Denise Reichow
Heitlinger Hof 7b
30419 Hannover

www.gedankenreich-verlag.de

Light me up

Text © Katelyn Erikson, 2019

Cover & Umschlaggestaltung: Marie Graßhoff

https://marie-grasshoff.de/

Lektorat & Korrektorat: Emely Werkmeister

Satz & Layout: Nadine Reichow
eBook: Grittany Design

https://www.grittany-design.de/

(eBook) ISBN 978-3-947147-51-9

© GedankenReich Verlag, 2019

Alle Rechte vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Annabelle

Angespannt betrachtete ich den Hinterkopf der Leiche, während die Spurensicherung in Aktion war. Das Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit geprügelt, die Zähne allesamt ausgeschlagen und entwendet. Da hatte sich jemand viel Mühe gegeben, uns die Arbeit zu erschweren.

»Kein schöner Anblick«, stellte Rick fest.

»Nicht wirklich«, stimmte ich ihm zu. »Dieses Mal hat der Täter ganze Arbeit geleistet. Ich frage mich, wer das arme Schwein war.« Verärgert rieb ich mir über den Nacken und starrte finster geradeaus.

»Ich tippe darauf, dass dieser Kerl ebenfalls Drogen genommen hat.« Rick richtete sich auf und verzog beim Anblick des toten Mannes das Gesicht.

»Vermutlich. Das ist bereits der Vierte in dieser Woche.« Stirnrunzelnd dachte ich an die beiden Männer und die Frau, die wir innerhalb der letzten sieben Tage gefunden hatten. Im Gegensatz zu diesem Mann waren sie nicht verstümmelt worden.

»Das nimmt allmählich überhand an«, sagte Rick verstimmt. »Ich finde keinen Zusammenhang.«

Angespannt stieß ich die Luft aus, die ich unbewusst angehalten hatte. »Ganz normale Bürger«, stimmte ich ihm zu. »Ein Bankangestellter, eine Lehrerin, ein Imbissbudenbetreiber und dann unser demolierter Freund hier. Die anderen drei wohnten in unterschiedlichen Bezirken, hatten jedoch alle ein Drogenproblem. Derzeit läuft eine Überprüfung, ob sie Schulden hatten und falls ja, bei wem. Wenn wir Glück haben, finden wir da eine Gemeinsamkeit.«

Wir wechselten einen missmutigen Blick. »Du glaubst also, dass jemand gezielt Menschen umbringt, die Dreck am Stecken haben?«

Ich nickte. »Wenn man den Akten Glauben schenken kann, dann gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass eines der Opfer über einen längeren Zeitraum hinweg Drogen konsumiert hat. Zumindest gab es keine Auffälligkeiten, was im ersten Moment nichts bedeutet.«

»Wenn ihnen das Zeug mit Gewalt eingeflößt wurde, dann ist es seltsam, dass es keinerlei Hinweise auf eine körperliche Auseinandersetzung gab. Es gibt nur diesen einen Schuss und jedes Mal war es aus unmittelbarer Nähe. Das heißt, dass sie den Täter entweder kannten oder es unerwartet geschah.«

Nachdenklich sah ich mich um. »Ersteres.«

Als ich Ricks fragenden Blick bemerkte, deutete ich zu den Häusern um uns herum. »Warum sollte jemand freiwillig hierherkommen? Allein mit einer Person, die er nicht kennt? Vielleicht nur ein Zufall, vielleicht aber auch ein arrangiertes Treffen. Es gab irgendeine Verbindung zwischen den Opfern.« Nur konnte ich nicht erklären, welche. Zumindest noch nicht.

Rick musterte mich von der Seite, sagte aber nichts. Seit Tagen schon kniete ich in dem Fall, vernahm Zeugen und verhörte Verdächtige, aber bislang ohne Erfolg. Je mehr Hinweise wir sammelten, desto wilder wurden die Theorien. Zu viele Möglichkeiten und zu wenige Antworten.

Hinzu kam, dass ich Liam seit dem Vorfall im Fitnessstudio nicht mehr gesehen hatte. Nicht, dass ich wüsste, was ich ihm sagen sollte, wenn ich ihm begegnen würde. Was nicht bedeutete, dass ich nicht dennoch unbewusst nach ihm Ausschau hielt. Die Erinnerung an unser letztes Treffen saß mir noch immer in den Knochen. Unter anderen Umständen hätte ich ihn gewiss gern wiedergesehen, aber jetzt jagte es mir Angst ein. Ungeachtet dessen, dass meine gesamte Konzentration in der Auflösung der Todesfälle stecken müsste, dachte ich ständig an diesen großgewachsenen, von sich selbst überzeugten und verdammt gutaussehenden Feuerwehrmann. Es war zum Haare raufen.

»Du brauchst eine Pause. Lass uns was essen gehen«, schlug Rick vor und deutete zum Polizeiauto. »Das hier wird ohnehin noch eine Weile dauern. Bis die Spurensicherung fertig ist, müssen wir nicht zwangsläufig danebenstehen und Däumchen drehen.«

Zögernd wandte ich mich von der Leiche ab und sah zum Wagen. Rick bemerkte nichts von meinem Dilemma, da er in den Unterlagen blätterte und die Stirn krauszog. Als er fragend aufsah, gab ich mir einen Ruck. »Okay. Eine Pause wäre nicht schlecht.«
Bereitwillig überließ ich Rick das Steuer und hing während der kurzen Fahrt meinen Gedanken nach. Sie schwirrten zwischen der Leiche und meinen privaten Problemen hin und her. Als ich es nicht mehr aushielt, an Liam zu denken, lenkte ich die Konzentration entschieden zurück auf den Fall und nahm mir vor, so schnell wie möglich noch einmal alle Akten durchzulesen. Jeder Täter hinterließ einen Hinweis, so klein er auch ausfallen mochte. Jetzt war es an uns, eben diesen Krümel unter all dem Dreck zu finden.

»Wo fahren wir hin?« Nachdenklich betrachtete ich die vorbeiziehenden Häuser. In diesem Viertel kannte ich mich nicht so gut aus. Ich wusste, dass es in der Nähe einen Griechen, sowie eine nette Bäckerei gab. Da hörte mein Wissen auch schon auf.

»Es hat vor zwei Wochen ein nettes, kleines Café eröffnet. Die bieten auch warme Snacks an. Ich dachte mir, wir könnten einen Kaffee trinken und Panini essen«, sagte Rick mit einem zögerlichen Seitenblick.

»Klingt großartig.« Ich sah aus dem Fenster und betrachtete die Menschen. Sie wirkten alle ruhig und entspannt an diesem sonnigen Tag. Glücklich. Vielleicht sogar zufrieden mit sich und ihrem Leben. Insgeheim fragte ich mich, wann ich zuletzt zufrieden oder wann ich zuletzt so richtig glücklich war.

»Wir sind da.« Geschickt manövrierte Rick den Wagen in eine enge Lücke. Vorsichtig stieg ich aus, darauf bedacht, die Autotür nicht gegen den Pfeiler zu stoßen, und trat auf das kleine Café mit den hellen Eichenmöbeln zu. Alles war in Holzoptik: Der Tresen, der dunkle Boden, die Möbel. Kleine, fliederfarbene Tischdeckchen, weiße Kerzen in Windlichtern und Blumen standen dekorativ auf heller Buche. Es gab ungefähr ein Dutzend kleiner Tische, die draußen zwischen Straße und Laden verteilt standen und von einem weiß gestrichenen Zaun umzäunt waren. Neugierig betrat ich den Außenbereich und sah mich nach einem freien Platz um. Wir hatten Glück. Alle Tische waren besetzt, aber genau in dem Moment bezahlte ein junges Paar und ging, sodass wir uns hinsetzen konnten.

Neugierig griff ich nach der Speisekarte und überflog die warmen Mahlzeiten, ehe ich zum Gebäck blätterte. »Der Schokoladenkuchen schmeckt hier sehr gut, falls du nichts herzhaftes willst.« Rick zog die zweite Tageskarte zu sich, überflog sie, ehe er sie wieder weglegte.

»Lass mich raten, den nimmst du auch?« Schmunzelnd las ich mir die aktuellen Kuchen durch. Frischgebackener Apfelkuchen, selbstgemachter Pflaumentraum, die besagte Schokoladenversuchung oder ein Stück Marmorkuchen. Nicht viel Auswahl, dafür aber sehr gut, wenn man Rick Glauben schenken durfte. »Dann schließe ich mich dir an.«

Die Kellnerin trat an unseren Tisch, woraufhin wir zusätzlich zum Gebäck je einen Kaffee bestellten. Als sie wieder ging, saßen wir schweigend am Tisch, peinlich berührt aufgrund der neugierigen Blicke, die man uns zuwarf.

»Manchmal glaube ich, dass man als Polizist keine Mittagspause haben darf«, stellte Rick grinsend fest.

Nervös nestelte ich an meinem Handy rum. »Wir hätten im Wagen bleiben sollen. Was ist, wenn ein Notfall reinkommt?«

Rick zog belustigt die Augenbraue hoch. »Wenn wir über Funk nicht erreicht werden, ruft Izzy uns an«, erklärte er gelassen. »Hat man das bei euch in New York nicht so gehandhabt?«

Missbilligend zog ich die Stirn kraus. »Da hatten wir keine Zeit für irgendwelche Pausen oder dafür, den Kollegen hinterher zu telefonieren. Genauso wenig, wie wir jetzt Zeit dafür haben.« Als ich an die Leiche dachte, zog sich mein Magen schmerzhaft zusammen. Hinzu kam das schlechte Gewissen. Natürlich hatten wir bislang keine Pause gemacht, aber das hatten die anderen unter Garantie auch noch nicht. Widerstrebend musste ich zugeben, dass diese kostbare halbe Stunde des Aufatmens guttat.
Geschickt manövrierte sich die Kellnerin mit einem Tablett, auf dem zwei Tassen Kaffee und zwei Teller mit Kuchen standen, zwischen den Tischen hindurch. Ich wollte ihr zumindest die Teller abnehmen, als sie mir zuvorkam und alles auf dem Tisch abstellte. Erst befürchtete ich, dass mir der Appetit vergangen war, aber als der Duft von heißer Schokolade in meine Nase trat, knurrte mein Magen.

»Guten Hunger.« Sie lächelte mir freundlich zu, ehe sie auch schon verschwand.

»Linda gehört der Laden. Früher hat sie im Bistro ihrer Großmutter gearbeitet. Das in der Nähe vom Krankenhaus. Es heißt irgendwas mit Tower.« Er runzelte die Stirn.

»Du meinst Flower«, entgegnete ich belustigt. »Café Rosie Flower. Da waren wir früher immer, als wir noch in der Highschool waren, erinnerst du dich?«

»Ja genau. Das waren noch Zeiten.« Er nickte mir zu, ehe er der Kellnerin nachsah. »Linda ist im Laden regelrecht groß geworden. Es war klar, dass sie irgendwann in diese Branche mit einsteigen würde, so gut, wie sie in ihrem Job ist.«

Neugierig sah ich zu der Besitzerin. Sie musste ungefähr in unserem Alter sein. Zumindest sah sie so aus. Zudem war sie ziemlich hübsch. »Frag sie doch mal nach einem Date.«

Lachend lehnte sich Rick zurück und sah mich mit einem schelmischen Funkeln in den Augen an. »Nein, danke. Sie ist bereits Mutter von zwei Kindern und glücklich verheiratet.«

Als er das sagte, fielen mir beinahe die Augen aus dem Kopf. »Sie ist bereits Mutter? Sie ist unmöglich älter als vierundzwanzig.«

Noch während ich das aussprach, wusste ich, dass ich falsch lag. Ricks tiefes Lachen bestätigte mich in meiner Annahme. »Dann sag ihr das, wenn sie die Rechnung bringt. Das wird sie freuen. Sie wird dieses Jahr dreißig.«

Erstaunt drehte ich mich in meinem Stuhl und sah zurück zu Linda, die wie ein Engel zwischen den Tischen schwebte, immer ein Lächeln auf den Lippen. »Wahnsinn.« Kopfschüttelnd wandte ich mich meinem Kaffee zu. Schwarz, wie die Seele vieler Menschen. »Der Job wird mich schnell altern lassen.« Gequält verzog ich das Gesicht zu einer Grimasse.

»Ach Quatsch.« Rick schnaubte empört. »Du siehst umwerfend aus und daran wird auch das Alter nichts ändern können.« Als ihm bewusst wurde, was er soeben gesagt hatte, erstarrte er.

Verwundert sah ich ihn an. Einerseits fühlte ich mich geschmeichelt, andererseits bereiteten mir seine Worte ein unbehagliches Gefühl. »Danke für das Kompliment, aber …«

»Sag nichts«, unterbrach er mich sofort und verzog das Gesicht. »Bitte.«

Wir sahen einander in die Augen. Ich zögerte, ehe ich nickte und ihm zuliebe das Thema wechselte. »Was meinst du, handelt es sich um einen Mörder oder um eine Bande, die ihr Geld nicht erhalten hat?«, lenkte ich das Gespräch wieder zurück in sichere Gefilde, ungeachtet dessen, dass wir sämtliche Möglichkeiten bereits ausdiskutiert hatten.

Rick wirkte weniger erleichtert, als ich gehofft hatte. Viel mehr sah er mich enttäuscht an. »Keine Ahnung.«

Verunsichert nippte ich an dem Kaffee. Die ganze Situation war befremdlich. Hier war ich geboren und aufgewachsen. Es war selten, dass die Polizei in dieser Stadt was zu tun hatte, abgesehen von kleinen Einsätzen. Hier ein Einbruch, da ein Überfall. Sonderlich viel Blaulicht hatte es damals nicht gegeben. Viel mehr hatte das Klischee der etwas beleibteren Polizisten mit Donuts gepasst, die mit freundlicher Miene in die Kindergärten und Schulen gingen, um den Kindern zu erklären, wie man sich in bestimmten Situationen zu verhalten hatte. Wirkliche Fälle hatte es lediglich in den großen Nachbarstädten gegeben.

Als ich mich hierhin bewarb, hatte ich es zwar mit dem offiziellen Ziel getan, die Drogenbande zu schnappen, doch in Wahrheit hatte ich nicht damit gerechnet, gleich in der ersten Woche mit einem großen Brand und nur wenige Tage später mit mehreren Morden konfrontiert zu werden.

»Wie gefällt es dir hier?«, erkundigte sich Rick unerwartet. Bei meinen düsteren Gedanken die wohl denkbar schlechteste Frage, was er aber nicht wissen konnte.

Ich dachte über seine Frage nach. »Es hat sich nicht viel verändert«, antwortete ich nachdenklich. »Um ehrlich zu sein, habe ich nicht damit gerechnet, dass ich nach all den Jahren noch immer das Gefühl von nach Hause kommen habe.« Als ich die Worte ausgesprochen hatte, schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen. Mir wurde erst jetzt bewusst, wie sehr ich diesen Ort mitsamt all den Menschen gebraucht hatte. Als ich wieder zu Rick sah, bemerkte ich verwundert, dass er nervös wurde. Immer wieder zupfte er sich am Ärmel seiner Dienstuniform oder tippte mit dem Finger gegen die Holzplatte.

»Ist irgendetwas?« So hatte ich ihn schon lange nicht mehr erlebt. Zuletzt in der Highschool. Üblicherweise war er der Ruhepol der Truppe. Natürlich konnte er auch anders und ging zwischenzeitlich wie ein Vulkan hoch, aber mir gegenüber war er bislang immer ruhig geblieben. Ein flaues Gefühl breitete sich in meinem Magen aus.

»Nein, alles in Ordnung. Ich musste an den Fall denken«, antwortete er und seufzte.

Sofort entspannte ich mich wieder und sah ihn mitfühlend an. »Mit so was hatten wir in New York ständig zu tun.«

»Schrecklich. Ich verstehe diese Menschen nicht, die anderen etwas antun.« Verärgert runzelte Rick die Stirn.

Ich wollte das Thema nicht intensivieren und schwieg. Als ich bemerkte, dass Ricks Miene noch immer verschlossen war, entschied ich mich für einen Themenwechsel. »Einer der Feuerwehrmänner möchte sich mit mir treffen.« Als Rick mich direkt ansah, überkam mich ein flaues Gefühl im Magen. Es auszusprechen hatte etwas seltsam Reales. »Liam«, fügte ich hinzu. »Ich glaube, du kennst ihn. Ein ganz netter Kerl.«

»Der Kerl aus dem Fitnessstudio?«

Am liebsten hätte ich das Gesicht hinter den Händen verborgen. Dass er die Szene beim Sport mitbekommen hatte, hatte ich noch nichtgewusst. Insgeheim hatte ich gehofft, dass er beim Training zu sehr in seine Übungen vertieft gewesen war, schließlich hörte er immer über Kopfhörer Musik und war sonst nicht ansprechbar. »Genau der. Liam Allen.«

»Und? Willst du ihn treffen?«, fragte Rick beiläufig und schob sich ein Stück Kuchen in den Mund. Doch ich sah den verdächtigen Glanz in seinen Augen, die missbilligende Neugierde. Er wirkte reservierter und lehnte sich zurück. Weg von mir.

»Vielleicht«, antwortete ich ausweichend, in der Hoffnung, dass Rick nicht weiterbohren würde und ich mir seine Reaktion lediglich einbildete.

»Nur vielleicht?«

Sämtliche Alarmglocken wurden in mir aktiv. »Eher ja«, stieß ich aus, noch bevor ich wusste, was ich da tat. »Ja, ich werde ihn treffen.«

Unverwandt deutete Rick zu meinem Kuchen. »Iss auf. Wir müssen zurück zum Auto. Die Pause ist vorbei.« Ohne auf mich zu achten, legte er einen Schein auf den Tisch und stand auf.

Ich schloss die Augen und fluchte stumm über mich selbst. Es war selbst für einen Blinden zu sehen, dass sich Rick mehr von mir erhofft hatte. Ihn auf diese Art abzufertigen war nicht fair. Den letzten Kuchenrest würgte ich mit dem Kaffee runter, bevor ich aufstand und Rick zum Wagen folgte.

»Hey, sei nicht böse.« Zögerlich stieg ich ein und schnallte mich an. Ohne ein Wort zu sagen, fuhr Rick los. Generell sprach er den restlichen Tag nur das Nötigste mit mir. Immer, wenn ich etwas sagen wollte, wandte er sich ab oder lenkte das Gespräch auf das Mordopfer. Eindeutiger konnte er nicht klarmachen, dass er keine Lust hatte, weiteren Smalltalk zu betreiben. Ich respektierte seinen Wunsch und gab nach. Früher oder später würde er sich wieder beruhigen und über meine Abfuhr hinwegkommen. Hoffte ich zumindest.

Erfolglos versuchten wir Hinweise zu finden, befragten Zeugen oder erledigten den Papierkram. Selbst, als ich Feierabend machte und mich verabschiedete, sah Rick mich nicht an. »Findest du das nicht ein wenig unprofessionell?« Ich stand in der Tür, meine Jacke über den Arm geworfen.

Wütend schob Rick die Unterlagen zur Seite, die er sich gerade angesehen hatte. »Findest du es nicht unprofessionell, jetzt schon zu fahren?«

Die Zähne zusammenbeißend warf ich einen Blick in Richtung der Uhr. Es war kurz vor Mitternacht. Mein Dienst war seit zwanzig Uhr beendet. Ohne ein Wort zu sagen, ließ ich meinen schmollenden Kollegen allein im Büro. Sollte er doch weiter über Daten und Fakten brüten, die uns zum aktuellen Zeitpunkt nicht weiterbrachten. Das schlechte Gewissen verdrängend, ging ich in Richtung des Parkplatzes und grübelte über meine aktuelle Situation nach. Alles hätte so schön sein können. Zurückkehren, einen im Vergleich zur Großstadt ruhigen Dienst in einer Kleinstadt schieben, gut mit den Kollegen klarkommen, Sport machen und endlich wieder mehr Zeit mit meiner Familie und meinen Freunden verbringen. Wer hätte auch ahnen können, dass mich zu Hause ein übereifriger Feuerwehrmann, ein eifersüchtiger Kollege, eine aufgedrehte beste Freundin und Morde erwarteten?

Nein, das war nicht das, was ich mir erhofft hatte. Doch zwischen dem Blut, den Akten und den Überstunden schlummerte die wahre Herausforderung, denn gerade im zwischenmenschlichen Bereich lag die wahre Gefahr einer Kleinstadt. Jeder kannte jeden und wenn ich jemandem noch nicht begegnet war, so gab es über drei Ecken eine Verbindung zwischen uns. Entsprechend verbreiteten sich hier Informationen wie ein Laubfeuer.

Wie also schaffte ich es, die Freundschaft zu Rick zu retten, Liam etwas klar zu machen, von dem ich selbst nicht überzeugt war, und zeitgleich keinen Tratsch zu verursachen

II

Nachdenklich starrte er das Gebäude an. Von Feuer gezeichnet und doch noch immer intakt. Stirnrunzelnd wandte er sich ab und schlenderte die Straße entlang, die Hände tief in die Taschen seiner Jacke vergraben. Raues Frühlingswetter. Die vergangenen Tage waren wärmer gewesen. Jetzt bereute er es, nicht mehr den Mantel anzuhaben, sondern die dünnere Übergangsjacke. Fröstelnd sah er sich um. Niemand schenkte ihm Beachtung. Gut so. Dann würde auch niemandem auffallen, dass er hier gewesen war.

Noch immer ärgerte es ihn, dass die Benzintanks in Flammen aufgegangen waren, als er gerade nicht da gewesen war. Lange hatte er dabei zugeschaut und gewartet, dass der Mittelsmann endlich reinging und das Feuer legte. Das musste ausgerechnet in den fünf Minuten passieren, in denen er im Laden gegenüber verschwunden war, um sich zu erleichtern.

Missmutig stampfte er weiter. Dabei behielt er seine Umgebung im Auge, schließlich war es nie klar, wem man begegnete. Oder ob jemand einen beobachtete. Insbesondere jetzt, wo der nächste Auftrag auf ihn wartete, musste er wachsam sein. Dabei wäre er viel lieber daheim geblieben. Mit einem Glas Wein hätte er über den Mord nachdenken können. Armer Junge. Eigentlich hätte er wissen müssen, dass er sterben würde.

Langsam ging er weiter und schüttelte den Kopf. Eines hatte er in seiner Laufbahn gelernt. Niemand konnte es sich leisten, Schulden aufzubauen. Erst recht nicht bei den falschen Personen. Leuten, wie seinem Chef. Ein Fehler, den er selbst nie begehen würde, doch er sah es zu oft bei anderen. Dann, wenn er die Drecksarbeit erledigen und die Schuldner im Auftrag von seinem Boss aufsuchen musste. Wie den Jungen.

Allein der Gedanke daran, dass sein Chef wütend auf ihn werden könnte, ließ ihn das Gesicht verziehen. Denn genau das würde passieren. Früher oder später würde auffallen, dass er seinen eigenen Zielen nachging - und das bereits seit geraumer Zeit.

Doch bis dahin wollte er weiter das Spiel der Könige spielen. Das der Räuber und Verbrecher, um genau zu sein.

Er blieb stehen und fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. Es war klar, zu welcher Seite er gehörte. Mit einem schweren Seufzen rieb er sich über den Nacken und schloss für einen Moment die Augen.

»Blutgeld«, murmelte er und blinzelte angestrengt. Jeder musste es zahlen. Früher oder später.

Verächtlich stieß er ein Schnauben aus und blieb vor dem Gebäude stehen, den Blick auf den Zettel in der Hand gerichtet. Langsam sah er auf. Papier raschelte, als er es zerknüllte und sich in die Jackentasche stopfte. Er hätte die Adresse gleich erkennen müssen, aber sie war ihm entfallen. Doch jetzt, wo er vor dem Ziel stand, leuchtete ihm vieles ein. Wahrlich, ein gutes Versteck, mit dem er persönlich nicht gerechnet hätte. Ein wenig erstaunte es ihn, wie dreist die Drogenbande war. Fast schon bedauerlich. Fast.

Blanker Hass glomm in seinem Blick, während er dabei zusah, wie die Menschen geschäftig umherliefen, als wüssten sie, was sie da taten. Bauern, deren Wert unerheblich war für das große Ganze, und die doch bedeutungsvoller wurden, als all die Denker von einst angenommen hatten.

Nachdenklich legte er den Kopf zur Seite und betrachtete das imposante Gebäude. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Es würde seinen eigenen Zielen nützen, wie auch denen seines Chefs.

Fast wie von selbst zauberte sich das boshafte Grinsen auf seine Züge, das sich in jüngster Zeit immer häufiger auf sein Gesicht schlich. Doch alles zu seiner Zeit, denn auch diese würde kommen. Alles war geplant, die Feinde ausfindig gemacht.

Gelassen zog er das Handy aus der Hosentasche und wandte sich ab. Blind wählte er die Nummer seines Vorgesetzten, vertrauter als seine eigene, um die guten Nachrichten mitzuteilen.

»Ja?«

»Wir haben den Standort gefunden«, raunte er in den Hörer, während er sich zügigen Schrittes entfernte.

»Bist du dir sicher?«

»Natürlich bin ich mir sicher, für wen hältst du mich?«, blaffte er und ermahnte sich daraufhin zur Nachsicht.

»Nur, weil du der bist, der du bist, heißt es nicht, dass du so mit mir reden kannst«, flüsterte die Stimme am anderen Ende der Leitung. Ein Zittern begleitete jedes herausgepresste Wort und ließ den unterdrückten Zorn erahnen.

»Es tut mir leid. Das wird nicht wieder vorkommen«, murmelte er. »Die Nerven, weißt du?« Als sein Chef nicht antwortete, unterdrückte er ein Seufzen. »Ich habe die Adresse geprüft. Sie stimmt überein«, fügte er versöhnlich hinzu.

Doch statt einer Antwort, wurde das Telefonat umgeleitet. Er biss die Zähne zusammen und unterdrückte einen Fluch. Vermasselt. Eindeutig. Es war schon lange nicht mehr vorgekommen, dass das Gespräch abgebrochen wurde.

»Ja?«, blaffte der Mittelsmann am anderen Ende der Leitung.

»Ich habe den Standort gefunden«, teilte er erneut mit und ballte die Hände zu Fäusten.

»Gut gemacht. Diese Kakerlaken werden sich noch wünschen, nie hierhergekommen zu sein«, stieß sein Mittelsmann leise lachend aus. Ein Scheppern lag in der Stimme, zudem etwas rauchiges, was auf den Konsum unzähliger Zigaretten hindeutete. Allein bei der Vorstellung, wie der Atem dieses Mannes stinken musste, verzog er das Gesicht. Ein weiterer Grund, weshalb er lieber mit dem Chef persönlich sprach, statt über mehrere Ecken, aber das lag wohl vorerst auf Eis.

»Du weißt, was zu tun ist?«, fragte er den Mittelsmann gereizt. Er wollte nicht länger telefonieren, als unbedingt notwendig.

»Natürlich. Schick mir die Adresse. Meine Jungs übernehmen den Rest.«

»Wartet bis zur Nacht«, wies er an.

»Warum? Damit du nicht noch einen Zeugen umlegen musst?« Wieder ertönte kehliges, keuchendes Lachen. Atemnot. Eindeutig ein Kettenraucher der schlimmen Sorte.

Zähneknirschend und ohne ein weiteres Wort legte er auf. Manchmal würde er zu gern aufhören und dem Ganzen den Rücken zuwenden, aber das ging nicht. Nicht nur, dass er gutes Geld bekam, sondern obendrein Macht. Beides eröffnete ihm Möglichkeiten. Zu locken und sich das zu nehmen, was er begehrte. Allein bei dem Gedanken juckte es ihn im Schritt. Er war schon zu lange nicht mehr bei seinen Mädels gewesen.

Ein Grinsen schlich sich auf seine Lippen, boshaft und gequält zugleich. Bald war die Zeit des Wartens vorbei. Nicht mehr lange und er würde sich endlich einverleiben, was ihm gehörte. Die Macht, das Geld, die Anerkennung. Er musste nur noch den passenden Moment abwarten und zuschlagen.

So schnell und unbemerkt er vor dem Gebäude aufgetaucht war, so schnell verschwand er auch wieder, während er dem Mittelsmann die Koordinaten schickte. Dieses Mal würde er es nicht verpassen und würde dabei zusehen, wie das Entsetzen im Blick der Polizistin aufblitzte. Zu gern wollte er sich an ihrer Qual laben, wenn sie begriff, dass sie nichts gegen ihn unternehmen konnte, solange sein Plan undurchsichtig für sie war. Nur er wusste Bescheid. Katz‘ und Maus. Das Spiel der Könige konnte beginnen und sie, sie war seine Dame. Aufopfernd für ihren König.

Liam

Ich rannte so schnell ich konnte, aber meine Beine wollten nicht mehr. Wütend funkelte ich die Menschen um uns herum an, aber statt aus dem Weg zu gehen, starrten sie zurück und filmten. Eine Krankheit, seit die Handys zu kleinen Computern mit ständiger Verbindung zum Internet geworden waren. »Verdammt, weg da!« Grob stieß ich einen Mann zur Seite. Sein wütendes Meckern ignorierend, half ich meinen Kollegen, den Weg für die Einsatzwagen freizulegen. Als die vertraute Sirene der Polizei endlich näherkam, warf ich einen wütenden Blick über die Schulter zum Fahrzeug. »Na endlich!«

Unmittelbar dahinter fuhr einer der Krankenwagen heran. Kaum, dass sie angehalten hatten, sprangen die Sanitäter auf die Straße und rannten auf mich zu.

»Wie viele Verletzte?«, fragte einer von ihnen, ein großgewachsener Mann, schätzungsweise Ende vierzig. Der Diensthabende Notarzt, mit dem ich noch nicht so häufig zu tun hatte.

»Fünf.« Ich deutete zum Zelt, das Tyler und Colin auf die Schnelle aufgebaut hatten. Der starke Wind wehte die Plane in unregelmäßigem Abstand hoch, sodass zwischenzeitlich ein verbranntes Bein oder ein zerfetzter Arm zu sehen waren. Der Gestank nach verbranntem Fleisch brachte mich zum Würgen, aber ich kämpfte dagegen an. Eine andere Wahl blieb mir nicht. Insbesondere, da uns zwei Neue kurzzeitig zusammengebrochen waren.

»Weg da, habe ich gesagt. Verdammt, packt diese scheiß Handys weg, oder ich vergesse mich«, brüllte ich die Schaulustigen an. Zorn brodelte in meinen Adern. Abgrundtiefer Hass gegen Gaffer, die bloß dastanden, statt zu helfen. Das wäre noch egal, wenn sie dabei wenigstens nicht im Weg stehen würden.

Nur am Rande bemerkte ich, wie sich erste Polizisten näherten, um die Gaffer zurückzudrängen und des Platzes zu verweisen.

»Was ist passiert?«

Meine Nackenhaare stellten sich auf. Diese Stimme würde ich überall wiedererkennen. Ein Polizist löste mich ab und brüllte jetzt stattdessen die Menge an, die trotz Polizeiaufkommen versuchte, einen Blick ins Zelt zu ergattern und irgendwelche Bilder zu schießen, die kein Mensch bei Verstand sehen wollte. Fotos von Leid, Schmerz und Angst. Emotionen, die auch die Medien angelockt hatten. »Weg hier, oder ich werde Sie alle verhaften. Glauben Sie, ich bluffe? Verschwinden Sie, sofort.«

»Da hat einer aber gute Laune.« Skeptisch sah ich zu Rick, dessen Laune noch mehr im Keller war als meine, und das wollte etwas bedeuten. Kopfschüttelnd wandte ich mich der schönen Frau vor mir zu, die mir seit geraumer Zeit den Kopf verdrehte, und das nicht immer im positiven Sinne. »Es gab eine Explosion. Ursache ist noch nicht bekannt«, erklärte ich schnell, während ich in Annabelles Augen sah. Mir lag ein frecher Spruch auf den Lippen, ich verkniff ihn mir aber. Das war weder der richtige Ort, noch die richtige Zeit für so etwas. Stattdessen bedeutete ich ihr, mir zu folgen. »Das Zelt haben wir etwas Abseits aufgebaut, um vor einer möglichen zweiten Explosionswelle zu schützen.« Stirnrunzelnd folgte sie mir, ehe sie zum Gebäude sah.

»Es brennt noch«, stellte sie fest.

»Ich weiß, ich bin nicht blind, Kleines.« Ich warf Annabelle einen belustigten Blick zu, den sie mit finsterer Miene quittierte. Mir war bewusst, dass sie das lediglich gesagt hatte, um irgendetwas von sich zu geben. Immerhin war es gut zu wissen, dass sie ebenfalls nicht wusste, wie sie mit der Situation zwischen uns umgehen sollte. »Das Feuer ist aber bereits unter Kontrolle. Es handelt sich dabei um Kleinbrände, die nicht mehr lange brauchen.« Als ich die Anspannung auf ihrem Gesicht sah, ahnte ich, dass dies hier nicht ihr erster Fall des Tages war, aber ich fragte nicht nach.

»Wo genau war die Explosion?« Nachdenklich sah sie zu den Ruinen dessen, was einst ein Shoppingcenter werden sollte.

»Dort.« Ich deutete zu einer Stelle weiter rechts, von der dünne Rauchfäden ausgingen. Der Komplex bestand nur noch aus Stahlträgern, die zur Stütze aufgebaut waren. »Sie haben erst vor wenigen Monaten mit dem Bau angefangen«, erklärte ich ernst. Wir passierten ein Baustelle – betreten verboten Schild und stiegen über niedergetrampelte Zäune.

»Fünf Opfer. Vier Arbeiter und der Schichtleiter, die zu dem Zeitpunkt bei einer Besprechung im Container waren. Sie hatten tierisches Glück, dass sie das Gespräch vorgezogen haben und nicht mehr im Gebäude umhergelaufen sind. Fünf Minuten später und sie wären alle tot.« Ich deutete auf den stark demolierten Container zu meiner Rechten. Die halbe Seite war weggerissen. Trümmerteile lagen im Inneren, wo man noch grob das provisorische Büro erkennen konnte. »Unsere netten Freunde hier«, ich deutete zu den verbliebenen Schaulustigen, die sich nach Ricks Drohung widerstrebend zurückzogen und den Platz verließen, »sind alles Demonstranten.«

»Demonstranten?« Irritiert warf Annabelle einen Blick zurück, aber die Menschen waren bereits außerhalb unseres Sichtfeldes, sodass wir ungestört arbeiten konnten.

Ungerührt marschierte ich weiter und wartete nicht darauf, dass Annabelle aufholte. Für so etwas hatte ich keine Zeit. »Das hier war früher mal ein Park, der zugunsten des Shoppingcenters aufgegeben wurde.« Ich deutete zu den Trümmern. »Zwar nicht so groß, wie die Shoppingpaläste in New York, die du gewohnt bist, aber groß genug, um einen ganzen Park zu verschlingen.«

»Höre ich da einen abfälligen Unterton?« Annabelle trat neben mich. Gemeinsam gingen wir in Richtung des Containers, wo wir uns ungestört würden unterhalten können, fernab von fragenden Blicken oder nervenden Kollegen.

»Vielleicht ein wenig.« Nachdenklich betrachtete ich die Fetzen von irgendwelchen Laken auf dem Boden.

»Wurde die Spurensicherung bereits kontaktiert?« Annabelle zog ihr Handy hervor.

»Die sind schon unterwegs. Das Bombenkommando, sowie die DEA sind bereits benachrichtigt« Als ich ihren Blick bemerkte, zuckte ich mit den Schultern. »Nur, weil ich gern mit dem Feuer spiele, bin ich noch lange nicht dumm. Nach einigen Jahren weiß ich, wann wer kommen soll.« Dann verzogen sich meine Lippen zu einem frechen Grinsen und ohne es verhindern zu können, fügte ich ein »Das ist nichts für die gewöhnliche Polizei«, hinzu. Um sie zu ärgern, aber auch, um den Kummer nicht länger auf ihrem Gesicht sehen zu müssen.
Annabelle stieß ein empörtes Lachen aus und zeigte damit die gewünschte Reaktion. »Gewöhnliche Polizei? Wie abwertend von einem Feuerfreak.«

»Feuerfreak?« Ich schaffte es nicht, mir das breite Grinsen zu verkneifen. »Ist das dein Ernst?« Als sie rot um die Nase wurde, fand ich sie noch süßer. »Weißt du, was an uns Freaks so besonders ist?« Als sie nicht antwortete, wandte ich mich ihr zu und trat einen Schritt näher. Ihre Wange zuckte. Ein Kribbeln breitete sich in meinen Lenden aus, als mir bewusst wurde, dass sie zurückweichen wollte und es doch nicht tat. Sie wollte keine Schwäche zeigen, sondern beweisen, dass sie stark war. Oh ja, das war sie. Stark, aber zugleich so zerbrechlich. »Wir haben ein feuriges Temperament und wissen mit starken Frauen umzugehen«, raunte ich verschwörerisch. Fasziniert sah ich dabei zu, wie ihre Augen dunkler wurden. »Vielleicht sollte ich dir das Spiel mit dem Feuer zeigen?«, fragte ich flüsternd.

»Womöglich bin ich eher der Feuerlöscher?« Atemlos hielt sie still, während ich ihr nahe genug war, dass sich unser Atem miteinander vermischte. Sie war groß. Größer als die Frauen, mit denen ich sonst ausging. Das gefiel mir an ihr. Die innere Kraft, die sie ausstrahlte, der Wille zu kämpfen und das Selbstbewusstsein, zu siegen. Doch nicht immer musste eine starke Frau stark bleiben. Manchmal gab es Momente, in denen sie es brauchte, sich bei jemandem fallenzulassen. Selbst jemand wie Annabelle.

»Hey, alles okay bei Euch?«

Neugierig musterte ich einen Polizisten, der um den Container getreten war und zu uns sah.

»Wir sind gleich fertig«, versicherte Annabelle und deutete auf den Boden. »Es gibt bisher keine Anzeichen auf Sprengstoff, aber wir wollen auf Nummer sichergehen.«

Der Polizist nickte. »Solltet ihr Hilfe brauchen, dann gebt Bescheid.«

»Machen wir«, entgegnete Annabelle ernst.

Schweigend lauschten wir den sich entfernenden Schritten ihres Kollegen. »Meinst du, er hat dir geglaubt?«

»Keine Ahnung. Vermutlich nicht, aber er ist kein Typ, der die Nase in fremde Angelegenheiten steckt.« Annabelle drehte sich mir zu und zog eine Augenbraue hoch. »Wir sollten zurück.«

»Das stimmt.« Mit einem Mal kam mir ein dummer Gedanke. Eher noch ein verdammt dämlicher.

»Woran denkst du?«, fragte sie.

»Das willst du nicht wissen.«

»Wenn dem so wäre, würde ich dich nicht fragen.« Auffordernd nickte sie mir zu.

»Es ist unpassend«, murmelte ich ausweichend.

»Jetzt stell dich nicht so an. Raus mit der Sprache.«

Ich lachte leise, ehe ich einen Schritt näher trat und ihr tief in die Augen sah. »Du bist eine faszinierende Frau, Annabelle. Das wird mir zunehmend bewusster. Ich weiß nicht genau, warum, aber jetzt gerade habe ich das Gefühl, dass du die Frau sein könntest, die das Dynamit unter meinen Funken sein könnte.«

Sie starrte mich an, die Lippen sinnlich geöffnet. Obwohl ich es besser wusste, wirkte ihr Anblick, als würde sie die Lippen einladend für einen Kuss spitzen. Doch bevor ich mich dem Gedanken hingeben und zumindest kurzzeitig daran glauben konnte, brachte sie mich aus dem Konzept, indem sie lachte. Nicht nur ein wenig, sondern aus vollem Herzen. Stirnrunzelnd richtete ich mich wieder auf, verschränkte die Arme vor der Brust und verspürte eine tiefe Befriedigung, als meine Finger dabei ihren Bauch streiften und ihr das Lachen im Hals steckenblieb.

»Dynamit und Funken, wie abgedroschen ist das denn? Wie vielen Frauen hast du diesen Satz bereits ins Ohr geflüstert? Ich würde zu gern wissen, ob das schon einmal gezogen hat.« Sie wischte sich die Lachtränen aus dem Augenwinkel.

»Weiß nicht.« Ich zuckte mit den Schultern. »Du bist die erste, bei der ich es versuche. Also, hat es was gebracht? Bist du jetzt vor Begierde entflammt und bereit für ein unschuldiges Date?« Auffordernd sah ich sie an und bemerkte ihre Überraschung. Doch ich ließ mir nichts anmerken, sondern wartete geduldig auf eine Antwort. Ich befürchtete schon fast, dass ich sie nie bekommen würde, als sich Annabelles Lippen zu einem Lächeln verzogen. Eines, das sogar ihre Augen erreichte. Hoffnung keimte in mir auf.

»Nicht wirklich, aber vielleicht findest du ja noch den passenden Spruch.«

»Nun, welchen hättest du denn? Deine Augen passen zu meiner Bettwäsche?«, fragte ich belustigt. Unverwandt schlang ich den Arm um ihre Taille und presste sie an mich, beugte mich zeitgleich runter und sah ihr tief in die Augen, während sich unsere Lippen fast berührten. Ich schmeckte ihren Atem, der gegen meine Lippen stieß, roch ihr Parfüm, sah den Schreck in ihren Augen, der sich langsam in etwas düsteres, leidenschaftliches verwandelte.

»Liam«, hauchte sie. Es klang mehr nach einem Stöhnen. »Das ist definitiv nicht der richtige Ort für so was hier.«

»Du gibst mir ja keine Gelegenheiten, Annabelle«, flüsterte ich. Ihr Körper bebte, als ich ihren Namen aussprach. Tatsächlich schlossen sich sogar ihre Augen, während sie zittrig die Luft durch den Mund ausstieß. Himmel, wie sehr wollte ich sie gerade küssen. Langsam beugte ich mich vor, strich mit den Lippen über ihren Mundwinkel, über die Wange, bis mein Mund ihr Ohr berührte. Ihr keuchender Atem prallte gegen meine Haut und trieb mich in den Wahnsinn. »Tat es weh, als du vom Himmel gefallen bist?«

Schlagartig verspannte sie sich, ehe sie zu lachen anfing. Ich stimmte mit ein, ließ sie los und trat einen Schritt zurück. Als ich ihren belustigten Gesichtsausdruck und die strahlenden Augen bemerkte, sah ich sie mit einem entschuldigenden Grinsen auf den Lippen an. »Mir ist bewusst, dass du nur zu gern mit mir die Trümmer durchwühlen würdest, aber du hast leider recht. Wir sind auf der Arbeit und ich bin mir ziemlich sicher, dass dein in dich verschossener Schoßhund jeden Moment hier auftauchen wird. Aber falls du Lust hast, können wir das hier gern nach der Arbeit weiterführen. Sagen wir, heute Abend, zwanzig Uhr in der Bar?« Als sie stockte, hob ich beschwichtigend die Hände. »Freundschaftlich«, fügte ich schnell hinzu, auch wenn deutlich sein dürfte, dass ich sie näher kennenlernen wollte. Doch ich stand zu meinem Wort. Wenn sie mir klipp und klar sagte, dass ich mich von ihr fernhalten sollte, würde ich es tun.

Annabelle starrte mich mit offenem Mund an. Ziemlich süß. Sie räusperte sich und stellte sich gerade hin, die Arme ernst vor der Brust verschränkt. Doch der Ausdruck in ihren Augen strafte sie lügen. Er war freundlicher als sonst, sogar etwas offener. Langsam schaffte ich es, ihren Schutzpanzer zu knacken und sie zumindest in meiner Gegenwart zum Lächeln zu bringen. Sofort nahm ich mir vor, es nicht zu missbrauchen, weshalb ich mit viel Mühe dem Drang widerstand, sie in der engen Uniform genauer zu mustern. Das, was ich aus dem Augenwinkel bemerkte, genügte. Nicht nur Frauen durften auf Männer mit Uniform stehen, denn auch das weibliche Geschlecht hatte in solcher Kleidung seinen Reiz.

»Mit Männern wie dir gehe ich nicht aus«, antwortete sie mit belegter Stimme. Als es ihr auffiel, räusperte sie sich erneut.

»Das hast du schon mal gesagt.« Gelassen lehnte ich mich gegen einen Pfeiler. »Was war denn mit dem Abend in der Bar?«, fragte ich amüsiert.

»Das war kein Ausgehen. Ich hatte lediglich Mitleid mit dir, mehr nicht. Außerdem war das kein Date, sondern ein flüchtiges Kennenlernen.« Annabelle ging in den Abwehrmodus über. Gut, das Spiel beherrschte ich auch.

Mein Mundwinkel zuckte. »Was für eine Art Mann bin ich denn?« Herausfordernd nickte ich ihr zu. Auf die Antwort war ich gespannt.

Skeptisch musterte sie mich. Lange. Viel zu lange. Zu meinem Glück war die Feuerwehrhose weit genug, um zu verbergen, was in mir vorging. Gut, besser gesagt, wie es in meiner Hose aussah.

»Ein verdammt heißer«, hauchte sie. Erst schien sie nicht zu verstehen, was sie soeben gesagt hatte, doch dann trat das Entsetzen in ihren Blick.

»Ein verdammt heißer?« Meine Stimme zitterte kaum merklich, als ich ein Lachen mühsam unterdrückte. »Magst du keine Hitze?« Langsam hob ich die Hand, fuhr mit den Fingern über ihre Hüfte bis zu den Handschellen, die an ihrem Gürtel befestigt waren. Verspielt zog ich an dem Metall, das viel zu kalt erschien.

»Vielleicht«, flüsterte sie und trat näher. Ihre Hand legte sich hauchzart an mein Handgelenk. Verwundert beobachtete ich sie, doch ehe ich mich versah, lag ich auf dem Rücken und spürte, wie mir die Luft aus den Lungen gedrückt wurde. Fasziniert sah ich zu Annabelle auf. Allmählich begriff ich, dass sie mich zu Boden geworfen hatte und das in einer Geschwindigkeit, mit der ich nicht gerechnet hatte. Ungeachtet der Schmerzen in meiner Schulter musste ich mir eingestehen, dass ich begeistert davon war, wie leichtfertig sie einen Mann meines Kalibers umlegen konnte. Natürlich, sie war eine Polizistin, aber dieses Denken, dass sie sich nicht selbst wehren konnte, musste ich mir definitiv aus dem Kopf schlagen.

»Das hat man davon, wenn man einer Frau zu nahekommt, die sich selbst verteidigen kann.« Sie zwinkerte mir zu.

»Bin ich das denn?« Neugierig sah ich zu ihr auf. »Keine Sorge. Ich werde dir schon nicht zu nahetreten. Wie wäre es also mit einem Date? Einem freundschaftlichen meine ich natürlich«, korrigierte ich mich und lächelte. Fast zu spät bemerkte ich das kleine Lächeln, das sie mir schenkte.

»Wie wäre es mit einem vielleicht?« Sie neigte den Kopf. »Wir müssen arbeiten. Wir sind schon viel zu lange hier.« Besorgt runzelte sie die Stirn.

Kopfschüttelnd beobachtete ich, wie sie um den halb verbrannten Container herum ging, der uns bislang als Sichtschutz gedient hatte, um zu den anderen zurückzukehren.

Mühsam rappelte ich mich auf und klopfte den groben Dreck von meinen Sachen. Das Grinsen bekam ich nicht so leicht weg. Diese Frau hatte es mir angetan und ich würde alles daransetzen, um ihr zu beweisen, dass ich kein schlechter Kerl war, denn dafür hatte ich zu lange auf eine wie sie gewartet. Eine Frau mit Biss.

Tief atmete ich ein, sammelte mich und dachte an meinen ziemlich beleibten Nachbarn, der gern auf dem Balkon rauchte. Nackt. Es schüttelte mich bei der Vorstellung, aber immerhin sah man mir nicht mehr an, woran ich bis vor kurzem noch gedacht hatte.