Cover

Harry Voß

Der Schlunz
Band 1

Impressum

Eine Koproduktion des Bibellesebundes, Marienheide, mit

SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten

© 2007 Bibellesebund Verlag, Marienheide

SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten

10. Auflage 2012

© 2019 der E-Book-Ausgabe

Bibellesebund Verlag, Marienheide

https://shop.bibellesebund.de/

 

Autor: Harry Voß

Coverillustration: Thomas Georg, Münster

Covergestaltung: Georg Design, Münster (www.georg-design.de)

ISBN 978-3-95568-302-3

 

Hinweise des Verlags

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise - nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des Textes kommen.

Noch mehr eBooks des Bibellesebundes finden Sie auf

https://ebooks.bibellesebund.de

Inhalt

Titel

Impressum

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

1

Eigentlich sollte der Sonntag, an dem alles anfing, ein richtig schöner Tag werden. So hatte sich Lukas das zumindest vorgestellt: ein Picknick mit der Familie im Wald und den ganzen Tag mit Papa Fußball spielen.

Morgens hatte auch noch alles danach ausgesehen. Obwohl es erst Mitte April war, schien die Sonne so warm, als wäre es schon fast Sommer. Lukas und Nele waren bester Laune. Sie hatten sich heute noch so gut wie gar nicht gestritten, und das, obwohl Nele morgens wieder viel zu lange das Bad blockiert hatte, wie Lukas fand. Konnte das denn so lange dauern, ihre dünnen Härchen zu diesen albernen Zöpfchen zu flechten, die dann den Rest des Tages waagerecht vom Kopf abstanden? Lukas war immer ruck, zuck fertig mit seiner Morgenwäsche: Wasserhahn auf, Wasser ins Gesicht, Wasserhahn zu, Ende.

Mama hatte alles, was zu einem leckeren Picknick gehört, in einen großen Korb gepackt: Obst, Brötchen, Joghurt, Limo und jede Menge Kekse. Und Papa hatte außer den Federballschlägern auch den Fußball eingepackt. Das war klasse! Papa spielte überhaupt nicht gern Fußball. Aber wenn er selbst schon mal den Ball einpackte, dann würde Lukas ihn sicher schnell dazu überreden können, mit ihm ein wenig im Wald Fußball zu spielen.

Direkt nach dem Gottesdienst waren sie losgefahren. Wenn es nach Lukas und Nele gegangen wäre, hätten sie auch gleich nach dem Frühstück losfahren können. Aber da kannten Mama und Papa nichts: Am Sonntag war Gottesdienst-Tag. Und Lukas und Nele beschwerten sich meistens nicht darüber, denn im Grunde genommen war es sonntags in der Gemeinde ja auch ganz schön. Die »Sendung mit der Maus« zu Hause vor dem Fernseher wäre natürlich noch schöner gewesen. Oder eben ein Picknick im Grünen, das schon morgens um zehn Uhr begann. Aber darüber brauchte man mit Mama und Papa gar nicht zu reden. »Der Gottesdienst ist unsere Verabredung mit Gott«, sagte Mama immer, wenn Lukas oder Nele hin und wieder doch mal den Sonntagmorgen zu Hause verbringen wollten.

Aber jetzt saßen sie endlich alle auf der Picknick-decke und genossen die Sonne und die Kekse. Die Wiese, auf der sie saßen, lag an einem Hang, und alle saßen so auf der Decke, als wären sie im Kino. Hinter einem Hügel und ein paar Bäumen konnte man unten noch die letzten Häuser von Niederkirchen erkennen. Die waren aber wirklich weit weg. Hier oben auf der Wiese befanden sie sich ganz und gar abseits der Stadt. Bis heute waren sie auf dieser Seite des Ortes noch nie gewesen. Es war ganz still. Man konnte jedes kleine Geräusch hören.

Lukas drehte seinen Kopf und sah nach hinten. War da nicht jemand? Es schien ihm, als hätte nah bei ihnen etwas geknackt. War da jemand auf Holz getreten? Lukas konnte nichts erkennen. Also drehte er sich wieder zurück und nahm noch einen Keks aus der Dose.

»Lukas, nicht nur Kekse essen«, sagte Mama, »nimm auch mal einen Apfel!« Mama hatte den Picknickkorb zwischen ihren Beinen stehen und bewachte ihn wie eine Dino-Mama ihre Dino-Eier. Papa war gerade dabei, das Kerngehäuse eines Apfels sorgfältig vom Stiel zu kauen. Seine Haare lagen ordentlich gekämmt nebeneinander. Und Nele hatte sich bereits über den zweiten Joghurt hergemacht. Vom ersten Joghurt klebten ihr schon Spuren am Pullover und den zweiten verteilte sie gerade gleichmäßig an Kinn und Unterarm.

Knack!

Lukas drehte sich wieder nach hinten um. Da war doch jemand! Wurden sie beobachtet? Lukas stand auf und versuchte, das Wäldchen links von ihnen mit Blicken zu durchdringen. Aber er sah niemanden. Komisch. Trotzdem hatte er das Gefühl, als würde er beobachtet. Das war unheimlich.

»Papa, komm, wir spielen Fußball«, lenkte er sich schnell ab.

Papa runzelte die Stirn: »Ach Lukas, muss das sein?«

»Bitte, Papa! Du hast doch extra den Ball eingepackt!«

»Ja, schon«, sagte Papa matt. Für ihn musste Fußball spielen eine echte Qual sein, so wie er gerade guckte. Das konnte Lukas gar nicht verstehen. Fußball war so ziemlich das Beste außer ferngesteuerten Autos, was die Menschheit erfunden hatte!

»Nur fünf Minuten«, legte Lukas nach.

Papa seufzte. »Na gut. Fünf Minuten!«

»Super! Los!« Damit sprang Lukas auf und kickte den Ball über die Wiese.

»Wartet, ich spiele mit!«, rief Nele, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und verteilte damit die Joghurtreste über die komplette Backe bis zum rechten Ohr.

Natürlich spielten sie länger als fünf Minuten. Nele gab sich große Mühe. Aber sie war einfach furchtbar ungeschickt. Mehr als einmal trat sie mit ihrem Fuß am Ball vorbei, obwohl der Ball direkt vor ihr lag. Einmal sogar mit so einem Schwung, dass ihr Schuh drei Meter durch die Luft flog. Auch Papa war nicht der geborene Fußballspieler. Aber egal. Mit Papa Fußball zu spielen, war so ziemlich das Schönste, was sich Lukas vorstellen konnte. Lukas war schon zehn, genau genommen zehndreiviertel, denn im Juli würde er schon elf. Er war der Sportlichste in der Familie und von daher auch um einiges dünner als Nele, obwohl die erst acht war.

»Papa! Zu mir!« Lukas rannte Papa entgegen, um einen Pass annehmen zu können. Aber dann – womm – versetzte Papa dem Ball einen derartigen Stoß, dass er im hohen Bogen über die Wiese flog. Er landete in dem dichten Wäldchen aus Nadelbäumen, das direkt an die Wiese grenzte.

»Super Schuss, Papa!«

Lukas lief zum Rand des Wäldchens. O weia. Wie sollte er hier den Ball finden? Auf dem Boden konnte man vor lauter herumliegenden Ästen und Zweigen kaum laufen. Unmengen von Brennnesseln wucherten dort, sodass Lukas schon ahnte, dass er kaum durchkommen würde. Er stakste ein paar Schritte in das Unterholz hinein. Das Holz unter seinen Füßen knackte, als würde ein Bett unter einem Riesen zusammenbrechen.

Und dann geschah es: Lukas hörte ein dumpfes Geräusch, und im selben Augenblick flog der Ball mitten aus dem Unterholz auf ihn zu und landete ganz in seiner Nähe. Lukas bekam so einen Schreck, dass er mit lautem Krachen und Knacken nach vorne in die Äste fiel. Hinten im Gebüsch, von wo der Ball gekommen war, krachte und knackte es ebenfalls. Und zwar so laut und ausdauernd, dass Lukas wusste: Da rannte jemand. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Ob er jetzt ermordet würde? So schnell wie möglich richtete sich Lukas auf und rief: »Papa! Hilfe!«

Als er wieder stand, sah er im Wald jemanden rennen. Aber der lief nicht auf ihn zu, sondern flüchtete. Und es war auch kein Erwachsener, es war ein Kind! Plötzlich packte Lukas ein Gemisch aus Neugier und Mut – so schnell er konnte, rannte er dem fremden Kind hinterher.

»Lukas, was ist los?« Papa war am Rand des Wäldchens angekommen.

»Papa, schnell, da ist jemand!« Lukas rannte weiter. Der Fremde hatte bereits die andere Seite des Wäldchens erreicht und rannte über die Wiese. Lukas hinterher. Das Kind, das vor ihm weglief, war etwa so alt wie Lukas. Ein Junge. Er sah unordentlich und dreckig aus. Er lief nicht so schnell wie Lukas. Gleich würde Lukas ihn einholen. Da begann der Junge zu schreien. Er schrie wie ein Affe im Zoo und ruderte panisch mit seinen Armen durch die Luft. Lukas erschrak und verlangsamte sein Tempo. Was war denn jetzt los? Sah Lukas denn so gefährlich aus?

»Hey, warte doch!«, rief er. »Ich tu dir nichts!«

Der Junge drehte sich im Laufen um und schaute Lukas kurz an. Seine Augen waren weit aufgerissen. Für einen Augenblick schien es, als glaubte er Lukas. Dann schrie er erneut auf. Der Junge war in ein kleines Loch im Boden getreten, mit dem Fuß umgeknickt und zu Boden gefallen. Er hörte nicht auf zu schreien und begann auch wieder, mit den Armen zu rudern.

»Lukas, was ist denn?« Papa war hinter Lukas angekommen.

»Der da war im Wald und hat uns beim Fußballspielen zugeschaut«, brach es aus Lukas heraus. Er zeigte mit ausgestrecktem Arm auf den Jungen, der immer noch schrie. »Als ich ihn entdeckt habe, ist er weggerannt und jetzt hat er sich wahrscheinlich den Fuß verknackst.«

Papa bewegte sich auf den Jungen zu. Der schrie noch mehr und schlug mit den Armen um sich, als könnte er damit alle Welt von sich fernhalten. »Ist ja gut«, redete Papa leise auf ihn ein, »ist ja gut.« Er setzte sich neben den Jungen und griff nach seinem Arm, um ihn zu beruhigen. Der Junge schrie weiter und schlug und trat nun heftig nach Papa.

»Ist ja gut«, sagte Papa immer weiter. Mit einem Ruck zog er den Jungen auf seinen Schoß und hielt ihn mit festem Griff wie ein Baby, das vor lauter Wut und Trotz schreit und trampelt.

Der Junge trat weniger heftig um sich und hörte dann ganz auf. Seine Schreie verstummten. Lukas hörte stattdessen kleine Schluchzer. Weinte der Kerl etwa? Er drückte sein Gesicht ganz tief in Papas Hemd. Seine Haare waren lang und fettig. Er trug ein rotkariertes Flanellhemd über einem hellen T-Shirt, dazu eine Stoffhose, wie man sie an einem guten Sonntag bei schönem Wetter draußen anzog. Dabei waren seine Sachen aber so verschmutzt, dass es für Lukas so aussah, als hätte der fremde Junge mehrere Nächte damit auf dem Waldboden geschlafen. An den Füßen trug er Stoffschuhe, viel zu dünn für diese Jahreszeit. Auch sie waren total zerschlissen. Ein Landstreicher! Ein Landstreicher in den warmen, schützenden Armen seines großen Papas. Und er weinte und weinte.

2

Lukas hatte gar nicht gemerkt, wie Nele und Mama dazugekommen waren. Aber nun standen sie schon eine Weile schweigend nebeneinander und schauten zu, wie Papa diesen fremden Jungen in seinen Armen wiegte, als wäre er ein armes, verzweifeltes Baby. Mama und Papa schauten sich kurz an. Wie so oft schienen sie mit den Augen mehr abzusprechen als andere mit tausend Worten. In der einen Sekunde, in denen sie sich ansahen, schien Papa ihr erklärt zu haben, was vorgefallen war, warum er diesen Jungen nun im Arm hielt und was Mama nun am besten zu tun hätte. Und Mama schien in der einen Sekunde das alles kapiert zu haben. Denn sie setzte sich schweigend neben Papa und strich diesem kleinen Landstreicher liebevoll über die verschmierten, verschwitzten Haare.

Immer und immer wieder.

Als der Junge sein Gesicht von Papas Hemd hob, sah Lukas, wie dreckig er war. Lukas konnte nicht erkennen, ob der Junge unter dem Dreck noch eine andere Hautfarbe hatte. Seine Augen waren dunkel. Seine Gesichtszüge waren weich. Nicht wie die eines Landstreichers oder eines Menschen, der sein ganzes Leben nur im Wald verbracht hatte.

Der Junge schaute Lukas lange an. Dann schaute er zu Nele. Nele gelang natürlich sofort ein Lächeln. »Hallo«, sagte sie, »ich heiße Nele.«

»Und wie heißt du?«, fragte Mama. Der Junge schaute sie an, als wollte er die Antwort mit seinen Augen geben. Dann sah er wieder zu Lukas, danach zu Nele.

»Wie heißt du, hm?«, wiederholte Nele, als ob sie es hier mit einem sehr kleinen Kind zu tun hätte.

»Ich heiße Jens«, sagte Papa, als der Junge wieder zu ihm hochschaute. »Jens Schmidtsteiner.«

Der Junge schaute wieder zu Mama.

»Ich heiße Ute Schmidtsteiner«, fügte sie hinzu, sprach dabei aber so langsam und deutlich, als sollte er ihr die Worte von den Lippen ablesen. »Kannst du uns verstehen?«

Wieder schaute der Junge von einem zum anderen und schmiegte sich schließlich wieder an Papas Bauch.

»Ich heiße Lukas«, sagte Lukas und sah dabei unter sich. Er spürte, wie er eifersüchtig wurde. Dieser fremde Junge hatte nun schon so lange auf Papas Schoß gesessen. Aber wenn Lukas Papa bat, mit ihm fünf Minuten Fußball zu spielen, musste er ziemlich lange bitten und betteln.

»Lass mich mal deinen Fuß anschauen«, sagte Papa schließlich und wandte sich dem angeknacksten Bein des Landstreichers zu.

»Aua«, machte der Junge, als Papa den Fuß ein wenig drehte.

»Na, stumm bist du ja schon mal nicht«, meinte Papa lächelnd und drehte den Fuß weiter vorsichtig hin und her. »Wo tut es denn weh?«

Nach ein paar Versuchen kam Papa zu dem Ergebnis: »Damit kannst du schlecht weiterlaufen. Ich werde dich tragen, ist das okay?«

Als Antwort darauf schlang der Junge seine Arme um Papas Hals. Das war wohl das Zeichen, dass Papa ihn nun hochheben und tragen durfte. Papa stand auf.

»Und taub scheinst du auch nicht zu sein. Willst du denn jetzt sagen, wie du heißt?«

Aber der Junge hatte es sich auf Papas Arm bequem gemacht und legte seinen Kopf auf Papas Schulter.

Mama und die Kinder erhoben sich ebenfalls und schlugen den Weg um das Wäldchen herum zu ihrem Picknicklager ein.

»Wo kommst du denn her?«, fragte Mama. »Wo sind denn deine Eltern?« Und nachdem immer noch keine Antwort kam: »Bist du ganz allein hier im Wald? Wo wohnst du denn?«

Aber der Junge blieb stumm.

»Vielleicht ist der Junge als Baby im Wald ausgesetzt und von Wölfen großgezogen worden«, sagte Nele.

«Nein«, sagte Mama. »Der Junge wird hier bei uns in der Stadt wohnen. Entweder er ist von zu Hause weggelaufen oder er wollte im Wald spielen und hat sich einfach verlaufen. Wir warten noch eine Weile bei uns auf der Picknickdecke, und wenn dann niemand kommt, um ihn zu holen, bringen wir ihn zur Polizei. Sicher hat schon jemand eine Vermisstenmeldung abgegeben, wenn er schon länger von zu Hause weg ist.«

Aber niemand holte ihn ab. Der dreckige Junge saß den Rest des Nachmittags auf ihrer schönen Picknickdecke, fraß sämtliche übrig gebliebenen Joghurts, Äpfel und Brötchen, als hätte er in seinem Leben noch nie was zu essen bekommen, und schaute ansonsten stumm in der Weltgeschichte herum.

Am späten Nachmittag packte die Familie ihre Sachen in den Korb und ging zum Auto. Papa hatte den Dreckjungen auf den Rücken genommen.

Als sie ihr Auto erreichten und den Jungen gerade hineinsetzen wollten, kam der nächste Schock: Der Junge sprang von Papas Rücken herunter, schrie wieder und wäre bestimmt trotz seines angeknacksten Fußes weggelaufen, wenn Papa ihn nicht festgehalten hätte. Dabei waren in dem Geschrei eindeutig Laute zu vernehmen, die wie »Nein! Nein!« klangen.

»Was hast du, es ist doch nur ein Auto«, wollte Papa ihn beruhigen. Aber nichts half. Der Junge begann wieder zu weinen, klammerte sich an Papa fest und trat nach dem Auto.

»Hast du noch nie ein Auto gesehen?«, fragte Papa den Jungen, der weiterschrie und um sich schlug.

»Willst du nicht in die Stadt?«, fragte Mama und begann wieder, seinen Rücken zu streicheln.

»Ist in der Stadt jemand, der dir Angst einjagt?«, versuchte es Papa erneut.

»Ist es das Auto, wovor du Angst hast?«, fragte Mama.

»Junge, wenn du reden kannst, dann verrat uns doch bitte, was los ist«, sagte Papa und seine Stimme bekam einen Ton, in dem schon ein Hauch von Ungeduld mitschwang. Das gefiel Lukas.

»Nein, nicht – da«, war aus dem Gewimmer des Jungen herauszuhören.

»Nicht Auto?«, fragte Mama.

»Oder nicht Stadt?«, hakte Papa nach.

»Nicht Auto«, weinte der Junge.

Mama und Papa schauten sich wieder kurz an. Ein Blick genügte. Papa zog die Augenbrauen hoch: »Na gut, dann wollen wir mal.«

Mit einem Ruck nahm er den Jungen wieder auf den Rücken und wanderte tapfer in Richtung Stadt. Boah, da hatte er sich ja was vorgenommen! Aber wehe, wenn Lukas mal bei einer Wanderung sagte, Papa solle ihn tragen. Na gut, der Junge war fußkrank, aber trotzdem. So langsam bekam er doch ein bisschen zu viel Verwöhnprogramm.

Mama setzte sich auf den Fahrersitz und startete den Wagen. Nele und Lukas stiegen ein. Sie fuhren los, an Papa mit dem merkwürdigen Jungen auf dem Rücken vorbei.

Wenig später fand sich die ganze Familie in einem der Büros im Polizeigebäude der Stadt wieder.

»Diesen Jungen haben wir im Wald gefunden«, erklärte Papa dem Polizeibeamten. »Ich vermute, er steht unter Schock. Er spricht nicht und wir wissen nicht, woher er kommt und wohin er gehört.«

»Der Junge ist ja total verwahrlost«, nuschelte der Polizist, der hinter einer alten Schreibmaschine saß, und schaute sich den Landstreicher genau an. »Junge, wie heißt du denn?«, fragte er so laut, als sei der Junge schwerhörig. Der Junge drehte sein Gesicht weg und klammerte sich fester an Papa.

»Das haben wir ihn auch schon gefragt«, sagte Papa, »aber er antwortet nicht.«

»Junge, wo sind deine Eltern?«, fragte der Polizist ebenso laut wie beim ersten Mal. Keine Antwort. »Ist dir was passiert?« Keine Antwort. »Wo wohnst du denn? Verstehst du uns?«

»Gibt es denn schon eine Vermisstenanzeige, die auf den Jungen passt?«, erkundigte sich Mama.

»Nein.« Der Beamte schüttelte den Kopf. »Aber wir werden den Fall aus Ihrer Sicht aufnehmen. Wenn dann eine Vermisstenmeldung eingeht, werden wir die Daten vergleichen. Vielleicht ist der Junge ja noch nicht lange von zu Hause weg.«

»Ich glaube doch«, sagte Papa und schaute auf die verdreckten Klamotten des Jungen.

Der Polizist spannte einen neuen Papierbogen in seine Schreibmaschine ein und tippte nieder, was Mama, Papa, Nele und Lukas von dem Nachmittag erzählten. Dann machte er noch ein paar Notizen über Größe, Augenfarbe, Gewicht und Alter des Jungen (er schätzte zehn Jahre) und fotografierte sein Gesicht. »Wo soll der Junge denn jetzt bleiben, bis seine Eltern sich bei Ihnen melden?«, wollte Mama wissen.

»Es gibt eine Notaufnahme beim Jugendamt, zu der Sie den Jungen gleich bringen können«, begann der Polizist. Das hatte der Landstreicher anscheinend verstanden. Denn bei diesem Wort klammerte er sich noch mehr an Papas Hals und begann auch ein bisschen zu wimmern.

Mama und Papa schauten sich an, dann sahen sie zum Polizisten, der kurz entschlossen zum Telefonhörer griff. »Warten Sie einen Augenblick«, sagte er.

Wenige Minuten später legte er den Hörer wieder auf und sagte: »Frau Rosenbaum vom Jugendamt ist damit einverstanden, dass der Junge für heute Abend mit zu Ihnen geht. Anscheinend hat er zu Ihnen Vertrauen gefasst. In dem Fall ist er bei Ihnen vorerst besser aufgehoben als in einem Kinderheim. Wäre das okay für Sie?«

Mama und Papa schauten zu Lukas und Nele. Lukas ahnte schon, was jetzt kam. »Lukas, Nele, wärt ihr damit einverstanden, wenn der Junge heute Nacht bei uns bleibt?«, fragte Mama und zog auf ihre typische Weise die Augenbrauen hoch, wie sie es immer tat, wenn sie etwas von ihren Kindern wollte. »Es ist ja nur, bis seine Eltern sich hier melden und ihn wieder abholen. Ja?«

So eine doofe Frage! Eigentlich hatte Lukas keine Lust, nun auch noch den restlichen Abend diesen stinkenden Brocken bei sich im Haus zu haben. Der hatte nun lange genug im Mittelpunkt gestanden. Aber was sollte er schon anderes antworten als »ja«? Immerhin war Lukas nicht nur der ältere der Geschwister, er galt auch immer als der »vernünftigste«. Meistens brachte ihm das viele Vorteile und er wurde oft gelobt. Aber manchmal hatte er keine Lust mehr, vernünftig zu sein. Zum Beispiel jetzt.

Nele war ihm zuvorgekommen und hatte schon laut: »Ja, hurra!« gerufen. Mit gesenktem Blick antwortete auch Lukas: »Ja, natürlich ist das okay.« Und als hätte Mama seine Gedanken erraten, küsste sie ihn auf die Stirn und sagte: »Du bist ganz tapfer, mein vernünftiger Junge!«

3

Der Junge aus dem Wald wollte auch auf dem Nachhauseweg nicht ins Auto. Irgendwie hatte er da eine Macke. Normale Kinder hatten doch schon mal ein Auto von innen gesehen! Aber Mama hatte schon vorgesorgt und vorsichtshalber von zu Hause einen Leiterwagen mitgebracht. Den holte sie jetzt aus dem Kofferraum. Der Leiterwagen gefiel dem Jungen. Er stieg sogar ohne Hilfe ein, setzte sich und grinste übers ganze Gesicht, während Papa ihn damit die Straße entlangzog.

Es war schon dunkel, als der Leiterwagen in den Lerchenweg einbog. Lukas und Nele waren ja bereits mit Mama zusammen im Auto nach Hause gefahren. Jetzt hörten sie, wie Papa dem Jungen laut alles erzählte, was er unterwegs sah, obwohl er genau wusste, dass er keine Antwort bekommen würde: »So, das hier ist unsere Straße. Hier im ersten Haus wohnt Familie Dimitri, hier gegenüber in dem großen Haus wohnen sechs Familien, eine davon hat Kinder im Alter von Lukas und Nele. Hier neben Dimitris wohnen Herr und Frau Müller, die haben schon große Kinder, die sind schon ausgezogen und haben selbst Familien, so, und daneben wohnen wir.« Er schnaufte schon ein bisschen, als er seine Stadtrundfahrt vor der Haustür beendet hatte, aber er wirkte dabei fröhlich und vergnügt. Der Junge stieg selbstständig aus dem Wagen und gab einen fröhlichen Ton von sich, als wollte er Danke sagen. Ob er tatsächlich nicht sprechen konnte? Aber er konnte doch »nein, nein« und »nicht Auto« sagen.