbrauen und dem traurigverträumten Blick in die Ferne erscheint er mir wie ein Herrscher, der die Lust am Regieren verloren hat. Diese betrübte Figur hat nichts Göttliches. Das soll sie aber auch nicht. Im Taoismus ist es weniger die personale Gottheit, als deren Funktion, die als göttlich verehrt wird.

Für Laozi, den Begründer dieser Philosophie, bleibt alles im Wandel. Nicht in den Lauf der Welt eingreifen, sondern sich den Gegebenheiten anpassen und darauf reagieren, führt zu dauerhaftem Glück. Vor den Füßen des Stadtgottes kauern circa 30 blau gekleidete Mönche, rezitieren Gebete, verneigen sich und singen im Chor, um Geist und Körper in Harmonie zu bringen. Für die meisten der Personen, die sich hier aufhalten und ihre Smartphones schwenken, ist dieser Ort nur ein Stopp von vielen auf ihrer Sightseeing-Tour durch Shanghai. So auch für mich, den Ungläubigen.

37 Jahre Reisen durch Hinduismus, Islam, Christentum und viele buddhistische Länder haben mich unreligiös werden lassen. Dabei wollte ich als Kind sogar Pastor werden. Pastor oder Gastwirt. In der Kirche, zwei Hausnummern weiter, fand ich Ruhe und Frieden vor der Disharmonie zu Hause und dem Geschrei meiner Eltern. War die Kirche kalt und leer, flüchtete ich in die Gastwirtschaft Pries, zwei Hausnummern in die andere Richtung. Nachdem ich dort in der Kneipe meinen kindlichen Wunsch geäußert hatte, eines Tages die Wirtstochter zu heiraten, war ich stets ein gern gesehener Gast und wurde mit Limonade verwöhnt. Nach der Scheidung meiner Eltern und dem Umzug in eine andere Wohnung mit unserer Mutter, kehrte langsam wieder Ordnung in mein Leben und das meiner Geschwister ein. Kirche und Kneipe gerieten aus meinem Focus. Pastor und Wirt haben mich seitdem schmerzlich vermisst. Als ich mit 22 auf einer Backpackerreise den Hinduismus in Indien sah, kam erstmals der Gedanke auf, dass die gläubige Menschheit einer riesigen Scharlatanerie aufsitzen könnte, die, als Religion verkleidet, dummen Schafen für viel Geld Seelenheil verkauft. Der indische Bauer, der dem Priester im Tempel einen Teil seiner knappen Ernte überließ, entpuppte sich in meinen Augen als ein armer Wicht. Ebenso der von seiner Nagelbombe zerfetzte Weltverbesserer, dem weisgemacht wurde, dass die zweiundsiebzig Jungfrauen im Himmel toll fänden, was er da angestellt hat, und nun auf ihn warten würden.

Papst Urban II befahl Mord und Totschlag auf den Kreuzzügen als Gegenleistung für die Vergebung aller Sünden und wagte noch zu behaupten: „Gott will es so.“ Welche Idiotie. Selbst die angeblich so friedliebenden Buddhisten sind keine Engel. Ätzend rassistisch können sie sein, wie der Mönch Wirathu in Myanmar, der mit Hasspredigten das Volk gegen die Rohingyas aufstachelt.

Wer Mönchen Speisen opfert, sammelt gutes Karma. In China wurden schon im 9. Jahrhundert sämtliche ausländischen Religionen verboten. Man besann sich auf die Lehren des Konfuzius. Seine Schriften prägten bereits zu diesem Zeitpunkt über Jahrhunderte das soziale Gefüge und die Staatsdoktrin in China. Bis heute. Selbst Maos Schergen konnten daran nicht viel ändern. Wurden während der Kulturrevolution viele Konfuziustempel geschlossen oder gar zerstört, finden sich heute überall Orte, an denen man sich an seine Lehren erinnert. Also auf zum Konfuziustempel in Shanghai.

Mir wird keine Zeit gelassen, mich vom Stadtgott zu verabschieden. Schon sind sie wieder da, die fleißigen Hände, die ungefragt den Rolli unter mir packen. Es sind Leute vom Aufsichtspersonal und chinesische Touristen, die hastig ihr Smartphone verstauen, um beide Hände frei zu haben. Nur die Mönche, die zur selben Zeit den Tempel verlassen, schauen unbeteiligt zu.

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Im Glauben, dass böse Geister hohe Schwellen nicht überschreiten können, sind alle Tempel mit hohen Barrieren ausgestattet. Die Hilfsbereitschaft der Chinesen macht das wett.

Ich versuche es mit der Metro. Viele Hoffnungen auf einen barrierefreien ÖPNV habe ich nicht, zumal sich kaum Rollifahrer auf den Straßen zeigen. Aber Shanghai überrascht mich schon wieder. Ich finde einen Aufzug, versteckt hinter den Treppenabgängen zur Metro. Deutlich schwieriger ist es, in der Wenmiao Street den Tempel zu entdecken. Zwei Mal rolle ich am Hoftor vorbei, ohne es zu bemerken. Spielt Konfuzius doch nicht so eine wichtige Rolle? Nach einer Weile habe ich den Hof gefunden, in dem ich den großen Lehrmeister in Stein gehauen sehe. Es ist keine Menschenseele da. Aus 30 Metern Entfernung blickt er mich mit gütigen Augen und einem Lächeln an. Er trägt einen wallenden Umhang, die Hände hält er vor sich gekreuzt. Ohne einen Hauch von Religiosität. Ich wusste, Konfuzius wird mir gefallen. Er steht direkt vor der Eingangstür des Tempels auf einem Sockel. Langsam rolle ich zu ihm hinüber und genieße es, mit jedem Meter mehr Details wahrzunehmen. Auf dem Kopf trägt er eine Art Kappe, sein Gesicht dominiert ein langer Bart. Mit seiner gebeugten Haltung, den übereinander liegenden Händen und dem Gehstock, den er sich scheinbar nachlässig unter den Arm geklemmt hat, kommt er mir so vor, als wolle er mich in seinem Haus willkommen heißen. Die Einladung kann ich leider nicht annehmen, denn außer der alten Frau, die die Wege um den Tempel fegt, ist niemand da, dem ich meine 80 Kilo Gewicht plus Rolli zumuten könnte. Ich begnüge mich mit dem, was geht. Links und rechts von Konfuzius entdecke ich zwei überdachte Regale voller roter Schleifen an denen jeweils gelbe Zettel hängen. Sie sind allesamt mit Schriftzeichen versehen. Ich muss eine Weile suchen, bis ich etwas entziffern kann. In einer Mischung aus Englisch und chinesischen Schriftzeichen hat da jemand seine Wünsche an ihn gerichtet. Gute Noten werden erbeten, Sicherheit, Glück und Gesundheit. Später verfahre ich, dass viele Schüler und Studenten vor wichtigen Prüfungen, die sie für weiterführende Schulen qualifizieren, den großen Gelehrten um seine Unterstützung bitten. In dem kleinen Garten mit einem Teich voller fetter Goldfische google ich Konfuzius. Lese, dass der berühmte Satz „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu!“ dem gelehrten Philosophen zugeschrieben wird. Und dass er damit seinem Wunsch nach einer moralisch vollkommenen Gesellschaft Ausdruck verleihen wollte. Guter Mann! image

Ein Volk von Einzelkindern

Tags darauf begebe ich mich in den Renmin-Park, die große Grünanlage in Shanghai, die dem Volke gewidmet ist. Ich hatte von einem Heiratsmarkt gehört, der jedes Wochenende stattfindet. Schon die Menschenmassen am Eingangstor lassen erahnen: Hier werden Geschäfte gemacht. Es sind allerdings Geschäfte, die bedrücken, denn es geht um die sogenannten „Restefrauen und Restemänner“, die Zurückgebliebenen und die traurigen Nebenwirkungen der Ein-Kind-Politik. Wurde das Bevölkerungswachstum in China über Jahrhunderte durch riesige Naturkatastrophen und Hungersnöte reguliert, gab es Mitte des 20. Jahrhunderts einen beängstigenden Anstieg der Bevölkerung. 1980 sah sich die Regierung gezwungen, mit Gesetzen einzugreifen. So sind in den meisten chinesischen Familien in den letzten 35 Jahren Kinder ohne Geschwister herangewachsen und das waren mehr Jungen als Mädchen. Da nach konfuzianischer Lehre der Bestand der Familie einen hohen Stellenwert hat, jede Familie aber nur noch ein Kind haben durfte, fanden sich immer Mittel und Wege, eine Schwangerschaft abzubrechen, so lange, bis ein Stammhalter zur Welt kam. Dadurch fehlen heute schlichtweg die Frauen und das Volk ist stark überaltert.

Es ist grotesk, was ich sehe, und es bestürzt mich. Man könnte zunächst den Eindruck bekommen, hier werden Regenschirme verkauft, Tausende sind es. Aber sie dienen nur als Pinnwand für die Kontaktdaten, da Stände und Tafeln nicht erlaubt sind. Regenschirme sind unverfänglich und keine Staatsführung kann sie verbieten. Da ist er wieder, der chinesische Pragmatismus, wie Laozi schon sagte, nicht gegen Windmühlen kämpfen, sondern geschmeidig sein, sich den Gegebenheiten anpassen und darauf reagieren.