Wickert, Ulrich Identifiziert euch!

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Für Julia, Ellie und John


© Piper Verlag GmbH, München 2019
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Was mich antreibt

Der Zustand unserer Gesellschaft macht mir Sorgen. Sie droht auseinanderzufallen. Einerseits wächst die Uninformiertheit im politischen Leben, anderseits bedrohen Gewalt, Egoismus und Individualismus im zivilen Leben den Zusammenhalt der Gemeinschaft. Was ist das für ein Land, in dem Juden vom Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung empfohlen wird, die traditionelle Kopfbedeckung der Kippa in der Öffentlichkeit nicht zu tragen, um nicht körperlichen Angriffen ausgesetzt zu werden? Stattdessen müsste der Staat doch versprechen: Hier ist jeder sicher, und wir sorgen dafür! Da wird der Regierungspräsident Walter Lübcke kaltblütig mit einem Kopfschuss ermordet, mutmaßlich von einem Neonazi, und plötzlich stellt sich heraus: seit Jahren werden besonders Kommunalpolitiker mit dem Tode bedroht. Und der Staat sagt es ihnen in einigen Fällen noch nicht einmal. Es ist nicht neu, dass Verfassungsschutz und Sicherheitsbehörden versagen, wenn es um rechtsradikale Hassbeschimpfungen, Drohungen und Beleidigungen gegen Politiker geht. Und die Justiz zeigt sich merkwürdig tolerant. Der Leipziger Oberbürgermeister und Präsident des Deutschen Städtetages klagt: »Ich vermisse hier eine klarere Haltung des Staates.«

Es läuft gerade etwas ganz grundsätzlich falsch.

Die Frage, was eine Gemeinschaft ausmacht und was sie zusammenhält, hat mich schon früh in meiner journalistischen Laufbahn beschäftigt. Es ist einerseits das Bekenntnis zu gemeinsam erarbeiteten gesellschaftlichen Regeln, genannt Werte und Tugenden, es hat anderseits auch mit Gefühlen zu tun. Denn bei vielen Menschen spielt das Gefühl eine wichtige Rolle, das ergänzt wird – wenn es gut geht – durch die Vernunft. Beides hängt mit der Suche nach Heimat und dem Wissen um eine gemeinsame, auch kollektive oder nationale Identität zusammen.

Ganz unbewusst habe ich früh ein Heimatgefühl gespürt. Die ersten sieben Schuljahre habe ich in Heidelberg verbracht. Es war eine glückliche Zeit, im Mai sammelten wir Hunderte von Maikäfern in Schuhkartons, im Herbst briet uns die eine oder andere Mutter Esskastanien in der Pfanne; Maronen, die wir im Wald auf dem Heiligenberg zusammengerafft hatten. Doch dann zogen wir, ich war gerade 13 Jahre alt, wegen des Berufs meines Vaters nach Paris. Das war 1956, in einer Zeit, in der man von Heidelberg nach Paris mit dem Auto zwölf Stunden fuhr, mit der Bahn war es auch eine Tagesreise. Also keine Zeit, in der man mal eben für ein Wochenende jemanden von Paris aus in Heidelberg besuchte – oder umgekehrt. Ich verließ meine Kumpel aus der Schule und die »Straßenbande« in der Handschuhsheimer Landstraße mit einem melancholischen Gefühl.

Heidelberg besuchte ich erst wieder fünf Jahre später nach dem Abitur, das ich wegen vieler Umschulungen merkwürdigerweise sogar ein Jahr vor meinen ehemaligen Klassenkameraden in Heidelberg bestanden hatte. Ich erinnere mich heute noch, wie ich ihnen damals bei einem Besuch klagte, am liebsten wäre ich in Heidelberg geblieben, wo mich ein heimatliches Gefühl berührte, weil wir eine verschworene Gemeinschaft gebildet hatten – und jede Ecke der Stadt und der umliegenden Wälder kannten. Sie aber lachten mich aus und sagten: »Wie haben wir dich beneidet. Wir wären alle gern ins aufregende Paris gezogen.«

Der Begriff Heimat wurde damals in der Politik häufig diskutiert, denn Flüchtlinge und Vertriebene aus Ostpreußen, aus Schlesien, dem Sudetenland und anderen Gebieten veranstalteten den »Tag der Heimat«, an dem 1956 Vertriebenenminister Theodor Oberländer, ein Alt-Nazi, der schon am Hitlerputsch am 9. November 1923 in München teilgenommen hatte, bekräftigte, dass die Bundesregierung die Forderung der Vertriebenen nach ihrem Heimatrecht unterstütze. Deren Heimatbegriff mag heute noch die AfD vertreten, doch mich beschäftigt ein neues Heimatgefühl. Bezieht sich der Heimatbegriff der AfD doch weitgehend auf die Erde, die Scholle, die Vergangenheit, so gründet das neue Heimatgefühl auf dem kritisch erarbeiteten Wissen um die Geschichte und vielen anderen Elementen, die in so manch einem Fall überhaupt nichts mehr mit dem Ort der Herkunft gemein haben. Heimat mag man als Wort ablehnen, sie bleibt trotzdem ein Grundgefühl der meisten Menschen.

Es hat eine Weile gedauert, bis ich gelernt habe, dass nicht allein das Gefühl für Heimat hilft, eine Gemeinschaft zusammenzuhalten. Und es ist auch nicht verwunderlich, dass mich diese Erkenntnis in Frankreich ereilte, wo ich drei Jahre in eine französische Schule ging und zehn Jahre lang als ARD-Fernsehkorrespondent arbeitete. Ich begann ein Volk zu bewundern, das – ganz anders als die Deutschen – in sich ruht, weil es sich zu seiner Identität bekennt und mit ihr eins zu sein scheint.

In den Achtzigerjahren veröffentlichte der französische Historiker Fernand Braudel, berühmt wegen seiner Universalgeschichte des Mittelmeerraumes, sein Alterswerk mit dem Titel L’Identité de la France – die Identität Frankreichs. In Deutschland erschien es unter dem Titel Frankreich. Der deutsche Verlag verzichtete auf den Begriff Identität, wohl wissend, dass er in Deutschland umstritten ist.

Nationale Identität wird von Braudel nicht politisch, weder rechts noch links, interpretiert, weil dies nicht seiner Definition entspricht. Und dem schließe ich mich voller Überzeugung an. Nationale Identität ist für den Historiker »das lebendige Resultat alles dessen, was die unbeendbare Vergangenheit in aufeinanderfolgenden Schichten geduldig deponiert hat – ganz so, wie die kaum wahrnehmbaren Ablagerungen des Meeres mit der Zeit die mächtigen Aufwerfungen der Erdkruste gebildet haben«.

Wenn ich in Deutschland gegenüber meinen Gesprächspartnern das unverbrüchliche Bekenntnis der Franzosen zu ihrer Identität lobte, wohl weil ich mir – vielleicht ein wenig naiv – das Gleiche für mein Land, für die Deutschen wünschte, erfuhr ich Misstrauen und Ablehnung. Der kluge Rechtsprofessor, SPD-Politiker und zeitweise Kanzleramtsminister von Willy Brandt, Horst Ehmke, mit dem ich gern stritt, hielt davon gar nichts. Noch in der Hauptstadtdebatte im Juni 1991 im Bundestag sagte er zur deutschen Identität: »Ich liebe dieses Wort nicht besonders, weil es auf die Kategorien von Vergangenheit und Geschlossenheit rekurriert. Ich rede lieber von Selbstverständnis. Die Deutschen sind ja nicht seit Hermann dem Cherusker ein und dieselben geblieben.« Für ihn war Identität offenbar das, was sie heute noch für Vertreter der AfD und andere Rechtsradikale ist, wie etwa auch jene, die sich die Identitären nennen, übrigens eine Bewegung, die aus Frankreich stammt. Identität lässt sich leicht missbrauchen. Die rechte Gruppierung im 2019 neu gewählten Europaparlament nennt sich deshalb auch »Identität und Demokratie«. Denn selbst gebildete Leute missverstehen Identität häufig als eine reaktionäre Aussage wie – ich will es leicht ironisch formulieren – »Alle Deutschen sind Germanen. Ausländer raus.«

Eine gewisse Verzweiflung überkam mich deshalb, als Bundespräsident Roman Herzog in seiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1994 kurzerhand die Existenz einer deutschen Identität abstritt. Er sagte: »Wer über dieses Thema spricht, von dem werden heute mehr Wehklagen als Aussagen erwartet. Aber daran will ich mich nicht beteiligen, zumal ich immer noch keinen gefunden habe, der mir erklären könnte, was ›nationale Identität‹ eigentlich ist – ›nationale Identität‹, die uns angeblich fehlt und die wir angeblich dringend benötigen.« Ich vermute, dass auch er dem Irrglauben verfallen war, »nationale Identität« entspringe dem Wortschatz der Vergangenheit. Was aber nicht der Fall ist.

Man mag auch die Existenz einer nationalen Identität ablehnen. Sie besteht trotzdem und ist zusammen mit dem Heimatgefühl ein wesentlicher Grundstein für eine funktionierende Gemeinschaft! Deshalb sollten wir uns zu einem neuen Heimatgefühl und zu unserer kollektiven Identität bekennen, um unser Land in eine vernünftige und sichere Zukunft führen zu können. Deshalb meine Bitte: Identifiziert Euch!

Es ist höchste Zeit!

Wir müssen ran! Und zwar schleunigst. Wenn wir jetzt nicht handeln, zerbröselt Deutschland im Burn-out. Ganz selbstgefällig.

Wir müssen unsere Ängste überwinden, der Wirklichkeit ins Auge schauen und allen Mut zusammennehmen, um das, was unsere Gesellschaftsordnung bedroht, zu bekämpfen.

Wir scheinen vergessen zu haben, dass in einer Demokratie jeder Bürger Verantwortung für den Zustand der Gesellschaft hat, in der er lebt.

 

Nun mal langsam: Bitte keinen Alarmismus!

Was ist denn los? Ist es wirklich so schlimm?

Die Lage in Deutschland ist merkwürdig widersprüchlich: Einerseits geht es dem Land so gut wie lange nicht mehr. Anderseits fühlen wir, dass die gesellschaftlichen Herausforderungen und Verwerfungen stärker werden.

Auf der einen Seite stellen wir fest: Die Arbeitslosigkeit sinkt in jeder monatlichen Meldung stets auf ein noch niedrigeres Niveau, um das ganz Europa die Deutschen beneidet. Unternehmen suchen händeringend Fachkräfte. Steuereinnahmen sind jahrelang gesprudelt. Die Rücklagen der Sozialkassen sind immens, der Staat macht keine Schulden mehr. Geld, so sagen die Banken, sei im Überfluss vorhanden, weshalb es zu so billigen Zinsen verliehen wird, dass Hauskredite unter zwei Prozent liegen, woraufhin der Wert von Immobilien rasend steigt. Macht aber nichts, denn es scheint tatsächlich so, als sei Geld genug vorhanden. Flughäfen können den Ansturm der Urlaubsreisenden bei Ferienbeginn kaum noch bewältigen, die Haushaltsrealeinkommen steigen laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung stetig, und die Einkaufszentren sind voll.

Doch der Schein trügt, denn es gibt durchaus Anlass für Klagen. Und zwar in sehr vielen Bereichen: Mit dem steigenden Wohlstand hat sich nämlich auch die Ungleichheit verschärft. Die Schere geht auf. Millionen Menschen verdienen in Deutschland zu wenig, um die Familie ernähren zu können – die Haushaltsrealeinkommen der untersten 10 Prozent sanken in den letzten Jahren sogar. Seine Familie ernähren zu können, hatte schon im 18. Jahrhundert Adam Smith, Vater der klassischen Nationalökonomie, in seinem Werk Der Wohlstand der Nationen als Maßstab für einen gerechten Lohn bezeichnet. Der Mindestlohn müsse auf mindestens zwölf Euro die Stunde erhöht werden, erklärte selbst Bundesfinanzminister Olaf Scholz in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Aber es geschieht nichts, während die bereits hohen Gehälter von DAX-Vorständen – nach einer Studie der Unternehmensberatung hkp im Schnitt 7,51 Millionen Euro – jährlich steigen.

Geld sei im Überfluss vorhanden, sagen die Banken, aber Einkommen und Vermögen in Deutschland sind ungerecht verteilt. Mittlerweile verdienen die DAX-Manager im Vorstand im Schnitt das 71-Fache eines durchschnittlichen Angestellten, hat die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linken im März 2019 hin festgestellt. Die höchste Vergütung bekommen Vorstandsvorsitzende. Bei ihnen ist der Abstand zur Belegschaft noch größer. Zwölf Unternehmen zahlen dem (männlichen) Vorstandschef mindestens das 100-Fache des durchschnittlichen Gehalts. Die Post liegt dabei ganz vorne: Ihr Chef Frank Appel verdient das 232-Fache seiner Mitarbeiter, so eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung. Gleichzeitig aber spart die Post bei den Briefträgern und liefert mancherorts schon nicht mehr jeden Tag die Post aus.

Die Politik in Deutschland hat es seit Bestehen der Bundesrepublik versäumt, der ärmeren Hälfte der Bevölkerung zu helfen, Vermögen aufzubauen. Das würde am besten über Immobilien gelingen. Doch anders als in Großbritannien oder in den sozialdemokratisch geführten Ländern Skandinaviens hat die SPD sich stets dagegengewandt, Wohnungseigentum für Arbeiter zu fördern. Als ich den damaligen Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) auf das britische Beispiel hinwies, wo fast 80 Prozent der Familien ein Haus besitzen, das ihnen als Finanzreserve für das Alter dient, wiegelte er ab, in Deutschland sei das Sparbuch wichtiger. Aber wer spart, erhält seit langer Zeit keine Zinsen mehr.

 

Mit dem Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau (SPD) diskutierte ich über die, wie ich fand, merkwürdige Steuererleichterung für Schiffsinvestitionen. Wer 100 000 Euro in ein Schiff investierte, erhielt 50 000 Euro Steuererleichterung. Das konnte ein Normalbürger doch niemals nutzen. Da meinte Voscherau, die Steuererleichterung verlangten die Hamburger. Nun, diese Forderung kam nur von manchen: den Hamburger Reedern oder »reichen Pfeffersäcken«, wie Hanseaten ihre Kaufleute nennen. Der durchschnittlich verdienende Hamburger konnte sich solch einen Luxus, in ein Schiff zu investieren, um Steuern zu sparen, gar nicht leisten. Allerdings brach das System der steuerbefreiten Schiffsinvestitionen zusammen, als es nach der Finanzkrise 2008 plötzlich allzu viele Containerschiffe gab. Die reichen Reeder hatten sich Unsummen für Schiffsinvestitionen etwa bei der HSH-Nordbank, die den Ländern Hamburg und Schleswig-Holstein gehörte, geliehen. Die Bank machte pleite, weil viele Schiffskredite nicht zurückgezahlt werden konnten. Das kostete den Steuerzahler allein in Schleswig-Holstein bis zu sieben Milliarden Euro, jene in Hamburg noch einmal das Gleiche, während die insolventen Reeder die durch Steuererleichterungen gewonnenen privaten Millionen längst in Sicherheit gebracht hatten und weiterhin über Hochseejachten und große Villen verfügten.

 

Das ist ungerecht! Und der durchschnittlich verdienende Bürger sollte es nicht hinnehmen. Erstaunlicherweise gab es nur wenig Protest. Wie so oft. Woran liegt das? Sind die Deutschen zu satt?

Deutschland leidet heute noch unter dem neoliberalen Wirtschaftsdenken, das in den Achtziger- und Neunzigerjahren aus den USA nach Deutschland kam. Der damalige Chef der Deutschen Bank, Josef Ackermann, verkündete 2003, seine Bank müsse eine Eigenkapitalrendite von 25 Prozent erwirtschaften.

Zu seiner Verteidigung: er meinte 25 Prozent vor Steuern, das bedeutet 15 Prozent nach Steuern, aber vom neoliberalen Denken besoffen, hielt niemand Ackermanns Ziel für unrealistisch. Die Wirklichkeit holte die Bank ein. Heute liegen die Aktien der Deutschen Bank schon fast auf Ramschniveau.

Denn die Sucht nach Gewinn wurde von Gier getrieben. Banken, Anwälte, Finanzmakler, Investoren dachten sich immer neue, häufig illegale Methoden aus, Geld zu vermehren. Inzwischen lesen wir jeden Tag über neue Betrügereien aus der Finanzwelt.

Allein für die Strafen wegen der Täuschung von Anlegern rund um ausgefallene Immobilienkredite vor dem Ausbruch der Finanzkrise musste die Deutsche Bank in verschiedenen Strafverfahren knapp zehn Milliarden Dollar zahlen, hinzu kommen weitere Milliardenstrafen wegen Geldwäsche – und das ist nicht alles.

Diese Summe muss man sich vorstellen: Weit mehr als zehn Milliarden Euro! Der Jahreshaushalt des Stadtstaates Hamburg im Jahr 2019 umfasst gerade mal 15 Milliarden Euro. In deutschen Gefängnissen sitzen rund Tausend Schwarzfahrer, weil sie einen Schaden von einigen Tausend Euro verursacht haben. Da frage ich mich: Wie viele Mitarbeiter der Deutschen Bank sind eigentlich im Gefängnis gelandet – bei der Milliardenschadenssumme?

Jeden Tag kann ich mich morgens ärgern, wenn ich die Wirtschaftsseiten der Tageszeitungen aufschlage. Sie lesen sich wie Pressemitteilungen der Kommissariate für Wirtschaftskriminalität. Achten Sie einmal darauf! So meldet die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 19. Dezember 2018: »Die deutsche Justiz rüstet auf, um der wachsenden Strafverfahren im Zusammenhang mit den umstrittenen ›Cum-Ex‹-Steuertricksereien Herr zu werden. Das Landgericht Bonn hat dazu eigens eine zusätzliche Strafkammer eingerichtet.« Bankmanager und Börsenhändler hatten durch betrügerische Steuererklärungen den Staat um mehrere Milliarden Euro betrogen. Allein die Hypo-Vereinsbank, einmal erwischt, hat freiwillig den Schaden von 113 Millionen Euro nachträglich erstattet! Einem Prozess entgeht sie dadurch trotzdem nicht.

 

Gier trieb die Finanziers und Banker in ihrem Handeln an – und ihr Denken wurde von der Politik übernommen. Auch hier ging es immer mehr ums Geld: Plötzlich wurde es modern, staatliche Einrichtungen zu privatisieren. Städtische Krankenhäuser wurden verkauft, damit ein Investor sie »schlanker« führen konnte. Was nichts anderes heißt als: weniger Personal, weniger Gehalt, mehr Gewinn.

Die Bundesregierung wollte die Deutsche Bahn privatisieren und an die Börse bringen, weshalb nicht mehr in Reparaturen und Modernisierung investiert, sondern an allem gespart wurde: Gewinn musste eingefahren werden. Die Folge: Heute ist die Bahn ein marodes Unternehmen, dem es an Zügen, Personal und vor allem moderner Infrastruktur fehlt – so der Bundesrechnungshof Ende 2018. Das alles geht zulasten der Kunden, die unter ausfallenden Zügen oder ständigen Verspätungen leiden.

Reden wir erst gar nicht von der Unfähigkeit der Politik, einen Großflughafen in Berlin zu bauen!

 

Noch ein Beispiel: Selbst in einem Bundesland, in dem der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann einst verbeamteter Gymnasiallehrer war, werden mit angestellten Lehrern zeitlich begrenzte Verträge abgeschlossen, die meines Erachtens wider die guten Sitten sind. »Mit den Ferien kommt die Entlassung« titelte der Spiegel Anfang Juli 2018. 2019 wird es kaum anders sein. Am Ende eines Schuljahres läuft die Anstellung aus. Dann sind die Lehrer während der Sommerferien arbeitslos und müssen Sozialleistungen beantragen. Einen neuen Vertrag erhalten sie erst – wenn sie Glück haben – zu Beginn des nächsten Schuljahres. Ich finde es erstaunlich, dass es gegen solch menschenverachtendes staatliches Vorgehen keine Revolte gibt. Denn dieses Verhalten des Staates verdient einen größeren Aufstand als beispielsweise gegen den Bahnhofsbau Stuttgart 21. Es geht darum, die Politik zu zwingen, anständig zu handeln.

Neoliberales Gewinnmachen predigt: Sparen bei staatlichen Investitionen. Schulen, Straßen, Autobahnen, Brücken. Sparen bei Personalkosten. Lehrern, Polizisten, Pflegepersonal. Überall muss wegrationalisiert und verschlankt werden.

Dem Gemeinwesen geht es nicht gut. Es gibt nur wenige, die protestieren, allzu oft am linken oder rechten Rand und ohne tragbare Gegenvorschläge. Und die Mehrheit der Bürger schluckt es – ist träge Masse –, statt sich zu empören und Verantwortung zu übernehmen. Verantwortung, die auch in Protest liegen kann und in Vorschlägen für bessere Alternativen liegen muss.

Aber warum ist das so?

Vom alltäglichen Wahnsinn

Nun sollte man das Klagen nicht übertreiben. Seien wir ehrlich: Steht Deutschland im großen Ganzen nicht hervorragend da? Denkt sich der träge Konsument, dem es hier gut geht. Außenpolitische Nachrichten – eigentlich ein bevorzugter Ort der demokratischen Mitverantwortung – verfangen kaum. Lediglich voyeuristische Teilhabe ist geboten.

 

In der Außenpolitik ist die Rolle der deutschen Politik in den Jahren seit der Wiedervereinigung ständig gewachsen. Während die Frage, ob die Bundeswehr als ordnungsstiftende Friedensmacht im Bürgerkrieg des zerfallenden Jugoslawien eingesetzt werden dürfe, 1999 die eben an die Macht gekommene rot-grüne Regierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer fast zu Fall gebracht hätte, stehen inzwischen Bundeswehrsoldaten im Kampfeinsatz in Afghanistan, mit der Begründung des damaligen Verteidigungsministers Peter Struck (SPD): »Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird heute auch am Hindukusch verteidigt.« Und das Gleiche mag man für den Einsatz gegen IS-Rebellen in Mali sagen. Inzwischen bilden Bundeswehroffiziere kurdische Soldaten an deutschen Waffen im Norden des Irak aus. Durch die Vereinten Nationen wurde Deutschland mit 184 von 193 Stimmen für die Jahre 2019 und 2020 in den Sicherheitsrat gewählt.

Nun gut, die Welt ist komplizierter geworden seit dem Amtsantritt von Donald Trump als US-Präsident. Der ehemalige deutsche Botschafter in Washington und London, einst Dayton-Verhandler und seit Jahren Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, warnte bei einem Diskussionsabend der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik sogar: »Wir haben die gefährlichste Weltlage seit Ende des Kalten Krieges.«

Aber es scheint die Deutschen nicht allzu sehr zu beunruhigen, dass die USA kaum noch verlässliche globale Partner sind, dass China auf dem Weg ist, Weltmacht Nummer eins zu werden, dass durch den bevorstehenden Brexit unsere unmittelbare politische Umgebung zu wanken droht. Hat Deutschland in der griechischen Finanzkrise nicht gezeigt, dass es sich in Europa durchsetzen kann – selbst wenn Frankreich nur halbherzig an seiner Seite steht? Wo ist der Mut zu klaren Worten und Taten heute geblieben?

Die Lage ist in den letzten Jahren ernster geworden. Europa ist sich immer weniger einig, autoritäre Regierungen im Osten sind zunehmend europakritisch. Und das in einer Zeit, in der Europa sich als ernsthafter Konkurrent der USA und Chinas in der Weltpolitik zeigen müsste. Auf die Visionen des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron, wie Europa weiterzuentwickeln sei als ein Europa der Bürger, hat die Bundesregierung zunächst gar nicht geantwortet. Der Außenminister scheint überfordert, die Bundeskanzlerin fühlt sich insgeheim von der Dynamik des jungen Präsidenten in die Enge getrieben. Sie überließ die Antwort an Frankreich der von ihr ausgewählten neuen CDU-Parteivorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer, die äußerst unglücklich vorschlug, Straßburg als Sitz des Europaparlaments aufzuheben. Frankreichs politische Klasse war entsetzt, fühlte sich brüskiert, und die rechtsradikale Parteivorsitzende Marine Le Pen hatte Futter für neue Polemiken gegen Deutschland und Europa.

Europa muss sich aber wappnen gegen die zerstörerische Politik des US-Präsidenten Donald Trump und die Wirtschaftsmacht China.

Deshalb haben CDU und SPD, die seit 2018 die Bundesregierung bilden, in ihrem Koalitionsvertrag auch beschlossen, dass Deutschland angesichts »der internationalen Herausforderungen … seine Kapazitäten zur strategischen Analyse stärken und seine strategische Kommunikation intensivieren« müsse.

Doch tut es das? Na schön, mag manch einer besorgt sagen, das alles klingt nicht allzu erfreulich. Nicht nur die Sprunghaftigkeit von Präsident Trump, die Ambitionen von Xi Jinping und die erfolglose Politik Mays geben zu denken: Beunruhigend ist auch, dass in Russland, Ungarn und Polen autoritäre Regierungen ins Amt gewählt wurden. Und andere versuchen den Staat im Rahmen von Koalitionen zu unterhöhlen, wie gerade erst der Ibiza-Skandal rund um die FPÖ-Politiker Strache und Gudenus zeigte. Von deutscher Seite kommen nur schwache Signale, dass dies alles außen-, sicherheits- und entwicklungspolitisch brisant ist. Und die Bürger fordern keine Stellungnahme ein.

 

Der Grund liegt in Meldungen wie dieser vom 20. August 2018 im Tagesspiegel: »Ungeachtet der Drohungen von US-Präsident Donald Trump wird Deutschland einer Prognose des Ifo-Instituts zufolge auch 2018 den weltgrößten Leistungsbilanzüberschuss aufweisen. Er dürfte sich auf umgerechnet 299 Milliarden Dollar summieren …« Gemessen am Bruttoinlandsprodukt ist die Bundesrepublik die größte Volkswirtschaft Europas und die viertgrößte der Welt.

Und manches wird durch zweifelhafte Geschäfte erwirtschaftet: Deutsche Panzer, Gewehre und andere Waffensysteme sind immer noch weltweit gefragt. Die Exporte in alle Welt, selbst in Krisen- und gar Kriegsgebiete beweisen es. Die Bundesregierung spielt dabei mit ihren Exportgenehmigungen eine peinliche Rolle. Sie begründet ein fehlendes Exportverbot mit dem Arbeitsplatz-Argument. Das erinnert mich an den wiederkehrenden Satz in Paul Celans Todesfuge: »Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.« Dieses Gedicht ist zwar auf den Holocaust bezogen, der aber ist ein wesentlicher Bestandteil der deutschen Identität, weshalb die Bundesrepublik eine besondere Verantwortung trägt. Moralische Gründe verbieten es, todbringende Industrieprodukte aus wirtschaftlichen Gründen in die Krisenregionen der Welt zu verkaufen, etwa in den Jemen, in dem ein Religionskrieg zwischen Iran und Saudi-Arabien stattfindet.

Doch all das, was näher oder weiter weg, aber jedenfalls nicht »vor der eigenen Haustür« liegt, interessiert die Bürger kaum. Was zählt schon ein Sitz im Weltsicherheitsrat? Was bedeuten Statistiken über Bruttoinlandsprodukt oder Leistungsbilanzüberschüsse für den einzelnen Bürger? Was geht ihn der Krieg in der Ferne an? Im Großen und Ganzen gar nichts.

 

Stattdessen verzweifeln immer mehr Bürger an der Unfähigkeit des Staates, die Dinge im vermeintlich Kleinen zu regeln, Dinge, die das tägliche Leben betreffen. Und deshalb fällt es ihnen immer schwerer, sich mit ihm zu identifizieren.

Der alltägliche Wahnsinn fängt mit Banalitäten an, nämlich dem Versuch, in ländlichen Gebieten mit dem Mobiltelefon jemanden anzurufen. Bei der 4G/LTE-Versorgung in der Fläche liegt Deutschland im europäischen Vergleich hinter Albanien auf dem drittletzten Platz, ermittelte das Aachener Beratungsunternehmen P3 Ende 2018. Auch bei der Qualität der Netze – der Datengeschwindigkeit also – landet Deutschland beim europäischen Vergleich im hinteren Drittel. Selbst in Südkorea ist das Netz doppelt so schnell. Wer in einem Mecklenburger Dorf das Internet beruflich nutzen will und größere Datenmengen bewegt, der ist verraten und verkauft. Er muss zum Senden viele Kilometer fahren, bis er den richtigen Empfang hat.