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Band 216

 

Geburt einer Torkade

 

Lucy Guth

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

1. Alte Freunde, neue Feinde

2. Kashiks Aufbruch

3. In der Gefangenenhalle

4. Rhodans Entscheidung

5. Lauras Spiegelbild

6. Fremde Impulse

7. Kashiks Prüfung

8. Sophies Welt

9. Rebbens Wut

10. Ertappt

11. Kashiks Unschuld

12. Isoliert

13. Der junge Oproner

14. Die Kar Bajata

15. Fedors Kampf

16. Feggits Strafe

17. Todesstrafe

18. Das Lied der Oproner

19. Der Kampf der Schwestern

20. Kampfwahn

21. Kashiks Enthüllungen

22. Guckys Rache

23. Stampede

24. Die Wirkung des Steins

25. Alarmstart

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Fünfzig Jahre nachdem die Menschheit zu den Sternen aufgebrochen ist, haben Kolonisten erste Siedlungen auf fremden Welten innerhalb und außerhalb des Sonnensystems errichtet. Der Weg ins Weltall verläuft mühsam und abenteuerlich. Aber geleitet von Perry Rhodan, haben die Menschen bislang jede Gefahr überstanden.

Doch im Jahr 2089 werden sie mit einem Gegner konfrontiert, der nicht fassbar erscheint. Das mysteriöse Dunkelleben bedroht die Solare Union. Um dieses Phänomen zu enträtseln, wagt Rhodan eine Expedition in ein fernes Sternenreich – zum Compariat. Nach einem katastrophalen Unfall werden Rhodan und seine Gefährten von Soldaten des Compariats gefangen genommen, den Shafakk.

Die Shafakk wollen die FANTASY demontieren, um das Geheimnis des neuartigen Linearantriebs zu entschlüsseln. Dabei wenden sie auch brutale Mittel an – das Leben der Menschen ist ihnen nicht viel wert. Perry Rhodan kommt ein unerwartetes Ereignis zu Hilfe: die GEBURT EINER TORKADE ...

1.

Alte Freunde, neue Feinde

 

Ein Tritt trifft Gucky in den Bauch, ein weiterer in den Rücken. Der Schmerz explodiert in seinem Körper, schlimmer als die Demütigung. Er hat sich auf dem Boden zu einer Kugel zusammengerollt, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Er muss durchhalten, sich beherrschen.

»Unnützer Dreck!«, ertönt dicht an seinem Ohr eine höhnische Stimme. »Ilts wie du gehören über Bord geworfen und wie anderer Müll im Weltall entsorgt.«

Gucky schließt die Augen und ballt die Hände zu Fäusten. Hoffentlich ist es bald vorbei!, denkt er resigniert. Der nächste Tritt trifft ihn am Kopf. Es wird dunkel.

 

 

Kurz zuvor

 

Der Kreellblock ragte in dem hohen, zylinderförmigen Raum auf wie ein riesiger Eiswürfel, und Gucky hatte das Gefühl, dass er ebenso viel Kälte ausstrahlte. Schwarze Schlieren durchzogen das Kreell und schienen nach den Gestalten in seinem Zentrum zu tasten. Diese waren nur undeutlich zu erkennen: drei Humanoide und ein vierbeiniges, kleines Wesen.

»Hermes«, murmelte Gucky. Der Kater war vor dreißig Jahren ebenso wie sein Herrchen Eric Leyden und dessen Kollegen Abha Prajapati und Luan Perparim verschwunden – niemand wusste, unter welchen Umständen dies genau geschehen war. Dass Gucky den alten Freunden nun im Randgebiet des Omnitischen Compariats quasi gegenüberstand, war Freude und Schock zugleich. Denn das Kreell trennte die Wissenschaftler so gründlich von dem Ilt, als lägen Lichtjahre zwischen ihnen.

Gucky erinnerte sich deutlich daran, wie sie einst Tuire Sitareh in einem solchen Block gefunden hatten – die Menschen hatten lange gebraucht, um einen Weg zu finden, ihn daraus zu lösen. Und als sie es endlich geschafft hatten, war Sitareh um Jahre gealtert gewesen.

Gucky kniff die Augen zusammen und versuchte, durch das Kreell hindurch Details zu erkennen. Hatten sich auch Eric, Luan und Abha verändert? Kann sein. Eigentlich wäre es ja ein Wunder, wenn das in drei Jahrzehnten nicht geschehen wäre.

Aber das Kreell ließ nur Mutmaßungen zu. Auch telepathisch konnte Gucky wenig ausrichten – die Eigenschaften des Kreells hemmten seine Kräfte. Es war bereits ein großer Erfolg, dass er überhaupt herausgefunden hatte, dass es sich bei den Eingeschlossenen um die Wissenschaftler handelte.

Ein pfeifendes Seufzen ertönte. Gucky zuckte zusammen. Er hätte fast vergessen, dass er nicht allein war. Gemeinsam mit Cameron Canary und dem Shafakk Sork hatte er den Sleeker Woggrill vor dem Kreellblock gefunden – schwebend und in einer Art Trance. Während Gucky sich umdrehte, brach Woggrill gerade zusammen. Das fremdartige Wesen sah aus wie ein Federbüschel, das langsam zu Boden glitt.

Canary, der nervös an der Tür stand, machte einen Schritt auf Woggrill zu, verharrte dann jedoch unschlüssig.

Sork, der einzige Verbündete, den sie unter den Shafakk hatten, musterte den Sleeker misstrauisch. »Was hat er? Und was hat es mit dem Kristallblock auf sich? Du starrst ihn an, als würde sich eine Shiire darin verbergen.«

Gucky ging nicht auf Sork ein, sondern tastete nach den Gedankenimpulsen des Sleekers. Immerhin waren da welche. »Woggrill ist aus der Trance erwacht. Irgendwie scheint er Kontakt zum Team Leyden aufgenommen zu haben, aber er hat das nicht so gut verkraftet. Vielleicht liegt das an dem Kreell – oder an diesem schwarzen Zeug, das sich darin befindet.«

»Team Leyden?«, hakte Canary nach. Er ging auf den Kreellblock zu und streckte die Hand aus, fasste das Gebilde jedoch nicht an. Er berührte ungern fremde Dinge. »Das ... Dort drin steckt der berühmte Eric Leyden?«

»Wohl eher berüchtigt«, meinte Gucky trocken. »Ich hätte nicht gedacht, dass ein Techniker mit diesem Namen etwas anfangen kann.«

»Multi-Ingenieur«, verbesserte Canary automatisch. »Ich glaube nicht, dass es irgendjemanden gibt, der sich mit der irdischen Raumfahrt befasst und nichts von Leyden und seinem Team gehört hat. Erst recht nicht, wenn man am Bau der FANTASY beteiligt ist.«

»Jetzt hast du nicht nur von ihnen gehört, sondern stehst vor ihnen.« Gucky kratzte sich ratlos am Ohr. »Ich habe allerdings keine Idee, was wir mit ihnen machen sollen.«

»Da stecken also noch mehr von deinen Glatthäutern drin?« Sork musterte den Kreellblock interessiert. »Wie kommen die denn da rein?«

»Ist doch euer Raumschiff – erklär du es mir«, sagte Gucky. Ihm war klar, dass er patzig klang. Aber seine primäre Sorge bestand momentan nicht darin, wie Eric & Co in das Kreell hineingeraten waren, sondern wie er den Kreellblock aus diesem Raum herausbekam – und wohin er damit sollte. »Ich glaube nicht, dass ich dieses Ding bewegen kann. Aber selbst wenn – wir können ihn nirgendwo verstecken.«

»Warum willst du ihn mitnehmen?«, erkundigte sich Sork erstaunt.

»Weil das Freunde von mir sind! Die lasse ich nicht einfach in eurer kleinen Experimentierkammer zurück.« Gucky wies um sich. Er hatte keinen Schimmer, ob dieser Ort tatsächlich ein Labor oder eher einen Lagerraum darstellte. Der Hohlzylinder war gerade groß genug, um den Kreellblock und die vielen Aggregate aufzunehmen, die ihn umgaben. Aber das Gefahrgutlager war sehr stark gesichert gewesen. Canary hatte es nicht geschafft, den Zugang zu öffnen, Gucky hatte sich und seine zwei Begleiter ins Innere teleportieren müssen. Eigentlich erstaunlich, dass Woggrill hereingelangt war. Er musste einen anderen Weg genommen haben. Was hat er hier überhaupt gewollt?

Gucky wollte den Sleeker danach fragen, doch Woggrill lag noch immer regungslos auf dem Boden. Lediglich ein leichtes Flattern seiner Membranen zeigte, dass er lebte – wenn Gucky richtig vermutete. Bei Nichthumanoiden war er sich nie ganz sicher, was die Körperfunktionen betraf.

»Hallo, Woggrill?« Er stupste den Sleeker vorsichtig telekinetisch an einer der dünnen Häute an.

Die Reaktion war ein gehauchtes »Erschöpflichkeit ...« Die Membranen zitterten, und Woggrill erhob sich langsam. Er schwankte hin und her wie ein Grashalm im Wind. Dann brach er wieder zusammen, blieb dieses Mal endgültig liegen.

Gucky traf eine Entscheidung. »Ich bringe ihn schnell zu den anderen in die Arrestsektion. Conrad und Gabrielle sollen ihn verstecken.«

»Ich komme mit«, sagte Canary. »Ich informiere Deringhouse über den Kreellblock und seinen ... Inhalt.«

Gucky nickte zustimmend. »Und dann gehen Sork und ich zu Perry – er muss erfahren, wen wir gefunden haben.«

 

Gucky spürte Perry Rhodan in einem Gang nahe der FANTASY auf, wo er sich zusammen mit Mentro Kosum verbarg und das terranische Raumschiff beobachtete. Kosum zeichnete mit einem Okularimplantant so viel des Geschehens wie möglich auf. Die Shafakk hatten den Experimentalraumer mit einem Hightechgeflecht eingerüstet. Sie schienen sich darauf vorzubereiten, ihn zu demontieren – ein Vorgang, den vor allem Kosum mit wachsender Besorgnis verfolgte. Als Emotionaut hatte der Pilot eine ganz besondere Beziehung zu seinem Schiff entwickelt.

Als Gucky mit seinem Begleiter dicht hinter den beiden Männern materialisierte, fuhr Kosum zu Guckys Erheiterung wie ein aufgeschrecktes Kaninchen herum.

»Das ist nicht witzig.« Kosum machte ein böses Gesicht, weil Gucky kicherte. »Ich bin nicht an Teleporter gewöhnt. Außerdem befürchte ich, dass jederzeit Shafakk auftauchen könnten.«

»Und je mehr Leute hier herumlaufen, desto auffälliger sind wir«, sagte Rhodan mahnend. »Also schnell, was gibt's?«

Nachdem er von ihrer Entdeckung erfahren hatte, war Rhodan ebenso geschockt wie Gucky. »Ich habe mir zwar immer gewünscht, dass wir Leyden und seine Leute wiederfinden oder zumindest etwas über ihr Schicksal erfahren – aber ausgerechnet an diesem Ort?« Rhodan rieb sich die Stirn. »Das erleichtert unsere Situation nicht gerade. Und dass sich schwarze Schlieren in dem Block befinden, in einer vom Dunkelleben verseuchten Region – das ist kein gutes Zeichen.«

»Wie die Shafakk wohl an diesen Kreellblock gelangt sind?« Gucky tippte sich nachdenklich an den Nagezahn. »Er scheint ihnen zumindest wichtig zu sein, sonst hätten sie ihn nicht so stark gesichert.«

»Und dabei haben sie sich ganz schön ins Zeug gelegt, Sir.« Kosum wies auf die Zugänge in unmittelbarer Nähe. »Die anderen Räume sind entweder gar nicht oder viel einfacher geschützt. Den Shafakk ist folglich durchaus klar, dass sie da etwas Ungewöhnliches in den Fingern haben.«

»Ist es«, bestätigte Sork. »Sogar eine Missgeburt wie ich weiß, dass dort etwas Besonderes verwahrt wird – auch wenn sie mir selbstverständlich nicht sagen, was sie verstecken.«

»Das bedeutet, dass sich uns ein weiteres Problem stellt – nämlich die Frage, wie wir im Fall einer Flucht den Kreellblock mitnehmen können. Es ist ...« Rhodans Blick ging auf einmal an Gucky vorbei, er wirkte irritiert. »Was zum ...?«

Gucky drehte den Kopf. Da war nichts, nur der leere Gang. »Alles in Ordnung, Großer?«, fragte er beunruhigt. Dass der Zellaktivator seines Freunds in jüngster Zeit immer häufiger ins Stottern geriet, machte Gucky Sorgen. Vielleicht kündigten sich erneute Ausfallerscheinungen an.

Rhodan hatte sich schnell wieder im Griff. »Alles okay, ich dachte nur eben, ich hätte etwas gesehen. Aber zurück zum Thema: Es ist klar, dass wir Leyden, Prajapati und Perparim nicht zurücklassen. Das ist jedoch ein Problem, um das wir uns später kümmern müssen. Zuvor ...«

Ein paar fremde Gedankenfetzen brachten Guckys mentale Alarmglocken zum Schrillen. »Was auch immer du gesehen hast, du hattest den richtigen Riecher«, unterbrach er Rhodan hastig. »Da kommen ein paar Shafakk.«

Rhodan machte seinem Ruf, besonders reaktionsschnell zu sein, alle Ehre. »Dort hinein!« Er zeigte auf ein nahe gelegenes, einfaches, manuelles Schott. »Dahinter ist ein kleiner Lagerraum – haben wir vorhin ausgespäht.«

Nach Kosum schlüpfte Rhodan in das winzige Versteck. Für Sork und Gucky war kein Platz mehr, und es war ohnehin zu spät: Gucky drückte das Schott gerade wieder zu, als fünf bullige Shafakk um die Ecke bogen. Sie lachten ausgelassen und waren offensichtlich bester Laune.

»Wie du deinen Gegner vorhin umgeworfen hast, Heknall – ganz groß. Da hat Urrhosh ziemlich breiig aus den Sumpfnadeln geschaut, was?«

»Ja, der neue Doppelschliff an meinem Kassh hat sich gelohnt – ich brauchte seiner Kehle kaum nahe zu kommen, da floss bereits das erste Blut.« Der Shafakk tippte an die Klinge, die er auf seinen vorstehenden linken Reißzahn gesteckt hatte. Darauf blitzte eine auffällige, spiralenartige, blaue Gravur.

»Ich hatte einfach Pech«, gab der dritte Shafakk zurück. Er hatte eine frische Wunde am Hals und schien der besagte Urrhosh zu sein. »Immerhin habe ich zuvor zwei Kämpfe gewonnen. Das nächste Mal ist mir das Glück in der Kar Bajata wieder gewogen, wartet es nur ab.«

Gucky schloss aus diesen Äußerungen, dass die Gruppe von einem Arenakampf kam – die Kampfzone, die bei den Shafakk Kar Bajata hieß, hatte er bereits auf einem seiner Erkundungssprünge gesehen. Alle drei Shafakk wirkten aufgekratzt und fröhlich – sogar Urrhosh war trotz seines Missmuts hyperaktiv. Zwei von ihnen hatten Metallbecher dabei, die sie herumreichten und aus denen getrunken wurde. Vielleicht war es etwas zusätzlich Berauschendes.

Gucky und Sork verharrten still an der Seite des Gangs. Der Ilt senkte den Blick und hoffte, als Shafakkfehlzüchtung durchzugehen, so wie Sork es war. Ein einfacher Arbeiter, dem niemand Beachtung schenken musste. Leider ging sein Plan nicht auf.

»Hey, ihr beiden Missgeburten, was steht ihr da so blöd herum?«, rief Urrhosh, der Verlierer. Er kam auf Gucky zu und drohte ihm mit seinem Kassh – sein Zahndolch war besonders lang und mit bunten Glyphen verziert. »Habt ihr nichts zu tun? Faule Ilts, euch werden wir Beine machen!«

Das Wort »Ilts« elektrisierte Gucky. Er wusste, was es in der Sprache der Shafakk bedeutete: Müll, Unrat. Eine Welle aus Scham und Wut überflutete ihn. Das war sein Volk für diese Mistkerle: nichts als Abfall, unwertes Leben. Gerade gut genug, um die Drecksarbeit zu erledigen.

»Wir haben einen Kanister Quüllsäure geliefert, für die Demontage des fremden Schiffs«, sagte Sork. »Sind auf dem Weg zurück ins Lager, um mehr zu holen.« Er klang unterwürfig und machte eine unauffällige, aber warnende Geste Richtung Gucky.

Unauffällig verhalten, begriff der Mausbiber. Er bemühte sich, jeglichen Blickkontakt mit den Shafakk zu vermeiden. Stattdessen starrte er angestrengt auf seine Fußspitzen.

»Was glotzt du denn so dämlich?«, herrschte ihn Urrhosh trotzdem an.

Gucky hob den Kopf. Das Gesicht des Shafakk schwebte nur wenige Zentimeter vor seinem eigenen. Urrhoshs Pupillen waren so groß, dass sie fast das gesamte Weiß seiner Augäpfel verdeckten. Was hat der denn eingeworfen?

Auch bei den anderen Shafakk waren die Pupillen stark geweitet. Alle trugen alte oder frische Narben am Körper; viele davon am Hals, andere, nicht so tiefe, an Armen oder Beinen. Sind das alles Kampfnarben? Oder Spuren dieser Arenakämpfe?

Urrhosh packte Gucky mit der linken Hand. Mit der anderen Faust versetzte er ihm einen Schlag in den Magen, der dem Ilt alle Luft aus den Lungen trieb. Gucky war so überrascht von der Attacke, dass er beinahe telekinetisch zurückgeschlagen hätte – aber nur beinahe. Er beherrschte sich. Er durfte seine Tarnung nicht auffliegen lassen, selbst wenn er diese Beutelratten im Handumdrehen zu einem kläglichen Haufen Fell und Knochen hätte verarbeiten können. Aber erstens war das nicht sein Stil, und zweitens stand mehr auf dem Spiel als sein Stolz.

»Warum sagst du nichts, du wertloses Dreckstück? Denk an die dreihundertvierundzwanzigste Shiire: Das Schweigen des Unendlichen bricht sich an den Ufern des Ungehorsams und wird zu einer Flut des Wahnsinns.« Urrhosh hielt Gucky gepackt und schüttelte ihn durch wie einen alten Lappen, sodass der Mausbiber keine Chance hatte, über diese rätselhaften Worte nachzudenken. »Mach dein kleines Maul auf und jammere um Gnade, wie es deinesgleichen so gern tut.«

Nach seinen Erfahrungen mit Sork zweifelte Gucky am Wahrheitsgehalt dieser Worte – Sork war zwar eine Fehlzüchtung, aber den Stolz der Shafakk hatte er sich bewahrt. Ganz sicher würde er nicht um Gnade winseln. Und Gucky würde es ebenso wenig tun.

Zwei andere Shafakk traten und schlugen nun nach Sork, der stoisch danebengestanden hatte. »Und was ist mit dir, du hässlicher Wurm? Ihr seid ja so ein süßes Paar mir euren einzelnen, kümmerlichen Beißerchen – ist das die neueste Mode bei Ilt-Abschaum?«

»Für diese jämmerlichen Zähne braucht man zumindest nicht viel Metall, um einen Kassh zu schmieden«, mokierte sich der Arenasieger Heknall. Er betrachtete den Becher in seiner Hand und lachte auf. »Ich mache dir gleich hier einen Zahndolch, der einem Ilt gebührt.«

Heknall rammte Sork den Becher in den Mund und drückte das Gefäß um Sorks einzigen Nagezahn zusammen, sodass das dünne Metall wie eine absurde Hülle um den Zahn herum zerknüllt wurde. »Da hast du deinen Kassh, du Missgeburt!«

Gucky entfuhr ein empörter Laut – wofür er umgehend mit weiteren Schlägen belohnt wurde. Er ließ sich zu Boden gleiten und rollte sich zusammen, um seinen Körper vor den Tritten und Stößen zu schützen.

Durchhalten, weiter durchhalten! Stumm ertrug er die körperliche und seelische Qual, bis er die Besinnung verlor.

Lange konnte er nicht ohnmächtig gewesen sein. Die Tritte und Schläge hatten aufgehört. Er vernahm die Shafakk, wie sie grölend davongingen.

Wahrscheinlich klopfen sie sich gerade gegenseitig auf die Schultern und erzählen sich, wie großartig sie sind, dachte er empört. Er blieb liegen und machte eine vorsichtige Bestandsaufnahme seines Körpers. Zahlreiche Prellungen und wunde Stellen, aber nichts ernsthaft Gefährliches. Langsam setzte er sich auf und atmete tief durch.

Da war auch schon Perry Rhodan an seiner Seite. »Geht es dir gut, Kleiner?«, fragte er besorgt.

»Bestens. Ich glaube, Sork hat es schlimmer erwischt.«

Gucky wies auf den Shafakk, der sich soeben den Metallbecher vom Zahn schälte. Mentro Kosum stand neben ihm und wusste wohl nicht, ob er dem Shafakk helfen sollte. Das Metall hatte in Sorks Mundbereich blutige Spuren hinterlassen.

Sork spuckte einen roten Klumpen Speichel aus. »Verstehst du endlich, Gucky, was wir sind? Was wir für sie sind? Wir sind Ilts – Müll, Unrat.«

Rhodan half Gucky auf die Füße. Guckys Glieder zitterten – allerdings vor Zorn. »Ilts sind ganz sicher kein Müll. Aber diese Mistkerle sind es. Ich würde sie am liebsten aus der nächsten Schleuse werfen.«

Rhodan legte ihm die Hand auf die Schulter. »Hochmut und Intoleranz nehmen stets so viel Platz ein, wie die Dummheit ihnen freiräumt«, sagte er leise. »Ich bin stolz auf dich, Kleiner. Und keine Sorge: Deine Zeit wird kommen.«

»Das hoffe ich!« Gucky rieb sich eine geprellte Rippe. »Und dann ist diesem Urrhosh ein Freiflug sicher. Und Heknall fliegt gleich hinterher.«

Er wollte etwas hinzufügen, als er einen seltsamen Gedanken auffing – anders als die Gedanken der Shafakk ringsum; nicht menschlich, aber durchaus bekannt in seinem Muster.

Mit seinen Gedankenfingern versuchte Gucky, die fremde Präsenz festzuhalten. Doch es gelang ihm nicht, sie zu verorten.

Wer bist du? Und wo bist du?

2.

Kashiks Aufbruch

 

Kashik glitt in die glatte Sitzschale des Vitrons und drehte den Kopf zur Seite, um durch die transparente Wand zu blicken. Vor dem Raumboot standen seine Eltern. Seine Mutter hatte den Arm fest um seinen Vater geschlungen. Kashik sah trotzdem, dass die Schultern seines Vaters bebten. Warum ist das so? Hat er Angst, oder ist er wütend?

Eigentlich hatte nur Kashik Grund, Angst zu haben. Sein Vater durfte hierbleiben, zusammen mit Mutter, in dem schönen Haus. Kashik hingegen musste fortgehen, obwohl er das gar nicht wollte.

»Schalte die Prallfelder an«, sagte der ehrenwerte Miaskull, der gerade an Bord kam.

Kashik zuckte zusammen und tippte auf den schwarzen Armstützen herum. Seine Hände zitterten. Er war nie zuvor in einem Vitron gewesen – er hatte keine Ahnung, wie die Prallfelder bedient wurden.

»Nun mach schon!« Miaskull, der selbst in einer fließenden Bewegung in die Pilotenschale glitt, klang ungeduldig.

Es gab nichts, was Kashik weniger wollte, als den Ehrenwerten zu verärgern. Aber er wusste einfach nicht, welche Eingaben er machen sollte.

»Du wirst doch wohl wissen, wie das geht.« Miaskull stülpte abschätzig die Lippen seines Rüsselmunds nach außen.

»Nein.« Kashik senkte in einem Anflug von Trotz den Kopf. »Ich bin noch nie in einem Raumschiff geflogen.«

»Du bist sechs Umläufe alt und hast nie den Planeten verlassen? Deine Eltern haben deine Ausbildung sträflich vernachlässigt. Dich auf diesem abgelegenen Planten zu verstecken, in der Hoffnung, dass wir dich nicht finden ...«

Die Missbilligung in Miaskulls Stimme war so heftig wie eine Ohrfeige. Kashiks Eltern hatten ihn nie geschlagen. Sie hatten dafür gesorgt, dass er genug zu essen hatte, dass er spielen konnte, was er wollte, dass er lernte, seinen Körper wertzuschätzen. Kashik spürte, dass es keine gute Idee wäre, das Miaskull zu sagen.

Der Ehrenwerte aktivierte eine holografische Steuerkonsole, und kurz darauf fühlte Kashik, dass sich die schützenden Prallfelder um ihn aufbauten.

Er spähte wieder nach draußen. Seine Eltern standen immer noch an der gleichen Stelle. Der Rüsselmund seiner Mutter zuckte.

Kashik hätte am liebsten ebenfalls geweint, aber er riss sich zusammen. »Lebt wohl, Insha«, flüsterte er. Er ahnte, dass er das Kosewort, mit dem er seine Eltern rief, zum letzten Mal in seinem Leben aussprach.

Die Triebwerke des Vitrons summten auf. Während das Raumfahrzeug abhob, verdichtete sich die Struktur der Außenhülle und verwehrte Kashik die Sicht auf seine zurückbleibenden Eltern. Einerseits war er froh darüber – es machte den Abschied wahrscheinlich leichter.

Aber er war auch enttäuscht, denn er hätte gern gesehen, wie der Planet immer kleiner wurde – und wie es im Weltall aussah. Kashik hatte mit seinem Vater nachts oft die Sterne beobachtet und sich gefragt, wie es wohl sein mochte, zwischen den Sternen zu reisen. Nun war es so weit – und er bekam nichts davon mit. Den Ehrenwerten danach zu fragen, wagte er nicht.

Zaghaft musterte Kashik Miaskull von der Seite. Der Ehrenwerte war etwa so alt wie Kashiks Vater, machte aber einen verschlossenen und strengen Eindruck. Kashiks Vater hatte stets viele Zeichen auf der Haut getragen, war für Kashik Lehrer und Freund gewesen. Der junge Oproner ahnte, dass es mit Miaskull anders sein würde. Miaskull war nicht sein Vater und nicht sein Freund. Er war nichts anderes als sein Lehrmeister.

Ihn offen anzustarren, wäre ein Affront gewesen, das hatte ihm seine Mutter seit dem Vorabend eingeschärft – seit sie Kashik eröffnet hatte, dass jemand kommen würde, um ihn zu holen. Beim Gedanken an seine Mutter wurde Kashiks Haut trocken. Er wünschte sich, er hätte etwas Wasser dabei, um es auf seinem Körper zu verteilen. Doch er hatte nichts mitnehmen dürfen.

»Hast du Angst?«, fragte Miaskull, der auf eine für Kashik unerklärliche Weise das Vitron lenkte.

Kashik überlegte, welche Antwort der erwachsene Oproner wohl hören wollte. »Es ist eine große Ehre, für die Ausbildung ausgewählt zu werden.« Das klang wie auswendig gelernt. War es auch.

»Das weiß ich selbst.« Miaskulls Stimme war kalt. »Jeder, der es auch nur versuchen darf, muss sich glücklich schätzen. Es ist eine Chance, die man lediglich ein Mal im Leben bekommt. Aber das beantwortet meine Frage nicht: Hast du Angst?«

Nervös zupfte Kashik an den Rändern seines Rüssels – eine Unsitte, für die ihn seine Mutter stets gerügt hatte. »Du bist kein Kriechkind mehr«, hatte sie immer gesagt.

Kashik wollte nicht, dass Miaskull ihn für ein furchtsames Kriechkind hielt. Aber lügen wollte er ebenso wenig. Er senkte hastig die Hände. »Ja, ich habe Angst. Ich möchte nicht von meinen Eltern getrennt werden.«

Gespannt wartete er auf die Antwort. Miaskull ließ sich Zeit damit. »Angst ist gut«, sagte er schließlich. »Angst macht dich wach und aufmerksam. Um Mitglied einer Torkade zu werden, bedarf es großer Konzentration und intensiver Vorbereitung. Du wirst lernen, deine Angst zu kontrollieren.«

»Aber wie?« Kashik hätte es zu gern gewusst, denn momentan hatte er sehr viel Angst. Er wusste nicht, was auf ihn zukam, und der ehrenwerte Miaskull schüchterte ihn ein, statt ihn zu ermutigen.

»Das wirst du herausfinden. Nun solltest du während des Flugs etwas meditieren und dich auf die kommenden Aufgaben vorbereiten.«

Kashiks Verwirrung wuchs. Er wusste nicht, was Miaskull von ihm wollte, kannte die Bedeutung des Worts »meditieren« nicht.

»Was für Aufgaben meint Ihr, Ehrwürdiger?«, wagte er zu fragen.

»Auch das erfährst du früh genug. Nun sei still!«

Das war immerhin eine Anweisung, die Kashik verstand. Da er nicht mal aus einem Fenster sehen konnte – die Wände des Vitrons waren nach wie vor undurchsichtig –, spielte er mit seinen Fingern und wartete darauf, dass der Flug vorbeiging.

Nach einer gefühlten Ewigkeit setzte das Vitron auf.

»Wir sind angekommen«, verkündete Miaskull und desaktivierte die schützenden Prallfelder. »Die Hallen des Torkadehains erwarten dich.«

Die Wände des Vitrons wurden durchscheinend, sodass Kashik seine Umgebung sehen konnte, ehe er das kleine Raumschiff verließ. Das Vitron stand auf einem gepflasterten Platz vor einem riesigen Tempel. Das Gebäude bestand aus hohen, säulenartigen Türmen, zwischen denen sich helle Stoffbahnen spannten. Einige der Türme waren so hoch, dass sich Wolken an ihrer Spitze bildeten. Kashik sah keine Fenster und erschrak.

Wie düster muss es in diesen Türmen sein? Kashik hatte Angst in der Dunkelheit.

Rings um das Gebäude erstreckten sich dichte Wälder. Die Bäume hatten dunkelgrüne, fast schwarze Kronen aus fleischigen, großen Blättern. Sie sahen ganz anders aus als die Bäume, auf die Kashik zu Hause geklettert war. Er wusste selbstverständlich, dass er sich auf einem anderen Planeten befand. Da war es wohl normal, dass alles anders war, sogar die Bäume.

»Folge mir – du wirst nun den Elo-Tork kennenlernen.« Miaskull ging straffen Schrittes davon.

Kashik bemühte sich, zu ihm aufzuschließen, und sah sich unterwegs neugierig um. Die Türme hatten runde Türen, aber selbst aus der Nähe betrachtet keine Fenster. Zwischen den Gebäuden standen steinerne Sitzgruppen. Auf vielen davon saßen Oproner unterschiedlichen Alters, mal allein ins Studium von Holoschriften oder Weisheitsrollen vertieft, mal in Gruppen und eifrig diskutierend. Kashik sah ein Mädchen, das aufmerksam den Erläuterungen eines alten Manns lauschte und sich Notizen auf den Leib machte. Ihre Runen waren viel hübscher als die von Kashik, der erst seit einigen Wochen Schreiben und Lesen lernte.

Schließlich betrat Miaskull einen der Türme. Es kostete Kashik Überwindung, ihm zu folgen. Drinnen wurde er überrascht. Es war nicht dunkel, sondern taghell – was daran lag, dass die flach gewölbte Dachkuppel aus Glas bestand. Das hatte Kashik von außen und von unten nicht erkannt.

Der Turm war hohl. An den Wänden zogen sich Treppen in die Höhe, die zu vereinzelten Plattformen führten. Kashik folgte Miaskull unzählige Stufen hinauf, ehe sie eine Terrasse erreichten, die wohl so etwas wie eine Bibliothek darstellte. Zumindest gab es sehr viele Regale mit runden Ausbuchtungen für die traditionellen Weisheitsrollen. Von Digi-Ports, wie Kashik sie von zu Hause kannte, schien man in den Hallen des Torkadehains nicht viel zu halten.

Zwischen den Regalen saßen in Hydrosesseln zwei uralte Oproner. Zumindest in Kashiks Augen waren der Mann und die Frau, die sich dort unterhielten, sehr alt. Beide trugen dunkelblaue Mäntel, was Kashik verwunderte. Er hatte in seinem bisherigen Leben keine Oproner getroffen, die Kleidung trugen. Lediglich auf den Holobildern der Digi-Ports hatte er welche gesehen, wenngleich nicht viele. Als Kashik und Miaskull die Plattform betraten, unterbrachen die Alten ihr Gespräch.

Miaskull ging zu den Greisen und verneigte sich tief. »Elo-Tork, ich entbiete meine Grüße. Ich freue mich, Euch und die ehrenwerte Ylain bei guter Gesundheit anzutreffen.«

»Ihr seid schnell zurückgekehrt, Nama-Tork Miaskull.« Die Stimme der Alten klang knarzig wie eine Kooweide im Wind. »Und erfolgreich, wie ich sehe.«

»Richtig, Hainhüterin. Die Suche dauerte nicht lange. Es war leicht, den Jungen aufzuspüren.« Miaskull wandte sich an den Greis. »Ehrenwerter Peleeska, ich bringe unseren neuen Novizen. Sein Name ist Kashik.«

Der Alte, den Miaskull Peleeska genannt hatte, winkte Kashik zu sich. »Komm näher, Junge.« Seine Stimme klang im Gegensatz zu der Greisin nicht alt, sondern kraftvoll. Seine grauen Augen blickten freundlicher als die Miaskulls. »Kashik also. Und du weißt, warum der ehrenwerte Miaskull dich mitgenommen hat?«

Kashiks Rüsselmund zitterte. »Ja, ehrenwerter Peleeska. Ich soll Teil einer Torkade werden.«

»Das ist richtig. Und du weißt, was das bedeutet?«

»Ja, Ehrenwerter. Eine Torkade besteht stets aus drei männlichen Opronern – einem Kind, dem Gee-Tork, das die Unschuld symbolisiert. Einem in der Blüte seines Lebens stehenden Nama-Tork, der Stärke und Macht repräsentiert.« Kashiks Blick huschte unsicher zu Miaskull, der mit versteinertem Gesicht neben ihm stand. »Und einem Alten, der für Weisheit steht – dem Elo-Tork.«

Peleeska neigte zufrieden das Haupt. »Deine Eltern haben dich gut vorbereitet, Kashik. Es bedeutet aber noch mehr – nämlich, dass anstrengende und fordernde Jahre auf dich zukommen werden. Das ist dir bewusst?«

War es nicht. »Ja, Herr«, behauptete Kashik und senkte den Blick. Peleeska war ihm lieber als Miaskull – schon weil er besser über Kashiks Eltern sprach. Wie immer, wenn der Junge aufgeregt war, huschten verschwommene Symbole über seine Haut.

»Die Zeichen zeigten sich bei dem Knaben bereits früh?«, fragte die Greisin interessiert.

»Seine Mutter sagt, bereits am Tag seiner Geburt, am Anfang natürlich nur als bedeutungslose Bilder. Er lernt die Bybliks erst seit einigen Wochen.«