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Dr. Sonntag
– 7 –

Gefühle preiswert abzugeben

Wenn das so einfach wäre!

Peik Volmer

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-545-8

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Sehr verehrte Leserin, sehr geehrter Leser! Stellen Sie sich vor: Ihnen begegnet sie, die Liebe auf den ersten Blick. Da haben Sie den Salat! Ohne Ankündigung betreten Sie sein oder ihr Haus. Sie merken – hoppla! Da wohnt ja noch jemand? Eine Frau? Ist der Herr gebunden? Und wenn ja: Warum hat er nichts gesagt? Warum gibt er vor, auch in Sie verliebt zu sein? Dabei denke ich, dass er doch wirklich einen guten Eindruck gemacht hat, der Kilian, oder? Seriös, wenigstens. Was ist da los?

Haben Sie auch schon mal davon geträumt – was wäre, wenn … ja, wenn ausgerechnet Sie den Jackpot abräumten? 7,5 Millionen! Was könnte man damit alles machen? Also, ich hätte da die eine oder andere Idee, das können Sie glauben! Was ich überraschend finde, ist, dass Ludwig nur den geringsten Teil der Kohle für sich ausgeben will. Er verteilt ja schon kräftig. Aber wer weiß? Vielleicht macht ihn das glücklicher, als sich selbst ›mein Haus, mein Boot, mein Pferd‹ zu leisten. Ich könnte mir vorstellen, dass Geld so vielleicht doch glücklich machen kann. Du kannst nichts mitnehmen, sagte meine Oma immer. Und ›Das letzte Hemd hat keine Taschen‹. Recht hatte sie.

Am wichtigsten ist allerdings die Frage: Was ist den nun mit unserem Chefarzt? Ist er inzwischen doch wieder gesund geworden? Oder muss er den Beruf an den Nagel hängen? Haben Sie nachgesehen? Steht irgendwas von ›letzte Folge› auf dem Einband? Nicht? Aha! Dann ist es wohl wie bei Ihnen und bei mir. Wie im wahren Leben, eben. Es geht immer irgendwie weiter. Wie meinen Sie? Ja, Sie haben recht. Auch ein Spruch meiner Oma!

So, wo sind wir gerade? Ein schönes Haus, bayrischer Stil. Wir befinden uns mit Frau Fürstenrieder und Herrn Kreuzeder auf dem Flur im Eingangsbereich. Erinnern wir uns: Oben ging gerade das Licht an, und eine Frauenstimme rief nach Kilian …

Enttäuschungen

Der Blick, den Frau Fürstenrieder Kilian zuwarf, kombinierte Entsetzen und Enttäuschung. Sie verharrte in Erstarrung wie weiland Lots Weib, als könnte Sie durch völlige Bewegungslosigkeit die Katastrophe, den Untergang ihrer Träume und Hoffnungen, verhindern.

Wortlos öffnete Kilian eine Tür und griff hinein, um den Lichtschalter zu drücken.

»Hier, die Gästetoilette! Entschuldige mich bitte«, bat er höflich in seinem sonoren Bass und eilte die Treppe hinauf. Eine Tür in der oberen Etage wurde geschlossen, das Licht erlosch. Karin Fürstenrieder vernahm einen hitzigen Dialog, nicht wütend, aber engagiert. Offenbar beschimpfte die weibliche Stimme den Mann. Die männliche, Kilians Stimme, versuchte zu beschwichtigen, sachlich und streng.

Was ist mit mir los?, dachte Karin Fürstenrieder. Ich stehe hier und lausche? Sie begab sich zur Toilette. Als sie diese wieder verließ, fiel ihr Blick auf Kilian, der niedergeschlagen auf der vorletzten Treppenstufe Platz genommen hatte.

»Ich denke, es ist besser, wenn du mir ab hier ein Taxi rufst«, stellte Karin fest. »Wie es scheint, bist du hier unabkömmlich.«

Sie hatte ruhig gesprochen, beherrscht.

»Das kommt gar nicht infrage, Karin. Ich fahre dich und ich erkläre dir alles.«

Galant öffnete er den Wagenschlag für die Dame. Schweigend fuhren sie über die Bundesstraße nach Schliersee hinein.

»Hier rechts, über die Gleise. Jetzt noch ein paar Meter geradeaus. So, hier rechts. Hier wohne ich.«

Er stieg aus, eilte um den Wagen herum und half ihr mit der Tür. Sie öffnete den Mund, um sich zu verabschieden, aber er kam ihr zuvor.

»Ich begleite dich noch bis zur Eingangstür.«

Sie schwiegen noch immer.

»Karin, ich glaube, ich bin dir eine Erklärung schuldig!«

»Das bist du nicht, Kilian. Aber wenn du etwas erklären möchtest, könntest du das zügig tun? Es ist Februar und inzwischen doch etwas frisch!«

Wunderbar, wie ruhig sie blieb, dachte sie. Keine Szene, kein hysterisches Gelächter, keine Tränen. Sie blieb überlegen. Herrin der Lage.

»Du denkst bestimmt, dass die Frau, die du bei mir zu Hause gehört hast, meine Frau ist, die ich dir verheimlicht habe, oder?«

»Ich denke gar nichts, Kilian«, log sie lächelnd. »Ich nehme aber an, dass da etwas nicht stimmt. Wir haben einen Abend lang zusammengesessen und über alles Mögliche gesprochen, nur nicht über deine Mitbewohnerin. Nicht einmal eine Andeutung. Du musst mir zugestehen, dass mich das überrascht.«

»Gewiss doch, Karin. Aber lass mich erklären. Diese Frau ist meine Mutter. Sie ist dement. Nicht Alzheimer. Sie vergisst nur viel und ist desorientiert und verwirrt. Mal glaubt sie, dass mein Vater noch am Leben ist, dann spricht sie mich mit seinem Namen an. Mal nimmt sie mich als kleinen Jungen wahr. Dann denkt sie, dass wir noch in Bad Reichenhall sind und wundert sich, warum der Blick aus ihrem Fenster ein anderes Bild zeigt. Ich wollte sie schon in eine Seniorenwohnanlage geben, aber ich hatte nicht das Herz. Verstehst du das?«

»Natürlich, Kilian. Selbstverständlich verstehe ich das. Aber du bist doch den ganzen Tag in der Redaktion! Wer kümmert sich denn dann um sie?«

»Zweimal am Tag kommt ein ambulanter Pflegedienst, und ich bin nur an zwei Tagen im Büro. Zur Mittagspause fahre ich an diesen Tagen nach Hause. Und sonst – Home-Office! Gott sei Dank kann ich das meiste vom Computer daheim erledigen!«

»Und jetzt suchst du vermutlich eine zuverlässige Kraft, die sich mit dir um sie kümmert? Da kam ich dir ja gerade gelegen, oder?«

»Karin! Denkst du wirklich so schlecht von mir?«

»Ich weiß leider gerade gar nicht, was ich denken soll, Kilian. Hättest du diesen Umstand gleich zu Beginn unserer Bekanntschaft erwähnt, wäre ich nicht misstrauisch geworden. Hätte mich nicht das menschliche Rühren gepackt, wüsste ich ja immer noch nicht, dass deine Mutter mit dir zusammenwohnt.«

»Ich wollte es dir sagen, wirklich. Aber die Zeit verging so schnell, und es gab so viel zu besprechen, das wichtiger erschien!«

»Wichtiger?« Sie lächelte. »Was könnte denn einer Frau wichtiger sein als zu erfahren, dass der Mann, für den sie sich interessiert, nicht frei ist?«

Er schwieg und sah zu Boden.

»Mir wird kalt. Ich danke dir für die Einladung, Kilian. Und fürs Heimbringen. Gute Nacht. – Ach ja: Ich hatte meine Annonce zerrissen, du erinnerst dich. Ich schicke dir eine neue per Post, zu deinen Händen.«

Seine Augen ruhten traurig auf ihr.

»Wir sehen uns nicht wieder?«

»Wer weiß? Vielleicht musst du irgendwann mal in die Klinik?«

Autsch, das tat weh. Aber sie hatte ja recht. Er hatte nicht mit offenen Karten gespielt – aus gutem Grund. Schon einige Male war es ihm so ergangen. Keine Frau war bereit gewesen, ihn mit seiner Mutter zu teilen. Es war ja auch wirklich problematisch. Grundsätzlich war sie sanft wie ein Lamm. Aber in ihrer geistigen Umdämmerung konnte sie laut werden, aggressiv, ungerecht und anspruchsvoll. Ununterbrochen forderte sie etwas, und wenn es Aufmerksamkeit war.

*

»Und, meine Dame?«, erkundigte Ludwig sich gutgelaunt. »Ich bin überrascht, dass Sie nach Hause kommen! Ich dachte, der große Unbekannte hätte Sie abgeschleppt!«

Die Dame war entrüstet.

»Abgeschleppt, also wirklich! Was für eine Ausdrucksweise! Ich bin ja kein Teenager mehr! Abgeschleppt! Das wäre ja wohl noch schöner!«

»Und? Was stand der Fortsetzung eines romantischen Abends im Wege?«

»Seine Frau Mutter. Sie wartete, dement, wie sie ist, im ersten Stock auf die Heimkehr des Sohnes, den sie gelegentlich mit dem verblichenen Gatten verwechselt.«

»Und der Herr suchte eine 24-Stunden-Pflegekraft?«

»Sagen wir so: Er hat es bestritten. Aber darauf wäre es hinausgelaufen, wenn ich nicht die Notbremse gezogen hätte!«

»Ach, Mensch! Das tut mir leid, ehrlich! Ich habe doch gesehen, wie froh Sie waren!«

Die Chefsekretärin ließ sich in einen Sessel fallen und streifte ihre Schuhe von den Füßen.

»Weißt du, Ludwig, ich erwarte ja gar nicht, einen Menschen zu treffen, mit dem immer alles wunderbar und fabelhaft ist. Aber es wäre doch schön, dem Menschen zu begegnen, ohne den das Leben keinen Sinn macht. Oder irre ich mich?«

»Eierlikör?«, fragte der junge Arzt, der die Flasche bereits in der Hand hielt.

»Eierlikör«, bestätigte seine Vermieterin. »Aber einen Doppelten!«

Sie trug ihre Schuhe zur Garderobe, während Ludwig einschenkte.

*

»Lieber Herr Professor Sonntag! Wir alle warten auf den Tag, an dem Sie endlich zurück in Amt und Würden sind! Wissen Sie, dass ich seit Ihrem entsetzlichen Unfall in den Sonntagsmessen mit meinen Schäfchen für Sie gebetet habe?«

Der chefärztliche Patient lachte.

»Ach so! Daran liegt es also, dass ich noch am Leben bin! Und ich hatte angenommen, dass ich das den Apparaten und Medikamenten und nicht zuletzt der Heilkunst der Ärzte verdanke! Gut, dass Sie mich aufklären, Herr Pfarrer Ettenhuber!«

Der beleibte Geistliche schaute irritiert drein.

»Unterschätzet nicht die Kraft des Gebets, mein Sohn!«

»Auf keinen Fall, Hochwürden. Ich vertraue im Zweifel aber lieber auf die Kraft des Skalpells! Obwohl … Man sagte mir, als Sie das letzte Mal an meinem Krankenbett auftauchten, hätte das ein Kammerflimmern bei mir ausgelöst! Sie scheinen tatsächlich übersinnliche Fähigkeiten zu haben!«

»Sie machen sich lustig über mich?« Valerian Ettenhuber schob beleidigt die Unterlippe vor.

»Aber nicht doch! Wie kommen Sie bloß darauf! Nein, wirklich. Ich freue mich über Ihren Besuch! Ich gebe allerdings zu, dass ich es nicht so mit dem Gebet habe. In meiner Jugend, ja. Auch noch als junger Arzt. Lachen Sie jetzt nicht, bitte! Ich habe zum Beispiel für meine Patienten gebetet. Und? Was soll ich Ihnen sagen? Es hat nie etwas genützt!«

»Ja, mein Sohn, die Wege des Herrn …!«

»Von diesem Standpunkt aus betrachtet, hätten dann Sie recht!«

*

Ludwig hatte alle Hände voll zu tun. Er löste all seine Versprechen ein. Das Da-Vinci-Operationssystem wurde eingebaut. Noch Jahre hinterher lachte man in der Klinik St. Bernhard über Herrn Somnitz, den Verwaltungsleiter, auf dessen Schreibtisch naturgemäß die Rechnung über gut zwei Millionen Euro landete. Noch nie hatte man diesen Herrn, der nach außen hin unangenehm pingelig und geschäftsmäßig sein konnte, aber im Grunde genommen ein freundlicher, heiterer Charakter war, verzweifelter gesehen.

»Wer hat das bestellt? Der Antrag hätte einer Genehmigung bedurft! Meiner, der der Stadt, und der des Landratsamtes! Was ist da schief gelaufen? Die Arbeiten müssen umgehend gestoppt werden! Vielleicht kann man die Anlage noch zurückgeben!«

Dr. Ludwig Lechner beruhigte den Mann. Er erklärte, dass der Roboter Egidius in die Lage versetzen würde, operativ tätig zu sein, trotz Querschnittslähmung.

»Und außerdem, Herr Somnitz: Diese Anlage wird den Ruf von St. Bernhard in nie dagewesener Weise heben! Nicht einmal jede Uni-Klinik hat den Da-Vinci! Und die Analysen seiner Leistung und die Daten der behandelten Patienten sind fantastisch! Wir werden uns vor Anmeldungen gar nicht retten können!«

»Aber lieber Herr Dr. Lechner, das will doch auch alles bezahlt werden!«, rief der Verwaltungsleiter verzweifelt. »Zwei Millionen! Wer verfügt denn über so viel Geld? Gibt es schon Berechnungen, wann sich der Einsatz der neuen Technik amortisiert haben wird? Die Oberfinanzdirektion wird mich fragen!«

»Dabei kann ich Ihnen nicht helfen. Aber das Ganze ist bezahlt. Ich habe einen finanzkräftigen Sponsor. Ich habe eine Garantie für fünf Jahre und einen Gratis-Wartungsvertrag ausgehandelt. Na? Bin ich tüchtig?«

»Sehr tüchtig«, ächzte Herr Somnitz, und floh in seine geordnete, sichere Umgebung.

Ludwig hatte auch dafür gesorgt, dass Egidius mit dem Hubschrauber nach Greifswald und wieder zurück transportiert wurde. Die Kollegen in der BDH-Klinik waren die mit der längsten Erfahrung in Deutschland und passten ihr ReWalk-System perfekt an.

»Der zusätzliche Nutzen besteht darin, dass jeder Schritt, den Sie mit dem Exoskelett machen, gleichzeitig ein Training für Nerven und Mus­kulatur darstellt. Man darf ja bei Ihnen, Herr Kollege Sonntag, immer noch davon ausgehen, dass eines Tages die normale Funktion wiederkehrt. Und dies hier wird Ihnen dabei helfen!«

Egidius, der von Ludwig begleitet wurde, bereitete sich auf den Rückflug vor. Kinder, Kinder. Was für ein Aufwand seinetwegen betrieben wurde. Als ob er so wichtig war! So ein Quatsch! Man hätte einfach abwarten und einen anderen Kollegen einstellen sollen, so lange, bis er – naja, und wenn die Funktion der Beine nicht zurückkäme, dann wäre es das eben gewesen! Er hatte gut eingezahlt in das Versorgungswerk für Ärzte! Corinna hätte aus ihrem Verdienst den täglichen Kram bestritten, das Haus war frei von Hypotheken und Schulden. Natürlich tat es gut zu erleben, wie alle sich Sorgen machten und sich um ihn bemühten. Aber er war nicht unersetzlich! Im Gegenteil! Viele warteten auf einen Chefarztposten wie den seinen, noch dazu in einem akademischen Lehrkrankenhaus, dass auch noch die wissenschaftliche Karriere förderte!

Es war Abend geworden. Endlich lag Egidius wieder in seinem Bett. Ludwig war noch immer im Zustand glücklicher Aufregung. Seine Wangen brannten, seine Augen leuchteten.

»Das war vielleicht ein Ausflug, was? Soll ich Ihnen was sagen, Herr Professor? Ich musste mich echt zusammenreißen, um mir nicht in die Hose zu machen. Ich habe schreckliche Flugangst!« Er lachte unsicher. »So. Jetzt lasse ich Sie allein. Schlafen Sie gut!«

»Halt, mein Junge, geh noch nicht! Ich muss noch etwas mit dir reden! Willst du mir nicht den Namen des Geldgebers verraten? Wem liegt so viel daran, dass ich mein Amt hier weiter ausführen kann?«

Der junge Arzt schüttelte nachdrücklich seinen Kopf.

»Das geht leider nicht. Täte ich das, zöge er seine Zusagen und sein Kapital zurück. Er sagte mir, dass Sie ihm mal sehr geholfen haben. Und dass Sie derjenige waren, der an ihn geglaubt hat – einfach so, ohne Bedingungen, als niemand sonst ihm etwas zutraute. Das würde er Ihnen nie vergessen, beichtete er mir. Und er freue sich, dass es ihm möglich wäre, Ihnen etwas zurückzugeben von dem, was Sie ihm geschenkt haben.«