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Table of Contents

Vorwort

1. Das alte Bildnis

2. Das Mädchen und die Räuber

3. Das Wunderkästchen

4. Der kluge Hirtenjunge

5. Der verhexte Bruder

6. Die arme kleine Mücke

7. Die Geschichte vom Fuchs und vom Storch

8. Die große Nase

9. Die grünen Seidenschuhe

10. Die Mondscheininsel

11. Die Suppe aus des Teufels Küche

12. Die tote Stadt

13. Hasenjagd zu Wasser

14. Im Pummelmummelhaus

15. Katz und Maus

16. Wie der Bauer die Gänse teilte

Impressum

Vorwort / über Berthold Reichel

Herdecke, 23.08.2019

 

Berthold Reichel begleitet mich seit meiner frühesten Kindheit. Meine Mutter saß oft bei mir oder meinen Geschwistern am Bett, um uns Geschichten vorzulesen. Dazu zählten natürlich bekannte Märchen der Gebrüder Grimm oder die fantastischen Abenteuer der Pippi Langstrumpf. Manchmal kam es aber auch vor, dass Mama ein Buch von „Opa selig“ mit ins Kinderzimmer nahm. Schon früh erfuhr ich, dass der geheimnisvolle Opa nicht „Selig“ mit Vornamen hieß, sondern Berthold. Und dass es mich um meinen Urgroßvater handelte, den selbst mein Vater und seine Geschwister nicht mehr kennenlernen konnten. Mein Vater ist Jahrgang 1941, sein großer Bruder war kaum älter – und Berthold Reichel verstarb 1936. Wahrscheinlich rührte daher die Formulierung „Opa selig“: Eben der Opa, der nicht mehr unter den Lebenden weilte, aber weiterhin ein fester Teil der Familie blieb. Kein Wunder, bei dessen ungeheurer Kreativität und Schaffenskraft, die er in seinem viel zu kurzen Leben unterzubringen wusste.

 

Berthold Reichel wurde am 23.08.1881 in Bordesholm geboren und wuchs anschließend in Rendsburg auf. Früh muss er sich für den Beruf des Lehrers entschieden haben, zu dem er in Apenrade (heute dänisch Åbenrå) und Eckernförde ausgebildet wurde. Als solcher arbeitete er kurzzeitig in Prinzenmoor und Neumünster. 1913 kam er dann als Mittelschullehrer für Biologie, Kunst, Musik und Englisch nach Kappeln an der Schlei.

Als fantasievoller, vielseitig interessierter junger Mann begann er schon früh, Märchen, Geschichten und Gedichte niederzuschreiben. Es gibt auch einige Lieder, deren Melodien und Texte von Berthold Reichel stammen.

Die Kriegsjahre 1914 bis 1918 war er Soldat. Sein Talent im Anfertigen von Scherenschnitten hatte er wohl schon Jahre vor Kriegsbeginn entdeckt und muss bald schon sehr geschickt darin gewesen sein. Das Schneiden wurde jedenfalls zu einem so wichtigen Hobby, dass er Schere und Papier mit an die Front nach Flandern und Frankreich nahm. Womöglich, so lassen sich Auszüge seiner ebenfalls dort entstandenen, schriftlichen Kriegserinnerungen interpretieren, erntete er dafür teilweise etwas Spott seiner Kameraden. Spätestens, als er Wartezeiten im Schützengraben damit überbrückte, ebenjene mit Papier und Schere zu portraitieren, erwiesen sie ihm aber höchsten Respekt. Doch schon jetzt waren es nicht nur Portraits, sondern Tiere, Eindrücke aus der Natur, Tiere, Hexen, Nymphen und allerlei andere Fabelwesen, die er zu Papier brachte. Der Hintergrund dafür ist rasch erklärt: Im Schützengraben erinnerte sich Berthold gerne an seine Geschichten und unterhielt damit seine Kameraden. Vielleicht ist ihm dabei der Gedanke gekommen, dass bebilderte Geschichten besser funktionieren als solche, die aus reinem Text bestehen. Womit er den richtigen Riecher gehabt haben dürfte, denn ich war schon immer begeistert vom zeitlosen und oftmals sehr naturnahen Charakter seiner Scherenschnitte.

Nach dem Krieg half ihm sein Talent, das inzwischen erworbene Kappelner Haus abzuzahlen und die Familie zu ernähren. Denn als Mittelschullehrer wurde er nur dürftig bezahlt, also freute er sich über Aufträge als Künstler. Einige Zeitschriften und Verlage ließen ihn Grimms Märchen und Theodor Storms Novellen illustrieren. Im Jahre 1927 erschien mit dem „Hexenkoffer“ auch sein erstes Buch, das er mit eigenen Scherenschnitten illustrierte.

Als er 1936 an den Folgen einer Tuberkulose starb, hinterließ er nicht nur eine junge Familie, sondern auch einen kreativen Schatz, dessen sich die Familie annahm.

 

Seine Tochter Agnes, meine Großmutter, betätigte sich als Töpfermeisterin ebenfalls kreativ. Außerdem griff sie selbst gerne zur Schere, um die Motive ihres Vaters nachzuschneiden. Auch war es ihre Idee, einige der schönsten Motive als Postkarte herauszubringen und zu verkaufen.

In der nächsten Generation ging die Töpferei an ihren Sohn Rüdiger, meinen Onkel, weiter. Mein Vater Gerhard hingegen griff nach dem Tode meiner Großmutter 1992 das „Projekt Scherenschnitt“ auf, um es zu erweitern. Gemeinsam mit meiner Mutter überträgt er die Kunst Berthold Reichels (sowie die vieler anderer Scherenschnittkünstler) auf Postkarten, Tischkarten, Tischlaternchen, Geschenkanhänger, Lesezeichen und mittlerweile auch auf die von mir und meiner Lebensgefährtin Joana ersonnenen Schokobanderolen. Meine Mutter Ulrike Saß-Stock ist zudem als Kunsthandwerkerin geschickt darin, die Scherenschnitte zu Sägeschnitten zu machen: Unter ihren Händen entstehen aus Sperrholz schöne Dinge wie Bücherständer, Fotomappen und Weihnachtsdekoration. Die genannten Produkte verkaufen meine Eltern vor allem auf Kunsthandwerker- und Weihnachtsmärkten.

 

Inzwischen ist die nächste Generation von Berthold Reichels Erben erwachsen. Meine Cousine Debora betreibt die Kappelner Töpferei noch immer an gleicher Adresse. Da ich mich, quasi als Spätberufener, für den Beruf des freien Texters, Redakteurs und Autors entschieden habe, fühle ich mich dem geistigen Erbe meines Urgroßvaters ebenfalls verbunden. Für mich stehen dabei allerdings nicht die Scherenschnitte, sondern die Märchen und Erzählungen von Berthold Reichel im Mittelpunkt.

Beim Blick auf den Kalender stelle ich gerade fest, dass Uropa Berthold heute seinen 138. Geburtstag feiern würde. Ich glaube, dass er diese Neuauflage seiner Märchen und Geschichten begrüßen würde und man sie vielleicht auch als ein Geburtstagsgeschenk verstehen darf. Bei der Abschrift war ich an einigen Stellen etwas irritiert, denn diverse Abschnitte wirken arg eingekürzt. Womöglich ist dadurch auch sinngemäß nicht mehr alles so, wie Berthold Reichel es sich ursprünglich gedacht hatte. Ich möchte mir aber nicht anmaßen, hier in seinem (vermeintlichen) Sinne weiterzudenken. Also habe ich alles so abgeschrieben, wie es mir vorlag. Lediglich habe ich mir erlaubt, einige ellenlange Schachtelsätze der besseren Lesbarkeit wegen zu teilen. Bei den hier zusammengestellten Texten handelt es sich nur um einen Teil seines Gesamtwerkes. Vollständig erhalten geblieben ist selbiges wohl leider nicht mehr, aber wahrscheinlich werden noch einige Bände mit seinen Geschichten folgen.

Nun wünsche ich allen Lesern viel Freude beim Schmökern der Geschichten von Opa selig. Und Dir, Uropa, meinen herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!

 

Anno Stock

 

1. Das alte Bildnis

 

Mit dem Alter wurde der Fischerkatenpeter immer geiziger. Als junger Mann war er ein ganz netter Kerl gewesen, aber er hatte eine geizige Frau geheiratet – und Geiz ist ansteckend wie eine Krankheit. So verbargen die beiden also einen Sparstrumpf nach dem anderen voll harter Taler im Bettstroh und gönnten sich kaum das Notwendigste. Noch viel weniger als sich selber jedoch gönnten sie es der armen, alten Henny, die krank auf einem wackeligen Stuhl in der Ecke saß. Sie war die Schwester von Peters verstorbener Mutter und hatte sich, solange sie es denn konnte, redlich in seinem Haushalt abgemüht. Nun litt sie an der Gicht, konnte keinen Finger mehr rühren und keinen Fuß aufsetzen. Und wenn man ihre Hand nahm, um ihr einen guten Tag zu wünschen, fühlte diese sich an wie mehliger, weicher Brotteig, so kraftlos war sie.

Und doch war Henny einmal das flinkste und schönste Mädchen im ganzen Dorf gewesen. So schön, dass sich ein junger Maler, der bei ihren Eltern ein Zimmer gemietet hatte, um in der schönen Gegend Studien zu machen, schnurstracks in sie verliebte. E r hätte sie auch sicher geheiratet, wenn er nicht vorher im See ertrunken wäre. Damals hatte er eine Seerose für seine Liebste holen wollen, doch da hatte ihn eine Nixe gesehen und nach unten gezogen. Er hatte ein Bild von Henny gemalt, das ganz verstaubt und verräuchert noch immer in einer Kammer hing und von seiner ursprünglichen Schönheit kaum mehr zeugte als die alte Henny von der ihren.

 

Eines Tages flüsterte der Bauer mit seiner Frau und die alte Henny merkte wohl an den Blicken der beiden, dass von ihr die Rede war. Dann sagte der Bauer laut: „Ja, liebe Tante, wir haben eben über dich gesprochen. Wir sehen wohl ein, dass du bei uns nicht die rechte Pflege hast. Ich will dich in die Stadt zu den Barmherzigen Schwestern bringen. Dort wird es dir bald besser gehen.“

Am anderen Tag holte Peter seinen kleinen Leiterwagen heraus. Darauf wurde die alte Tante mit Strohsack und Decken verstaut. Das Pferdchen wurde vorgespannt und nach kurzem Abschied ging es los, immer die Landstraße entlang. Es war ein wundervoller, warmer Sommernachmittag. Die Alte hörte zwischen dem Wagengerumpel den hellen Ton der Lerchen und blickte zu den dunklen Laubkronen der Bäume hinauf, die sich über dem Gespann scharf vom klarblauen Himmel abhoben. Als aber nach längerer Zeit das Gerumpel aufhörte und der Himmel von dunklen Tannenzweigen fast verdeckt war, während sie spüren konnte, dass die Wagenränder durch feinen Sand mahlten, fragte Henny: „Wohin fährst du, Peter?“ „Ich fahre eine Abkürzung“, brummte der, und die Tante gab sich zufrieden.

Nun lag der See an der einen, die Stadt an der entgegengesetzten Seite eines hohen, spitzen Berges, der ganz mit Tannenwald bewachsen war. Vor Urzeiten soll der Berg Feuer gespien haben. An diesem Berg führte ein schmaler Weg etwa zur halben Höhe empor, wo in der Einsamkeit einige Kohlenmeiler standen. Das war der Weg, auf dem Peter mit seiner alten Tante dahinzockelte. Er fuhr aber nicht bis zu den Meilern, sondern hielt plötzlich an, kletterte vom Wagen herunter, nahm die inzwischen fest eingeschlummerte Tante auf den Rücken und stieg mit ihr bergauf. Es war kein Wunder, dass die alte Henny so fest schlief. Denn die Bäuerin hatte eine Flasche mit Wein neben sie gelegt aus der sie trinken sollte, wenn sie durstig würde – und in dem Wein war ein Schlafmittel.

Peter schleppte die alte Tante weit hinauf und legte sie unweit des Berggipfels mitten in der Waldeinsamkeit ins Moos unter einer hohen Tanne. Danach lief er eilig hinab zu seinem wagen und fuhr zurück nach Hause.

 

Henny schlief, als sei sie tot. Über ihr in den Tannenzweigen jagten sich zwei Eichhörnchen und muntere Waldmäuse huschten über Henny hinweg. Als aber eines der Tierchen allzu lebhaft auf der schlafenden Henny herumtanzte, wachte sie auf und schaute sich verwundert um. „Peter!“, rief sie dann, so laut wie sie nur konnte. Mäuse und Eichhörnchen entflohen und aus der Ferne antwortete ein leises Echo: „Peter…“. Tiefe Stille danach. Wieder und wieder rief die alte Frau: „Peter, Peter!“, aber nur das Echo antwortete ihr. Da packte sie eine unheimliche Angst. Sie stöhnte und wimmerte und wälzte sich im dürren Moos. Durst begann sie zu plagen und da sie nicht weit von sich einige rote Waldbeeren erblickte, kroch sie mühselig hin und verzehrte die würzigen Früchte. Immerhin linderten diese ihren Durst ein wenig. Die Anstrengung hatte die Alte aber so erschöpft, dass sie wieder einschlief.

Der Abend dunkelte über ihr, Mond und Sterne zogen auf. Es war gerade Johannisnacht, in der allerhand seltsame Dinge geschehen. Als Henny wieder aufwachte, sah sie durch die Tannenzweige die klare Mondscheibe blitzen und ringsherum war es fast so hell wie am Tage. Ein warmer Dampf umwallte sie und es roch lieblich nach blühenden Veilchen. Sie hörte Rauschen und Plätschern und Tropfen wie von vielen rieselnden Wässerlein. Henny drehte den Kopf seitwärts. Da sah sie dicht neben sich ein marmorweißes Becken, in dessen Wasser sich das Mondlicht spiegelte. Von Durst gepeinigt wälzte sie sich auf das Wasser zu. Als sie aber versuchte, die trockenen Lippen herabzuneigen, stürzte sie kopfüber hinein.

Gleich darauf saß Henny in einer Badewanne, von warmem Wasser umspült und sie fühlte, wie die Kraft in ihre Gelenke zurückkehrte. So konnte sie nicht nur sitzen, sondern auch ihre Hände und Füße gebrauchen. Ihr war so wohl zumute, dass sie gar nicht aufstehen wollte. Warmes Wasser rann ihr von hinten auf Kopf und Schultern. Sie ließ etwas von der Flüssigkeit in ihren Mund laufen und löschte so ihren Durst. Nach einiger Zeit erhob sie sich und stand, während das warme Wasser ihre Füße umspülte, tropfend im klaren Mondlicht. Da sah sie am Bergeshang lauter Becken wie Terrassen angeordnet, die im Mondlicht schimmerten. Von einer Wanne zur nächsten hinab strömte das Wasser in kleinen Wasserfällen und füllte die Luft mit klangvollem Rauschen und Plätschern. „So etwas wunderbares träumte ich nie zuvor!“, dachte Henny und kletterte in das nächste Becken hinab, um ihre Glieder in der warmen Flut wohlig zu dehnen. Von Becken zu Becken stieg Henny und fühlte sich immer kräftiger, frischer und jugendlicher.