Cover
U. D. Müller-Braun
Das Auge des Adlers
Ein Eintracht Frankfurt-Krimi
Alle Rechte vorbehalten · Societäts-Verlag
© 2019 Frankfurter Societäts-Medien GmbH
Satz: Bruno Dorn, Societäts-Verlag
Umschlaggestaltung: Müller-Braun, Societäts-Verlag
Umschlagabbildung: shutterstock/fotolia
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
ISBN 978-3-95542-366-7

PROLOG

Ich konzentriere mich auf das Ticken der Wanduhr mir gegenüber. Unter ihr sitzen meine Eltern auf langen alten Holzbänken.
Während meine Mutter immer wieder unruhig hin und her rutscht und sich permanent das Taschentuch auf die tränennassen Augen drückt, hat Papa dieselbe Haltung wie immer angenommen. Stramm, gerade … stark. So wie er es mir schon als Kind eingebläut hat.
Das hier ist keine Ausnahme. Es ist nur die Spitze des Eisberges. Das Ende einer langen Odyssee von immer wiederkehrenden Gerichtsverhandlungen wegen kleiner Vergehen. Und trotzdem ist das hier etwas anderes. Ich lese es in den geröteten Augen meiner Mutter und dem Zucken der Lider meines Vaters. Aber vor allem kann ich es in mir selbst lesen und spüren. In meiner Seele. Denn alles, was einst nur dumme Jugendstreiche waren, ist mit dem Tag vor zwei Monaten zu einer anderen Dimension herangewachsen. Einer grausamen, brutalen, die mein Leben für immer verändert hat.
„Zeuge Klemm, bitte“, sagt eine Frau, schon während sie die riesige alte Holztür aufschiebt und ihre bebrillten Augen über die Bänke wandern lässt. Ich werfe einen letzten Blick auf die kleinen Zeiger und dann hinunter auf meine Eltern. Sie hatten die Wahl, hier zu bleiben und zu warten oder dem Gerichtsverfahren beizuwohnen. Ich bin froh, dass sie sich dazu entschieden haben, nicht mit in den Gerichtssaal zu kommen, denn so würde ich nicht auch sie anwesend wissen müssen, wenn ich unter Eid lüge.
Dass ich hier nur als Zeuge aussagen muss und nicht etwa auf der Anklagebank sitze, habe ich Mic zu verdanken. Michael, meinem besten Freund.
Ich sammle mich, stehe auf und folge der kleinen Frau in den Gerichtssaal. Hinein in Wellen von Blicken, die mich nackt und schuldig zurücklassen. Hinein in den Saal, der nicht nur Mics, sondern auch mein Verderben besiegeln würde. Wie auch immer man es dreht und wendet. Keiner von uns wird je wieder der Alte sein.
„Setzen Sie sich, Herr Klemm!“, sagt der Richter und deutet mit seinen Augen auf einen Stuhl, der mir wie ein riesiges Podest vorkommt. Wie ein Pranger, der mich entlarven wird. Als Feigling, Monster … als Lügner.
„Nennen Sie uns bitte Ihren vollen Namen, Ihren Beruf und Ihren Familienstand.“
„Mein Name ist Severin Klemm. Ich bin ledig und Student der Germanistik“, sage ich tonlos, beinahe wie auswendig gelernt. Oder so, als würde man ein Tonband abspielen.
„Sind Sie mit den hier Angeklagten verwandt oder verschwägert?“
Ich schlucke hörbar in diese bedrückende Stille hinein und wage kurz einen Blick auf meinen besten Freund Mic. Neben ihm sein Anwalt, den mein Vater ihm besorgt hat, und noch weiter daneben Kevin und seine Anwältin. Ein Schauer läuft mir über den Rücken.
Mic trägt ein ausgeleiertes, verblichenes Hemd und eine schlechtgebundene Krawatte, während Kev stolz sein Eintracht-Trikot präsentiert.
Ich selbst habe meinen besten Anzug angezogen – so wie es mir mein Vater beigebracht hat.
„Nein“, antworte ich und wende meinen Blick wieder den stahlblauen Augen des Richters zu.
„Schwören Sie, die Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit?“
„Ich schwöre“, gebe ich knapp zurück. So knapp es möglich ist.
Der Staatsanwalt erhebt sich und durchbohrt mich beinahe mit seinen Blicken.
„Den hier Angeklagten wird vorgeworfen, am Abend des 16. Februar 2008 am Spielplatz in der Hans-Sachs-Allee in Rostock einen Mann angegriffen und körperlich schwer verletzt zu haben.“ Er betätigt eine kleine Fernbedienung, und schon bevor ich auf die Leinwand sehe, weiß ich durch die Reaktionen im Saal, welches Bild mich erwarten wird. Mein Kiefer verkrampft sich, während meine Augen nur verschwommen und erst nach und nach das Bild des zugerichteten Mannes wahrnehmen.
„Laut Aussagen des Zeugen Michael Lampert und Überwachungsvideos von Ihrer Flucht zum Bahnhof Holbeinplatz waren Sie anwesend, haben aber einen Krankenwagen gerufen und sich dann von den Tätern entfernt.“
Mein Blick verengt sich, während sein Finger weiter auf der Fernbedienung herumdrückt, als würde er damit in einer offenen Wunde herumstochern. Immer mehr Bilder prasseln auf mich ein und lassen meine Stimme heiser und rau klingen.
„Entspricht das der Wahrheit, Herr Klemm?“
„Ja“, sage ich wieder so knapp wie möglich und schließe sofort wieder meinen Mund, um meine Zähne schmerzhaft zusammenzupressen. Wirklich gelogen war das nicht.
„Trotzdem sind Sie, Herr Klemm, laut Aussagen mit den beiden Angeklagten um die Häuser gezogen und anschließend mit ihnen geflohen, statt Erste Hilfe zu leisten. Ist das korrekt?“
In meinem Kopf beginnt sich alles zu drehen. Ich weiß, dass das hier nur der Anfang ist. Dass auch ich noch bestraft werde. Aber mit Sicherheit erwartet mich nicht die Strafe, die ich verdient habe.
„Der Mann, den Ihre Freunde zusammengeschlagen haben, hat sehr schlimme Kopfverletzungen davongetragen. Und da hat es Ihrer Meinung nach gereicht, zu sagen, sie sollen es doch bitte lassen?!“, ruft der Staatsanwalt durch den Raum.
„Einspruch, Herr Vorsitzender!“, meldet sich Mics Anwalt zu Wort, woraufhin der Richter nur ein „Stattgegeben“ erwidert.
„Sie drei sind bekanntermaßen die jüngsten Mitglieder der sogenannten Eintracht Eagles, eines Hooligan-Clubs. Hatte die Tat etwas damit zu tun?“
„Sie wussten nicht, dass –“
„Ich bitte Sie, Herr Klemm! Der Mann trug die volle Hansa-Rostock-Montur! Erzählen Sie mir nicht, Sie hätten nicht gewusst –“
„Einspruch! Dem Zeugen werden Aussagen in den Mund gelegt!“
„Stattgegeben.“
Meine Brust beginnt bitter zu brennen, während ich wieder einen raschen Blick auf meinen besten Freund werfe. Mic kommt aus ärmlichen Verhältnissen. Er hat nach seinem Hauptschulabschluss die Schule verlassen und lebt nun seit einigen Jahren von kleinen Jobs. Nur deshalb hat er entschieden, den Kopf für mich hinzuhalten. Er hat gesagt, meine Zukunft sei es, ein glorreicher Journalist zu werden, der in Kriegsgebieten vor der Kamera steht. Der die Machenschaften im Fußball aufdeckt und noch so vieles mehr. Er hat immer mehr an mich geglaubt als jeder andere. Und deshalb macht er das hier. Dabei wäre es nun an der Zeit aufzustehen und die Wahrheit zu sagen. Die Schuld auch auf mich zu nehmen. Oder vielleicht sogar nur auf mich, damit Mic eine Chance hat, aus diesem Sumpf herauszukommen.
Aber das tue ich nicht. Und auch Mic tut nichts. In diesem Moment schwöre ich mir, nie wieder auch nur einen Fuß in die Eintracht-Hooligan-Szene zu setzen.
Die Faust des Staatsanwalts landet unsanft auf dem Tisch und lässt mich zusammenzucken.
„Herr Klemm!“

1

FREITAG, 19. OKTOBER 2018, 20.10 UHR

SEVERIN

Nächster!“
Ich sehe mich unruhig um. Es sind weder der Lärm noch die vielen Menschen, die mich so höllisch nervös machen. Nein, es ist mein eigenes Ich. Ein Ich, das ich eigentlich vor langer Zeit begraben habe. Ein vergangenes Ich, das, so oft ich es auch versucht habe mir einzureden, noch zu mir gehört.
Mir schießt ein Seminar aus der Uni durch den Kopf. Mein Zweitfach war Philosophie, und ein Kommilitone bestand während einer hitzigen Debatte darauf, dass man sich nie ganz von seiner Vergangenheit trennen könne. Er war der Überzeugung, dass man sie annehmen müsse, um der Mensch zu sein, der man sein will. Ich hielt damals vehement dagegen, obwohl ein Teil von mir genau wusste, dass er recht hatte und ich es einfach nicht wahrhaben wollte.
„Bestellen Sie jetzt was?“, brummt ein bärtiger alter Mann hinter mir, die Eintracht-Kappe tief ins Gesicht gezogen, und schubst mich unsanft nach vorne.
„Wirklich freundlich“, nuschle ich zurück und atme genervt ein, als mich die Augen der Rothaarigen hinterm Tresen beinahe zu durchbohren drohen. „Eine Bratwurst … im Brötchen. Bitte“, gebe ich halbherzig meine Bestellung auf und beobachte, wie sie eine der Würste in ein Brötchen schiebt und mir reicht. „Senf steht dahinten.“
Ich habe keine Lust auf weitere Kommunikation und schon gar nicht auf unfreundliche Begegnungen, also nicke ich nur. Ich will einfach nur meinen Job machen und wieder nach Hause fahren.
Als ich jedoch gerade mein Brötchen genommen und der Frau ihr Geld in die Hand gedrückt habe, schiebt sich ein stämmiger, großer Mann an mir und dem Bärtigen vorbei und rammt mich regelrecht gegen die Theke, sodass mir das Brötchen aus der Hand gleitet und auf den Boden fällt. Na klasse.
„Können Sie nicht aufpassen?“, dringt die monotone Stimme der Wurstverkäuferin an meine Ohren. Wut kocht in mir hoch, doch ich wende mich mit der mir wohlbekannten Mischung aus Zorn und Verschämtheit ab und sehe dem Mann hinterher. Trägt er etwa die gelbe Weste der Ordner, die um diese Zeit längst irgendwo in der Arena nach dem Rechten sehen oder an den Eingängen die Zuschauer kontrollieren sollten? Ich war zu lange nicht hier, weshalb ich meine Augen zusammenkneife, um die Beschriftung erkennen zu können. SECURITY. Ganz eindeutig einer der Ordner, aber was macht er hier draußen zwischen all den johlenden Fans? Ist etwa irgendetwas passiert, oder warum hat er es so eilig, dass er Zuschauer ihres Abendessens beraubt? Könnte natürlich aber auch sein, dass ich heute eine fette Aufschrift auf dem Rücken trage, man solle mich doch bitte ein wenig herumschubsen. Würde zu mir passen.
Ich verenge nachdenklich meinen Blick, lasse meine Augen noch ein letztes Mal über die unglaublichen Menschenmassen hier hinter der Haupttribüne wandern, bevor ich mich dazu entschließe, ihm nachzugehen. Aus dem Innenraum wabert bereits der mir immer noch so vertraute Gesang herüber … Wir holen den DFB-Pokal und wir werden … „Deutscher Meister!“, höre ich mich selbst mit einem Grinsen im Gesicht skandieren. Ich hole mein Handy heraus, ignoriere die tausend WhatsApp-Nachrichten von Achim und werfe einen Blick auf die Uhrzeit. Viertel nach acht. In einer Viertelstunde geht das Spiel gegen Düsseldorf los. Als ich das letzte Mal hier war, stand der Gästetrainer noch auf unserer Seite. Jetzt spielt er mit seiner neuen Mannschaft gegen meinen Verein. Der Gedanke fühlt sich falsch an. Nein, nicht wegen des Trainers. Wegen mir. Obwohl der Verein immer ein Teil von mir sein wird, ist er jetzt nur noch ein Fußballverein, über den ich hin und wieder schreiben darf. Er gehört nicht wirklich zu mir. Nicht mehr.
Ich beschleunige meine Schritte, um den Ordner nicht in der Menge zu verlieren. Sein Auftritt hat mich neugierig gemacht. Die Schleuse, die er sich durch die Menschen gegraben hat, verschwindet schneller, als ich folgen kann. Trotzdem schlängle ich mich irgendwie hindurch und bleibe an ihm dran.
Presse, steht in fetten Buchstaben über dem Zugang, den er gerade passiert. Vielleicht hat er tatsächlich nur seine Einsatzzeit verschlafen und versucht jetzt auf kürzestem Weg an seinen Platz zu gelangen. Doch der Hüne stapft die Treppe hinunter und biegt zur Tiefgarage ab. Meine journalistische Neugier ist nun endgültig geweckt. Für einen Einsatz unterm Rasen ist der Bursche schließlich dreimal zu spät dran. Noch zehn Minuten bis zum Anpfiff. Da gibt es da unten nur noch eine Handvoll Nachzügler und unendlich viel Blech.
Verdammt. An der nächsten Tür erwartet uns ein Ordner. Er lässt den Kollegen mit einem fragenden Blick durch, und ich setze meine geschäftsmäßige Miene auf, als er mich anhalten will. Und tatsächlich wirft er nur einen flüchtigen Blick auf den Presseausweis, der an einer Kette um meinen Hals baumelt, und macht keine Anstalten, mich aufzuhalten.
„Wohl den Kuli vergessen“, höre ich ihn hinter mir noch sagen. Klar, den imaginären Kuli in meinem nicht vorhandenen Auto. Autos können sich Leute leisten, die nicht wie ich dumme kleine Spielberichte schreiben. Aber das muss der Kerl ja nicht wissen.
Ich biege rechts ab, so wie der Ordner vielleicht 15 Meter vor mir, und folge nun lediglich dem Hall seiner Schritte. Sehen kann ich ihn im engen Labyrinth der Tiefgarage nicht mehr.
Etwas an all dem stimmt nicht. Mein Chef sagt zwar immer wieder, dass ich die schlechteste Spürnase der gesamten Hemisphäre hätte, was eine gute Story angeht, aber vielleicht ist das hier genau der richtige Zeitpunkt, um ihm das Gegenteil zu beweisen. Ein Ordner, der … ja, was? Der vielleicht einfach zu spät ist? Oder dringend nach Hause muss, weil seine Frau ein Kind bekommt und einfach nur eilig zu seinem Auto will?
Trotzdem ist es seltsam, dass es hier so verdammt dunkel ist. Zu dunkel, wenn ich mir die vielen Neonröhren über mir ansehe, die ausgeschaltet sind.
„Oh, Severin“, raune ich mir selbst zu, als ich begreife, dass der Chefredakteur der Frankfurter Post sicher einen Grund hat, an meinem Riecher zu zweifeln. Mal wieder jage ich einem Phantom hinterher. Typisch.
Ein Schrei lässt mich zusammenzucken. Der Schrei einer Frau, der aus dem spärlich beleuchteten Nichts der nächsten Ebene kommt, lässt meinen Nacken prickeln und meinen Puls ins Stolpern geraten.
Die Gänge und Rampen strömen eine seltsame Atmosphäre aus. Warum ist hier niemand? Warum ist es so leer? Ich schüttle den Kopf, um wieder ein wenig klarer zu werden. Mich nicht von diesem flatternden Gefühl in meiner Brust ablenken zu lassen und so zu tun, als wäre ich hier in einem waschechten Hitchcock-Film gelandet. Natürlich ist hier niemand. Sie sind alle schon oben, und die, die hier arbeiten, sind wahrscheinlich irgendwo eine rauchen.
Ich laufe weiter. Eigentlich stolpere ich viel eher um die nächste Ecke und die nächste Rampe hinauf, diesen Schrei noch immer in meinen Ohren. Und ganz plötzlich steht da der Kerl in seiner schreiend gelben Weste. Ich hätte ihn fast über den Haufen gerannt. Seine Augen treffen auf meine. Grüne Augen, die entgegen meiner Erwartungen nicht böse, sondern eher panisch aussehen. Verängstigt.
Seine Lippen beben. Dann senkt er den Kopf Richtung Boden. Ich folge seinem Blick und brauche eine halbe Ewigkeit, um zu realisieren, was ich da sehe.
Wie von einer fremden Macht geleitet, weiche ich einen Schritt zurück. Weg von der blutüberströmten Frau zu Füßen des Ordners.
„Ich wollte das nicht“, wispert er mit rauer, fassungsloser Stimme. Aber ich höre ihn kaum. Höre kaum noch das Tosen der Menge draußen, die mit dem Polizeichor das Eintracht-Lied angestimmt hat. Da ist nur noch das leise Wimmern der Frau zu seinen Füßen.
„Ich …“, beginne ich zu stottern und weiche einen weiteren Schritt zurück. „Ich … hole Hilfe.“
Der Kerl schaut wieder auf, greift sich kurz ans Ohr. Nestelt daran herum.
„Das wirst du nicht …“ Jetzt hört er sich ganz und gar nicht mehr fassungslos an. Im Gegenteil. Seine Stimme ist bedrohlich. Er macht einen Schritt auf mich zu. Blut spritzt dabei von seiner Stiefelspitze auf den Boden. Das Blut der Frau, die gerade aufgehört hat zu atmen. Jede Faser meines Körpers schreit mich an, wegzurennen. Wieder zu Bewusstsein zu kommen. Das hier zu überleben. Und trotzdem ist es, als wäre mein Körper festgefroren. Zu Stein erstarrt.
„Was machen Sie hier unten?!“, zerschneidet eine weibliche Stimme die Stille. Die Frau vom Wachdienst steht plötzlich vor uns.
Ich will sie warnen. Will ihr sagen, dass sie wegrennen soll, doch da tritt sie bereits wutschnaubend vor mich und realisiert erst viel zu spät, dass der Ordner ein Messer in der Hand hält und nun sie ins Visier genommen hat.
„Und warum sind Sie nicht draußen am Spielfeldrand?“, fragt sie zornbebend und offenkundig genervt, bis ihr Blick hinunter wandert – dorthin, wo seine Schuhe blutrote Abdrücke hinterlassen haben.
„Passen Sie auf!“, stoße ich hervor, als ich endlich meine Stimme wiedergefunden habe, doch da packt er sie bereits und rammt auch ihr das blutige Messer in den Bauch.
„Nein!“, schreie ich und will auf ihn zustürmen. Ihn aufhalten. Aber es ist zu spät. Ihr Blut tränkt bereits das Weiß der hübschen Bluse, die sie unter ihrer blauen Weste trägt.
„Mich darf keiner sehen. Verstehst du?!“, schreit mich ihr Mörder panisch an und lässt den Körper der Frau los. Er sinkt leblos zu Boden.
Mein Blick wandert zu seiner rechten Hand mit dem blutverschmierten Messer, das er jetzt bedrohlich auf mich richtet.
„Keiner darf mich sehen.“ Mit diesen Worten rammt er mir das Messer in den Bauch und zieht es sofort wieder heraus. „Niemand!“
Ich spüre den Stich kaum. Fühle den Schmerz nicht. Da sind nur diese unbändige Kälte und die Gewissheit, dass ich es mal wieder nicht hingekriegt habe. Mein Körper sinkt zu Boden. Meine Augen folgen noch dem Kerl, der wegrennt. Dann wandern sie zu den beiden regungslosen Frauen. Ich habe nichts getan. Ich war nutzlos. So wie damals.
Meine Hand wandert hinunter zu meiner eigenen Wunde, aus der viel zu viel Blut tritt. Es ist warm, und etwas in mir kann das erste Mal seit langer Zeit akzeptieren, wer ich einmal war. Die Vergangenheit erkennen und annehmen, die zusammen mit diesem Blut in meinen Adern fließt.

LYDIA

„Auf einen klaren Sieg“, johlt einer der Männer hinter mir überschwänglich. Er gehört zu den Business-Typen, die extra für das Freitagsspiel eingeladen wurden, weil – wie es Jürgen Losert vom Aufsichtsrat nannte – „diese Kryptowährungen vielleicht ja wirklich die Zukunft sind und wir immer am Puls der Zeit sein müssen.“ Wer’s glaubt. Im Gegensatz zu mir bleiben diese Gäste während des Spiels lieber in der Loge am Tisch sitzen, trinken Schampus und verfolgen das Spiel auf einem Flachbildschirm. Ich frage mich, warum sie nicht einfach zu Hause geblieben sind.
Ich stehe am Fenster und sehe hinab auf das echte Spielfeld. Der Lauteste von ihnen, einer mit einer extrem gegelten Tolle – wahrscheinlich keine 30, aber der Chef –, textet mich dabei ohne Unterlass zu.
„Glauben Sie mir, wenn Sie jetzt Bitcoins kaufen, dann lachen Sie über diesen Job in zwei, drei Jahren nur noch. Dann können Sie sich selbst ein paar Fußballer kaufen.“ Er erhebt die Stimme. „Oder, Jungs?“, richtet er sich an die anderen gelackten Kerle. Aber bevor die Jungs ihm zustimmen können, redet er ohne Punkt und Komma weiter. Was mir durchaus gelegen kommt. Auf Gespräche dieser Art habe ich nun wirklich keine Lust. Und diese Sorte Möchtegerns konnte ich noch nie leiden.
„Kann schon sein, dass die Bitcoins nach ihrem Höhenflug erst einmal ein bisschen abgestürzt sind, aber letztes Jahr ist der Kurs förmlich explodiert. Von 1.000 Dollar im Januar ging es bis Anfang November rauf auf mehr als 10.000 Dollar. Schauen Sie mich an. In drei Monaten … zum Millionär …“ Er lacht aufgeblasen und hält mir sein Glas entgegen. „Zum Wohl, Frau Heller …“
Er nervt. Gnadenlos. Aber was soll ich machen? Job ist Job. Da muss man sich auch mal auf die Zunge beißen.
„Fräulein Heller, kommen Sie rein. Setzen Sie sich zu uns! Hier spielt die Musik“, fordert er mich auf. Breites Lachen ertönt. Das Lachen junger Männer, das nicht wirklich anders klingt als das alter reicher Männer, die denken, Frauen wären nichts anderes als eine Ware, die sie sich mit Geld erkaufen können. Jetzt eben mit Bitcoins.
„Schon mein Vater predigte“, sage ich ruhig und langsam, während ich mich mit dem Sektglas in meiner Hand umdrehe: „Du siehst ein Spiel nur dann wirklich, wenn du die Schreie in ihrer Echtheit hörst, das Raunen der Menge, das dir einen Schauer über die Haut jagt und deinen Puls mit jeder Situation beschleunigt. Im Einklang mit anderen. Erst dann erlebst du Fußball in seiner reinsten Form.“
Ich lasse meinen Blick umherwandern. Die Herren sehen mich belustigt an, als wäre ich ein dummes Gör, das sich gerade bei der Schultheateraufführung furchtbar blamiert hat. Wobei die meisten gar nicht zugehört haben.
„Von daher, meine Herren, gehe ich jetzt dorthin, wo ich den Fußball auch erleben kann.“ Mit diesen Worten hebe ich mein Glas leicht an und husche durch die kleine Glastür der Loge nach draußen in die milde Oktoberluft. Dringe ein in tosende Euphorie. Und wundere mich ein bisschen über mich selbst.
Ich weiß nicht, ob diese Art Menschen, die für drei Stunden hinter den Glasscheiben sitzen, verlernt haben, Fußball zu fühlen. Das Spiel zu erleben. Oder ob sie es noch nie konnten. Ob sie schon immer nur dem Geld hinterhergejagt haben und in ihren warmen gemütlichen Sesseln nie in der Lage waren zu verstehen, was das hier wirklich ist.
„Lyd! Hier ist ein Platz frei“, ruft mir Tim zu, mein Kollege aus der Abteilung Spielbeobachtung und Videoanalyse. Er ist ein netter Kerl, den ich bereits von meiner Zeit an der Uni kenne. Nachdem ich erkannt hatte, was er draufhat, habe ich ihn zu einer Bewerbung bei der Eintracht angespornt. So konnten wir uns als Neulinge gegenseitig helfen. Allein, sich auf Anhieb in den Gängen und Räumen der Arena und den weitläufigen Katakomben zurechtzufinden, war abenteuerlich. Da tat es gut, sich nicht immer allein zu verirren. Und den Spruch über die Frauen, die eben einfach keinen Orientierungssinn außerhalb von Einkaufszentren haben, hat er sich auch gespart. Das war im Juli. Jetzt, fast vier Monate später, kenne ich mich ziemlich gut aus und verlaufe mich nur noch sehr selten.
„Kannst du mir erklären, über was die da eigentlich reden?“, frage ich eher beiläufig, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten und werde von Tim nicht zum ersten Mal gnadenlos überrascht. „Bitcoins – BTC. Das sind verschlüsselte Datenpakete aus Zahlen und Buchstaben. Für die einen ein anonymes Zahlungsmittel im Internet, das Systeme wie PayPal unnötig macht. Für andere ein alternatives Wertaufbewahrungsmittel. Für die da eine vermeintliche Goldader“, doziert er mit einer eindeutigen Kopfbewegung in Richtung der Männerrunde. Ich nicke andächtig. „Das Problem: Bitcoins kommen wohl auch für illegale Zahlungen zum Einsatz, sagt man“, schiebt er hinterher.
„Und wie werden Bitcoins gehandelt?“, will ich wissen.
„Im Internet gibt es 60 bis 80 Umschlagplätze für diese Dinger. Tokio hat da ziemlich die Nase vorn. Und was Deutschland betrifft, Herford. Das liegt in der Nähe von Bielefeld“, haut mir Tim mit einem Grinsen sein komplettes Wissen um die Ohren. Ich schaue ihn einen Moment lang von der Seite aus an. Erstaunlich, was in diesem Moppelchen mit Halbglatze steckt, geht mir durch den Kopf und gleich darauf bedauere ich auch schon, so etwas auch nur gedacht zu haben.
„Hand. Eindeutig Hand, du Penner!“, schreit Tim in diesem Moment. Mein Blick wandert hinauf auf die Anzeigetafel. 18. Minute. Ein Tor, wenn auch durch einen Elfmeter, würde uns sicher guttun. Aber der Schiedsrichter lässt weiterlaufen.
„Lyd, war das Hand oder Hand?“ Tim lacht rau und jetzt schon ein wenig heiser.
„Eindeutig Hand!“, gebe ich amüsiert und ahnungslos zurück, als der Schiedsrichter plötzlich pfeift und das Signal gibt, dass er sich doch den Videobeweis ansehen wird. Er hat es wahrscheinlich genauso wenig gesehen wie ich.
„Du bist das Fußball-Orakel, Lyd!“, ruft Tim und verneigt sich belustigt.
„Jeder hier hat gesehen, dass es Hand war, Blödmann“, gebe ich beschwichtigend zurück, während der Schiedsrichter auf den Punkt zeigt. Jeder. Nur ich nicht. Weil ich ja in diesem Moment Tim angeschaut und ihn ein bisschen bewundert habe für sein geballtes Wissen über die Geheimnisse der virtuellen Welt.
Die 51.000 in der Arena – zumindest die weit mehr als 40.000, die es mit der Eintracht halten – johlen vor Vergnügen und in tiefer Vorfreude auf das erste Tor. Genau das Gefühl eben, das mein Vater meinte. Nur, dass ich nicht mittendrin stehe.
Mein Blick wandert hinüber zur Fankurve. Der Ball landet im Netz, und sie springen und schreien, als wären sie ein pulsierendes Ganzes. Glückseligkeit pur. 1:0. Dort drüben war ich schon lange nicht mehr und schon gar nicht so unbeschwert wie mit 15. Stattdessen bin ich heute stellvertretende Pressesprecherin der Eintracht. Die Menschen kennen mich. Zumindest kennen sie mein Gesicht und wissen, was sie zu wissen glauben. Und ich will nicht darüber diskutieren. Sinnlos diskutieren war noch nie mein Ding.
„Toooor!“ Ich werde lautstark aus meinen Gedanken gerissen, blinzle, starre hinunter und dann wieder hoch auf die Anzeigetafel. 26. Minute. Also nur sechs Minuten nach Sebastians Handelfmeter haut Luca das Ding unter die Latte. „Das kann kein anderer“, jubelt Tim, und ich werfe schnell einen Blick auf den Fernseher hinter den Glasscheiben, um die Wiederholung zu sehen. Gacinovic nimmt links Kostic mit, der flankt herrlich ins Zentrum zu Jovic – und Luca haut den Ball per Seitfallzieher unhaltbar knapp unter die Latte.
„Geiles Ding!“, johlt Tim. Bis auf die Gäste hinter mir scheinen jetzt alle im Stadion vom Fußballfieber gepackt.
„Der Funke ist übergesprungen“, würde der Präsi sagen. Weitere sieben Minuten später macht Luca das dritte Tor. Dann ist Halbzeit, und die Fans skandieren vereinzelt: „Deutscher Meister wird nur die SGE!“ Naja … Das hat Papa ’92 auch gehofft.
„Kommst du mit zu unseren VIP-Gästen?“, holt mich Tim aus meinen Gedanken.
Wir beide sind quasi als Unterhaltungsprogramm für diese merkwürdige Delegation abgeordnet, die mich eher an die Zeitdiebe aus Michael Endes Momo als an Fußballfans erinnern und denen für das heutige Spiel die Loge zur Verfügung gestellt wurde. „Ein bisschen Smalltalk, ein bisschen Herumführen und nach dem Spiel zur Pressekonferenz mitnehmen“, hatte uns Jürgen Losert für den heutigen Tag eingestimmt: „Alles mit der Chefetage abgeklärt.“
Ich erhasche kurz einen Blick durch die Glastür, hinter der die Männer bereits mit der Verköstigung diverser Leckereien beschäftigt sind. Darauf kann ich echt verzichten. Also nestele ich meine Zigarettenschachtel heraus und halte sie in die Höhe. „Komme nach.“
„Igitt“, ist alles, was er dazu sagt, bevor er die Glastür öffnet und dahinter verschwindet. Ob er am Ende des Abends auch ein paar dieser Bitcoins in der Tasche haben wird? Ich muss über mich selbst lachen. Bitcoins in der Tasche haben. Damit kann ich Tim nachher ein bisschen auf den Arm nehmen.
Ich atme tief durch, während ich mir eine Zigarette anstecke und meinen Blick umherwandern lasse. Manchmal wünschte ich, ich könnte meinen Vater überreden, doch mal wieder mitzukommen. Ihm zeigen, dass ich genau da arbeite, wo er die vielleicht besten Stunden seines Lebens hatte. Und mit diesem Wunsch kommt die Erkenntnis, dass er wohl eher skeptisch auf das Innenleben der Haupttribüne reagieren würde. Er gehörte zu den Fans, die im alten Waldstadion mit dieser seltsamen Mischung aus Neugierde und Verachtung auf den berühmten Block 8, später eben auf die ganze Haupttribüne blickten. Er mochte die Anzugträger im Stadion nicht besonders. Und auch deshalb war die Arena für ihn immer nur das Waldstadion gewesen. So war er nun mal. Auch dann noch, als er längst dazugehörte.
„Lydia, kommst du mit den Gästen nachher zur Pressekonferenz?“ Ich wende mich um und starre in die blauen Augen von Jürgen Losert. Ich lasse meinen Kiefer unruhig knacken, um mich zu beruhigen, bevor ich antworte. Jetzt nur nicht nervös werden. „Natürlich. Und ich werde den Herren auch noch ein paar Weisheiten aus dem Fußballlehrbuch vermitteln. Ist schließlich mein Job, oder?“, sage ich betont lässig. In der Hoffnung, dass ihm noch keiner der Gäste meinen kleinen Monolog zum wahren Fanwesen unter die Nase gerieben hat.
„Pass nur auf, dass der Schuss nicht nach hinten losgeht. Sehr aufmerksam wirkst du heute nicht. Du musstest dir das 2:0 in der Wiederholung ansehen …“
„Ich –“ Mein Klingelton hindert mich Gott sei Dank daran, ihm verbal irgendwelche abstrusen Ausreden zu servieren, während sich rote Farbe in meinem Gesicht breit macht. Warum musste ausgerechnet er das mitbekommen? Wütend nehme ich das Handy aus meiner Tasche, werfe Losert einen Blick zu, der ihm deutlich macht: Entschuldigung, Telefon, und hebe ab.
„Was ist?“ Nicht meine netteste Anrede, aber die Wut in mir und über mich kocht zu sehr.
„Wir haben hier ein Problem, Frau Heller.“
„Was für ein Problem?!“, zische ich zurück und ziehe an meiner Zigarette.
„Ich … Vielleicht ist es besser, Sie kommen selbst und schauen sich das an. Ihr Chef, Peter Staudinger, macht die Halbzeitinterviews klar. Der ist jetzt unabkömmlich.“
„Können Sie mal aufhören, so kryptisch daherzureden? Was zum Teufel ist los? Und wo soll ich überhaupt hinkommen? Klare Aussagen, bitte!“
„Runter in die Katakomben. Die Parkflächen unter der Haupttribüne. Wir … wir haben hier zwei Tote und einen Schwerverletzten.“
„Was?!“, stoße ich hervor und lasse beinahe das Handy aus meiner Hand fallen. „Ist das ein schlechter Scherz?!“
„Nein, Frau Heller. Leider nicht.“
Meine Zigarette fällt lautlos zu Boden. Millionen Gedanken schießen mir durch den Kopf. Wie ferngesteuert zwänge ich mich an zwei Männern vorbei in die Loge und suche mit meinen Augen nach Tim.
„Mitkommen!“, knurre ich ihm zu und verlasse den Raum durch die Vordertür. Ich bin nicht einmal in der Lage, ihm zu sagen, was vorgefallen ist. Wie soll ich auch? Überall um mich herum sind Menschen. Menschen, die das auf keinen Fall hören sollten.
„Lydia! Es geht gleich weiter. Was soll das?“, versucht Tim hinter mir die Contenance zu wahren und mit mir Schritt zu halten. Er sollte wirklich mal ein bisschen Sport machen.
„Ruf Carlos an und sag ihm, dass wir gleich da sind. Bis dahin soll er das Protokoll befolgen. Keiner erfährt etwas. Absperren und niemanden durchlassen außer den Personen, die laut Protokoll befugt sind. Er soll außerdem alles für eine Evakuierung einleiten, falls es nötig wird. Und der Einsatzleiter der Polizei soll hier hinkommen.“
„Was?!“
„Stell keine Fragen. Mach, was ich dir sage“, überschlägt sich meine Stimme. So wie sie das meistens tut, wenn ich es gar nicht gebrauchen kann. Ich hasse diesen furchtbar hellen Klang. „Tu es einfach, Tim. Bitte!“
Ich gehe weiter. So schnell es eben möglich ist, ohne auszusehen, als sei ich auf der Flucht. Warum musste ich ausgerechnet heute diese dummen High Heels anziehen? Ich konnte nie wirklich gut auf den Dingern laufen.
„Haben wir eine Bombe hier, Lyd?“
„Sschh!“, zische ich und werfe ihm einen vernichtenden Blick zu. „Nein, haben wir nicht. Und ich würde dich bitten, dieses Wort hier nicht so laut herumzuposaunen!“
Als wir nach gefühlten Stunden endlich ankommen, starre ich auf die beiden Frauen vor mir. Sanitäter und Polizisten sind bereits da und … vor mir eine weitere Blutlache. „Was ist das?“
„Ein Verletzter. Er ist da vorne“, sagt Carlos und deutet auf eine Trage. Ich starre ihn unverhohlen an. Starre Severin an. Severin, der einst ein Freund von mir war. Ein Freund aus der Uni. „Was hatte der hier zu suchen?“
„Frau Heller. Das können wir später besprechen. Wir wollten Ihnen nur die Chance geben, das ordentlich für die Öffentlichkeit vorzubereiten. Und Sie waren die Einzige, die ans Handy gegangen ist.“
„Das …“ Mir versagt die Stimme. Ich habe keine Ahnung, was jetzt zu tun ist. Müssen wir das Stadion räumen?
Draußen bricht tosender Jubel los, als die Mannschaften zurück aufs Spielfeld kommen.
„Wo zum Teufel ist der Sicherheitschef?“, schreie ich, um gehört zu werden.
Alle starren mich an, als wäre ich dieser Sicherheitschef. Dabei bin ich nur die stellvertretende Pressesprecherin. Ich habe verdammt nochmal keine Ahnung, was man tun muss, wenn ein Mörder im Stadion frei herumläuft. Genau vor diesen Momenten hatte ich panische Angst. Momente, in denen ich nicht wissen würde, was zu tun ist. Ich hasse sie … diese Hilflosigkeit.
„Carlos. Was empfiehlst du?“, frage ich den Chef unserer eigenen 30-Mann-Security-Truppe und trete einen Schritt auf ihn zu, ohne die Leichen zu seinen Füßen zu beachten. Dann erst nehme ich den Uniformierten neben ihm wahr.
„Und Sie … Sie sind die Polizei. Was machen wir jetzt?“
„Wir müssen den ganzen Bereich absperren. Normalerweise darf keiner mehr rein und keiner raus. Aber das können wir mit 51.000 Zuschauern nicht machen. Also, wer hatte hier unten Zutritt?“, fragt der Polizist mit einem beruhigenden Ton und schreibt etwas in seinen kleinen Block.
„Nur das Ordnungspersonal und der Vorstand“, sage ich und denke nach. „Die Spieler natürlich und einige wichtige Sponsoren. Sie haben ihre Autos hier in diesem Bereich stehen. Die Liste der geladenen Gäste kann Ihnen der Kollege besorgen“, deute ich auf Tim. Er ist kreidebleich und steht auf sehr wackeligen Beinen.
„Und die Presse?“, fragt der Polizist.
„Nein“, murmle ich irritiert: „Die Presse hat hier keinen Zutritt. Die parken auf Ebene zwei. Das ist weiter vorne. Wie kommen Sie darauf?“
„Das dritte Opfer … Um seinen Hals baumelt ein Presseausweis.“
Severin. Ich schaue kurz hinüber zu ihm. Zwei Sanitäter versorgen seine klaffende Wunde. Was macht er hier? Hat er sich hineingeschlichen? Aber warum?
Lauter Jubel ist bis hinunter in die Katakomben zu hören. „50. Minute: Tor für unsere Eintracht“, brüllt der Stadionsprecher und lässt uns alle für einen Augenblick innehalten, während aus mehr als 40.000 Kehlen ertönt … „Haller!“
Was soll ich jetzt tun? Wenn wir das Spiel unterbrechen, dann wird es wiederholt. Ausgerechnet ein Spiel, bei dem wir mit 4:0 vorne liegen. „Wie kannst du nur?“, höre ich mich selbst ganz leise sagen. Dieser Gedanke ist völlig abstrus und unangebracht. Ich hätte nicht gedacht, dass ich jemals so etwas würde denken können. Aber Herz und Verstand wollen gerade jetzt nicht so recht miteinander.
„Wir werden das Ordnungspersonal daran hindern, nach dem Spiel zu gehen und …“
„Frau Heller, der Mann könnte da draußen weitere Personen töten. Vor allem, wenn er, wie der verletzte Zeuge gesagt hat, wie einer ihrer Ordner herumrennt und sich nahezu überall frei bewegen kann“, wirft der Polizist, plötzlich doch außer sich, ein.
„Kann er?“, höre ich mich fragen.
„Nein!“, nimmt Carlos ein wenig Druck aus der Situation. „Die Ordner am Eingang zur Tiefgarage an der Otto-Fleck-Schneise haben den Mann nicht aufhalten können. Er ist in Richtung Bahnhof Sportfeld weggelaufen. Hier in der Arena besteht keine akute Gefahr.“
Ich fahre mir angestrengt durch die Haare. „Gute Nachricht!“ Denn sobald die Polizei eingeschaltet ist, entscheiden auch sie, was passiert. Da sind wir ganz schnell zweitrangig. Und der Polizist hat eindeutig klargemacht, was passieren würde, wenn der Kerl hier noch herumlaufen würde. Trotzdem sackt mein Kreislauf ins Bodenlose. Klar, das hier ist nicht meine Aufgabe. Das ist nicht meine Entscheidung. Es ist die des Sicherheitschefs und der Polizei. Trotzdem gebe ich über Funk die Order, die Tiefgarage komplett zu sperren. Erstmal jedenfalls. Keiner rein, keiner raus. Bis die Leitstelle der Polizei eine neue Order erteilt.
Ich stolpere ein wenig vor und beuge mich dann über Severin, während die Sanitäter ein paar Schritte zur Seite gehen.
„Sev?“ Ich schlage ihm sanft auf seine Wange, bis er blinzelnd die Augen öffnet. „Was ist passiert?“, frage ich hektisch.
„Lydia?“ Seine Lider senken sich wieder. „Bo … mbe.“
Bombe? Ich weite fassungslos meine Augen. Nein. Das ist nicht möglich. „Severin!“, versuche ich ihn wieder zurückzuholen, doch seine Augen bleiben geschlossen.
„Ich brauche frische Luft“, presse ich in Richtung der anderen hervor und entscheide mich für das in diesem Moment eigentlich denkbar Schlechteste … die Flucht. „Tim, hol Gräter. Er muss entscheiden, was weiter passiert. Er allein trägt die Verantwortung. Und bring endlich den Einsatzleiter der Polizei hierher.“
Mit diesem Versuch, mein Gewissen zu beruhigen, lasse ich die beiden Toten und all die anderen hinter mir und versuche nur noch an die frische Luft zu kommen. „Nur nicht hyperventilieren“, hämmere ich mir ein. Hier ist keine Bombe.
Als ich es endlich über den unteren Zugang und den Kabinentrakt hinausgeschafft habe, stehe ich direkt hinter der Auswechselbank der Gäste. Auf dem Weg hierher habe ich die Blicke der Menschen kaum wahrgenommen, die sich sicher dachten, ich hätte einen Geist gesehen, und nicht wissen konnten, dass es zwei waren. Zwei tote Frauen.
Es war der kürzeste Weg hier raus und den habe ich wie in Trance genommen. Da unten hatte ich das Gefühl zu ersticken. Jetzt spüre ich, wie die frische Oktoberluft meinen Verstand ganz langsam zurückkehren lässt.
Was soll ich jetzt tun? Was erzähle ich der Presse? Erzähle ich überhaupt etwas oder wird die Polizei das übernehmen?
Ich atme stoßartig, als plötzlich ohrenbetäubendes Geschrei ertönt. Irritiert sehe ich mich um, doch es ist nur ein Tor für Düsseldorf. 1:4 in der 53. Minute. Sind wirklich nur drei Minuten seit Hallers Tor vergangen? Seit ich neben zwei Leichen gestanden und nur noch panisch nach dem Sicherheitschef gerufen habe? Seit ich, völlig außer mir, nicht mehr ein noch aus wusste und alle im Stich gelassen habe? Allen voran Tim.
Bevor ich diesen Gedanken mit der Erkenntnis, dass ich offenbar immer, wenn es eng wird, kneife, abschließen kann, liegt sich das Stadion schon wieder in den Armen und feiert besoffen vor Glück Jovics dritten Treffer. Das 5:1 besorgt er mit rechts.
Warum muss ausgerechnet heute eine Torparade stattfinden, die alle Menschen noch euphorischer auf der einen Seite und wütender auf der anderen macht? Instinktiv gehe ich in Richtung der Fankurve. Ich erinnere mich an Papas Worte von damals. Vielleicht, um mich abzulenken. Oder, weil er immer der Einzige war, der mich in solchen Situationen beruhigen konnte.
„1980 beim UEFA-Cup-Sieg gegen Gladbach mittendrin im G-Block. Da haben sie nach Fred Schaubs 1:0 und dem Schlusspfiff alle vor lauter Glück geheult wie die Schlosshunde. Da war für viele Stunden kein Platz mehr für den Rest der Welt.“
Kein Platz mehr für den Rest der Welt. Das wäre jetzt genau das Richtige. Ich entdecke mich selbst plötzlich ein paar Meter vor der Kurve zwischen den Fans und der Haupttribüne. Wobei die Haupttribüne sich längst mit den Ultras zusammengetan hat. Jedenfalls für den Rest dieses Spiels.
„Eintracht“, schmettern die Fans inbrünstig.
„Frankfurt“, kriegen sie mit ebensolcher Wucht vom Rest des Stadionrunds zurück. Und den zu Euro-Fighter-Zeiten in Gelsenkirchen erfundenen Song Steht auf, wenn ihr Schalker seid – oder eben in unserem Fall Adler – braucht an diesem Abend kein Mensch mehr. Denn keiner von ihnen sitzt noch auf seinem Platz. Ein Spiel, wie man es sich wünscht. Eines, wie mein Vater es sich wünschen würde. Und keiner von ihnen weiß, wie überschattet dieses Spiel doch ist. Dass keine 50 Meter Luftlinie und 10 Meter unter dem Rasen von ihrer Freude entfernt Leben genommen wurde. Leben, dessen Verlust das Gegenteil von dieser Freude hervorrufen wird. Wie nah Freud und Leid doch manchmal beieinander liegen.
Spätestens als Luca mit seinen Treffern Nummer 4 und 5 das Ergebnis bis zur 72. Minute auf 7:1 erhöht hat, explodiert das Stadion vollends. Mein Kopf dröhnt.
Meine Augen wandern von den Zuschauern, die völlig aus dem Häuschen sind, zu den Ordnern, die kein Tor, keine dieser wunderbaren Kombinationen gesehen haben, sondern nur von der Euphorie derer angesteckt werden, denen sie 90 Minuten lang ins Gesicht schauen.
„Wer sich umdreht, ist seinen Job los. Zumindest den hier im Innenraum. Ist das klar?!“, bläut der große Kerl in der blauen Weste seinem Trupp von Gelbwesten vor jedem Spiel ein, erinnere ich mich. Auch daran, dass jeder Fehltritt natürlich im Fernsehen zu sehen ist und die Sicherheitsfirma keine Lust hat, für Fehler dieser Art durch Abzüge bestraft zu werden.
„Wir haben klare Vorgaben und klare vertragliche Vereinbarungen. Schlampigkeit hat keinen Platz“, bestätigt der Chef der Sicherheitsfirma bei jedem Meeting.
Ich schaue hinauf zur Anzeigentafel. 86. Minute. Noch fünf, sechs Minuten inklusive Nachspielzeit, dann ist der Spuk vorbei. Dann ist das Spiel zu Ende. Die Mannschaft wird sich von den Fans noch ausgiebig feiern lassen – hat sie nach diesem Abend ja auch verdient … und danach macht irgendwann irgendwer die Lichter aus … und wir haben alles überstanden.
Genau in diesem Moment fällt mir diese Tasche auf. Eine, die die Ordner als Weihnachtsgeschenk im vergangenen Jahr bekommen haben. Ganz schwarz mit einem roten Eintracht-Logo drauf. Sie wurden extra vom Ausstatter hergestellt, um denen, die da während des gesamten Spiels falsch herum im Stadion stehen, Dank zu sagen. Schöne Geste.
Wir müssen uns für dieses Jahr Weihnachten noch etwas einfallen lassen, kommt es mir in den Sinn. Ich schüttle schnell den Kopf und dabei meine Gedanken ab. Jetzt gibt es eindeutig Wichtigeres. Zum Beispiel, was diese Tasche hier macht. Sie hat hier nichts zu suchen. Niemand darf ohne Erlaubnis irgendetwas mit in den Innenraum bringen. Ein Ordner schon gar nicht. Das ist klar geregelt. Und warum zum Teufel ist das niemandem aufgefallen?
Mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter, als ich den Zusammenhang plötzlich verstehe. Als ich begreife, wem diese Tasche höchstwahrscheinlich gehört. Zwei tote Frauen in der Tiefgarage, ein verletzter Ex-Kommilitone, der etwas von einem Ordner sagte, bevor er sein Bewusstsein verlor. Und von einer … Bombe. Oh nein, nein, nein! Wir hätten das Stadion räumen lassen sollen. Wir hätten … ich hätte!
Ohne weiter darüber nachzudenken, stürme ich auf die Tasche zu. Ich habe selbst keine Ahnung, was ich eigentlich vorhabe. Mit Sicherheit bin ich keine Heldin, sondern eher jemand, der wegrennt, wenn es brenzlig wird. Aber jetzt ist da keine Spur von Angst oder Panik in mir. Nein. Da ist nur die Gewissheit, dass ich jetzt besser nicht wieder weglaufen sollte. Wie paralysiert öffne ich die Tasche und starre auf Kabel und Batterien und merkwürdige Metallröhren. „Pyrotechnik?“, stammele ich.
Dann laufe ich los. Halte die Tasche mit ausgestreckten Armen vor mir. Als würde ich dann nichts abbekommen. Einen Schritt nach dem anderen. Bis zu der Sicherheitsbox ein paar Meter neben der Seitenlinie. Ich packe die Tasche hinein und schließe den schweren Deckel.
„Geschafft. Lydia Heller, du hast es geschafft“, atme ich durch.
„Was ist mit dir?“
Ich reiße den Kopf herum und sehe direkt in Carlos’ Augen. Er schaut mich besorgt an.
„Dich schickt der Himmel“, raune ich ihm zu und deute auf die Kiste unter mir. „Ich habe da ein merkwürdiges Ding hineingesteckt. Irgendeinen Pyroscheiß … oder noch schlimmer …“
Carlos nimmt meine Hand, zieht mich auf die Füße und schiebt mich zur Seite. „So, so, irgendeinen Scheiß“, höre ich ihn dumpf murmeln. Ohne zu zögern, hat er den Deckel geöffnet und ist mit dem Kopf in der Kiste verschwunden.
Beim Anblick des Zwei-Meter-Mannes ohne Kopf muss ich fast lachen.
„Das Stadion in die Luft jagen kann man damit wohl eher nicht, aber für 20 Minuten alles restlos einnebeln schon“, knurrt er von unten: „Gut, dass du das Ding gleich entsorgt hast! Aber beim nächsten Mal: Lass den Scheiß!“, höre ich Carlos’ dumpfe Stimme aus der Kiste.
„Lass den Scheiß?“ Eine Mischung aus Entrüstung und Schreck überzieht mein Gesicht. Dann wandert sein Kopf wieder nach oben, und ich falle ihm in den Arm. „Ach Carlos. Gott sei Dank. Nur eine Schwachsinns-Aktion der Ultras?“
„Der Ultras?“ Carlos schaut nachdenklich. „Eher nicht. Jedenfalls nicht der Ultras, die ich kenne. Die lassen es schon mal ordentlich krachen, aber nicht mit so einem Teil. Sowas ist mir noch nie untergekommen. Sieht eher aus wie aus ehemaligen NVA-Beständen.“
„Und was machen wir jetzt damit?“
„Wir informieren die Polizei. Die ist für so etwas zuständig. Nicht du. Also lass beim nächsten Mal solche Eskapaden. Wenn du etwas findest, was dir merkwürdig vorkommt, informierst du die Polizei. Die schicken den Sprengstoffhund und kümmern sich um alles Weitere. Comprende, kleine Frau? Und ich telefoniere jetzt mit den Fanbeauftragten. Mal sehen, ob sich etwas herumgesprochen hat“, deutet er mit dem Zeigefinger auf seinen Mundwinkel. „Und du solltest mal einen Schritt vor den Spiegel machen und dir das Blut von der Lippe wischen.“
Bevor ich antworten kann, ist Carlos schon in die Katakomben abgerauscht. Er kennt seine Pappenheimer. Ist schon lange verantwortlich für den privaten Sicherheitsdienst bei der Eintracht. Er ist Madrilene, aber er spricht die Sprache der Hools. Galt mit 16, 17 als einer der Rädelsführer im Block, als es darum ging, im Abstiegsjahr 1996 Stunk zu machen. Und soll Jahre später vorne dran gewesen sein, als nach dem Köln-Spiel kurz vor dem letzten Abstieg diese teure Kamera zu Bruch ging. Danach folgte seine persönliche Wende.
Wenn jemand in Erfahrung bringen kann, was es mit meinem Fund auf sich hat, dann er, beruhige ich mich selbst und bemerke erst jetzt, dass ich mich auf die Kiste gesetzt habe. Ich zittere am ganzen Körper. Schweißperlen auf der Stirn.
Mein Blick wandert hinüber zu den Fans. Sie feiern gemeinsam mit der Mannschaft einen grandiosen Fußballabend. Ich wische mir eine Träne weg und tupfe das Blut von meiner Lippe ab. Wenn ihr wüsstet, was während der letzten 90 Minuten alles passiert ist, wärt ihr wahrscheinlich direkt nach Hause gefahren. Ohne zu duschen.
„Na, so ergriffen?“ reißt mich eine wohlbekannte Stimme aus meiner Lethargie. Max hat sich vor mir aufgebaut. Reißt mich hoch. Umarmt mich. Jubelt: „So ein Tag …“